„Die Wand“ – Versionsunterschied
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'''Die Wand''' ist ein [[Roman]] der [[Schriftsteller]]in [[Marlen Haushofer]], der [[1962]] in [[Gütersloh]] und [[1963]] in [[Wien]] erschien. |
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'''Die Wand''' ist ein [[Roman]] der [[Schriftsteller]]in [[Marlen Haushofer]] aus dem Jahr 1963. Dieser dritte und erfolgreichste Roman der damals 43-jährigen Autorin beschreibt das Leben einer Frau, die durch eine plötzlich auftauchende, unsichtbare Wand von der [[Zivilisation]] abgeschnitten wird. Die Verfilmung des Romans kam 2012 unter [[Die Wand (Film)|demselben Titel]] in die Kinos. Im gleichen Jahr wurde der Stoff von [[Christian Nickel]] für das [[Burgtheater]] inszeniert. |
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Der dritte und erfolgreichste Roman der Autorin beschreibt das Leben einer Frau, die in aller Radikalität von der [[Zivilisation]] abgeschnitten wird. |
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Die vierzigjährige namenlose [[Protagonist]]in tritt in dem Roman als [[Typologisches Modell der Erzählsituationen#Ich-Erzählsituation|Ich-Erzählerin]] auf. Sie reist mit ihrer Cousine Luise und deren Ehemann Hugo an einem Wochenende zu einer Jagdhütte ins Gebirge. Das Ehepaar sucht abends noch eine im Tal gelegene Gaststätte auf. Morgens vermisst die Erzählerin ihre Begleiter und verlässt die Hütte, um nach ihnen Ausschau zu halten. Doch am Ausgang der Schlucht stößt sich der bei ihr verbliebene Hund des Paares die Schnauze an einer unsichtbaren Sperre blutig. Ein Mann, der im Tal an einem Brunnen Wasser schöpft, wirkt in ihrem Fernglas wie versteinert. |
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Es scheint, als habe ein großes Unglück alle – zumindest aber alle ihr durch die durchsichtige Wand erkennbaren – Lebewesen tödlich erstarren lassen. Die Ich-Erzählerin ist durch die rätselhafte Wand vor diesem Unglück geschützt und zugleich gefangen. Da sich das von der Wand umschlossene Gebiet über mehrere Jagdreviere erstreckt, lernt die so Isolierte allmählich, sich von den verbliebenen Vorräten, den Früchten und Tieren des Waldes und ihrem Garten zu ernähren. Zu der Sorge um ihre eigene Existenz kommt dabei bald die Sorge um verschiedene Tiere, die ihr zulaufen: neben dem Hund mehrere Katzen sowie eine trächtige Kuh. Während des dritten Winters fertigt sie den vorliegenden Bericht an – ohne zu wissen, ob ihn jemals jemand zu Gesicht bekommen wird. Zu ihrem früheren Leben entwickelt sie eine zunehmende Distanz, die sich besonders bei der Betrachtung ihres Verhältnisses zu ihren Töchtern ausdrückt, deren Schicksal ungewiss ist. |
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Gegen Ende erscheint auf der [[Alm (Bergweide)|Alm]], welche die Frau als Sommerquartier bezogen hat, ein Mann. Da er ohne ersichtlichen Grund ihren von der Kuh geborenen jungen Stier mit einer Axt erschlägt und auch den zur Hilfe eilenden Hund tötet, läuft sie zur Almhütte, bewaffnet sich mit ihrem Jagdgewehr und erschießt den Mann, ohne zu zögern. Der Roman klingt optimistisch aus. Am Ende schreibt die Erzählerin unter anderem: „Seit heute früh weiß ich sicher, daß Bella ein Kalb haben wird. Und, wer weiß, vielleicht wird es doch wieder junge Katzen geben.“<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Haushofer |Titel=Die Wand |Auflage=14. |Verlag=Claassen Verlag |Ort=Hamburg und Düsseldorf |Datum=2004 |Seiten=275}}</ref> Ihr Schicksal bleibt offen. |
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Die namentlich nicht benannte Erzählerin in ''Die Wand'' reist mit Freunden zum Wochenende auf eine Jagdhütte. Während diese Freunde dann des Abends noch in die Gaststätte eines nahegelegenen Dorfes ziehen, bleibt die Erzählerin und Protagonistin allein in der Hütte, um am nächsten Morgen festzustellen, dass sie immer noch alleine ist. Auf ihrer Suche nach den Freunden bemerkt sie, dass sie durch eine unsichtbare Wand von der Außenwelt abgeschnitten wurde. |
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== Entstehung und Hintergrund == |
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Während ihrer Exkursionen stellt die Heldin des Romanes nun fest, dass ein nicht weiter bezeichnetes Unglück wahrscheinlich alle, zumindest aber alle ihr durch die Wand sichtbaren Lebewesen getötet hat, sie mithin durch die Wand geschützt und gleichzeitig eingesperrt ist. Da das Areal, das von der Wand umschlossen wird, sich aber über ein ganzes Tal hinaus erstreckt, lernt die so Isolierte nun allmählich, sich von den verbliebenen Vorräten und den Erzeugnissen des Waldes und der Felder zu ernähren. Zu der Sorge um ihre eigene Existenz kommt dabei bald die Sorge um verschiedene Tiere, die ihr zulaufen: Ein Hund, eine Katze und eine Kuh gesellen sich zu der Erzählerin, die aus der Retrospektive dann auf verbliebenen Kalenderblättern ihre Geschichte für eine vielleicht nicht mehr vorhandene Nachwelt zu überliefern versucht. |
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[[Datei:Taborweg 19 (Steyr).jpg|mini|Wohnsitz ab 1960: Taborweg 19 in Steyr]] |
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Marlen Haushofer erwähnte in einem Gespräch: „Der Stoff zur ''Wand'' muß immer schon dagewesen sein (…) Ich habe ihn mehrere Jahre herumgetragen, aber ich habe mir nicht einmal Notizen gemacht (…). Ich habe auch mit niemandem darüber gesprochen.“ Die Autorin wohnte in den 1950er Jahren mit ihrer Familie in der [[Steyr]]er Innenstadt, zuletzt im Haus Pfarrgasse 8. Dieses mehrere hundert Jahre alte Bürgerhaus war nicht nur eng und schlecht beheizt, sondern beherbergte auch eine Schlachterei. Dies habe sie sehr belastet, wie sie in einem Brief an ihren Mentor [[Hans Weigel]] schreibt. |
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Im Spätsommer 1960 übersiedelte die Familie in das Haus Taborweg 19, ein Zweifamilienhaus mit Garten und Zentralheizung im [[Tabor (Steyr)|Stadtteil Tabor]]. Erst danach, im November 1960, begann Haushofer mit der Niederschrift des Romans. Der Arbeitstitel lautete erst ''Die gläserne Wand'', wurde jedoch noch während der Arbeit am Manuskript in ''Die Wand'' umgeändert. Die erste Niederschrift ist noch in der dritten Person abgefasst und die später namenlose Ich-Erzählerin heißt ''Isa'', der Hund ''Maxi'' (später: ''Luchs''). |
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[[Datei:Haidenalm (Haidenalpe), Ameisenparadies, im Hintergrund Großer Spitzberg and Kleiner Spitzberg, Molln 2024.jpg|mini|Blick von der Haidenalm auf das [[Steyrtal]] mit dem [[Mollner Becken]] (links). Rechts davon im Mittelgrund Großer und Kleiner Spitzberg]] |
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Das Vorbild für das Jagdhaus ist die 1924 erbaute, etwa eine Stunde Fußmarsch vom Forsthaus Effertsbach entfernte ''Lackenhütte'' im [[Molln]]er Ortsteil Ramsau. Die Alm, auf welche die Ich-Erzählerin mit den Tieren im Sommer übersiedelt, ist der ''Haidenalm'' nachempfunden. |
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===Inhaltsangabe=== |
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Die Autorin ließ sich bei Fragen über Tiere und Pflanzen von ihrem Bruder [[Rudolf Frauendorfer|Rudolf]] beraten, der ein Studium der [[Forstwissenschaft]] abgeschlossen hatte. Das Setzen von [[Interpunktionszeichen]] und Absätzen im [[Typoskript]] überließ sie ihrem Mentor Hans Weigel. Für die Publikation wechselte Haushofer vom österreichischen [[Zsolnay-Verlag]] zu S. Mohn (Gütersloh).<ref>Daniela Strigl: ''„Wahrscheinlich bin ich verrückt …“'', List Verlag, 2008, ISBN 978-3-548-60784-9, S. 242 ff., Kapitel: ''1960 – Flucht durch die Wand'' und ''Vom richtigen Leben im falschen: Die Wand''</ref> |
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Hugo und Luise laden die Hauptperson auf ihre Jagdhütte ein, um dort das Wochenende zu verbringen. Am Abend ihrer Ankunft gehen Hugo und Luise noch ins Ortgasthaus. Die Frau kommt nicht mit, da sie ungern unter Menschen ist. Am nächsten Tag erwacht sie und bemerkt, dass ihre Gastgeber nicht vom abendlichen Ausflug zurückgekehrt sind. Sie geht die beiden suchen und nimmt Luchs, den Jagdhund der beiden mit. In seiner Begleitung geht sie in Richtung des Dorfes, ohne es jedoch zu erreichen. In jener Nacht ist eine unsichtbare, undurchdringende Wand gewachsen. |
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„Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles einen glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft.“ |
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Jenseits der Wand sind alle Lebewesen erstarrt, die Natur ist jedoch unverzehrt geblieben. Sie vermutet, dass die Wand ein misslungener wissenschaftlicher Versuch ist oder vielleicht eine Waffe. Nur kommt niemand, um das Land zu besetzen. |
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In der Jagdhütte findet sie Vorräte und baut Kartoffeln und Bohnen an. Kurz nach dem Erscheinen der Wand laufen ihr eine Katze und eine trächtige Kuh namens Bella zu. Die Tiere sind sehr wichtig für die Erzählerin, den sie sind die einzigen Lebewesen mit denen sie reden kann. Der Tagesablauf der Frau ist bis auf einige Ausnahmen sehr eintönig, außer Arbeit ist er noch geprägt von Sorgen, die sie oft nicht schlafen lassen und natürlich von der Arbeit für das Wohlbefinden ihrer Tiere und ihrer selbst. |
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Bella kommt dann noch ein Kalb, einen kräftigen kleinen Stier, der ihr noch mehr Probleme bringt. Im Sommer zieht sie immer auf eine Berghütte, weil dort die Kühe besseres Gras haben und vom Überleben der Tiere hängt ihr Leben ab. Den Winter verbringt sie in der Jagdhütte. Im dritten Winter beginnt sie mit dem Bericht und schreibt sich allen Frust von der Seele. Im nächsten Sommer zieht sie mit ihren Tieren wieder auf die Almhütte. Eines Tages als sie erschöpft nach Hause kommt, ist etwas nicht in Ordnung. Luchs, der sie begleitet, wittert die Gefahr und rennt vor. Bei der Almhütte angekommen, sieht man das Schrecken. Ein Mann steht vor der Almhütte, vor ihm liegt der tote Stier. Während sie das Gewehr holt, tötet der Mann noch Luchs. Die Frau erschießt den Mann. Sie trauert um die Tiere, nicht um den Mann. Der Bericht endet damit, dass ihr das Papier ausgeht. |
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Gefürchtet hat die Einsame nur Menschen, in der Natur hat sie anfangs zwar Angst, dennoch fühlt sie sich nicht gefährdet. Für sie gibt es keine Aussicht auf Rettung, es gibt nur das Überleben. |
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„und ich spüre, dass die Hoffnung in mir gestorben ist.“ |
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Die Wand ist auch ein Buch über Mensch und Tier. Trotz aller Nähe zu den Tieren, weiß die Frau, dass ein Mensch nicht zum Tier werden kann. Als Mensch kommt die Frau nicht los von Erinnerungen, von Träumen, von Liebe und der Menschheit. |
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„Aber ich bin ein Mensch, und ich kann nur denken und handeln wie ein Mensch. Davon wird mich erst der Tod befreien.“ |
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Zugleich reduziert sich der Lebensinhalt auf Elementares: |
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„Durch die Wand wurde ich gezwungen, ein ganz neues Leben zu beginnen, aber was mich wirklich berührt ist immer noch das gleiche wie früher: Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall. Die Wand ist ein Ding, das weder tot noch lebendig ist, sie geht mich in Wahrheit nichts an und deshalb träume ich nicht von ihr.“ |
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Ihre Weiblichkeit kann sie nicht mehr leben, und obwohl sie jagen muss, verliert sie nie den Abscheu vor dem Töten. Die eigentliche Katastrophe ereignet sich, als gänzlich unerwartet ein Mann in ihr ruhiges Leben einbricht, das Kalb und den Hund tötet, woraufhin die Frau ihn erschießt. Das bedeutet wohl das Ende für die Menschheit. |
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„Ich habe aufgehört, das Leben und den Tod weiterzugeben. Auch das Alleinsein, das uns so viele Generationen begleitet hat, stirbt mit mir aus. Das ist nicht gut und nicht schlecht; es ist einfach.“ |
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== Rezeption == |
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Haushofers Roman kann in vielfältiger Weise rezipiert werden. Er kann als radikale [[Zivilisationskritik]] verstanden werden, die den Menschen wieder in die Natur zurückversetzt und ihm Kulturgüter wie den am Haus langsam zuwachsenden Mercedes als ebenso unsinnig wie überflüssig entzieht. Positiv betrachtet, sichert sie dem Menschen dadurch das Überleben – und die Möglichkeit, sich zu läutern. Andererseits fordert sie durch die [[Soziale Isolation|isolierte]] Lebensweise der Erzählerin einen hohen Tribut. |
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Der einzige weitere Überlebende erweist sich als so aggressiv, dass er, kaum eingeführt, von der Protagonistin erschossen wird. Eine darauf Bezug nehmende Lesart ist, den Roman als Kritik am [[Patriarchat (Soziologie)|Patriarchat]] aufzufassen. Zwar wird der verstorbene Ehemann der Erzählerin in ihren Erinnerungen nicht angeprangert, doch er spielt eine Nebenrolle und immer wieder fällt auf, wie unzufrieden sie mit ihrem bisherigen Leben gewesen sein musste.<ref>Marlen Haushofer: Die Wand. 26. Auflage. Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin 2020, S. 71 Mitte, S. 83 oben sowie S. 222.</ref> Die Protagonistin erwähnt, dass sie ihre Situation nur mit einer alten Frau teilen wolle und dass sie lieber alleine lebe, als mit einem Mann zu zweit eingeschlossen zu sein.<ref>Marlen Haushofer: Die Wand. 26. Auflage. Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin 2020, S. 66.</ref> Dieses Detail stützt die Aussage der Kritik am [[Patriarchat (Soziologie)|Patriarchat]] und zeigt gleichzeitig, wie sie sich langsam mit ihrer Situation abfindet. |
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Haushofers Roman, der in höchstem Maße [[Interpretation|interpretationsoffen]] ist, wurde schon immer in vielfältiger Weise gelesen. Er kann als eine radikale Zivilisationskritik verstanden werden, die den Menschen wieder in die Natur zurück versetzt, ihm die Kulturgüter, wie den am Haus langsam zuwachsenden [[Mercedes-Benz|Mercedes]], als ebenso überflüssig wie unsinnig entzieht, und ist hierin hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen ebenso positiv wie negativ gestimmt. Überlebt die Erzählerin doch zumindest eine gewisse Zeit - über ihr mögliches Ende ist nichts überliefert - und belegt darin Anpassungsfähigkeit wie auch die Möglichkeit einer gerade im Minimalismus sich findenden [[Moral|moralischen]] Position, so negiert dieses Konzept aber, dass die Menschheit sich zumindest dem Anschein nach bereits vernichtet zu haben scheint. |
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Deutlich sind die Eigenschaften einer [[Robinsonade]] zu erkennen: Ein Mensch wird unversehens und unverschuldet zu einem einsamen Inseldasein gezwungen und muss sich die notwendigen Kulturtechniken erst wieder aneignen, um überleben zu können. Eine Gemeinsamkeit ist außerdem die zutiefst verunsichernde Begegnung mit dem lange verborgen gebliebenen anderen Menschen; im Unterschied zu [[Robinson Crusoe]] endet allerdings das Zusammentreffen sofort in einer Katastrophe. |
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Hierhin gehört auch, dass der einzige weitere Überlebende der Spezies Mensch ein überaus rücksichtloses Exemplar ist, das, kaum eingeführt, auch schon von der Protagonistin erschossen werden muss. Spätestens hierin gerät die dann doch eher negative [[Utopie]] dann aber auch zu einem [[Emanzipation|emanzipatorischen]] [[Frauenliteratur|Frauenroman]], der die implizite Kritik am gewaltbereiten [[Patriarchat (Soziologie)|Patriarchat]] nicht nur in der Entwicklung der Heldin durchführt, sondern darin auf die Spitze treibt, die zumindest innerhalb des von der Wand umschlossenen Mikrokosmos letzte Möglichkeit zur Paarung, Fortpflanzung und Rettung des Fortbestandes der Menschheit ''in toto'' auszuschließen. |
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Nochmals erscheint das Motiv der Wand im 1966 erschienenen, stark autobiografisch geprägten Kindheitsroman ''[[Himmel, der nirgendwo endet]]''. Dort heißt es: „Ganz langsam wächst eine Wand zwischen Mutter und Tochter auf. Eine Wand, die Meta nur in wildem Anlauf überspringen kann; kopfüber in die blaue Schürze, in eine Umarmung, die Mama fast den Hals verrenkt und ihr das Haar aus dem Knoten reißt.“<ref>{{Literatur |Autor=Marlen Haushofer |Titel=Himmel, der nirgendwo endet |Verlag=Ullstein Verlag |Ort=Berlin |Datum=2005 |Seiten=15}}</ref> Von dieser Warte aus lässt sich die Lage der ''Wand''-Erzählerin auch als [[Metapher]] für die Einsamkeit des Menschen verstehen, als Gefangenschaft im Ich. Diesen Blickwinkel nimmt Henner Reitmeier in seinem ''Relaxikon''-Artikel über Haushofer ein.<ref>''Der Große Stockraus'', Berlin 2009, S. 80; der Artikel ist auch {{Webarchiv |url=http://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2087685/ |text=online |wayback=20160307171243}} nachlesbar, abgerufen am 4. Juli 2012.</ref> Nebenbei macht Reitmeier auf eine bedenkliche Schwachstelle in der Romankonstruktion aufmerksam. Zu Beginn, nach dem Zusammenstoß mit der unsichtbaren Sperre am Ausgang der Schlucht, kann die [[Typologisches Modell der Erzählsituationen#Ich-Erzählsituation|Ich-Erzählerin]] gar nicht wissen, welches Ausmaß das Verhängnis haben wird. Eine kurze Untersuchung des Verlaufs der rätselhaften Wand bricht sie ab, um sich um eine mitgefangene Kuh zu kümmern. Gleichwohl geht sie sofort davon aus, im Gebirgskessel isoliert zu sein. Das bestätigt sich erst Wochen später bei einer Wanderung zur Alm. Hier liegt der Verdacht nahe, dass sie trotz der Tragik der Verloren- und Verlassenheit sie diese auch begrüßt. |
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⚫ | Über |
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[[Oskar Jan Tauschinski]] ordnet den Roman dem [[Magischer Realismus|magischen Realismus]] zu: Habe man die unerklärliche Existenz der Wand erst einmal akzeptiert, ergebe sich alles Weitere mit „der Unerbittlichkeit einer antiken Schicksalstragödie“. Die Spannung liege in der sachlich trockenen und exakten Schilderung dieser Ereignisse. Themen seien nicht nur der „matriarchalisch regierte Mikrokosmos“, den sich die Ich-Erzählerin schafft, sondern auch die Isolation, die ab der Lebensmitte die meisten denkenden Menschen betreffe. Tauschinski fasst die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit oder auch „Weltraumkälte“ des Romans folgendermaßen zusammen: „Erwarte nichts und trachte dennoch, mit allen deinen Kräften zu bestehen! Du bist allein. Keinem Menschen bist du nütze. Und fände sich auch ein Mensch in deiner Nähe, sei überzeugt, er wäre dein Todfeind!“<ref>[[Oskar Jan Tauschinski]]: ''Die geheimen Tapetentüren in Marlen Haushofers Prosa''. In: ''Oder war da manchmal noch etwas anderes?''. Texte zu Marlen Haushofer. Frankfurt am Main: [[Verlag Neue Kritik]], 1986, 2. Auflage 1995. S. 141 – 166. Erstmals erschienen 1966 als Vorwort zum Haushofer-Erzählband ''Lebenslänglich'' (für die Neuveröffentlichung leicht gekürzt und mit einem Titel versehen).</ref> |
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⚫ | Über die vorangegangenen [[Rezeption (Kunst)|Rezeptionsansätze]] hinaus lässt sich Haushofers Roman auch als Geschichte eines letztlich harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Tier in einer größtenteils unberührten Natur lesen. In manchen Passagen erscheinen sogar Züge einer Katzengeschichte, welche die Autorin wiederum im Kinderbuch ''[[Bartls Abenteuer]]'' (1964) aufnimmt. Insgesamt bleibt Haushofers Roman eine in schlichter, wenn auch sehr genauer Sprache dargebotene [[Utopie]], die zwischen Aufbegehren und Versöhnlichkeit zu schwanken scheint und vielleicht gerade darum das beliebteste Werk der Autorin ist. |
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== Soziale Medien == |
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Im Jahr 2019 entdeckte die französische Bloggerin Diglee zufällig das ihr bis dahin unbekannte Buch in einer Buchhandlung. Sie war so beeindruckt, dass sie ihre Empfindungen bei [[Instagram]] postete. Dies führte zu einem solchen Käuferansturm auf das Buch, dass der Verlag [[Actes Sud]] es in einer „Notaktion“ nachdrucken musste. „Seither boomt der Roman in ganz Frankreich im Zeichen eines neuen [[Ökofeminismus|Öko-Feminismus]]“.<ref>{{Internetquelle |autor=Joseph Hanimann |url=https://www.sueddeutsche.de/kultur/schauplatz-paris-bestseller-maschine-instagram-1.4374265 |titel=Bestseller-Maschine Instagram |werk=Süddeutsche Zeitung |datum=2019-03-19 |sprache=de |abruf=2024-07-13}}</ref> |
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== Ausgaben (Auswahl) == |
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* 1963 im [[Bertelsmann|Mohn Verlag]] |
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* 1968 im [[Bonnier|Claassen Verlag]], als Taschenbuch: dtv, München 1999, ISBN 3-423-12597-7. |
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* 1986 im [[Ernst Klett Verlag]], Stuttgart, mit Materialien für den Literaturunterricht, ISBN 3-12-351960-0. |
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* 2004 im [[Ullstein Verlag|List-Taschenbuch-Verlag]], Berlin, mit einem Nachwort von Klaus Antes, ISBN 978-3-548-60867-9; ISBN 978-3-548-61066-5 (Sonderausgabe 2012). |
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* 2010 im Verlag [[Büchergilde Gutenberg]], ISBN 978-3-7632-6300-4; ISBN 978-3-7632-6301-1. |
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=== Hörbuch === |
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* Marlen Haushofer: ''Die Wand'', gekürzte Lesung, Sprecherin: [[Elisabeth Schwarz (Schauspielerin)|Elisabeth Schwarz]], [[Hörbuch Hamburg]] 2007, ISBN 978-3-89903-753-1. |
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* Marlen Haushofer: ''Die Wand'', ungekürzte Lesung von [[Julia Stemberger]], Doppel-CD, Preiser/Naxos 2002, ISBN 978-3-7085-0020-1. |
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=== Verfilmung === |
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In den Jahren 2010 und 2011 verfilmte der österreichische Regisseur [[Julian Pölsler]] den Roman mit [[Martina Gedeck]] in der Hauptrolle. Der [[Die Wand (Film)|gleichnamige Film]] wurde von [[Coop99]] und Starhaus Filmproduktion produziert und hatte am 12. Februar 2012 auf der [[Internationale Filmfestspiele Berlin 2012|Berlinale]] Premiere.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_id=20121638 |titel={{!}} Berlinale {{!}} Programm {{!}} Programm |datum=2012-02-09 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20120209024007/http://www.berlinale.de/de/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_id=20121638 |archiv-datum=2012-02-09 |abruf=2022-10-16}}</ref> Der Kinostart in Österreich und Deutschland war im Oktober 2012.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.imdb.com/title/tt1745686/releaseinfo/ |titel=Die Wand (2012) - Informationen zur Veröffentlichung - IMDb |sprache=de-DE |abruf=2024-07-13}}</ref> |
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== Literatur == |
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* [[Ulf Abraham]]: ''Topos und Utopie. Die Romane der Marlen Haushofer.'' In: ''Vierteljahresschrift des Adalbert Stifter Instituts des Landes Oberösterreich.'' Heft 1–2, 1986, S. 53–83. |
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* [[Anke Bosse]], Clemens Ruthner (Hrsg.): ''„Eine geheime Welt aus diesem Splitterwerk enträtseln …“. Marlen Haushofers Werk im Kontext''. Francke, Tübingen/Basel 2000, ISBN 978-3-7720-2747-5. |
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* Jörg Kaiser: ''Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ als Darstellung eines psychischen Ausnahmezustands.'' Diplomarbeit, Graz 2003. |
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* Gertrud Schänzlin: ''Lebensversuche von Frauen.'' Klett, Stuttgart 1989, ISBN 3-12-399250-0. |
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* Ansgar Skoda: ''Isolation als Selbstentwurf. Das dialektische Verhältnis von Utopie und Restriktion am Beispiel von Marlen Haushofers „Die Wand“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“.'' Magisterarbeit, Bonn 2010. |
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* Celia Torke: ''Die Robinsonin. Repräsentationen von Weiblichkeit in deutsch- und englischsprachigen Robinsonaden des 20. Jahrhunderts.'' V & R Unipress, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89971-667-2 (Zugleich Dissertation an der [[Universität Göttingen]], 2008). |
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== Weblinks == |
== Weblinks == |
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* [https://web.archive.org/web/20111212043321/https://www.marlenhaushofer.ch/publikationen/von_marlen_haushofer/romane/die_wand.php Die Wand - Klappentext] (Webarchiv) |
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*[http://www.feministische-sf.de/einzelne_romane/fsf_die-wand.html#Die%20Wand weitere Artikel zum Buch] |
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* [https://web.archive.org/web/20130307130924/http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/strigl15.htm Daniela Strigl: Die Wand] (Webarchiv) |
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== Einzelnachweise == |
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<references /> |
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[[Kategorie:Frauenliteratur|Wand, Die]] |
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{{Normdaten|TYP=w|GND=4231278-4|VIAF=220438038}} |
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{{SORTIERUNG:Wand #Die}} |
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[[Kategorie:Literatur (20. Jahrhundert)]] |
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[[Kategorie:Marlen Haushofer]] |
Aktuelle Version vom 22. August 2024, 16:01 Uhr
Die Wand ist ein Roman der Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahr 1963. Dieser dritte und erfolgreichste Roman der damals 43-jährigen Autorin beschreibt das Leben einer Frau, die durch eine plötzlich auftauchende, unsichtbare Wand von der Zivilisation abgeschnitten wird. Die Verfilmung des Romans kam 2012 unter demselben Titel in die Kinos. Im gleichen Jahr wurde der Stoff von Christian Nickel für das Burgtheater inszeniert.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die vierzigjährige namenlose Protagonistin tritt in dem Roman als Ich-Erzählerin auf. Sie reist mit ihrer Cousine Luise und deren Ehemann Hugo an einem Wochenende zu einer Jagdhütte ins Gebirge. Das Ehepaar sucht abends noch eine im Tal gelegene Gaststätte auf. Morgens vermisst die Erzählerin ihre Begleiter und verlässt die Hütte, um nach ihnen Ausschau zu halten. Doch am Ausgang der Schlucht stößt sich der bei ihr verbliebene Hund des Paares die Schnauze an einer unsichtbaren Sperre blutig. Ein Mann, der im Tal an einem Brunnen Wasser schöpft, wirkt in ihrem Fernglas wie versteinert.
Es scheint, als habe ein großes Unglück alle – zumindest aber alle ihr durch die durchsichtige Wand erkennbaren – Lebewesen tödlich erstarren lassen. Die Ich-Erzählerin ist durch die rätselhafte Wand vor diesem Unglück geschützt und zugleich gefangen. Da sich das von der Wand umschlossene Gebiet über mehrere Jagdreviere erstreckt, lernt die so Isolierte allmählich, sich von den verbliebenen Vorräten, den Früchten und Tieren des Waldes und ihrem Garten zu ernähren. Zu der Sorge um ihre eigene Existenz kommt dabei bald die Sorge um verschiedene Tiere, die ihr zulaufen: neben dem Hund mehrere Katzen sowie eine trächtige Kuh. Während des dritten Winters fertigt sie den vorliegenden Bericht an – ohne zu wissen, ob ihn jemals jemand zu Gesicht bekommen wird. Zu ihrem früheren Leben entwickelt sie eine zunehmende Distanz, die sich besonders bei der Betrachtung ihres Verhältnisses zu ihren Töchtern ausdrückt, deren Schicksal ungewiss ist.
Gegen Ende erscheint auf der Alm, welche die Frau als Sommerquartier bezogen hat, ein Mann. Da er ohne ersichtlichen Grund ihren von der Kuh geborenen jungen Stier mit einer Axt erschlägt und auch den zur Hilfe eilenden Hund tötet, läuft sie zur Almhütte, bewaffnet sich mit ihrem Jagdgewehr und erschießt den Mann, ohne zu zögern. Der Roman klingt optimistisch aus. Am Ende schreibt die Erzählerin unter anderem: „Seit heute früh weiß ich sicher, daß Bella ein Kalb haben wird. Und, wer weiß, vielleicht wird es doch wieder junge Katzen geben.“[1] Ihr Schicksal bleibt offen.
Entstehung und Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Marlen Haushofer erwähnte in einem Gespräch: „Der Stoff zur Wand muß immer schon dagewesen sein (…) Ich habe ihn mehrere Jahre herumgetragen, aber ich habe mir nicht einmal Notizen gemacht (…). Ich habe auch mit niemandem darüber gesprochen.“ Die Autorin wohnte in den 1950er Jahren mit ihrer Familie in der Steyrer Innenstadt, zuletzt im Haus Pfarrgasse 8. Dieses mehrere hundert Jahre alte Bürgerhaus war nicht nur eng und schlecht beheizt, sondern beherbergte auch eine Schlachterei. Dies habe sie sehr belastet, wie sie in einem Brief an ihren Mentor Hans Weigel schreibt.
Im Spätsommer 1960 übersiedelte die Familie in das Haus Taborweg 19, ein Zweifamilienhaus mit Garten und Zentralheizung im Stadtteil Tabor. Erst danach, im November 1960, begann Haushofer mit der Niederschrift des Romans. Der Arbeitstitel lautete erst Die gläserne Wand, wurde jedoch noch während der Arbeit am Manuskript in Die Wand umgeändert. Die erste Niederschrift ist noch in der dritten Person abgefasst und die später namenlose Ich-Erzählerin heißt Isa, der Hund Maxi (später: Luchs).

Das Vorbild für das Jagdhaus ist die 1924 erbaute, etwa eine Stunde Fußmarsch vom Forsthaus Effertsbach entfernte Lackenhütte im Mollner Ortsteil Ramsau. Die Alm, auf welche die Ich-Erzählerin mit den Tieren im Sommer übersiedelt, ist der Haidenalm nachempfunden.
Die Autorin ließ sich bei Fragen über Tiere und Pflanzen von ihrem Bruder Rudolf beraten, der ein Studium der Forstwissenschaft abgeschlossen hatte. Das Setzen von Interpunktionszeichen und Absätzen im Typoskript überließ sie ihrem Mentor Hans Weigel. Für die Publikation wechselte Haushofer vom österreichischen Zsolnay-Verlag zu S. Mohn (Gütersloh).[2]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Haushofers Roman kann in vielfältiger Weise rezipiert werden. Er kann als radikale Zivilisationskritik verstanden werden, die den Menschen wieder in die Natur zurückversetzt und ihm Kulturgüter wie den am Haus langsam zuwachsenden Mercedes als ebenso unsinnig wie überflüssig entzieht. Positiv betrachtet, sichert sie dem Menschen dadurch das Überleben – und die Möglichkeit, sich zu läutern. Andererseits fordert sie durch die isolierte Lebensweise der Erzählerin einen hohen Tribut.
Der einzige weitere Überlebende erweist sich als so aggressiv, dass er, kaum eingeführt, von der Protagonistin erschossen wird. Eine darauf Bezug nehmende Lesart ist, den Roman als Kritik am Patriarchat aufzufassen. Zwar wird der verstorbene Ehemann der Erzählerin in ihren Erinnerungen nicht angeprangert, doch er spielt eine Nebenrolle und immer wieder fällt auf, wie unzufrieden sie mit ihrem bisherigen Leben gewesen sein musste.[3] Die Protagonistin erwähnt, dass sie ihre Situation nur mit einer alten Frau teilen wolle und dass sie lieber alleine lebe, als mit einem Mann zu zweit eingeschlossen zu sein.[4] Dieses Detail stützt die Aussage der Kritik am Patriarchat und zeigt gleichzeitig, wie sie sich langsam mit ihrer Situation abfindet.
Deutlich sind die Eigenschaften einer Robinsonade zu erkennen: Ein Mensch wird unversehens und unverschuldet zu einem einsamen Inseldasein gezwungen und muss sich die notwendigen Kulturtechniken erst wieder aneignen, um überleben zu können. Eine Gemeinsamkeit ist außerdem die zutiefst verunsichernde Begegnung mit dem lange verborgen gebliebenen anderen Menschen; im Unterschied zu Robinson Crusoe endet allerdings das Zusammentreffen sofort in einer Katastrophe.
Nochmals erscheint das Motiv der Wand im 1966 erschienenen, stark autobiografisch geprägten Kindheitsroman Himmel, der nirgendwo endet. Dort heißt es: „Ganz langsam wächst eine Wand zwischen Mutter und Tochter auf. Eine Wand, die Meta nur in wildem Anlauf überspringen kann; kopfüber in die blaue Schürze, in eine Umarmung, die Mama fast den Hals verrenkt und ihr das Haar aus dem Knoten reißt.“[5] Von dieser Warte aus lässt sich die Lage der Wand-Erzählerin auch als Metapher für die Einsamkeit des Menschen verstehen, als Gefangenschaft im Ich. Diesen Blickwinkel nimmt Henner Reitmeier in seinem Relaxikon-Artikel über Haushofer ein.[6] Nebenbei macht Reitmeier auf eine bedenkliche Schwachstelle in der Romankonstruktion aufmerksam. Zu Beginn, nach dem Zusammenstoß mit der unsichtbaren Sperre am Ausgang der Schlucht, kann die Ich-Erzählerin gar nicht wissen, welches Ausmaß das Verhängnis haben wird. Eine kurze Untersuchung des Verlaufs der rätselhaften Wand bricht sie ab, um sich um eine mitgefangene Kuh zu kümmern. Gleichwohl geht sie sofort davon aus, im Gebirgskessel isoliert zu sein. Das bestätigt sich erst Wochen später bei einer Wanderung zur Alm. Hier liegt der Verdacht nahe, dass sie trotz der Tragik der Verloren- und Verlassenheit sie diese auch begrüßt.
Oskar Jan Tauschinski ordnet den Roman dem magischen Realismus zu: Habe man die unerklärliche Existenz der Wand erst einmal akzeptiert, ergebe sich alles Weitere mit „der Unerbittlichkeit einer antiken Schicksalstragödie“. Die Spannung liege in der sachlich trockenen und exakten Schilderung dieser Ereignisse. Themen seien nicht nur der „matriarchalisch regierte Mikrokosmos“, den sich die Ich-Erzählerin schafft, sondern auch die Isolation, die ab der Lebensmitte die meisten denkenden Menschen betreffe. Tauschinski fasst die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit oder auch „Weltraumkälte“ des Romans folgendermaßen zusammen: „Erwarte nichts und trachte dennoch, mit allen deinen Kräften zu bestehen! Du bist allein. Keinem Menschen bist du nütze. Und fände sich auch ein Mensch in deiner Nähe, sei überzeugt, er wäre dein Todfeind!“[7]
Über die vorangegangenen Rezeptionsansätze hinaus lässt sich Haushofers Roman auch als Geschichte eines letztlich harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Tier in einer größtenteils unberührten Natur lesen. In manchen Passagen erscheinen sogar Züge einer Katzengeschichte, welche die Autorin wiederum im Kinderbuch Bartls Abenteuer (1964) aufnimmt. Insgesamt bleibt Haushofers Roman eine in schlichter, wenn auch sehr genauer Sprache dargebotene Utopie, die zwischen Aufbegehren und Versöhnlichkeit zu schwanken scheint und vielleicht gerade darum das beliebteste Werk der Autorin ist.
Soziale Medien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Jahr 2019 entdeckte die französische Bloggerin Diglee zufällig das ihr bis dahin unbekannte Buch in einer Buchhandlung. Sie war so beeindruckt, dass sie ihre Empfindungen bei Instagram postete. Dies führte zu einem solchen Käuferansturm auf das Buch, dass der Verlag Actes Sud es in einer „Notaktion“ nachdrucken musste. „Seither boomt der Roman in ganz Frankreich im Zeichen eines neuen Öko-Feminismus“.[8]
Ausgaben (Auswahl)
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- 1963 im Mohn Verlag
- 1968 im Claassen Verlag, als Taschenbuch: dtv, München 1999, ISBN 3-423-12597-7.
- 1986 im Ernst Klett Verlag, Stuttgart, mit Materialien für den Literaturunterricht, ISBN 3-12-351960-0.
- 2004 im List-Taschenbuch-Verlag, Berlin, mit einem Nachwort von Klaus Antes, ISBN 978-3-548-60867-9; ISBN 978-3-548-61066-5 (Sonderausgabe 2012).
- 2010 im Verlag Büchergilde Gutenberg, ISBN 978-3-7632-6300-4; ISBN 978-3-7632-6301-1.
Hörbuch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Marlen Haushofer: Die Wand, gekürzte Lesung, Sprecherin: Elisabeth Schwarz, Hörbuch Hamburg 2007, ISBN 978-3-89903-753-1.
- Marlen Haushofer: Die Wand, ungekürzte Lesung von Julia Stemberger, Doppel-CD, Preiser/Naxos 2002, ISBN 978-3-7085-0020-1.
Verfilmung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In den Jahren 2010 und 2011 verfilmte der österreichische Regisseur Julian Pölsler den Roman mit Martina Gedeck in der Hauptrolle. Der gleichnamige Film wurde von Coop99 und Starhaus Filmproduktion produziert und hatte am 12. Februar 2012 auf der Berlinale Premiere.[9] Der Kinostart in Österreich und Deutschland war im Oktober 2012.[10]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Ulf Abraham: Topos und Utopie. Die Romane der Marlen Haushofer. In: Vierteljahresschrift des Adalbert Stifter Instituts des Landes Oberösterreich. Heft 1–2, 1986, S. 53–83.
- Anke Bosse, Clemens Ruthner (Hrsg.): „Eine geheime Welt aus diesem Splitterwerk enträtseln …“. Marlen Haushofers Werk im Kontext. Francke, Tübingen/Basel 2000, ISBN 978-3-7720-2747-5.
- Jörg Kaiser: Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ als Darstellung eines psychischen Ausnahmezustands. Diplomarbeit, Graz 2003.
- Gertrud Schänzlin: Lebensversuche von Frauen. Klett, Stuttgart 1989, ISBN 3-12-399250-0.
- Ansgar Skoda: Isolation als Selbstentwurf. Das dialektische Verhältnis von Utopie und Restriktion am Beispiel von Marlen Haushofers „Die Wand“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“. Magisterarbeit, Bonn 2010.
- Celia Torke: Die Robinsonin. Repräsentationen von Weiblichkeit in deutsch- und englischsprachigen Robinsonaden des 20. Jahrhunderts. V & R Unipress, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89971-667-2 (Zugleich Dissertation an der Universität Göttingen, 2008).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Die Wand - Klappentext (Webarchiv)
- Daniela Strigl: Die Wand (Webarchiv)
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Marlen Haushofer: Die Wand. 14. Auflage. Claassen Verlag, Hamburg und Düsseldorf 2004, S. 275.
- ↑ Daniela Strigl: „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“, List Verlag, 2008, ISBN 978-3-548-60784-9, S. 242 ff., Kapitel: 1960 – Flucht durch die Wand und Vom richtigen Leben im falschen: Die Wand
- ↑ Marlen Haushofer: Die Wand. 26. Auflage. Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin 2020, S. 71 Mitte, S. 83 oben sowie S. 222.
- ↑ Marlen Haushofer: Die Wand. 26. Auflage. Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin 2020, S. 66.
- ↑ Marlen Haushofer: Himmel, der nirgendwo endet. Ullstein Verlag, Berlin 2005, S. 15.
- ↑ Der Große Stockraus, Berlin 2009, S. 80; der Artikel ist auch online ( vom 7. März 2016 im Internet Archive) nachlesbar, abgerufen am 4. Juli 2012.
- ↑ Oskar Jan Tauschinski: Die geheimen Tapetentüren in Marlen Haushofers Prosa. In: Oder war da manchmal noch etwas anderes?. Texte zu Marlen Haushofer. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik, 1986, 2. Auflage 1995. S. 141 – 166. Erstmals erschienen 1966 als Vorwort zum Haushofer-Erzählband Lebenslänglich (für die Neuveröffentlichung leicht gekürzt und mit einem Titel versehen).
- ↑ Joseph Hanimann: Bestseller-Maschine Instagram. In: Süddeutsche Zeitung. 19. März 2019, abgerufen am 13. Juli 2024.
- ↑ | Berlinale | Programm | Programm. 9. Februar 2012, archiviert vom am 9. Februar 2012; abgerufen am 16. Oktober 2022.
- ↑ Die Wand (2012) - Informationen zur Veröffentlichung - IMDb. Abgerufen am 13. Juli 2024 (deutsch).