„Fever (Roman)“ – Versionsunterschied
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'''Fever''' ist ein Roman der französischen Schriftstellerin [[Leslie Kaplan]] aus dem Jahr 2005, der sich mit der Frage der [[Willensfreiheit]], von [[Schuld (Ethik)|Schuld]] und [[Verantwortung]] und mit dem [[Generation]]enproblem auseinandersetzt. Er erschien 2006 auf Deutsch. |
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'''[[Leslie Kaplan]], Fever''' |
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Das englische Wort (deutsch: Fieber) dient im französischen Original und in der deutschen Ausgabe als Titel. Übersetzt von Sonja Finck. Berlin: Berlin-Verlag, 2006, 207 S. ISBN 3-8270-0628-7 |
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== Inhalt == |
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'''Ich saß hinterm Schreibtisch und machte meine Sachen''' (Adolf Eichmann) |
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Das Buch ist ein philosophischer [[Adoleszenz]]-Roman.<ref>zur Pubertät der Jungen: ''Warum aber hat ihre Pubertät die Richtung zu einem „bösen Fieber“ genommen?'' im Interview mit Claire Devarrieux in [[Libération]] ''Kaplan, sans mobile apparent''. Nr. 7358, 6. Jan. 2005, S. 1–3.</ref> Zwei Klassenkameraden ermorden in [[Paris]] eine junge Frau, gefunden nach dem Zufallsprinzip, anscheinend ohne jedes Motiv, ein [[acte gratuit]]? Zunehmend belastet die Tat sie. Vom Unterricht angestoßen, wollen sie die Geheimnisse ihrer Großeltern aus der Zeit der deutschen [[Deutsche Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg|Besetzung]] (1940–1944) des Landes enträtseln, jedoch schweigt Pierres jüdischer Großvater eisern. Damiens Opa, in der [[Kollaboration]] ein junger Beamter, weicht konkreten Nachfragen aus. Er versucht vielmehr, sein Verhalten während der Okkupation mit den damaligen Umständen zu rechtfertigen und weigert sich zu |
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'''Ich war kein normaler Befehlsempfänger, dann wäre ich ein Trottel gewesen, sondern ich habe mitgedacht, ich war ein Idealist gewesen.''' (derselbe) |
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akzeptieren, dass auch das Ausführen krimineller Anordnungen von Vorgesetzten ein Verbrechen ist. Den Höhepunkt des Romans stellt die Szene dar, als Damien merkt, dass sein gemeinschaftlich begangenes Verbrechen in einer Reihe mit dem Tun des Großvaters steht: |
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== Inhalt== |
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: ''Damien schaute seinen Großvater lange an, aber er sah ihn nicht wirklich. Er schaute ihn an; und plötzlich brach ein Damm. Dieser Satz, den er zu Damien gesagt hatte: das war genau das, was er selbst gesagt hatte. Mit einem Unterschied: anstelle der „Ordnungen“ hatte er selbst den Zufall gesetzt. „Wenn man dem Zufall Raum gibt …“''<ref>franz. Fassung S. 123. Hier eig. Übers. mit leichter Paraphrase, um die Aussage zu verstärken</ref> |
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Das Buch ist ein philosophischer [[Adoleszenz]]-Roman. Zwei Klassenkameraden ermorden in [[Paris]] eine junge Frau, gefunden nach dem Zufallsprinzip, ohne jedes Motiv. Zunehmend belastet die Tat sie. Vom Unterricht angestoßen, wollen sie die Geheimnisse ihrer Großeltern aus der Zeit der deutschen Besetzung (1940 – 1944) des Landes enträtseln, jedoch Pierres Großvater schweigt eisern. Damiens Opa, in der [[Kollaboration]] ein junger Beamter, weicht allen konkreten Nachfragen aus. Die Jungen beschäftigen sich nun mit den [[Deportation]]en von [[Juden]] in die [[Vernichtungslager]] im Osten und mit dem [[Papon]]-Prozess Ende der 90er Jahre. Sie lesen Zeugnisse über junge jüdische Opfer der Kollaboration und stoßen auf die [[Wannsee-Konferenz]], den gesamteuropäischen Mordplan der Nazis und der [[Deutsche Wehrmacht|Wehrmacht]], und [[Hannah Arendt]]s [[Eichmann]]-Buch. Das Schweigen der Großväter und ihre Beschäftigung mit den Tätern des deutschen Judenmordes lassen sie immer mehr in Alpträume und Angst geraten. Wie verrückt laufen sie im Quartier [[Montparnasse]] herum, auf der Flucht vor sich selbst und vor der familiären Vergangenheit, während sie zugleich erfolgreich das Abitur ablegen. |
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Die Jungen beschäftigen sich nun mit den [[Deportation]]en von [[Juden]] in die [[Vernichtungslager]] im Osten und mit dem [[Maurice Papon|Papon]]-Prozess Ende der 1990er Jahre. Sie lesen Zeugnisse über junge jüdische Opfer der Kollaboration und stoßen auf die [[Wannsee-Konferenz]], den gesamteuropäischen Mordplan der Nazis und der [[Wehrmacht]], und [[Hannah Arendt]]s [[Adolf Eichmann|Eichmann]]-Buch. Von Ängsten und Depressionen geplagt, unfähig sich jemandem anzuvertrauen, wie ohne eigene Identität, laufen sie im [[Quartier du Montparnasse]] herum, auf der Flucht vor sich selbst und vor der [[Generation|familiären Vergangenheit]], während sie erfolgreich das Abitur ablegen. |
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== Die Schule, die Philosophie== |
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In Fever werden die letzten drei Monate einer Klasse vor dem Abitur erzählt, mit Schwerpunkt auf dem Fach [[Philosophie]], weiterhin Geschichte und Englisch. Im Unterricht der beliebten Philosophie-Lehrerin, die äußerlich dem Mordopfer ähnelt, wird lebhaft diskutiert, über Hannah Arendt, über den [[Zufall]] im Leben und in der Psychologie ([[Freud]]). |
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Die sechs Deportationen und die Figur des Eichmann bilden Topoi, um die Hauptaussage des Buches – das Schweigen lässt Verbrechen weiterwuchern – zu untermauern. Wie auch sonst, schreibt Kaplan in einer musik-ähnlichen Sprache, mit vielen Wiederholungen, wobei jedes Wort eine eigene Nuance hat, und mit einer ungewöhnlichen Interpunktion. |
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Als die Jungen den Mord planten, im Herbst zuvor, sollte es ein Experiment sein: den ''Zufall'' für sich arbeiten lassen, frei sein. Nach dem Mord allerdings ziehen sich die beiden immer mehr aus der Klassengemeinschaft zurück, ihre zeit-intensive Beschäftigung mit der [[Shoa]] und ihre Verrücktheit stören die Kommunikation mit den anderen. |
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''Fever'' ist sowohl [[fiktional]], beginnend mit seiner Rahmenhandlung, dem Mord, als auch dokumentarisch, in den wie journalistisch geschriebenen Berichten über den Papon-Prozess sowie über Eichmanns mörderische Tätigkeit. Die Klammer zwischen den beiden Ebenen bildet die Verantwortung, nach der Kaplan sowohl die jugendlichen Mörder als auch die Nazitäter befragt. |
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In der Schule gibt es viele Anspielungen auf Figuren der Literatur- und Geistesgeschichte. Der Unterricht in der Abschlussklasse ist anspruchsvoll, die jungen Menschen sind meistens begeistert. |
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Als Literaturgattung kann ''Fever'' als [[Parabel (Sprache)|Parabel]] in Romanform gelten, indem das Buch im Schicksal der Großvater-Enkel-Generationen allgemein-menschliche Probleme aufzeigt. „Ich wollte zum einen etwas über ''Jugendliche heute'' schreiben, zum anderen etwas über das Gewicht der Geschichte, wie sich die Dinge übertragen, wie sich ''die Vergangenheit völlig unbewusst vererbt'' … Die Generationenfrage, die Frage, was von Generation zu Generation weitergegeben wird, betrifft jeden von uns und auch sämtliche Humanwissenschaften.“ (Kaplan im Deutschlandfunk) |
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== Jugend, die Adoleszenz, die [[Frauen]]== |
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Die beiden Hauptfiguren benehmen sich oft pubertär, schon der lange geplante Mord sieht zunächst aus wie ein aus dem Gleis geratener Dummer-Jungen-Streich. Besonders am Verhältnis zu Frauen zeigt sich, dass ihnen die Einfühlung in andere Menschen fehlt. Ihr Verhalten zur Lehrerin schwankt zwischen erotisch gefärbter Anziehung und Angst vor ihrer Überlegenheit. Im Unterbewusstsein lauert eine Geringschätzung von Frauen, einmal stellen sie Frauen mit „Juden“ gleich. – Im Gegensatz dazu zeichnet Kaplan Mitschüler(innen) und eine andere Gleichaltrige sehr positiv und lebendig. |
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Eine Nebenfigur, Yves, hat eine (längst nicht so schlimme) Untat begangen, er hat einen Lehrer aus dem Fenster gehängt, er ist sozusagen eine proletarische Variante der beiden Jungen. An diesen Stellen reflektiert Kaplan, mit den Worten des arbeitslosen Vaters von Yves, über den Sinn der [[Arbeit]], ihr literarisches Hauptthema seit dem ersten Werk ''Exzess''. |
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== Paris Montparnasse, der Song ''Fever'', Familie, Generationen== |
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''Fever'' ist auch ein Paris-Roman , vor allem über das Quartier [[Montparnasse]]. Die Jungen laufen viel herum, das tägliche Leben der Einwohner, Läden, Parks und Friedhöfe werden geschildert. Es überwiegt, von den beiden Tätern abgesehen, eine heitere Grundstimmung, die vor allem der titelgebende Song [[Fever(Song)| Fever]] markiert. Deshalb dient dieses englische Wort auch für beide Sprachversionen (das Original und die Übersetzung) als Titel. Der Song kommt immer wieder vor, er ist das Symbol für die hier vorgestellte Generation, und auch für die ihrer Eltern. |
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Deutsche Leser verstehen den Roman besser, wenn sie berücksichtigen, dass die Kollaboration des französischen Staates erst seit den 1990er Jahren, also etwa eine Generation später als in Deutschland, breit thematisiert und bedauert wurde. Chirac erkannte 1995 die aktive Mitwirkung des „État français“ an der Shoah an. Das Buch war für Franzosen also gleichzeitig ein Anstoß, sich hierüber zu verständigen. |
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Wir blicken in die Familien der Täter, die äußerlich einen Drei-[[Generation]]en-Zusammenhang bewahren, mit regelmäßigen Anlässen, zum Beispiel Sonntagsessen. Auffallend farblos bleiben die Eltern der beiden Täter, sie sind ja das Bindeglied zwischen den Großvätern, die den Generationszusammenhang durch (Ver-)Schweigen unterbrechen, und den Jungen. Die Väter sind nur an Arbeit interessiert, die Mutter Damiens lebt eine traditionelle Frauenrolle aus (Kochen, Erotik), Pierres Mutter ist labil, sie gerät schnell in Wut über Kleinigkeiten. Kaplan zeigt, dass schon für die Elterngeneration die familiäre Tradition, eine Weitergabe von Lebenserfahrungen, unterbrochen war. Die Eltern konnten das noch aktivistisch verdecken. Erst bei den Enkeln wird die Leere, welche die [[Nazi]]-Verbrechen erzeugten, ganz offen sichtbar. |
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Indem der Roman ein Motiv der Mörder darin sieht, eine geistige Überlegenheit (z. B. gegenüber Ermittlern) zu behaupten, gibt es ein reales Vorbild in der jüdischen US-Affäre [[Leopold und Loeb]] von 1924, welche Kaplan sicher bekannt ist. |
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== Judentum == |
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Pierres Familie ist jüdischer Herkunft. Alle Blutsverwandten des Großvater Elie haben die Nazis in [[Galizien]] ermordet. Auch seine spätere Frau war deportiert worden, sie hatte aber überlebt. In der Wohnung leben drei Generationen zusammen, es ist unruhig. |
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== Die Schule, die Adoleszenz == |
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Was bedeutet das Judentum dieser Familie in ''Fever''? Es heißt zunächst: Erinnerung an das Leid. Oft überträgt der schweigende Großvater eine diffuse Traurigkeit auf Pierre. Das Trauma des Elie ist sehr groß, er fühlt sich wie im [[Exil]], bisweilen empfindet auch der Enkel so: einsam, verlassen. Elie erinnert den Enkel an den ''[[ewiger Jude|ewigen Juden]]'', der ruhelos durch die Welt streift. Das Buch liegt herum, Pierre hat es nicht gelesen. Und im Teeladen, den seine Großmutter und Mutter gemeinsam betreiben, hängt ein [[Talmud]]-Spruch an der Wand, der besagt, dass der Mensch nicht nur für sich allein lebt. Im Ganzen also ein wenig formelles Judentum, ungebunden, humanistisch, wie bei [[Spinoza]], diesem kränklichen, lebensfrohen Juden, den seine Gemeinde der Theologie wegen hinausgeworfen hatte. Mit ihm hatte sich Pierre in der Schule gerne beschäftigt. |
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Als die Jungen den Mord planten, sollte es ein Experiment sein: den ''Zufall'' für sich arbeiten lassen, frei sein. Der Plan faszinierte sie sehr. Nach dem Mord allerdings ziehen sich die beiden immer mehr aus der Klasse zurück, ihre Verrücktheit stört die Kommunikation. Sie werden zu Außenseitern. Ihre [[Selbstachtung]] sinkt; der Mord beweist gerade nicht ihre Freiheit, sondern im Gegenteil ihre Verstrickung in die zwei Familiengeschichten. |
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==Die Kollaboration: Papon, Vichy== |
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Damiens Großvater verweigert seinem Enkel eine Auskunft darüber, was er als junger Mann gedacht hatte, und wie konkret er in Deportations-Verbrechen verwickelt gewesen sein könnte. Die beiden Jungen vermuten Böses, können aber nichts heraus bekommen. Diese Verweigerung treibt sie mehr als ein mögliches Schuldbekenntnis in den Wahn. Wegen der gestörten Kommunikation greifen sie zu schriftlichen Quellen, erst aus dem [[Papon]]-Prozess, dann zum [[Eichmann]]-Buch. Aber gerade diese Lektüre lässt sie immer verzweifelter werden, wie versteht man jene Welt, in der tagtäglich und überall das Böse herrschte? Schließlich merken sie, dass auch ihre eigene Tat zur Reihe des Bösen in der Geschichte gehört. Das wird symbolisiert durch die Figur eines Eichmann-ähnlichen, schmutzigen Clowns, der Damien in Alpträumen heimsucht. War es gar nicht der Zufall, sondern die Vergangenheit ihrer Familien, die sie unbewußt zum Mord trieb? |
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Die Nazi- und Kollaborationsverbrechen kommen in der Schule im Blickwinkel Arendts vor. Eine Mitschülerin hält ein Referat über die Occupation. Pierre selbst spricht erst in der Schlusswoche, als ''Hamlet'' zum Thema wird, plötzlich über seine intensive Lektüre in der letzten Zeit. ''…begann er hastig und unzusammenhängend über [[Vichy-Regime|Vichy]] zu sprechen, über die Spuren von Vichy, über Eichmann,… es sprudelte nur so aus ihm heraus…'' |
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Kaplan schildert sechs konkrete Fälle aus dem Prozeß gegen Papon, welche die Verantwortungslosigkeit dieses Karriere-Bürokraten, aber auch kleinerer Figuren, Polizisten, Verwalter, zeigen. Mit den bisher unbekannten Fallgeschichten wird den Opfern ein Denkmal gesetzt. Kaplan meint, dass der einzelne durchaus Handlungsräume hatte. Jeder konnte sich in der schlimmsten Situation, während der Okkupation oder bei der Deportation, menschlich –oder eben mörderisch- zu zeigen. Sie gibt auch Beispiele der erfolgreichen Hilfe für Juden. |
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Die beiden Hauptfiguren benehmen sich oft unreif, schon der Mord sieht zunächst aus wie ein aus dem Gleis geratener Dummer-Jungen-Streich. Ihr Verhalten zur Lehrerin schwankt zwischen Anziehung und Angst vor ihrer Überlegenheit. Im Unterbewusstsein lauert eine Geringschätzung von Frauen, einmal stellen sie Frauen mit „Juden“ gleich, ein anderes Mal ruft Damien aus vollem Herzen: „Nieder mit den Frauen!“ |
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==Eichmann, die Wannsee-Konferenz, Hannah Arendt== |
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Durch den Papon-Prozeß und die Lektüre in der Schule stoßen die Jungen auf die Figur des Adolf Eichmann, über dessen Darstellung durch Hannah Arendt bis heute Kontroversen bestehen (siehe dazu von ihr selbst: Das Böse. München: Piper, 2006). Seine Äußerung im Jerusalemer Prozess ''...und ich sah [[Heydrich]] rauchen und trinken'' über seine Rolle bei der Wannsee-Konferenz zeigt sein Karriere-Streben, der Satz wird schließlich zum „Passwort“ in der Kommunikation der Jungen, die immer oberflächlicher wird. ''Fever'' ist in wesentlichen Teilen ein [[Palimpsest]], ein literarisch-fiktives Überschreiben des Eichmann-Buchs. Auch Arendt-Gedanken aus anderen Büchern werden in ''Fever'' zitiert (siehe dazu: Weblinks). |
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Kaplan markiert die Adoleszenz sowohl philosophisch, wie bei [[Dostojewski]], als Anrennen gegen Normen, als auch psychologisch: die beiden Jungen morden aus pubertärem Größenwahn. Die Schüler hatten gelernt, dass der Mensch nur in der Gemeinschaft existiert: Es sind „die Menschen“ und nicht „der Mensch“, welche die Erde bewohnen. Damien und Pierre wollen den Gegenbeweis dazu antreten: es kommt auf den Einzelnen in seinem [[Nihilismus]] und radikalen Individualismus, mit seiner subjektiven Ästhetik an: ''Diese Frau oder eine andere, sie hatten kein Motiv, keinen persönlichen Beweggrund, sie ließen den '''Zufall''' entscheiden,… dann waren sie '''die Größten'''. Leicht? Eher einfach, wie ein mathematischer Beweis, der sich durch Einfachheit auszeichnet, daher seine Schönheit, seine Eleganz.'' |
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Eichmann war ein karrierebewusster, gewissenloser Schreibtischtäter, der begeistert die Aufgabe übernahm, die europaweiten Eisenbahnzüge in die [[Vernichtungslager]] auszulasten und zu organisieren. Er behauptete, den Anblick der Mordtaten, zu dem ihn sein Vorgesetzter [[Heinrich Müller]] bisweilen in Ostpolen nötigte, schlecht verkraftet zu haben. Zur Abwehr minimaler Zweifel, die er gehabt haben könnte, schuf er sich eine von der Realität getrennte Scheinwelt aus Klischees, Sprachregelungen, welche die Nazis und die Kollaborateure erfunden hatten, eine Phantastik, die Eichmann bis zur Minute seiner Hinrichtung aufrecht erhielt. |
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„Fever“ als Adoleszenzroman handelt von einer misslingenden Bildung von [[Identität]], eine verweigerten Reifung zum [[Männlichkeit|Mann]]. Die Lektüre über die Kollaborateure und über Eichmann ersetzt ihnen die Antworten, die sie bei den Älteren nicht erhalten: ''… begann er zu recherchieren und klapperte Buchhandlungen ab. Er spürte eine große Dringlichkeit, er stand kurz vor dem Explodieren… Damien las hastig, er verschlang die Texte, er verleibte sie sich ein… (Es) schwebte über all diesen präzisen, stichhaltigen Informationen, den Tatsachen …, die er anhäufte, etwas anderes, ein Eindruck, ein Gefühl, aber welches?'' (141f.) |
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Kaplan schließt mit Arendt: die Welt wird solange lebenswert sein, wie es Menschen gibt, die sich dem herrschenden Trend entgegen stellen. Auch in einer Umgebung tiefster Finsternis, wie der deutschen Herrschaft über Europa, lässt sich Menschlichkeit bewahren und Widerstand leisten, so, wie es die Regierungen bestimmter Länder ([[Dänemark]], [[Bulgarien]]) gegen das Deportations-Verlangen der Deutschen gemacht haben. |
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Ingeborg Harms verknüpft in einer Rezension in der FAZ die männliche „Adoleszenz“ der beiden, insbesondere ihren Frauenhass, eigentlich gegen die Lehrerin, die sie nicht erreichen, ersatzweise gegen die Unbekannte, mit dem Motiv der Rache an den Großvätern. Diese unbewusste Rache ist bei beiden Jungen anders gelagert, je nach Familie. Nach dem Mord beginnt ihre Selbsterkenntnis, die Psychologie siegt über die abstrakte Philosophie. Allerdings verstört diese „Trauerarbeit“, die „Schule des Lebens“ die Jungen bis zum Wahn. |
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== Rezeption von ''Fever''== |
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Das Buch informiert auf einem hohen Sprachniveau über das Kapitel Judenvernichtung in der jüngsten Geschichte und ihre Nachwirkung bis heute. Es verwendet die dafür seltene fiktionale Romanform, nicht das übliche Mittel der (Auto-) Biographie. |
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== Judentum == |
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Das Werk erhält für seine Übersetzung den [[André-Gide-Preis]] 2006, der auch seine Bedeutung im deutsch-französischen Kontext würdigt. |
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Pierres Familie ist jüdischer Herkunft. Alle Blutsverwandten des Großvaters Elie haben die Nazis in [[Galizien]] ermordet. Auch seine spätere Frau war deportiert worden, sie hatte aber überlebt. In der Wohnung leben drei Generationen zusammen, es ist unruhig. |
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Ergänzend wird man sich mit der Frage der Besetzung Frankreichs ([[Occupation]]), der Kollaboration großer Teile des Staatsapparates, beschäftigen. [[Frankreich]] war aus historischen und soziologischen Gründen, dem engen Zusammenhalt der Eliten, dem [[Algerien]]-Krieg, dem Kalten Krieg erst sehr spät, seit 1987 ([[Klaus Barbie|Barbie-Prozess]]), bereit, seine aktive Beteiligung an den Naziverbrechen, insbesondere der Deportation, in weiteren Kreisen zur Kenntnis zu nehmen und zu bearbeiten. Es dauerte z.B. über sieben Jahre nach dem Abschluss des Papon-Prozesses, bis der Oberste Gerichtshof in Paris im Februar 2006 erlaubte, dass umfangreiche Filmaufnahmen daraus ab Herbst 2006 der Öffentlichkeit in insgesamt 40 Teilen dauerhaft zur Verfügung stehen werden. |
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Das Judentum dieser Familie bedeutet Erinnerung an das Leid. Der schweigende Großvater überträgt eine diffuse Traurigkeit auf Pierre. Das Trauma des Elie ist sehr groß, er fühlt sich wie im [[Exil]], bisweilen empfindet auch der Enkel sich einsam, verlassen. Elie erinnert den Enkel an den ''[[Ewiger Jude|ewigen Juden]]'', der ruhelos durch die Welt streift. Es ist ein wenig formelles Judentum, ungebunden und humanistisch. |
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== Weblinks == |
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Die Shoah nimmt Pierre aber auch zum Anlass, an Gottes Gerechtigkeit überhaupt zu zweifeln ([[Theodizee]]). Gott hatte seinem auserwählten Volk den Rücken zugekehrt, er hatte zugelassen, dass es fast vernichtet wurde. In den Worten Pierres: ''Gott ist ein Versager''. |
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*Zu Arendts/Kaplans Wortwahl „Banalität des Bösen“ [http://edocs.tu-berlin.de/diss/2004/falkenhagen_hilke.pdf] |
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== Die Kollaboration und die Opfer == |
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*Unterrichtsmaterial (Frz.) aus der Europaschule Brüssel 3, für vorletzte Abiturklassen (Französisch als Muttersprache): [http://www.1001feuilles.com/docs_flm_e_o_6/] Leslie Kaplan |
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Damiens Großvater verweigert seinem Enkel eine Auskunft darüber, was er als junger Mann gedacht hatte, und wie konkret er in [[Deportation]]s-Verbrechen verwickelt war. Der Frage ''Warst du in der [[Résistance]]?'' weicht er aus. Indem er Verbrechen, die man ohne innere Beteiligung, ohne ein Motiv, begeht, nicht als solche einstuft, liegt der Schluss nahe, dass er selbst durchaus aktiv an solchen beteiligt war. Die beiden Jungen vermuten daher Böses, bekommen aber nichts Genaues heraus. Bis zu diesem Tag hatten beide ein ganz herzliches Verhältnis zu ihren Opas. Jedoch deren Schweigen treibt sie in den Wahn. Wie versteht man eine Welt, in der täglich und überall das Böse herrscht? Schließlich merken sie, dass ihre eigene Tat in diese Reihe des Bösen gehört. |
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*Wissenschaftliche Erörterung und viele Literaturhinweise zur Schamabwehr in der beteiligten Generation gegenüber den Nachgeborenen, auch für den pädagogischen Bereich, unter: [http://www.shoa.de/content/view/432/45/] |
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In einem seiner vielen Alpträume sieht Damien eine Menschenmasse, Gefangene, alle mit dem Gesicht der Ermordeten. Die |
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*Zu den Schwierigkeiten Frankreichs im Umgang mit der Vergangenheit, vor allem Vichy und dem Algerien-Krieg, ist informativ: [http://zeus.zeit.de/text/archiv/2002/12/200212_nora.xml] |
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Menschen stellen bildlich die Opfer des Nationalsozialismus dar.<ref>frz. Fass, S. 164.</ref> Auch die beiden Jungen werden so assoziativ mit den NS- und Vichy-Tätern in Verbindung gebracht. Doch die beiden selbst sind bis zuletzt unfähig, sich ihrer Täterrolle bewusst zu werden, eine Haltung, die sie mit den altgewordenen Kollaborateuren von damals teilen. |
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''Fever'' schildert einige Fälle aus dem Prozess gegen Papon, welche die Verantwortungslosigkeit dieses Bürokraten zeigen, der mit einem Federstrich 1410 Juden aus Bordeaux in den Tod schickte. Aber auch kleinere Kollaborateure, Zeitungsschreiber, Polizisten, Verwalter, werden bei ihrem miesen Job unter der ''[[Deutsche Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg|Occupation]]'' betrachtet. Mit den bisher wenig bekannten Fallgeschichten wird den Opfern ein [[Erinnerungskultur|Denkmal gesetzt]]. Kaplan meint, dass der einzelne Franzose durchaus Handlungsräume hatte. Jeder konnte sich sogar angesichts der Deportation, menschlich – oder eben mörderisch – zeigen. So dokumentiert sie Beispiele der Hilfe für Juden, auch vergeblicher Versuche dazu. |
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*Info über den Papon-Prozess: [http://www.trial-ch.org/trialwatch/profiles/de/legalprocedures/p188.html](deutsch) oder: Frankreich-Lexikon, Hg. Bernhard Schmidt u.a., Artikel „Affaires....Papon“, und andere Artikel; 2. Aufl., Erich Schmidt Verlag Berlin, 2005 |
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* Ausführliches Dossier über Papon und die Prozesse in frz.: [http://www.histoire.fr/vert/html/ftheme.htm]>Dossiers >Dossiers précédents >Le Procès Papon, dort auch große Bibliographie, Gerichtsbeschluss vom Febr. 2006 über die dauerhafte Veröffentlichung von Aufnahmen aus dem Prozess (>Publication judiciaire de Fevr. 2006) |
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Die Opfer, welche Kaplan aus dem Papon-Prozess erwähnt, sind: |
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==Die Autorin über diesen Roman == |
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Die Autorin äußerte sich im Gespräch mit einer jungen Leserin 2005 zu diesem Buch, ihre Anmerkungen erleichtern das Verständnis des Romans. |
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* Sylvain Mohlo, 15 J., und sein Bruder, 13 J.; gerettet durch Einsatz ihres Vaters und durch Glück |
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'''''Für mich bedeutet „schreiben”, danach zu streben, dass ich die ganze Wirklichkeit darstelle.''''' |
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* Irma Reinsberg, 20 J. alt, beim 2. Flucht-Versuch den Nazis entkommen |
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* Robert Goldenberg, geb. 26. August 1903 in Paris, verheiratet mit einer Nicht-Jüdin. Deportiert am 26. Juni 1942 von [[Bordeaux]] nach [[Sammellager Drancy|Drancy]], mit Unterschrift Papons. Von dort nach [[KZ Auschwitz|Auschwitz]] deportiert mit Transport Nr. 62; ermordet in Auschwitz am 25. November 1943; |
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* Marie Reille (es gab ein Hin und Her, ob sie nach den Nazi-Gesetzen Jüdin war, sie befand sich bereits in Auschwitz, sah den rauchenden Schornstein, sie wurde zurückgeholt, gerettet durch Einsatz ihres Mannes und von Freunden)<ref> {{Webarchiv|text=abonnes.sudouest.com |url=http://abonnes.sudouest.com/papon/retro/sa/Deportee-a-Auschwitz-et-aussitot-liberee.php |wayback=20061117074212 |archiv-bot=2018-04-09 22:17:49 InternetArchiveBot }}</ref> |
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* Sabatino Schinazi (Arzt, geb. 28. Juni 1893 in Mehalla-Kebir/Ägypten, frz. Nationalität, Vater von 9 Kindern, deportiert am 25. November 1943, gestorben im [[KZ Dachau]] am 23. Februar 1945); (mit ihm deportiert und später ermordet wurde sein Sohn Daniel Schinazi, geb. 26. Januar 1922 in Bordeaux. – Nach Dr. Schinazi ist heute eine Straße in dieser Stadt benannt.)<ref>[https://papon.sudouest.com/retro/-Le-medecin-des-pauvres-.php Sud Ouest: ''Le médecin des pauvres'' vom 23. April 1998]</ref> |
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* Abraham Slitinsky, geb. 4. März 1880 in [[Kropywnyzkyj|Elisabethgrad]], verhaftet in der Nacht des 19./20. Oktober 1942, Deportation nach Drancy mit dem 4. Transport am 26. Oktober 1942, von da nach Auschwitz am 6. November 1942, dort ermordet am 13. November 1942; und seine Kinder Alice und Michel, beide gerettet. Auf Michel wurde bei der Flucht von frz. Polizei geschossen; er ging 17-jährig in das [[Maquis]] in der Auvergne und war in der [[Résistance]] aktiv, er brachte durch jahrzehntelanges Beharren den Papon-Prozess zum Laufen.<ref> {{Webarchiv|text=abonnes.sudouest.com |url=http://abonnes.sudouest.com/papon/index.php?page=procedures&type=chambre&cat=faits5 |wayback=20061117143830 |archiv-bot=2018-04-09 22:17:49 InternetArchiveBot }}</ref><ref>''[[:fr:Michel Slitinsky|Michel Slitinsky]]'' in der französischsprachigen Wikipedia</ref> |
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Die Deportationen aus Bordeaux wurden publizistisch begleitet von der Zeitung „La Petite Gironde“ mit dem [[Weltjudentum|klassischen Satz]] des [[Antisemitismus (bis 1945)|Antisemiten]]: ''Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden dahinter suchen müssen.'' |
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''Was veranlasst Sie zum Schreiben?'' |
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== Eichmann nach Arendt == |
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Für mich ist Schreiben eine Art und Weise, ein Echo der Welt zu schaffen, es ist eine besondere Art zu denken. Ich habe viele Fragen im Kopf, alle möglichen Fragen, und meine eigene Art, wie ich mich dabei mit mir selbst befasse, das bedeutet: „Schreiben“. Es ist meine Art und Weise, in einem bestimmten Augenblick über die Welt nachzudenken. |
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Durch den Papon-Prozess und die Lektüre in der Schule stoßen die Jungen auf die Figur des Adolf Eichmann. Seine Äußerung im Jerusalemer Prozess ''… und ich sah [[Reinhard Heydrich|Heydrich]] rauchen und trinken'', über seine Rolle bei der Wannsee-Konferenz, wird schließlich zum „Passwort“ in der Kommunikation der Jungen. ''Fever'' ist in wesentlichen Teilen ein [[Palimpsest]], ein literarisch-fiktives Überschreiben von Arendts Eichmann-Buch, ergänzt mit anderen ihrer Gedanken über die Kommunikation zwischen den Menschen, über Freiheit und Schuld. |
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Es ist tatsächlich so, dass ich immer literarische Texte gelesen habe, ob als Kind, als Jugendliche und natürlich auch als Erwachsene. In der Literatur fand ich einen Weg, in einem Zug sowohl die Welt zu befragen, als auch ihr zu antworten. |
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Eichmann war ein karrierebewusster, gewissenloser [[Schreibtischtäter]], der begeistert die Aufgabe übernahm, die europaweiten [[SNCF#Rolle der SNCF während der Okkupation|Eisenbahnzüge]] in die [[Vernichtungslager]] auszulasten und zu organisieren. Er behauptete, den Anblick der Mordtaten, zu dem ihn sein Vorgesetzter [[Heinrich Müller (Gestapo)|Heinrich Müller]] bisweilen in Ostpolen und [[Galizien]] nötigte, schlecht verkraftet zu haben. Zur Abwehr minimaler Zweifel, die er gehabt haben könnte, schuf er sich eine von der Realität getrennte Scheinwelt aus Klischees, Sprachregelungen, welche die Nazis und die Kollaborateure erfunden hatten, eine Phantastik, die Eichmann bis zu seiner Hinrichtung aufrecht hielt. |
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''Wie sehen Sie heutzutage auf Ihre eigenen Kinder, bzw. auf Ihre Neffen und Nichten? Passt „Fever“ denn zu dem, was Sie dort mitbekommen?'' |
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Kaplan schließt mit Arendt: Die Welt wird so lange lebenswert sein, wie es Menschen gibt, die sich dem Trend zur Vernichtung entgegenstellen. Auch in tiefster Finsternis, der deutschen Herrschaft über Europa, lässt sich Menschlichkeit bewahren und Widerstand leisten, so, wie es die Regierungen bestimmter Länder ([[Dänemark]], [[Bulgarien]]) gegen das Deportations-Verlangen der Deutschen gemacht haben. |
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Die Jugendlichen, die ich in „Fever“ beschreibe, sind meiner Meinung nach, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind, die '''Produkte einer vergangenen Welt'''. Ich glaube weiter, ihr Verhalten leitet sich ab aus dem '''Schweigen''', das auf der Vergangenheit lastet. Was meine eigenen Kinder angeht, so ist dieses Schweigen hoffentlich nicht zu stark, so sehe ich das. |
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== „Eichmann“ und „Fever“ == |
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''Was sind denn das für Menschen, diese beiden, Damien und Pierre? Sind sie nicht typisch für Heranwachsende aus solchen Familien, welche durch soziale Veränderungen in den Pariser Quartieren (eine gewisse Yuppisierung) in eine neue Lage gerieten?'' |
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Arendts bis heute umstrittenes Buch ''[[Eichmann in Jerusalem]]'', (1963) und Kaplans „Fever“, treffen Aussagen über einen Mord ohne Motiv, einen „acte gratuit“; die ''Intention'' der jeweiligen Mörder ist ähnlich. Eichmann steigerte sich im Zuge der steigenden Mordzahlen in eine Welt, die von „Sachen“ beherrscht war, die konkreten Opfer verschwanden aus seinem Denken. ''Wenn diese Sache einmal gemacht sein musste, … dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte.'' (Eichmann; mit „diese Sache“ ist die Vernichtung gemeint.) Das Morden gewann für ihn eine Eigengesetzlichkeit, diktiert vom Willen des Führers. Für die Nazi-Deutschen war eine Ideologie der unbegrenzten Planbarkeit typisch, ein „Alles ist möglich“. Die Verwaltung und Organisation des Mordens, eine Bürotätigkeit, war für Eichmann der Lebensinhalt. Nach Arendt hätte das Morden mit dem beabsichtigten Verschwinden des letzten jüdischen Menschen aus Europa durchaus kein Ende gefunden. Die Opfer waren für Eichmann lediglich Ziffern in einer Statistik der Transporte und Tötungen, sie verschwanden als irgendwie geartete Personen. Er hatte vor allem darauf zu achten, dass die Züge in die Vernichtungslager immer möglichst voll waren, um den Transportaufwand gering zu halten. |
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Nein. Sie wohnen im Quartier [[Montparnasse]], man kann sie sozial gut verorten. Die Gewalt, die in ihnen wütet, kommt in Wirklichkeit von ganz anderen Dingen. Ich stelle mir vor, dass es in Pierres Familie, einer Familie von jüdischen Flüchtlingen, überhaupt keine Yuppies gab. |
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Die ungelösten Fragen, die mit der Judenvernichtung und mit dem [[Vichy-Regime]] zusammen hängen, gehen meiner Meinung nach alle sozialen Schichten etwas an. |
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Ähnlich motiviert verhalten sich die beiden Jungen in „Fever“, auch wenn es sich nur um ein einziges Opfer handelt. Die Tat wurde lange vorher geplant, in lockerer Stimmung (so, wie Eichmann die Wannseekonferenz schildert). Das Opfer war gesichtslos, austauschbar (sie wählten in letzter Minute noch ein anderes Mädchen aus), mit einer Ausnahme: es sollte eine Frau sein (so, wie es bei Eichmann jedenfalls die Juden sein sollten, bzw. was die Nazis gemäß [[Hans Globke|Globke]] dafür hielten). Das Opfer verschwand für die Jungen als Person, es wurde zur Sache; allein ihre Großartigkeit als Täter zählte. Diese ''Ideologie der Sachlichkeit'' bildet den Schnittpunkt zwischen Arendts Eichmann-Darstellung und Kaplans Pariser Mördern. So wird die Wende, als die Jungen erstmals das Ungeheuere ihrer Tat bemerken, markiert durch Reflexionen über die Welt der Büros und über Verwaltungsakte. Später wird dies am Beispiel Papons noch deutlicher, als er seine Tätigkeit als Judendeportateur vor Gericht mit einer „Eigengesetzlichkeit der Verwaltung“ begründet. |
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''In den 50er bis 70er Jahren war es für eine jüdische Familie ausgeschlossen, über die [[Shoa]] zu sprechen. Aus welchem Grund kamen diese Dinge dann später doch ans Licht?'' |
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Bei Arendt wie bei Kaplan sehen wir Mörder, die „sachlich“, „objektiv“ handeln. Es sind Figuren, die im Gegensatz stehen zu einem positiven Menschenbild: der Verantwortung gegenüber anderen konkreten Individuen. Die Herleitung des „acte gratuit“, des motivlosen Mordens aus einer vorgeblichen „Sachlichkeit“, dem Organisationseifer der Täter, verbindet die beiden so unterschiedlichen Bücher. |
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Die Antwort ist schwierig. In einigen Familien hat man schon darüber geredet, meistens jedoch herrschte Schweigen. Es gibt viele Gründe dafür, dass diese Dinge dann ausgesprochen wurden. Das war in erster Linie das Nachrücken einer jungen Generation; dann die Zeit, die man brauchte, sich damit zu beschäftigen. |
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Ich erinnere an den Film von [[Claude Lanzmann]] „Shoa“, aus dem Jahr 1986, an den vor allem. |
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Aus einer anderen Perspektive hat es „Das Haus nebenan“ (Le chagrin et la pitié, von [[Marcel Ophüls]]) gegeben, einen Film, der übrigens in der ersten Zeit verboten war. Er zeigte ja die Kollaboration in Frankreich, das heißt, er zerstörte das Märchen der Gaullisten, dass ganz Frankreich im Widerstand gewesen sei. Meiner Meinung nach gab es zeitlich mehrere Wellen des Hinterfragens. |
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== Quelle == |
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''Ist der Roman „Fever“ nicht auch ein Versuch, die Schicksale von Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs weiter bekannt zu machen ?'' |
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* Leslie Kaplan: ''Fever. Von jetzt an, 5. Roman'' Berlin-Verlag, 2006, ISBN 3-8270-0628-7. TB (März 2008): ISBN 3-8333-0518-5, ISBN 978-3-8333-0518-4 (Band 5 der [[Pentalogie|Reihe]] ''Depuis maintenant'') Aus dem Französischen. Übers. [[Sonja Finck]]. Das Buch erhielt den [[André-Gide-Preis]] für deutsch-französische Literaturübersetzungen 2006. Französische Ausgabe POL, Paris 2005, ISBN 2-84682-053-8; als TB: Gallimard, Paris Juli 2007, ISBN 978-2-07-032153-7. |
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Ja, aber nicht nur das. Er ist tatsächlich eine Auseinandersetzung darüber, wie solche [[Trauma]]ta mitgeteilt werden können, die ja viel tiefer gehen als sonstige schlimme Schicksale. Andererseits soll der Roman aber nicht allein über jüdische Familien berichten, er thematisiert auch das Familienleben im nichtjüdischen Frankreich. |
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(Das Werk nicht verwechseln mit dem gleichnamigen deutschen Buch für Kinder von Susanne Fülscher, 1999, das unter 12-Jährigen spielt.) |
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''Wenn wir uns den 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager durch die [[Alliierte]]n ansehen: wie schätzen Sie die Überlieferung der Shoa heute ein?'' |
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== Ähnliche Themen in Medien == |
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Ich würde sagen, im großen Ganzen gibt es Fortschritte in der Frage der Überlieferung. Andererseits denke ich: es gibt in der heutigen Gesellschaft Frankreichs Wirkungen und Verzweigungen, die oft nicht genug berücksichtigt werden, und die kräftig fortwirken. Im Roman „Fever“ gibt es einen anderen Heranwachsenden, Yves, den Sohn eines Arbeitslosen. Yves ist nahe daran, ein [[Verbrechen]] zu begehen, und es gibt einen Hinweis auf seinen Vater, auf dessen verzweifelte Lage. Für mich selbst existiert auch eine Verbindung zwischen dieser Gesellschaft, in der wir auf einer Grundlage von Ausbeutung leben, der Industriegesellschaft, und totalitären Abweichungen. |
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* Edgar Allan Poe: [[Das verräterische Herz]] und [[Der schwarze Kater (Poe)|Der schwarze Kater]]: Morde ohne Motiv |
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* [[Truman Capote]] ''[[Kaltblütig (Truman Capote)|Kaltblütig]]'' Ein verabredeter Raubmord durch ein Mörderpaar |
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* [[Alfred Hitchcock]] (Regisseur) ''Rope'' (1948) dt. ''[[Cocktail für eine Leiche]]'' nach dem Theaterstück ''The Rope'' (Mord als „intellektuelles Vergnügen“ und aus der Einbildung heraus, ein [[Übermensch]] zu sein) von [[Patrick Hamilton (Schriftsteller)|Patrick Hamilton]]; der reale Kriminalfall „Leopold und Loeb“ dahinter hat auch die Filme ''Compulsion'' (=''Der Zwang zum Bösen'') von [[Richard Fleischer]] und ''Swoon'' von Tom Kalin und ''[[Mord nach Plan (2002)|Mord nach Plan]]'' von [[Barbet Schroeder]] inspiriert. |
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* [[Günter Grass]], Autobiographie (2006): Damiens Opa gibt in „Fever“ als Grund für seine Arbeit in der Kollaboration bei den Vichy-Behörden an, er habe der familiären Enge in der Provinz in [[Clermont-Ferrand]] entfliehen wollen. Grass sagt über seine Mittäterschaft in der [[Waffen-SS]]: ''Mir ging es zunächst vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet.'' Die Ähnlichkeit lohnt ein weiteres Nachdenken über den Zusammenhang von männlicher Jugend und Totalitarismus. |
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* Ödön von Horváth: ''[[Jugend ohne Gott]]'' Ausgabe Suhrkamp-Basisbibliothek, S. 139; das Motiv des pubertären Größenwahns durch Mord: ''… dass der T zuschauen wollte, wie ein Mensch kommt und geht. … Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um ''darüberstehen'' zu können – mit seinem Hohn. Er kannte keine Schauer, denn seine Angst war nur Feigheit. Und seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Hass auf die Wahrheit…'' |
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== Literatur == |
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''Aus welchem Grund stellen Sie in diesem Buch eine Verbindung her zwischen den Jahren der Rockmusik (den 70ern) und der [[Deportation]] der Jüdinnen und Juden?'' |
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* Niklas Bender: ''Schuld und Sühne in Paris'' (Zwischentitel: ''Ein Schulreferat im Roman'') In: [[Literaturen (Zeitschrift)]]. Friedrich, Berlin, Heft 07–08/2006, S. 110f (nicht online lesbar; durchgehend sachliche Fehler) |
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Ich sehe da ja keinen direkten Zusammenhang. Ich selbst liebe die Rockmusik der 60/70er Jahre, oder den Jazz, da gibt es keinen direkten Bezug zur Deportation. Aber es gibt die Idee, dass der Wille zum Verbrechen durchaus im Zusammenhang steht mit den Frauen, zur Sexualität, also all den Dingen, die in dem Chanson [[Fever (Song)|Fever]] eine Rolle spielen, und weiteres. |
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* Thomas Laux: ''Vererbte Schuld?'' [[NZZ]], 23. August 2006 (siehe jedoch das genaue Zitat der Autorin im Gespräch mit dem Deutschland-Funk 2006) |
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* Julia Schulze Wessel: ''Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus'' (= TB Wissenschaft. 1796). Suhrkamp, Frankfurt 2006, ISBN 3-518-29396-6 (zum obigen Abschnitt ''„Eichmann“ und „Fever“'') |
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* [[Pierre Nora]]: [http://www.zeit.de/2002/12/Untergang_einer_Staatsluege ''Untergang einer Staatslüge''.] [[Die Zeit]], 12, 2002. (Zu den Schwierigkeiten Frankreichs im Umgang mit der Vergangenheit, vor allem Vichy und dem Algerien-Krieg) |
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* Rezensionen dieses Buches: |
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** [http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10025&ausgabe=200610 literaturkritik.de] sehr kritisch bis ablehnend |
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** [http://aps.sulb.uni-saarland.de/theologie.geschichte/inhalt/2006/21.html aps.sulb.uni-saarland.de] referierend |
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** Inhaltsverzeichnis komplett: [http://www.ulb.tu-darmstadt.de/tocs/18008965X.pdf ulb.tu-darmstadt.de] (PDF; 38 kB) |
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** Kurzfassung [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=1349&view=pdf&pn=tagungsberichte in einem Tagungsbericht.] [[H-Soz-u-Kult]] (Humanities – Sozial und Kulturgeschichte), Bereich Geschichte |
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* [[Wolfgang Heuer (Politikwissenschaftler)|Wolfgang Heuer]] u. a. (Hrsg.): ''Arendt-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung.'' Kap. 5: Rezeptionsgeschichte, darin Abschnitt 3: Dichtung/Narrativität, Unter-Abschnitt Echo in Romanen. Metzler, Stuttgart 2011, S. 355 re.<ref>die Referentin des Abschnitts, Barbara Hahn, verwechselt Ursache und Folgen des Mords und verfehlt damit die Intention Kaplans. Hahn: ''… kommen zwei Jugendliche nach der Lektüre von 'Eichmann in Jerusalem' auf die Idee, einen Mord ohne Motiv … zu begehen.'' Kaplan will aber gerade darauf hinaus, dass die Jungen erst NACH dem Mord durch Arendt-Lektüre in der Schule auf "Eichmann" stoßen und ihnen dadurch auf Dauer klar wird, dass sie in unterschiedlicher Weise in die Fußstapfen ihrer belasteten Großväter treten (der eine ein präsumptiver Täter, der andere ein Opfer, das die Vergangenheit nicht bewältigen konnte)</ref> |
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== Verfilmung == |
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* Der Roman wurde 2014 von Raphaël Neal unter dem gleichen Titel in französischer Sprache verfilmt (80 min). Der Film erhielt 2014 den Preis des [[Oldenburg Film Festival]] als „best film“. [[Arte]] sendete den Film 2018 mit deutschen Untertiteln. Das Drehbuch stammt von [[Alice Zeniter]]. |
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== Weblinks == |
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''Was bedeutet denn dieses Kostüm aus Morbidität, Mord und Totschlag? Warum schreibt man immer über die Hässlichkeit des Lebens, und nicht über seine Schönheit?'' |
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* Fadime Düzel: ''Literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, untersucht am Beispiel von [[André Schwarz-Bart]], [[Patrick Modiano]] und Leslie Kaplan.'' Magisterarbeit. Univ. Wien, 2008. Französ. Zusammenfassung S. 65–79. Bibliographie [http://othes.univie.ac.at/1084/1/2008-09-03_9401021.pdf othes.univie.ac.at] (PDF; 315 kB) |
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* [http://www.sonja-finck.de/pageID_2818854.html Leseprobe] bis S. 12 entspr. S. 9–12 des frz. Originals |
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Für mich heißt „schreiben“, dass ich versuche, über die ganze Wirklichkeit zu schreiben, und damit natürlich auch über ihre schlechte Seite. Ich hoffe aber, dass in meinen Büchern auch die lustige Seite der Wirklichkeit vorkommt, die heitere und schöne Seite. |
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* [http://www.berlinverlage.de/media/9783827006288.pdf berlinverlage.de] (PDF; 79 kB) Leseprobe (dt.) bis S. 15. |
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* [http://www.pol-editeur.fr/catalogue/ftp/pdf/5987.pdf pol-editeur.fr] (PDF; 40 kB) Leseprobe (frz.) S. 9–15 (dort auch zahlreiche Rez. in Franz.) |
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''Ist es nicht schwierig, über die [[Adoleszenz]] mit dem Abstand eines Erwachsenen zu schreiben?'' |
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* {{IMDb|tt3721110}} |
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* Rezensionen: |
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Im Gegenteil, nein, ich meine, dass die Adoleszenz ein Thema für mich ist. |
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** [http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/491901/drucken dradio.de] Deutschlandradio Kultur, als podcast: [http://www.podcast.de/sendung/133003/Literatur%3A_Fever_von_Leslie_Kaplan podcast.de] |
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** Stefanie Denkert: [https://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Literatur.php?id=11083 ''Fever von Leslie Kaplan – jetzt als Taschenbuch erschienen.''] Rezension vom 15. Juni 2008 auf AVIVA-Berlin.de, abgerufen am 1. Mai 2020 |
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''Bei Ihrer Erfahrung als Schriftstellerin, erleben Sie es da nicht manchmal, dass die Figuren sich über Sie erheben, dass die scheinbar ihre eigene Geschichte schreiben wollen?'' |
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** [http://www.rezensionen.ch/buchbesprechungen/leslie_kaplan_fever/3827006287.html rezensionen.ch] Rez. von Wolfgang Haan (Printversion: [http://www.sandammeer.at/rezensionen/kaplan-fever.htm sandammeer.at]) |
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** [http://hannaharendt.net/reports/knottII.html hannaharendt.net] [[Marie Luise Knott]] im Hannah Arendt Netzwerk Berlin |
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Ich denke, dass das literarische Schreiben oftmals ein Spiel ist, zwischen mir selbst und der Figur, die ja eine Art von Projektion darstellt. In der Literatur, die mich berührt, werden die Figuren ernst genommen, man fragt sich wirklich: Wer ist das? Was hat er vor? Was denkt er sich? Und das ist ja auch ein Weg, sich selbst zu befragen. |
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** [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/527320/ dradio.de] Deutschlandfunk Büchermarkt |
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** [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/falscher-komplex-1385930.html Ingeborg Harms] In: ''[[Frankfurter Allgemeine Zeitung|FAZ.net]]'', 5. Oktober 2006. Eine sehr gelungene Rezension, mit dem Schwerpunkt auf den psychologischen Aspekten des Romans (auch in: perlentaucher.de) |
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''Würden Sie sagen, dass Sie als Schriftstellerin in ihren Romanen eine Botschaft übermitteln? In einem Interview haben Sie gesagt „Ich bin mir seit kurzem darüber im Klaren: eine Schriftstellerin zu sein bedeutet, dass man seine Bücher mit Leidenschaft schreibt“. Für die Leser, für sich selbst?'' |
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** [http://www.ekkw.de/angebote/jugend/index_8193.html ekkw.de] Kurzrezension für Jugendliche, Evang. Kirche Kurhessen-Waldeck |
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* Ausführliches Dossier über Papon und die Prozesse in frz.: [http://www.histoire.fr/vert/html/ftheme.htm histoire.fr]>Dossiers >Dossiers précédents >Le Procès Papon, dort auch große Bibliographie, Gerichtsbeschluss vom Februar 2006 über die dauerhafte Veröffentlichung von Aufnahmen aus dem Prozess (>Publication judiciaire de Fevr. 2006) |
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Ich sehe das so: Im Prozess des Schreibens stellt sich mir diese Frage nicht. Das Buch, das man schreiben will, tritt zugleich wie ein Zwang auf, denn man fühlt, dass manche Dinge unbedingt mitgeteilt werden müssen, und auch, dass dies ein Weg ist, anderen Menschen zu begegnen. |
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* [http://www.projekte-gegen-antisemitismus.de/literatur.php?thema=28 projekte-gegen-antisemitismus.de] Zum Thema „Überlieferung des Holocaust in den Generationen“ (Literaturübersicht, meist psychologische Titel) |
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* [http://www.ihtp.cnrs.fr/prefets/plaedoyer_martens.html ihtp.cnrs.fr] Hervorragende, aktuelle (2006) Darstellung des Forschungsstands zur Occupation, Literaturhinweise, zur weiteren Archivarbeit |
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Wenn man das Schreiben für die Anderen wie eine Projektion aus sich heraus betrachtet, wird das literarische Schreiben dann nicht zu einer Art Narzissmus?'' |
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Dagegen gibt es kein Rezept. Ich versuche, ein Abbild der äußeren Welt zu geben, aber selbstverständlich kann man in seinen eigenen Fragen befangen sein. Mir scheint, erst das fertige Buch zeigt, ob man große, weltbewegende Fragen gestellt hat, oder ob man nur Entwürfe, die aus einem selbst heraus kommen, in den Raum gestellt hat. |
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== Einzelnachweise == |
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''Sie standen auch einmal an einem Arbeitsplatz, genau wie [[Robert Linhart]]. Sie sprechen positiv über diese Zeit, aber er selbst ist da nicht wirklich gut rausgekommen. Meinen Sie, dass man diesen Versuch noch einmal wagen sollte?'' |
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<references /> |
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[[Kategorie:Literarisches Werk]] |
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In seinem Buch „Eingespannt. Erzählungen aus dem Inneren des Motors“ schreibt Linhart keineswegs negativ über seine Erfahrungen. Dieses Experiment ist schon an sich äußerst wichtig gewesen. Aber sicherlich kann die Arbeit in Fabriken auch trostlos sein. |
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[[Kategorie:Literatur (21. Jahrhundert)]] |
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[[Kategorie:Literatur (Französisch)]] |
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[[Kategorie:Literatur (Frankreich)]] |
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[[Kategorie:Roman, Epik]] |
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[[Kategorie:Holocaustliteratur]] |
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[[Kategorie:Hannah Arendt]] |
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[[Kategorie:Französische Kollaboration]] |
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[[Kategorie:Deutsch-französische Beziehungen]] |
Aktuelle Version vom 27. Juli 2024, 10:36 Uhr
Fever ist ein Roman der französischen Schriftstellerin Leslie Kaplan aus dem Jahr 2005, der sich mit der Frage der Willensfreiheit, von Schuld und Verantwortung und mit dem Generationenproblem auseinandersetzt. Er erschien 2006 auf Deutsch.
Inhalt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Buch ist ein philosophischer Adoleszenz-Roman.[1] Zwei Klassenkameraden ermorden in Paris eine junge Frau, gefunden nach dem Zufallsprinzip, anscheinend ohne jedes Motiv, ein acte gratuit? Zunehmend belastet die Tat sie. Vom Unterricht angestoßen, wollen sie die Geheimnisse ihrer Großeltern aus der Zeit der deutschen Besetzung (1940–1944) des Landes enträtseln, jedoch schweigt Pierres jüdischer Großvater eisern. Damiens Opa, in der Kollaboration ein junger Beamter, weicht konkreten Nachfragen aus. Er versucht vielmehr, sein Verhalten während der Okkupation mit den damaligen Umständen zu rechtfertigen und weigert sich zu akzeptieren, dass auch das Ausführen krimineller Anordnungen von Vorgesetzten ein Verbrechen ist. Den Höhepunkt des Romans stellt die Szene dar, als Damien merkt, dass sein gemeinschaftlich begangenes Verbrechen in einer Reihe mit dem Tun des Großvaters steht:
- Damien schaute seinen Großvater lange an, aber er sah ihn nicht wirklich. Er schaute ihn an; und plötzlich brach ein Damm. Dieser Satz, den er zu Damien gesagt hatte: das war genau das, was er selbst gesagt hatte. Mit einem Unterschied: anstelle der „Ordnungen“ hatte er selbst den Zufall gesetzt. „Wenn man dem Zufall Raum gibt …“[2]
Die Jungen beschäftigen sich nun mit den Deportationen von Juden in die Vernichtungslager im Osten und mit dem Papon-Prozess Ende der 1990er Jahre. Sie lesen Zeugnisse über junge jüdische Opfer der Kollaboration und stoßen auf die Wannsee-Konferenz, den gesamteuropäischen Mordplan der Nazis und der Wehrmacht, und Hannah Arendts Eichmann-Buch. Von Ängsten und Depressionen geplagt, unfähig sich jemandem anzuvertrauen, wie ohne eigene Identität, laufen sie im Quartier du Montparnasse herum, auf der Flucht vor sich selbst und vor der familiären Vergangenheit, während sie erfolgreich das Abitur ablegen.
Die sechs Deportationen und die Figur des Eichmann bilden Topoi, um die Hauptaussage des Buches – das Schweigen lässt Verbrechen weiterwuchern – zu untermauern. Wie auch sonst, schreibt Kaplan in einer musik-ähnlichen Sprache, mit vielen Wiederholungen, wobei jedes Wort eine eigene Nuance hat, und mit einer ungewöhnlichen Interpunktion.
Fever ist sowohl fiktional, beginnend mit seiner Rahmenhandlung, dem Mord, als auch dokumentarisch, in den wie journalistisch geschriebenen Berichten über den Papon-Prozess sowie über Eichmanns mörderische Tätigkeit. Die Klammer zwischen den beiden Ebenen bildet die Verantwortung, nach der Kaplan sowohl die jugendlichen Mörder als auch die Nazitäter befragt.
Als Literaturgattung kann Fever als Parabel in Romanform gelten, indem das Buch im Schicksal der Großvater-Enkel-Generationen allgemein-menschliche Probleme aufzeigt. „Ich wollte zum einen etwas über Jugendliche heute schreiben, zum anderen etwas über das Gewicht der Geschichte, wie sich die Dinge übertragen, wie sich die Vergangenheit völlig unbewusst vererbt … Die Generationenfrage, die Frage, was von Generation zu Generation weitergegeben wird, betrifft jeden von uns und auch sämtliche Humanwissenschaften.“ (Kaplan im Deutschlandfunk)
Deutsche Leser verstehen den Roman besser, wenn sie berücksichtigen, dass die Kollaboration des französischen Staates erst seit den 1990er Jahren, also etwa eine Generation später als in Deutschland, breit thematisiert und bedauert wurde. Chirac erkannte 1995 die aktive Mitwirkung des „État français“ an der Shoah an. Das Buch war für Franzosen also gleichzeitig ein Anstoß, sich hierüber zu verständigen.
Indem der Roman ein Motiv der Mörder darin sieht, eine geistige Überlegenheit (z. B. gegenüber Ermittlern) zu behaupten, gibt es ein reales Vorbild in der jüdischen US-Affäre Leopold und Loeb von 1924, welche Kaplan sicher bekannt ist.
Die Schule, die Adoleszenz
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als die Jungen den Mord planten, sollte es ein Experiment sein: den Zufall für sich arbeiten lassen, frei sein. Der Plan faszinierte sie sehr. Nach dem Mord allerdings ziehen sich die beiden immer mehr aus der Klasse zurück, ihre Verrücktheit stört die Kommunikation. Sie werden zu Außenseitern. Ihre Selbstachtung sinkt; der Mord beweist gerade nicht ihre Freiheit, sondern im Gegenteil ihre Verstrickung in die zwei Familiengeschichten.
Die Nazi- und Kollaborationsverbrechen kommen in der Schule im Blickwinkel Arendts vor. Eine Mitschülerin hält ein Referat über die Occupation. Pierre selbst spricht erst in der Schlusswoche, als Hamlet zum Thema wird, plötzlich über seine intensive Lektüre in der letzten Zeit. …begann er hastig und unzusammenhängend über Vichy zu sprechen, über die Spuren von Vichy, über Eichmann,… es sprudelte nur so aus ihm heraus…
Die beiden Hauptfiguren benehmen sich oft unreif, schon der Mord sieht zunächst aus wie ein aus dem Gleis geratener Dummer-Jungen-Streich. Ihr Verhalten zur Lehrerin schwankt zwischen Anziehung und Angst vor ihrer Überlegenheit. Im Unterbewusstsein lauert eine Geringschätzung von Frauen, einmal stellen sie Frauen mit „Juden“ gleich, ein anderes Mal ruft Damien aus vollem Herzen: „Nieder mit den Frauen!“
Kaplan markiert die Adoleszenz sowohl philosophisch, wie bei Dostojewski, als Anrennen gegen Normen, als auch psychologisch: die beiden Jungen morden aus pubertärem Größenwahn. Die Schüler hatten gelernt, dass der Mensch nur in der Gemeinschaft existiert: Es sind „die Menschen“ und nicht „der Mensch“, welche die Erde bewohnen. Damien und Pierre wollen den Gegenbeweis dazu antreten: es kommt auf den Einzelnen in seinem Nihilismus und radikalen Individualismus, mit seiner subjektiven Ästhetik an: Diese Frau oder eine andere, sie hatten kein Motiv, keinen persönlichen Beweggrund, sie ließen den Zufall entscheiden,… dann waren sie die Größten. Leicht? Eher einfach, wie ein mathematischer Beweis, der sich durch Einfachheit auszeichnet, daher seine Schönheit, seine Eleganz.
„Fever“ als Adoleszenzroman handelt von einer misslingenden Bildung von Identität, eine verweigerten Reifung zum Mann. Die Lektüre über die Kollaborateure und über Eichmann ersetzt ihnen die Antworten, die sie bei den Älteren nicht erhalten: … begann er zu recherchieren und klapperte Buchhandlungen ab. Er spürte eine große Dringlichkeit, er stand kurz vor dem Explodieren… Damien las hastig, er verschlang die Texte, er verleibte sie sich ein… (Es) schwebte über all diesen präzisen, stichhaltigen Informationen, den Tatsachen …, die er anhäufte, etwas anderes, ein Eindruck, ein Gefühl, aber welches? (141f.)
Ingeborg Harms verknüpft in einer Rezension in der FAZ die männliche „Adoleszenz“ der beiden, insbesondere ihren Frauenhass, eigentlich gegen die Lehrerin, die sie nicht erreichen, ersatzweise gegen die Unbekannte, mit dem Motiv der Rache an den Großvätern. Diese unbewusste Rache ist bei beiden Jungen anders gelagert, je nach Familie. Nach dem Mord beginnt ihre Selbsterkenntnis, die Psychologie siegt über die abstrakte Philosophie. Allerdings verstört diese „Trauerarbeit“, die „Schule des Lebens“ die Jungen bis zum Wahn.
Judentum
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Pierres Familie ist jüdischer Herkunft. Alle Blutsverwandten des Großvaters Elie haben die Nazis in Galizien ermordet. Auch seine spätere Frau war deportiert worden, sie hatte aber überlebt. In der Wohnung leben drei Generationen zusammen, es ist unruhig.
Das Judentum dieser Familie bedeutet Erinnerung an das Leid. Der schweigende Großvater überträgt eine diffuse Traurigkeit auf Pierre. Das Trauma des Elie ist sehr groß, er fühlt sich wie im Exil, bisweilen empfindet auch der Enkel sich einsam, verlassen. Elie erinnert den Enkel an den ewigen Juden, der ruhelos durch die Welt streift. Es ist ein wenig formelles Judentum, ungebunden und humanistisch.
Die Shoah nimmt Pierre aber auch zum Anlass, an Gottes Gerechtigkeit überhaupt zu zweifeln (Theodizee). Gott hatte seinem auserwählten Volk den Rücken zugekehrt, er hatte zugelassen, dass es fast vernichtet wurde. In den Worten Pierres: Gott ist ein Versager.
Die Kollaboration und die Opfer
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Damiens Großvater verweigert seinem Enkel eine Auskunft darüber, was er als junger Mann gedacht hatte, und wie konkret er in Deportations-Verbrechen verwickelt war. Der Frage Warst du in der Résistance? weicht er aus. Indem er Verbrechen, die man ohne innere Beteiligung, ohne ein Motiv, begeht, nicht als solche einstuft, liegt der Schluss nahe, dass er selbst durchaus aktiv an solchen beteiligt war. Die beiden Jungen vermuten daher Böses, bekommen aber nichts Genaues heraus. Bis zu diesem Tag hatten beide ein ganz herzliches Verhältnis zu ihren Opas. Jedoch deren Schweigen treibt sie in den Wahn. Wie versteht man eine Welt, in der täglich und überall das Böse herrscht? Schließlich merken sie, dass ihre eigene Tat in diese Reihe des Bösen gehört.
In einem seiner vielen Alpträume sieht Damien eine Menschenmasse, Gefangene, alle mit dem Gesicht der Ermordeten. Die Menschen stellen bildlich die Opfer des Nationalsozialismus dar.[3] Auch die beiden Jungen werden so assoziativ mit den NS- und Vichy-Tätern in Verbindung gebracht. Doch die beiden selbst sind bis zuletzt unfähig, sich ihrer Täterrolle bewusst zu werden, eine Haltung, die sie mit den altgewordenen Kollaborateuren von damals teilen.
Fever schildert einige Fälle aus dem Prozess gegen Papon, welche die Verantwortungslosigkeit dieses Bürokraten zeigen, der mit einem Federstrich 1410 Juden aus Bordeaux in den Tod schickte. Aber auch kleinere Kollaborateure, Zeitungsschreiber, Polizisten, Verwalter, werden bei ihrem miesen Job unter der Occupation betrachtet. Mit den bisher wenig bekannten Fallgeschichten wird den Opfern ein Denkmal gesetzt. Kaplan meint, dass der einzelne Franzose durchaus Handlungsräume hatte. Jeder konnte sich sogar angesichts der Deportation, menschlich – oder eben mörderisch – zeigen. So dokumentiert sie Beispiele der Hilfe für Juden, auch vergeblicher Versuche dazu.
Die Opfer, welche Kaplan aus dem Papon-Prozess erwähnt, sind:
- Sylvain Mohlo, 15 J., und sein Bruder, 13 J.; gerettet durch Einsatz ihres Vaters und durch Glück
- Irma Reinsberg, 20 J. alt, beim 2. Flucht-Versuch den Nazis entkommen
- Robert Goldenberg, geb. 26. August 1903 in Paris, verheiratet mit einer Nicht-Jüdin. Deportiert am 26. Juni 1942 von Bordeaux nach Drancy, mit Unterschrift Papons. Von dort nach Auschwitz deportiert mit Transport Nr. 62; ermordet in Auschwitz am 25. November 1943;
- Marie Reille (es gab ein Hin und Her, ob sie nach den Nazi-Gesetzen Jüdin war, sie befand sich bereits in Auschwitz, sah den rauchenden Schornstein, sie wurde zurückgeholt, gerettet durch Einsatz ihres Mannes und von Freunden)[4]
- Sabatino Schinazi (Arzt, geb. 28. Juni 1893 in Mehalla-Kebir/Ägypten, frz. Nationalität, Vater von 9 Kindern, deportiert am 25. November 1943, gestorben im KZ Dachau am 23. Februar 1945); (mit ihm deportiert und später ermordet wurde sein Sohn Daniel Schinazi, geb. 26. Januar 1922 in Bordeaux. – Nach Dr. Schinazi ist heute eine Straße in dieser Stadt benannt.)[5]
- Abraham Slitinsky, geb. 4. März 1880 in Elisabethgrad, verhaftet in der Nacht des 19./20. Oktober 1942, Deportation nach Drancy mit dem 4. Transport am 26. Oktober 1942, von da nach Auschwitz am 6. November 1942, dort ermordet am 13. November 1942; und seine Kinder Alice und Michel, beide gerettet. Auf Michel wurde bei der Flucht von frz. Polizei geschossen; er ging 17-jährig in das Maquis in der Auvergne und war in der Résistance aktiv, er brachte durch jahrzehntelanges Beharren den Papon-Prozess zum Laufen.[6][7]
Die Deportationen aus Bordeaux wurden publizistisch begleitet von der Zeitung „La Petite Gironde“ mit dem klassischen Satz des Antisemiten: Fortan wissen wir, dass wir bei allen Miseren, Konkursen, finanziellen Katastrophen, Skandalen oder Kriegen nach dem Juden dahinter suchen müssen.
Eichmann nach Arendt
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Durch den Papon-Prozess und die Lektüre in der Schule stoßen die Jungen auf die Figur des Adolf Eichmann. Seine Äußerung im Jerusalemer Prozess … und ich sah Heydrich rauchen und trinken, über seine Rolle bei der Wannsee-Konferenz, wird schließlich zum „Passwort“ in der Kommunikation der Jungen. Fever ist in wesentlichen Teilen ein Palimpsest, ein literarisch-fiktives Überschreiben von Arendts Eichmann-Buch, ergänzt mit anderen ihrer Gedanken über die Kommunikation zwischen den Menschen, über Freiheit und Schuld.
Eichmann war ein karrierebewusster, gewissenloser Schreibtischtäter, der begeistert die Aufgabe übernahm, die europaweiten Eisenbahnzüge in die Vernichtungslager auszulasten und zu organisieren. Er behauptete, den Anblick der Mordtaten, zu dem ihn sein Vorgesetzter Heinrich Müller bisweilen in Ostpolen und Galizien nötigte, schlecht verkraftet zu haben. Zur Abwehr minimaler Zweifel, die er gehabt haben könnte, schuf er sich eine von der Realität getrennte Scheinwelt aus Klischees, Sprachregelungen, welche die Nazis und die Kollaborateure erfunden hatten, eine Phantastik, die Eichmann bis zu seiner Hinrichtung aufrecht hielt.
Kaplan schließt mit Arendt: Die Welt wird so lange lebenswert sein, wie es Menschen gibt, die sich dem Trend zur Vernichtung entgegenstellen. Auch in tiefster Finsternis, der deutschen Herrschaft über Europa, lässt sich Menschlichkeit bewahren und Widerstand leisten, so, wie es die Regierungen bestimmter Länder (Dänemark, Bulgarien) gegen das Deportations-Verlangen der Deutschen gemacht haben.
„Eichmann“ und „Fever“
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Arendts bis heute umstrittenes Buch Eichmann in Jerusalem, (1963) und Kaplans „Fever“, treffen Aussagen über einen Mord ohne Motiv, einen „acte gratuit“; die Intention der jeweiligen Mörder ist ähnlich. Eichmann steigerte sich im Zuge der steigenden Mordzahlen in eine Welt, die von „Sachen“ beherrscht war, die konkreten Opfer verschwanden aus seinem Denken. Wenn diese Sache einmal gemacht sein musste, … dann war es besser, wenn Ruhe und Ordnung herrschten und alles klappte. (Eichmann; mit „diese Sache“ ist die Vernichtung gemeint.) Das Morden gewann für ihn eine Eigengesetzlichkeit, diktiert vom Willen des Führers. Für die Nazi-Deutschen war eine Ideologie der unbegrenzten Planbarkeit typisch, ein „Alles ist möglich“. Die Verwaltung und Organisation des Mordens, eine Bürotätigkeit, war für Eichmann der Lebensinhalt. Nach Arendt hätte das Morden mit dem beabsichtigten Verschwinden des letzten jüdischen Menschen aus Europa durchaus kein Ende gefunden. Die Opfer waren für Eichmann lediglich Ziffern in einer Statistik der Transporte und Tötungen, sie verschwanden als irgendwie geartete Personen. Er hatte vor allem darauf zu achten, dass die Züge in die Vernichtungslager immer möglichst voll waren, um den Transportaufwand gering zu halten.
Ähnlich motiviert verhalten sich die beiden Jungen in „Fever“, auch wenn es sich nur um ein einziges Opfer handelt. Die Tat wurde lange vorher geplant, in lockerer Stimmung (so, wie Eichmann die Wannseekonferenz schildert). Das Opfer war gesichtslos, austauschbar (sie wählten in letzter Minute noch ein anderes Mädchen aus), mit einer Ausnahme: es sollte eine Frau sein (so, wie es bei Eichmann jedenfalls die Juden sein sollten, bzw. was die Nazis gemäß Globke dafür hielten). Das Opfer verschwand für die Jungen als Person, es wurde zur Sache; allein ihre Großartigkeit als Täter zählte. Diese Ideologie der Sachlichkeit bildet den Schnittpunkt zwischen Arendts Eichmann-Darstellung und Kaplans Pariser Mördern. So wird die Wende, als die Jungen erstmals das Ungeheuere ihrer Tat bemerken, markiert durch Reflexionen über die Welt der Büros und über Verwaltungsakte. Später wird dies am Beispiel Papons noch deutlicher, als er seine Tätigkeit als Judendeportateur vor Gericht mit einer „Eigengesetzlichkeit der Verwaltung“ begründet.
Bei Arendt wie bei Kaplan sehen wir Mörder, die „sachlich“, „objektiv“ handeln. Es sind Figuren, die im Gegensatz stehen zu einem positiven Menschenbild: der Verantwortung gegenüber anderen konkreten Individuen. Die Herleitung des „acte gratuit“, des motivlosen Mordens aus einer vorgeblichen „Sachlichkeit“, dem Organisationseifer der Täter, verbindet die beiden so unterschiedlichen Bücher.
Quelle
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Leslie Kaplan: Fever. Von jetzt an, 5. Roman Berlin-Verlag, 2006, ISBN 3-8270-0628-7. TB (März 2008): ISBN 3-8333-0518-5, ISBN 978-3-8333-0518-4 (Band 5 der Reihe Depuis maintenant) Aus dem Französischen. Übers. Sonja Finck. Das Buch erhielt den André-Gide-Preis für deutsch-französische Literaturübersetzungen 2006. Französische Ausgabe POL, Paris 2005, ISBN 2-84682-053-8; als TB: Gallimard, Paris Juli 2007, ISBN 978-2-07-032153-7.
(Das Werk nicht verwechseln mit dem gleichnamigen deutschen Buch für Kinder von Susanne Fülscher, 1999, das unter 12-Jährigen spielt.)
Ähnliche Themen in Medien
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Edgar Allan Poe: Das verräterische Herz und Der schwarze Kater: Morde ohne Motiv
- Truman Capote Kaltblütig Ein verabredeter Raubmord durch ein Mörderpaar
- Alfred Hitchcock (Regisseur) Rope (1948) dt. Cocktail für eine Leiche nach dem Theaterstück The Rope (Mord als „intellektuelles Vergnügen“ und aus der Einbildung heraus, ein Übermensch zu sein) von Patrick Hamilton; der reale Kriminalfall „Leopold und Loeb“ dahinter hat auch die Filme Compulsion (=Der Zwang zum Bösen) von Richard Fleischer und Swoon von Tom Kalin und Mord nach Plan von Barbet Schroeder inspiriert.
- Günter Grass, Autobiographie (2006): Damiens Opa gibt in „Fever“ als Grund für seine Arbeit in der Kollaboration bei den Vichy-Behörden an, er habe der familiären Enge in der Provinz in Clermont-Ferrand entfliehen wollen. Grass sagt über seine Mittäterschaft in der Waffen-SS: Mir ging es zunächst vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet. Die Ähnlichkeit lohnt ein weiteres Nachdenken über den Zusammenhang von männlicher Jugend und Totalitarismus.
- Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott Ausgabe Suhrkamp-Basisbibliothek, S. 139; das Motiv des pubertären Größenwahns durch Mord: … dass der T zuschauen wollte, wie ein Mensch kommt und geht. … Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um darüberstehen zu können – mit seinem Hohn. Er kannte keine Schauer, denn seine Angst war nur Feigheit. Und seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Hass auf die Wahrheit…
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Niklas Bender: Schuld und Sühne in Paris (Zwischentitel: Ein Schulreferat im Roman) In: Literaturen (Zeitschrift). Friedrich, Berlin, Heft 07–08/2006, S. 110f (nicht online lesbar; durchgehend sachliche Fehler)
- Thomas Laux: Vererbte Schuld? NZZ, 23. August 2006 (siehe jedoch das genaue Zitat der Autorin im Gespräch mit dem Deutschland-Funk 2006)
- Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus (= TB Wissenschaft. 1796). Suhrkamp, Frankfurt 2006, ISBN 3-518-29396-6 (zum obigen Abschnitt „Eichmann“ und „Fever“)
- Pierre Nora: Untergang einer Staatslüge. Die Zeit, 12, 2002. (Zu den Schwierigkeiten Frankreichs im Umgang mit der Vergangenheit, vor allem Vichy und dem Algerien-Krieg)
- Rezensionen dieses Buches:
- literaturkritik.de sehr kritisch bis ablehnend
- aps.sulb.uni-saarland.de referierend
- Inhaltsverzeichnis komplett: ulb.tu-darmstadt.de (PDF; 38 kB)
- Kurzfassung in einem Tagungsbericht. H-Soz-u-Kult (Humanities – Sozial und Kulturgeschichte), Bereich Geschichte
- Wolfgang Heuer u. a. (Hrsg.): Arendt-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Kap. 5: Rezeptionsgeschichte, darin Abschnitt 3: Dichtung/Narrativität, Unter-Abschnitt Echo in Romanen. Metzler, Stuttgart 2011, S. 355 re.[8]
Verfilmung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Der Roman wurde 2014 von Raphaël Neal unter dem gleichen Titel in französischer Sprache verfilmt (80 min). Der Film erhielt 2014 den Preis des Oldenburg Film Festival als „best film“. Arte sendete den Film 2018 mit deutschen Untertiteln. Das Drehbuch stammt von Alice Zeniter.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Fadime Düzel: Literarische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, untersucht am Beispiel von André Schwarz-Bart, Patrick Modiano und Leslie Kaplan. Magisterarbeit. Univ. Wien, 2008. Französ. Zusammenfassung S. 65–79. Bibliographie othes.univie.ac.at (PDF; 315 kB)
- Leseprobe bis S. 12 entspr. S. 9–12 des frz. Originals
- berlinverlage.de (PDF; 79 kB) Leseprobe (dt.) bis S. 15.
- pol-editeur.fr (PDF; 40 kB) Leseprobe (frz.) S. 9–15 (dort auch zahlreiche Rez. in Franz.)
- Fever bei IMDb
- Rezensionen:
- dradio.de Deutschlandradio Kultur, als podcast: podcast.de
- Stefanie Denkert: Fever von Leslie Kaplan – jetzt als Taschenbuch erschienen. Rezension vom 15. Juni 2008 auf AVIVA-Berlin.de, abgerufen am 1. Mai 2020
- rezensionen.ch Rez. von Wolfgang Haan (Printversion: sandammeer.at)
- hannaharendt.net Marie Luise Knott im Hannah Arendt Netzwerk Berlin
- dradio.de Deutschlandfunk Büchermarkt
- Ingeborg Harms In: FAZ.net, 5. Oktober 2006. Eine sehr gelungene Rezension, mit dem Schwerpunkt auf den psychologischen Aspekten des Romans (auch in: perlentaucher.de)
- ekkw.de Kurzrezension für Jugendliche, Evang. Kirche Kurhessen-Waldeck
- Ausführliches Dossier über Papon und die Prozesse in frz.: histoire.fr>Dossiers >Dossiers précédents >Le Procès Papon, dort auch große Bibliographie, Gerichtsbeschluss vom Februar 2006 über die dauerhafte Veröffentlichung von Aufnahmen aus dem Prozess (>Publication judiciaire de Fevr. 2006)
- projekte-gegen-antisemitismus.de Zum Thema „Überlieferung des Holocaust in den Generationen“ (Literaturübersicht, meist psychologische Titel)
- ihtp.cnrs.fr Hervorragende, aktuelle (2006) Darstellung des Forschungsstands zur Occupation, Literaturhinweise, zur weiteren Archivarbeit
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ zur Pubertät der Jungen: Warum aber hat ihre Pubertät die Richtung zu einem „bösen Fieber“ genommen? im Interview mit Claire Devarrieux in Libération Kaplan, sans mobile apparent. Nr. 7358, 6. Jan. 2005, S. 1–3.
- ↑ franz. Fassung S. 123. Hier eig. Übers. mit leichter Paraphrase, um die Aussage zu verstärken
- ↑ frz. Fass, S. 164.
- ↑ abonnes.sudouest.com ( des vom 17. November 2006 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Sud Ouest: Le médecin des pauvres vom 23. April 1998
- ↑ abonnes.sudouest.com ( des vom 17. November 2006 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Michel Slitinsky in der französischsprachigen Wikipedia
- ↑ die Referentin des Abschnitts, Barbara Hahn, verwechselt Ursache und Folgen des Mords und verfehlt damit die Intention Kaplans. Hahn: … kommen zwei Jugendliche nach der Lektüre von 'Eichmann in Jerusalem' auf die Idee, einen Mord ohne Motiv … zu begehen. Kaplan will aber gerade darauf hinaus, dass die Jungen erst NACH dem Mord durch Arendt-Lektüre in der Schule auf "Eichmann" stoßen und ihnen dadurch auf Dauer klar wird, dass sie in unterschiedlicher Weise in die Fußstapfen ihrer belasteten Großväter treten (der eine ein präsumptiver Täter, der andere ein Opfer, das die Vergangenheit nicht bewältigen konnte)