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„Selbstverletzendes Verhalten“ – Versionsunterschied

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{{Infobox ICD
{{Überarbeiten}}
| 01-CODE = X60-X84
Mit '''selbstverletzendem Verhalten''' (''SVV'') oder '''autoaggressivem Verhalten''' beschreibt man eine ganze Reihe von [[Verhalten]]sweisen, bei denen sich betroffene Menschen absichtlich [[Wunde]]n zufügen. Häufig finden sich die Wunden von Schnitten o.ä. an [[Arm]]en oder [[Bein]]en, aber auch andere Körperteile werden verletzt. Unter Betroffenen wird für ''SVV'' oftmals der Begriff ''Rote Träne'' verwendet, was sowohl den Blutfluss als auch Trauer, Wut oder Verzweiflung zum Ausdruck bringt.
| 01-BEZEICHNUNG = Vorsätzliche Selbstbeschädigung
| 02-CODE = L98.1
| 02-BEZEICHNUNG = Dermatitis factitia
}}
'''Selbstverletzendes Verhalten''' (SVV) wird definiert als freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne [[Suizid|suizidale]] Absicht. Dieses Verhalten ist sozial nicht akzeptiert, direkt und repetitiv; es führt meist zu kleinen oder moderaten Schädigungen. Der medizinischen Definition zufolge liegt selbstverletzendes Verhalten dann vor, wenn sich die Betroffenen innerhalb eines Jahres an fünf oder mehr Tagen bewusst oder unbewusst selbst eine Schädigung von Körpergewebe zugefügt haben.<ref>[https://medlexi.de/Selbstverletzendes_Verhalten ''Selbstverletzendes Verhalten''] MedLexi, aufgerufen am 31. August 2022</ref><ref>[https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-029l_S2k_Nicht-suizidales-selbstverletzendes_Verhalten_NSSV_2016-04.pdf ''Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter''] S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 4</ref> Andere Bezeichnungen sind ''autoaggressives Verhalten'' oder ''Artefakthandlung.'' Selbstverletzendes Verhalten ist gegen [[Selbstverstümmelung]] (einschließlich fremdmotivierter Taten, wie dem Abtrennen von Fingergliedern bei der [[Yubitsume|Yakuza]]) abzugrenzen.


Handlungen in Selbsttötungsabsicht, stereotypes Verhalten bei einer [[Tiefgreifende Entwicklungsstörung|tiefgreifenden Entwicklungsstörung]] oder [[Psychose]], sog. [[Körpermodifikation|body modification]] durch Piercings oder Tätowierungen sowie Selbstschädigungen zum Zwecke einer
Bei selbstverletzendem Verhalten besteht in der Regel keine direkte [[Suizid]]absicht, wenngleich betroffene Menschen häufig entsprechende Gedanken haben. Selbstverletzendes Verhalten ist oftmals, aber nicht immer, ein [[Symptom]] [[Psychische Störung|psychischer Erkrankungen]].
medizinischen Untersuchung im Rahmen des [[Münchhausen-Syndrom]]s werden vom selbstverletzenden Verhalten abgegrenzt.<ref>[https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-029l_S2k_Nicht-suizidales-selbstverletzendes_Verhalten_NSSV_2016-04.pdf ''Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter''] S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 10</ref>


Obgleich SVV definitorisch keinen [[Suizidalität|suizidalen]] Aspekt hat<ref name="Psychiater im Netz Start" /> (gilt nicht zwangsläufig für ICD-10-Klassifizierungen von vorsätzlicher Selbstbeschädigung), sondern meist der Regulation von (negativen) Gefühlen dient, kann SVV bei bis zu einem Drittel der Betroffenen mit Suizidalität einhergehen.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/Selbstverletzendes-Verhalten.html |titel=Selbstverletzendes Verhalten (Volker Faust) |werk=psychosoziale-gesundheit.net |abruf=2016-06-28}}</ref> In solchen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Selbstverletzungen auch der Regulation der Suizidgedanken dienen. Etwa 10 % der Betroffenen begehen früher oder später tatsächlich [[Suizid]].<ref>{{Internetquelle |url=http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000003215/02_kap1.pdf?hosts= |titel=Phänomenologie des Suizides |hrsg=Dissertationen Online, FU Berlin |abruf=2016-07-28 |format=PDF}}</ref>
==Ursachen und Symptome==
Zu unterscheiden ist selbstverletzendes Verhalten von [[Selbstverstümmelung]] (''[[Automutilation]]''), die einer eher "[[ratio]]nalen" Motivationslage entspringt, etwa der Vermeidung der Einziehung zum [[Kriegsdienst]].


Eine mögliche psychologische Erklärung für solche Verhaltensweisen besagt, dass eine Störung des [[Körperschema]]s vorliegt, bei der der eigene Körper nicht als dem Selbst zugehörig erlebt wird.<ref>{{Literatur |Autor=Holger Salge |Titel=Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25. Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten |Reihe=Psychotherapie: Praxis |Auflage=2., vollständig überarbeitete |Verlag=Springer |Ort=Berlin / Heidelberg |Datum=2017 |ISBN=978-3-662-53570-7 |Seiten=115 |DOI=10.1007/978-3-662-53571-4}}</ref> SVV kann auch der Selbstbestrafung dienen. Dieses Verhalten geht über andere Formen der Selbstschädigung hinaus, wie der Verkürzung der eigenen Lebenserwartung durch intensives [[Tabakrauchen|Rauchen]].
Junge Frauen, speziell Opfer von [[Sexueller Missbrauch|sexuellem Missbrauch]] oder körperlicher Gewalt, scheinen besonders anfällig für selbstverletzendes Verhalten zu sein, während junge Männer eher zu betont autoaggressivem Verhalten (zum Beispiel an die Wand boxen bis es blutet) neigen. Außerdem tritt das Verhalten häufig in Kombination mit dem [[Borderline-Syndrom]], dem [[Autismus]] ([[Asperger-Syndrom]]), [[Depression]]en und [[Schizophrenie]] auf. Für das [[Lesch-Nyhan-Syndrom]] ist es ein typisches Merkmal.


== Komorbidität ==
Als Ursache wird unter anderem die teilweise immer noch unterschiedliche und de facto falsche [[Erziehung]] und Vermittlung von Verhaltensweisen und Werten angenommen, die untersagt beziehungsweise verurteilt, dass Mädchen und Frauen [[Aggression]]en wie Jungen und Männer auch offen ausleben. Gründe und Auslöser für aufgestaute Probleme werden in sich selbst gesucht beziehungsweise auf sich selbst übertragen, und als "Bestrafung" wird autoaggressives bzw. selbstverletzendes Verhalten angewandt.
{{Überarbeiten|2=Dieser Abschnitt|grund=Es wird zwar darauf hingewiesen, dass zwischen selbstverletzendem Verhalten mit und ohne Schädigungsabsicht unterschieden werden muss, das wird in der Auflistung jedoch nicht getrennt. Außerdem sind keine Quellen angegeben.}}
Nämliches "[[Ritzen]]" oder ähnliches kann zur [[Sucht]] werden.
Selbstverletzendes Verhalten kann unter anderem auftreten bei:


* [[Tic|Tic-Störungen]] wie dem [[Tourette-Syndrom]]<ref>{{Literatur |Titel=Tic Disorders |Hrsg=[[American Psychiatric Association]] |Sammelwerk=Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision |Verlag=American Psychiatric Association |Ort=Washington, DC |Datum=2022 |ISBN=978-0-89042-575-6 |Seiten=93–98}}</ref>
Betroffene Menschen haben nicht die Absicht, den eigenen Tod herbeizuführen, allerdings kann selbstverletzendes Verhalten unter Umständen einen [[Schock (Medizin)|Schock]], [[Blutung|Verbluten]] oder irreversible [[Trauma]]ta zur Folge haben.
* [[Autismus-Spektrum-Störung]]<ref name="dsm-5-tr">{{Literatur |Titel=Autism Spectrum Disorder |Hrsg=[[American Psychiatric Association]] |Sammelwerk=Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision |Verlag=American Psychiatric Association |Ort=Washington, DC |Datum=2022 |ISBN=978-0-89042-575-6 |Seiten=56–68}}</ref>
* [[Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung]]
* [[Zwangsstörung]]en und [[Depression]]en
* [[Missbrauch]]serfahrungen, [[Deprivation]]en (Entzug von Zuwendung und „Nestwärme“) und [[Trauma (Psychologie)|Traumatisierungen]],
* [[Borderline-Persönlichkeitsstörung]] (siehe auch [[Parasuizid]]),


* während der [[Pubertät]] in Situationen des Kontrollverlusts
Durch den Vorgang der Selbstverletzung wird das seelische [[Leid]], das die betroffenen Menschen empfinden, zu mindern versucht. Offenbar scheint eine Art ''Verkörperlichung'' mentaler Spannungszustände dabei eine wesentliche Rolle zu spielen: Der Vorgang der Verletzung, insbesondere das eigene aus einer Wunde austretende [[Blut]], scheint innere Spannungszustände im wahrsten Sinne des Wortes "abfließen" zu lassen. Dieser [[Katharsis (Psychologie)|kathartische]] Effekt, von dem betroffene Menschen häufig berichten, hält aber in der Regel nur für eine relativ kurze Zeit vor, sodass sich das Verhalten oft wiederholt. Da betroffene Menschen oft keine Alternativen zu diesem Verhalten sehen und einem inneren Zwang zur Wiederholung ausgesetzt sind, kann die Selbstverletzung den Charakter einer Abhängigkeit haben.
* [[Körperschemastörung|Körperschema-Störungen]] (u. a. [[Dysmorphophobie|Körperdysmorphe Störung]] oder [[Body Integrity Identity Disorder]]),
* [[Fetales Alkoholsyndrom|fetalem Alkoholsyndrom]] oder [[Lesch-Nyhan-Syndrom]],
* Wut auf die eigene Person<ref>[[Volker Faust]]: ''Selbstverletzendes Verhalten.'' Psychische Gesundheit 151. Stiftung Liebenau, Mensch – Medizin – Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2019. (Methode, betroffene Körperteile, psychosoziale Ursachen).</ref>


* Essstörungen wie [[Anorexia nervosa]] oder [[Bulimie]]
Weiterhin scheint der Vorgang der Selbstverletzung den betroffenen Menschen einen Teil der Kontrolle über sich zurückzugeben: Es erscheint ihnen, als wären sie vor dem Leid, welches ihnen außenstehende Personen immer wieder zufügen, in gewisser Weise geschützt, da sie sich auf den selbst zugefügten Schmerz seelisch vorbereiten können.
* schweren Zurücksetzungen und Demütigungen, [[Psychose|psychotischen]] oder [[Schizophrenie|schizophrenen]] Schüben und ähnlichen seelischen Störungen.


Stereotype Verhaltensweisen mit Selbstschädigung werden nicht im eigentlichen Sinne zu selbstverletzendem Verhalten gezählt.<ref name="Psychiater im Netz Start">{{Internetquelle |url=http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/warnzeichen/selbstverletzendes-verhalten/was-ist-selbstverletzendes-verhalten-svv/ |titel=Was ist Selbstverletzendes Verhalten (SVV) |werk=neurologen-und-psychiater-im-netz.org |abruf=2016-06-28}}</ref>
Zusammenfassend ist selbstverletzendes beziehungsweise autoaggressives Verhalten in den meisten Fällen ein [[Symptom]] von schwerwiegenden psychischen Problemen, Süchten oder [[Trauma]]ta, die mit der Vergangenheit des autoaggressiven Menschen zusammenhängen, (zum Beispiel [[sexueller Missbrauch]], [[Misshandlung]]).


== Methoden und Ursachen ==
Es existiert eine weitere, seltene Form von SVV, die als Erweitertes Selbstverletzendes Verhalten bezeichnet wird. Dabei führen Betroffene selbstverletzende Akte im Schlaf aus, meistens während Träumen von traumatischen Erlebnissen oder vom Akt des Selbstverletzens selbst.
[[Datei:A young man holding a dagger threatens to kill himself while Wellcome V0041589.jpg|mini|Selbstverletzung als Liebesbeweis]]
[[Datei:Self-inflicted cuts (differend states of wound healing).jpg|mini|Unterarm eines Borderline-Patienten mit Schnitten in verschiedenen Stadien der Wundheilung]]
Häufig praktizieren Betroffene verschiedene Arten der Selbstverletzung. Zu den häufigsten Typen zählen:
* das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sogenanntes ''Ritzen'') der Haut an den Armen und Beinen mit spitzen und scharfen Gegenständen wie Rasierklingen, Messern, Scheren oder Scherben; eine Häufung der Narben ist am [[händigkeit|nicht-dominanten (Unter-)Arm]] zu finden, aber auch beide Arme können von Narben übersät sein, wie auch zum Beispiel Bauch, Beine, Brust, Genitalien oder das Gesicht
* wiederholtes „Kopfschlagen“ (mit den Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
* Faustschläge gegen harte Gegenstände, bis [[Hämatom]]e oder Blutungen auftreten
* das Schlagen des Körpers (zum Beispiel Arme und Beine) mit Gegenständen
* das Ausreißen von Haaren ([[Trichotillomanie]])
* In-die-Augen-Bohren bis hin zur [[Auto-Enukleation]]
* das Stechen mit Nadeln (z.&nbsp;B. Sicherheitsnadeln)
* das Beißen in erreichbare Körperpartien, auch Abbeißen von Fingerkuppen und „Zerkauen“ der Innenseite von Wangen oder Lippen
* Verbrennungen und Verbrühungen (Zigarettenausdrücken auf dem eigenen Körper, Hand über eine Kerze halten)
* Einnahme schädlicher Substanzen (wie zum Beispiel Reinigungsmittel)
* Intravenöse, subkutane oder intramuskuläre Injektion schädlicher Substanzen
* Verätzung des Körpers durch Chemikalien
* langanhaltendes Aufsprühen von Deodorants oder Körpersprays, bis [[Erfrierung]]en auftreten
* Fingernägelkauen ([[Onychophagie]]); leichtere, auf Nervosität beruhende Formen werden nicht unbedingt zu den Selbstverletzungen gezählt; schmerzende Nagelverletzungen und Ausreißen der Nägel stellen jedoch Selbstverletzungen dar
* das Abschnüren von Körperteilen.


Häufig findet eine Gewöhnung statt, die stärkere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte, großflächigere [[Verbrennung (Medizin)|Verbrennungen]]), um die gesuchte Befriedigung zu erreichen. Die Betroffenen entwickeln eine [[Sucht]].
== Arten ==
Es gibt verschiedene Arten der Selbstverletzung; häufig werden mehrere von einer Person angewandt. Zu den häufigsten zählen
* das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sog. "Ritzen") der Haut
* wiederholtes "Kopfschlagen" (entweder mit den eigenen Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
* das Ausreissen von Kopfhaaren, Augenbrauen, Wimpern usw. ([[Trichotillomanie]])
* In-die-Augen-Bohren
* Mit Nadeln (Sicherheitsnadeln etc.) stechen
* beißen in erreichbare Körperpartien, auch abbeißen von Fingerkuppen und "Zerkauen" der Innenseite von Wangen oder Lippen
* Verbrühungen mittels heißem Wasser/Verbrennungen mit [[Zigarette]]n


Es ist therapeutisch nicht erwiesen, ob es sich bei autoaggressivem Verhalten um einen [[Verstärkung (Psychologie)|''Selbstbelohnungs-'' oder ''Selbstbestrafungstrieb'']] handelt.
Es ist umstritten, ob bei der Verletzung des eigenen Körpers [[Endorphine]] (''Glückshormone'') ausgeschüttet werden, die den Schmerz lindern, wie es bei körperlicher Anstrengung oder auch einer Geburt der Fall ist. Diese werden in Verbindung mit Adrenalin ausgeschüttet, da der Körper durch das Selbstverletzen in eine starke Form des Stresses versetzt wird.
Es steht fest, dass eine Gewöhnung stattfindet, was bedeutet, dass die Art der Verletzung immer extremer wird (tiefere Schnitte, großflächigere [[Verbrennung]]), um das Glücksgefühl zu verspüren.
Nicht immer allerdings werden Endorphine oder Adrenalin ausgeschüttet; bei "Beißern" tritt nicht die Form des Stresses auf, sondern genau das Gegenteil: Der Betroffene steht unter Druck. Besonders durch das Beißen im Mundinneren wird Stress, enormer Druck, abgebaut. Wie bei anderen Verletzungen auch werden die Wunden immer größer bzw. tiefer, um den (wiederum durch das Beißen provozierten und gesteigerten) Druck abbauen zu können.


Bei einer [[Multiple-Choice]]-Studie wurde festgestellt, dass sich viele Menschen mit Selbstverletzendem Verhalten nicht auf eine Art der Selbstverletzung beschränken sondern auch diverse Methoden kombinieren.
Bei einer im Internet zugänglichen [[Multiple-Choice]]-Studie zum Thema wurde festgestellt, dass viele Menschen mit selbstverletzendem Verhalten mehrere Arten der Selbstverletzung praktizieren (teils kombinieren):
Schneiden ("[[Ritzen]]") wurde mit einer Häufigkeit von 72% angegeben, 35% verbrannten sich, 30% schlugen sich selbst, 22% verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22% kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10% gaben an, sich die Haare auszureißen und 8% brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.


Schneiden (Ritzen) wurde mit einer Häufigkeit von 72 % angegeben, 35 % verbrannten sich, 30 % schlugen sich selbst, 22 % verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22 % kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10 % gaben an, sich die Haare auszureißen, und 8 % brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.
== Zahlen und Daten ==
Folgende statistische Angaben sind unter Vorbehalt zu betrachten, da sie Teils nur Schätzungen sind und/oder sich auf spezifische Gruppen beziehen und daher keine statistisch abgesichterten Ergebnisse liefern. Jedoch geben sie ausgeprägte und deutliche Tendenzen wieder.


== Zahlen und Daten ==
Die Häufigkeit in Deutschland wird mit 0,7% bis 1,5% angegeben, was einer Anzahl von rund 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen entspricht. Überwiegend weibliche Personen sind von Autoaggression betroffen, die Angaben schwanken hier jedoch stark und werden mit 3:1 (Frauen:Männer) bis 9:1 (Frauen:Männer) angegeben.
Deutschland gehört mit 25–35 % [[Prävalenz|Lebenszeitprävalenz]] von zumindest einmaligem nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhalten (NSSV) unter Jugendlichen innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten.<ref>Paul L. Plener, Michael Kaess, Christian Schmahl, Stefan Pollak, [[Jörg M. Fegert]], Rebecca C. Brown: [https://www.aerzteblatt.de/archiv/195721/Nichtsuizidales-selbstverletzendes-Verhalten-im-Jugendalter ''Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter''] [[Deutsches Ärzteblatt]] 2018, S. 23–30</ref> Zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren sind nach den tödlichen Straßenverkehrsunfällen die tödlichen Selbstverletzungen.<ref>Gabriele Ellsäßer: [https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Gesundheit/Gesundheitszustand/UnfaelleGewaltKinder5230001149004.pdf?__blob=publicationFile ''Unfälle, Gewalt, Selbstverletzung bei Kindern und Jugendlichen 2017. Ergebnisse der amtlichen Statistik zum Verletzungsgeschehen''] herausgegeben vom [[Statistisches Bundesamt|Statistischen Bundesamt]], 7. April 2017, S. 7</ref> In Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung nimmt der Anteil der Personen mit NSSV mit zunehmendem Alter ab.<ref>Muyang Du: [https://oparu.uni-ulm.de/xmlui/handle/123456789/5677 ''Langzeitkatamnese von Patienten mit selbstverletzendem Verhalten.''] Open Access Repositorium der Universität Ulm. Dissertation, 2018</ref>
Das [[Bundesministerium für Bildung und Forschung]] fördert im Zeitraum 2017–2021 mehrere Projekte, die Verlauf und mögliche beeinflussende Faktoren des selbstverletzenden Verhaltens im Kindes- und Jugendalter untersuchen.<ref>[https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/star-selbstverletzendes-verhalten-mechanismen-intervention-beendigung-7506.php ''STAR - Selbstverletzendes Verhalten: Mechanismen, Intervention, Beendigung''] Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, abgerufen am 27. August 2018</ref>


=== Altersstruktur ===
=== Altersstruktur ===
Mehrheitlich liegt das Einstiegsalter zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr. In der Zeit der [[Pubertät]] ist also meistens der Auslöser zu suchen, das Verhalten tritt meist während der ohnehin emotional in der Regel sehr angespannten Phase des Übergangs vom Kindes- ins Erwachsenenalter erstmalig auf. Die Ursachen bzw. Gründe liegen jedoch in der Regel in der Kindheit; Konflikte, die dort nicht ausgetragen werden konnten, brechen nun hervor und können zum Auftreten des Selbstverletzenden Verhaltens führen. Im Schnitt ist 13 das am häufigsten genannte Alter der erstmaligen Selbstverletzung.
Mehrheitlich liegt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 12. und dem 15.&nbsp;Lebensjahr, das am häufigsten genannte Alter ist 13. Während die Auslöser in der emotional volatilen Phase der [[Pubertät]] ([[Liebeskummer]], Aggression gegen die Eltern etc.) liegen können, werden Ursachen und Gründe oft in der Kindheit gesucht. Demnach können Konflikte, die dort nicht aufgelöst werden konnten, nun zu SVV führen.


In Deutschland sind bis zu 5,6 Mio. Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren betroffen. Oberflächliche Schnittverletzungen (Ritzen) sind mit ca. 65 % die häufigste Form im Jugendalter. Etwa zwei Drittel der betroffenen Jugendlichen sind weiblich.<ref>Thomas Lempp: [https://between-the-lines.info/wp-content/uploads/2017/03/Statistiken.pdf ''Kinder- und Jugendpsychiatrie BASICS.''] 3.&nbsp;Auflage. Elsevier Verlag, ISBN 978-3-437-42548-6.</ref>
Ein anderer Aspekt ist die Frage, in welchem Alter Wege zum Ausstieg gesucht werden. Aus fortlaufender Erhebung auf der Internetseite "[http://www.rotetraenen.de Rote Tränen]" ergibt sich etwa folgende Struktur direkt oder indirekt Betroffener, die die Bewältigung versuchen oder sich mit Alternativen beschäftigen:


In Österreich haben sich ca. 20 Prozent der Minderjährigen schon einmal selbst Verletzungen zugefügt.<ref>[https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2016/05.html ''Eigene Sprechstunde für Selbstverletzungen.''] Gemeinsame Aussendung der Tirol Kliniken und der Medizinischen Universität Innsbruck, 26. Januar 2016.</ref>
* .. bis 16 Jahre: 34%
* 16 bis 18 Jahre: 29%
* 18 bis 20 Jahre: 17%
* 20 bis 24 Jahre: 13%
* über 24 Jahre: 7%


== Umgang mit Betroffenen ==
=== Häufigkeit ===
Selbstverletzendes Verhalten kann von [[Psychische Störung|psychischen Erkrankungen]] ausgelöst werden, die unabhängig von anderen Symptomen vorkommen.
* 1 mal: 2%
* 25 bis 50 mal: 23%
* öfter als 50 mal: 75%


Während nur Fachpersonal eine Therapie durchführen kann, sollte das familiäre und soziale Umfeld durch emotionale Nähe und [[Sozialisation|Sozialisierung]] in Krisensituationen zur Besserung der Symptomatik beitragen.
Angaben zum Aufschneiden der [[Haut]] entfiel zu 85% Prozent auf [[Extremität]]en und 15% auf den [[Rumpf]].


Der Versuch, einzelne Symptome zum Gegenstand der Diskussion zu machen, wirkt aufgrund des [[Krankheitsgewinn]]s oft eher kontraproduktiv. Vorhaltungen wie „anderen geht es noch viel schlimmer“ nehmen den Betroffenen nicht ernst.
== Umgang mit Betroffenen ==
In manchen Fällen sind sich Betroffene ihrer Probleme gar nicht bewusst, sondern fühlen sich unverstanden, da es äußerlich wirkt, als führten sie ein ganz normales Leben und dürften eigentlich keine Probleme haben. Stellt man die Selbstverletzungshandlungen somit als grundlos dar, wird der Versuch des Betroffenen, sich jemandem anzuvertrauen, dadurch oft zunichte gemacht.


Eine Behandlung ist kaum gegen den Willen des Betroffenen möglich. Das [[Bundesverfassungsgericht]] stellte fest: „Der Staat als Inhaber des [[Gewaltmonopol]]s hat von Verfassungs wegen nicht das Recht, seine erwachsenen und zur [[Freier Wille#Rechtslage in Deutschland|freien Willensbestimmung]] fähigen Bürger zu ‚bessern‘ oder zu hindern, sich selbst gesundheitlich zu schädigen.“<ref>BVerfGE 22, 180/219 f.</ref> Diese Zurückhaltung gründet sich auf dem Recht des Einzelnen auf Selbstschädigung, dessen Grenzen allerdings umstritten sind.<ref>Kai Fischer: ''Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung.'' Peter Lang / Europäischer Verlag der Wissenschaften. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1997, ISBN 3-631-32569-X.</ref> Eine zwangsweise Behandlung ist in Deutschland rechtlich nur bei [[Minderjährigkeit|Minderjährigen]] oder bei Menschen zulässig, deren Fähigkeit zur freien Willensbildung stark beeinträchtigt ist.
SVV ist in der Regel als [[Symptom]] anderer Probleme zu verstehen, nach deren Lösung auch das selbstverletzende Verhalten nicht selten von selbst aufhört. Angehörige und Freunde sollten sich vor Augen halten, dass entgegen verbreiteter [[Vorurteil]]e sich niemand ausschließlich darum verletzt, weil er auffallen oder sich wichtig machen möchte - oft genug verstecken betroffene Menschen jahrelang erfolgreich ihre Wunden und schämen sich sehr für sie.


== Therapie ==
Längerfristig muss fast immer [[Psychotherapie|psychologische Hilfe]] in Anspruch genommen werden. Freunde oder Verwandte sind mit der tief verankerten Problematik des selbstverletzenden bzw. autoaggressiven Verhaltens meist überfordert; sie müssen darauf achten, sich emotional selbst zu schützen. Im Zweifelsfall sollten sie auch für sich Hilfe in Anspruch nehmen.
Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer [[Psychotherapie]]. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer [[Heilung]]. Zur Behandlung stehen unterschiedliche Therapiekonzepte zur Verfügung; sowohl [[Tiefenpsychologie|tiefenpsychologisch]]-[[Psychoanalyse|psychoanalytische]] als auch [[Verhaltenstherapie|verhaltenstherapeutische]].


Die [[Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie]] (DGKJP) hat eine Behandlungsleitlinie herausgegeben, die eine Begleitbehandlung mit [[Psychopharmakon|Psychopharmaka]] einschließt.<ref>[https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-029l_S2k_Nicht-suizidales-selbstverletzendes_Verhalten_NSSV_2016-04.pdf ''Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter''] S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 25</ref>
== Möglichkeiten der Therapie ==
Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer [[Psychotherapie]], welche im Durchschnitt zwei bis vier Jahre dauert. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer [[Heilung]]. 1/3 der betroffenen Menschen gelten als nicht therapierbar.
Ein Mensch mit selbst verletzendem Verhalten gilt als davon geheilt, wenn er, wie bei anderen Suchtformen, fünf Jahre "clean" ist.


== Zitate ==
=== Tiefenpsychologie ===
Die [[Transference-Focused-Psychotherapy]] (TFP) nach [[Otto F. Kernberg]] konzentriert sich hierbei auf die [[Übertragung (Psychoanalyse)|Übertragung]] und [[Gegenübertragung]], wobei hier ein besonderes Augenmerk auf die aktuelle Situation und die aktuellen Konflikte eines Patienten gelegt wird. Auch ist die TFP in Abgrenzung zu anderen Formen der psychoanalytisch begründeten Psychotherapie, etwa der [[Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie|tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie]], nicht ausschließlich auf stützende Techniken angewiesen, auch wenn diese je nach psychosozialer Situation und Verfassung des Patienten auch eingesetzt werden.<ref>W. Mertens: ''Einführung in die psychoanalytische Therapie.'' Kohlhammer, Stuttgart 2000.</ref>
*''Im Vergleich zum tiefen, dunklen, inneren Schmerz der Trauer, der Zerrissenheit, der Angst, welche sich im Bauch, in den Eingeweiden, im Hals und im Herzen ausbreitet, ist der umschriebene Schmerz eines Schnittes in der Haut eine Erleichterung.'' (Norbert Hänsli, 1996)
*''Narben haben die Kraft uns daran zu erinnern, dass die Vergangenheit Realität war'' (Hannibal in "Roter Drache")
*''Grenzen meines Körpers sind Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.'' ([[Jean Améry]])


== Rezeption ==
=== Verhaltenstherapie ===
Ein Therapiekonzept, das sich unter anderem mit dem [[Leidensdruck]] und dem daraus resultierenden Problemverhalten (also auch Selbstverletzung) beschäftigt, ist die [[Dialektisch-Behaviorale Therapie]] nach [[Marsha M. Linehan]]. Diese auf das Krankheitsbild der [[Borderline-Persönlichkeitsstörung]] ausgerichtete Therapie unterscheidet zwischen Bewältigungsstrategien bei Leidensdruck (zum Beispiel durch Ablenkung oder bewusste Wahrnehmung) und Alternativen zu körperschädigendem Verhalten, sogenannten Fertigkeiten zur Stresstoleranz ([[Vermögen (Fähigkeit)|Skills]]). Beispiele für Skills sind das Schnalzen eines Gummibands, Festhalten von Eiswürfeln, Kauen von Chilischoten oder Barfußlaufen im Schnee. Im klinischen Umfeld wird das Auftragen einer speziellen stark reizenden Salbe auf die Unterarme des Patienten als Reaktion auf einen akut auftretenden hohen Selbstverletzungsdruck praktiziert. Prinzipiell weist M. Linehan jedoch darauf hin, dass es nicht Aufgabe der co-therapeutischen Fertigkeitentrainer (Skillstrainer) sei, schwere Krisen abzufangen, sondern Aufgabe des zuständigen Psychotherapeuten. Wenn dies nicht gewährleistet sei, entstehe für die Patienten eine Versorgungslücke. Werden die Patienten ausschließlich dazu aufgefordert Fertigkeiten zur Stresstoleranz anzuwenden, könnte dies devaluierend bezogen auf den Leidensdruck und die Gefühle der Patienten wirken. Aus diesem Grund schlägt M. Linehan vor, zuerst mit Skills zur inneren Achtsamkeit zu beginnen, um eigene Gefühle zunächst bewertungsfrei wahrzunehmen. Die Fertigkeiten zur Stressbewältigung sollten anfangs auch nur für leichte und mittelschwere Spannungszustände angewendet werden, um die Selbstwirksamkeitserwartung zu erhöhen. Eine zu frühe Anwendung auf schwere Krisen widerspreche dem Prinzip der Verhaltensausformung (''Shaping'').
Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch immer wieder rezipiert worden. ''(ergänzen)''

Kontinuierliche Situationsanalysen sind in der DBT unverzichtbar, um sowohl die individuellen Auslöser, als auch die individuellen Konsequenzen von selbstverletzendem Verhalten zu identifizieren. Wenn positive Verstärker identifiziert werden können, die bisher kontingent mit dem selbstverletzenden Verhalten zusammenhingen, sollen diese positiven Verstärker entfernt werden. Dadurch soll das selbstverletzende Verhalten als [[Klassische Konditionierung|konditionierte Reaktion]] „gelöscht“ werden. Neben der Löschung des selbstverletzenden Verhaltens empfiehlt M. Linehan die positive Verstärkung (C+) alternativer oder inkompatibler Verhaltensweisen. Auf Bestrafung (C-), also auf die Anwendung aversiver Konsequenzen, die bisher nicht mit dem Verhalten zusammenhingen, sollte möglichst verzichtet werden. Insbesondere willkürliche Bestrafung könnte eher mit dem Therapeuten in Verbindung gebracht werden. Außerdem kann durch Bestrafung nur Verhalten reduziert, aber kein neues funktionaleres Verhalten aufgebaut werden. Aus dieser Überlegung heraus kann für die ambulante Therapie abgesprochen werden, nach einer Selbstverletzung für 24 Stunden kein zusätzliches Notfallgespräch zu führen. Nach einem größeren zeitlichen Abstand wäre anzunehmen, dass keine Kontingenz mehr besteht zwischen der Selbstverletzung und dem Gespräch, wodurch eine operante Verstärkung vermieden werden kann. Es geht also nicht darum generell ein Gespräch abzulehnen, sondern lediglich eine positive Verstärkung zu verhindern. Aus dieser Sicht müsste ein bereits vor der Selbstverletzung vereinbartes Gespräch nicht zwingend abgesagt werden, da es sich nicht um eine Konsequenz der Selbstverletzung handelt. Stattdessen könnte das Gespräch genutzt werden, um eine Situationsanalyse anzufertigen. Dabei müssten allerdings persönliche Ziele des Patienten zunächst zurückstehen, um eine positive Verstärkung zu verhindern. Wichtig bei der Vereinbarung eines solchen Kontingenzmanagements ist es zu besprechen, dass durch die Annahme einer [[Instrumentelle und operante Konditionierung|operanten Konditionierung]] nicht unterstellt werden soll, dass die Selbstverletzung durch eine bewusste Absicht im Sinne einer appellativen Handlung motiviert ist, sondern dass positive Konsequenzen durchaus als unbeabsichtigter Nebeneffekt das Verhalten verstärken können. Grundsätzlich gehen DBT-Therapeuten davon aus, dass die Patienten ihr Bestes geben. Muss ein Notfallgespräch unter Berücksichtigung der operanten Konditionierung abgelehnt werden, sollte dies möglichst mit einer kurzen Würdigung des Leidensdrucks der Patienten geschehen (Validierung). Ein Therapieabbruch sollte im Gegensatz zu anderen Therapieformen nur in Erwägung gezogen werden, wenn andere Behandlungsansätze versagen. Dann sollte der Grund für das Versagen jedoch nicht im Patienten gesucht werden, sondern die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Therapeuten benannt werden, mit Hinweis darauf, dass andere Therapeuten oder Therapieformen vielleicht erfolgversprechender sein könnten.

== Selbstverletzung als künstlerisches Ausdrucksmittel ==
Aktionskünstler wie [[Wolfgang Flatz]] und [[Marina Abramovic]] überschreiten durch Selbstverletzung und andere selbst-quälerische Handlungen die üblichen Grenzen künstlerischen Ausdrucks, während [[Petr Pavlensky]] entsprechend drastische Methoden zur politischen Stellungnahme dienen.

== Mediale Präsenz ==
Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch oft rezipiert worden, zum Beispiel vom österreichischen Aktionskünstler [[Günter Brus]] oder vom [[Performance (Kunst)|Performancekünstlerduo]] ''[[Reindeer Werk]]''.

Mittlerweile bekennen sich auch zunehmend Künstler und Prominente, wie z.&nbsp;B. [[Marilyn Manson]], [[Demi Lovato]] oder [[Bodenski]] ([[Subway to Sally]]) zu selbstverletzendem Verhalten und thematisieren es in ihren Songs.

Auch Schauspieler und Youtuber, wie z.&nbsp;B. [[Abigail Thorn]], setzen sich mit ihren persönlichen Erfahrungen zu dem Thema auseinander und teilen diese mit anderen.

<!-- ACHTUNG: Bitte nur Beispiele mit bestehendem Artikel und dortiger Thematisierung des selbstverletzenden Verhaltens einfügen -->
=== Literatur ===
Auswahl fiktiver Werke in chronologischer Auflistung:
{{Mehrspaltige Liste |liste=
* [[Elfriede Jelinek]]: ''[[Die Klavierspielerin]]'', 1983, ISBN 978-3-644-01871-6
* [[Mariko Tamaki]]: ''[[Cover Me (Roman)|Cover Me]]'', 2000, ISBN 978-0-9698064-9-3
* [[Reiko Momochi]]: ''[[Confidential Confessions]]'',<br />2000–2002 ([[Manga]]-Serie, 6 Bände)
* [[Alan Hollinghurst]]: ''[[Die Schönheitslinie]]''<br />(Original: The Line of Beauty), 2005, ISBN 978-3-453-47185-6
* [[Ned Vizzini]]: ''[[Eine echt verrückte Story]]'' (Original:<br />It’s Kind of a Funny Story), 2006, ISBN 978-3-453-40770-1
* [[Camilla Läckberg]]: ''[[Die Totgesagten]]'' (Original:<br />Olycksfågeln), Krimi, 2006, ISBN 978-3-471-35012-6
* [[Paolo Giordano]]: ''[[Die Einsamkeit der Primzahlen]]'' (Original:<br />La solitudine dei numeri primi), 2008, ISBN 978-3-89667-397-8
* [[Charlotte Roche]]: ''[[Feuchtgebiete]]'', 2008, ISBN 978-3-8321-8057-7
}}

=== Filme ===
{{Mehrspaltige Liste |liste=
* [[Magnolien aus Stahl]] (1989)
* [[Die Klavierspielerin (Film)|Die Klavierspielerin]] (2001)
* [[Secretary (Film)|Secretary]] (2002)
* [[Dreizehn (Film)|Dreizehn]] (2003)
* [[Allein (Film)|Allein]] (2004)
* [[Der Biber]] (2011)
* [[Carrie (2013)|Carrie]] (2013)
* [[Piercing (Film)|Piercing]] (2018)
* [[Fuchs im Bau]] (2020)
}}

=== Serien ===
* [[Takin’ Over the Asylum]] (1994)
* [[Butterfly – Alle meine Farben]] (2018)
* [[Die Anstalt – Zurück ins Leben]] (2002)

== Siehe auch ==
Folgende Störungen werden zum Teil im Bereich der [[Zwangspektrumstörung]] verortet und weisen Schnittmengen zu selbstverletzendem Verhalten auf:
{{Mehrspaltige Liste |liste=
* [[Störung der Impulskontrolle]]
* [[Trichotillomanie]]
* [[Skin Picking Disorder|Skin Picking]]
* [[Onychophagie]]
* [[Dermatophagie]]
* [[Perionychophagie]]

}}


== Literatur ==
== Literatur ==
*Ackermann, Stefanie: ''Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen'' (2002)
* Stefanie Ackermann: ''Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen.'' Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-935964-04-8.
* Peter Brezovsky: ''Diagnostik und Therapie selbstverletzenden Verhaltens.'' Enke Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-432-89111-3
*Hänsli, Norbert: ''Automutilation - Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis'', Verlag Hans Huber Ber, Göttingen 1996
* Norbert Hänsli: ''Automutilation – Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis.'' Verlag Hans Huber Ber, Göttingen 1996.
*Rohmann, Ulrich: ''Selbstverletzendes Verhalten - Überlegungen, Fragen und Antworten'' (1998)
*Sachsse, Ulrich: ''Selbstverletzendes Verhalten - Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung'' (6te Auflage 2002)
* Ulrich Rohmann: ''Selbstverletzendes Verhalten. Überlegungen, Fragen und Antworten.'' 1998.
* Ulrich Sachsse: ''Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung.'' 6. Auflage 2002.
*Smith, Gerrilyn et al: ''Selbstverletzung - Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen'' (2000)
* Gerrilyn Smith et al.: ''Selbstverletzung. Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre ... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen.'' 2000.
*Smith, Mike: ''Hilfen für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten'' (2000)
* Mike Smith: ''Hilfen für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten.'' 2000.
*Strong, Marilee: ''A Bright Red Scream: self-mutilation and the language of pain'' (1999, Penguin Books)
* Marilee Strong: ''A Bright Red Scream. Self-mutilation and the language of pain.'' Penguin Books, 1999.
*Hettinger, Jochen: ''Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation : die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen'' (1996)
* Kristin Teuber: ''Ich blute, also bin ich. Selbstverletzung der Haut von Mädchen und jungen Frauen.'' Centaurus Verlag, Herbolzheim 2000.
*Mühl, Heinz et al: ''Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung : ein Lehrbuch aus pädagogischer Sicht'' (1996)
* Jochen Hettinger: ''Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation. Die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen.'' 1996.
*Noel, Vincent ''Sarah-Vom Ende meines langsamen Abschieds'' : Hilft Betroffenen und nicht Betroffenen besser zu verstehen'' (2005)
* Heinz Mühl et al.: ''Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch aus pädagogischer Sicht.'' 1996.
*Levenkron, Steven: ''Der Schmerz sitzt tiefer: Selbstverletzung verstehen und überwinden'' (2001)
* Steven Levenkron: ''Der Schmerz sitzt tiefer. Selbstverletzung verstehen und überwinden.'' 2001.


== Weblinks ==
== Weblinks ==
* [[Theo Klauß]]: [https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/wp/klauss/svv.pdf ''Wenn Menschen ihren eigenen Körper schädigen: Mögliche Gründe für selbstverletzendes Verhalten''] ohne Jahr
'''Hilfe/Selbsthilfe allgemein'''
* [http://www.maedchen.de/life/ritzen-wenn-s-der-seele-unter-die-haut-geht Interview mit Antje Kaufmann von Rote Tränen]
*[http://www.versteckte-scham.de erste deutsche Selbsthilfeseite]
*[http://www.hilfezurselbsthilfe-community.de Großes Selbsthilfenetzwerk]
*[http://www.rotetraenen.de RoteTränen: Große Selbsthilfe-Community mit Forum und informativer Seite]
*[http://www.suchtundselbsthilfe.de Sucht und Selbsthilfe]
*[http://www.hoffnungsstern.info Hoffnungsstern - Menschen für Menschlichkeit] Homepage und Selbsthilfeforum
*[http://www.medizin-psychotherapie.de/local_links.php Medizin-Psychotherapie.de - Links Datenbank]
*[http://heart-shaped-box.com Selbsthilfe- Angehörigen & Expertenforum]


== Einzelnachweise ==
'''SVV-bezogene Seiten'''
<references responsive />
*[http://www.rotelinien.de Seite zur Selbsthilfe bei SVV]
*[http://www.svv-community.net SVV-Community - Austausch für Betroffene und deren Angehörige]
*[http://www.carookee.de/forum/schwarze-schwester selbsthilfeforum und informationsseite I]
*[http://www.rotetraenen.de Informationen und Austausch für Betroffene und deren Angehörige und Freunde]
*[http://www.svv-info.de UnderPressure: die Seite von einer ehem. Betroffenen]
*[http://mitglied.lycos.de/svvsyndrom/ Informationen und Forum zum Austausch]
*[http://www.etrippchen.de/svv/vorwort-svv.html sachliche Infos und persönliches Outing]
*[http://www.carookee.de/forum/schwarze-schwester Jugendforum zum Thema...]
*[http://th05acc0218.swisswebaward.ch Verlorene Seelen: Informationsseite zum Thema]
*[http://www.psyke.org Self Injury Information and Support (englisch)]
*[http://www.suizid-forum.com suizid-forum.com]
*[http://www.selbstmordgedanken.info Forenprojekt Selbstmordgedanken
*[http://www.carookee.de/forum/lass-los Selbsthilfeforum für Jugendliche udn Eltern]
Selbsthilfeforum von und für Betroffene]


{{Gesundheitshinweis}}
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[[Kategorie:Psychopathologisches Symptom]]
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[[eo:Memvundanta konduto]]
[[fr:Automutilation]]
[[he:פגיעה עצמית]]
[[lt:Savižala]]
[[pl:Samookaleczenie]]
[[sv:Självskadebeteende]]

Aktuelle Version vom 27. Februar 2025, 17:06 Uhr

Klassifikation nach ICD-10
X60-X84 Vorsätzliche Selbstbeschädigung
L98.1 Dermatitis factitia
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) wird definiert als freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. Dieses Verhalten ist sozial nicht akzeptiert, direkt und repetitiv; es führt meist zu kleinen oder moderaten Schädigungen. Der medizinischen Definition zufolge liegt selbstverletzendes Verhalten dann vor, wenn sich die Betroffenen innerhalb eines Jahres an fünf oder mehr Tagen bewusst oder unbewusst selbst eine Schädigung von Körpergewebe zugefügt haben.[1][2] Andere Bezeichnungen sind autoaggressives Verhalten oder Artefakthandlung. Selbstverletzendes Verhalten ist gegen Selbstverstümmelung (einschließlich fremdmotivierter Taten, wie dem Abtrennen von Fingergliedern bei der Yakuza) abzugrenzen.

Handlungen in Selbsttötungsabsicht, stereotypes Verhalten bei einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung oder Psychose, sog. body modification durch Piercings oder Tätowierungen sowie Selbstschädigungen zum Zwecke einer medizinischen Untersuchung im Rahmen des Münchhausen-Syndroms werden vom selbstverletzenden Verhalten abgegrenzt.[3]

Obgleich SVV definitorisch keinen suizidalen Aspekt hat[4] (gilt nicht zwangsläufig für ICD-10-Klassifizierungen von vorsätzlicher Selbstbeschädigung), sondern meist der Regulation von (negativen) Gefühlen dient, kann SVV bei bis zu einem Drittel der Betroffenen mit Suizidalität einhergehen.[5] In solchen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Selbstverletzungen auch der Regulation der Suizidgedanken dienen. Etwa 10 % der Betroffenen begehen früher oder später tatsächlich Suizid.[6]

Eine mögliche psychologische Erklärung für solche Verhaltensweisen besagt, dass eine Störung des Körperschemas vorliegt, bei der der eigene Körper nicht als dem Selbst zugehörig erlebt wird.[7] SVV kann auch der Selbstbestrafung dienen. Dieses Verhalten geht über andere Formen der Selbstschädigung hinaus, wie der Verkürzung der eigenen Lebenserwartung durch intensives Rauchen.

Selbstverletzendes Verhalten kann unter anderem auftreten bei:

Stereotype Verhaltensweisen mit Selbstschädigung werden nicht im eigentlichen Sinne zu selbstverletzendem Verhalten gezählt.[4]

Methoden und Ursachen

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Selbstverletzung als Liebesbeweis
Unterarm eines Borderline-Patienten mit Schnitten in verschiedenen Stadien der Wundheilung

Häufig praktizieren Betroffene verschiedene Arten der Selbstverletzung. Zu den häufigsten Typen zählen:

  • das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sogenanntes Ritzen) der Haut an den Armen und Beinen mit spitzen und scharfen Gegenständen wie Rasierklingen, Messern, Scheren oder Scherben; eine Häufung der Narben ist am nicht-dominanten (Unter-)Arm zu finden, aber auch beide Arme können von Narben übersät sein, wie auch zum Beispiel Bauch, Beine, Brust, Genitalien oder das Gesicht
  • wiederholtes „Kopfschlagen“ (mit den Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
  • Faustschläge gegen harte Gegenstände, bis Hämatome oder Blutungen auftreten
  • das Schlagen des Körpers (zum Beispiel Arme und Beine) mit Gegenständen
  • das Ausreißen von Haaren (Trichotillomanie)
  • In-die-Augen-Bohren bis hin zur Auto-Enukleation
  • das Stechen mit Nadeln (z. B. Sicherheitsnadeln)
  • das Beißen in erreichbare Körperpartien, auch Abbeißen von Fingerkuppen und „Zerkauen“ der Innenseite von Wangen oder Lippen
  • Verbrennungen und Verbrühungen (Zigarettenausdrücken auf dem eigenen Körper, Hand über eine Kerze halten)
  • Einnahme schädlicher Substanzen (wie zum Beispiel Reinigungsmittel)
  • Intravenöse, subkutane oder intramuskuläre Injektion schädlicher Substanzen
  • Verätzung des Körpers durch Chemikalien
  • langanhaltendes Aufsprühen von Deodorants oder Körpersprays, bis Erfrierungen auftreten
  • Fingernägelkauen (Onychophagie); leichtere, auf Nervosität beruhende Formen werden nicht unbedingt zu den Selbstverletzungen gezählt; schmerzende Nagelverletzungen und Ausreißen der Nägel stellen jedoch Selbstverletzungen dar
  • das Abschnüren von Körperteilen.

Häufig findet eine Gewöhnung statt, die stärkere Selbstverletzungen nach sich zieht (tiefere Schnitte, großflächigere Verbrennungen), um die gesuchte Befriedigung zu erreichen. Die Betroffenen entwickeln eine Sucht.

Es ist therapeutisch nicht erwiesen, ob es sich bei autoaggressivem Verhalten um einen Selbstbelohnungs- oder Selbstbestrafungstrieb handelt.

Bei einer im Internet zugänglichen Multiple-Choice-Studie zum Thema wurde festgestellt, dass viele Menschen mit selbstverletzendem Verhalten mehrere Arten der Selbstverletzung praktizieren (teils kombinieren):

Schneiden (Ritzen) wurde mit einer Häufigkeit von 72 % angegeben, 35 % verbrannten sich, 30 % schlugen sich selbst, 22 % verhinderten die Wundheilung von Verletzungen, 22 % kratzten verschiedene Körperpartien mit den Fingernägeln auf, 10 % gaben an, sich die Haare auszureißen, und 8 % brachen sich vorsätzlich Knochen oder verletzten ihre Gelenke.

Zahlen und Daten

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Deutschland gehört mit 25–35 % Lebenszeitprävalenz von zumindest einmaligem nichtsuizidalen selbstverletzenden Verhalten (NSSV) unter Jugendlichen innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten.[11] Zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren sind nach den tödlichen Straßenverkehrsunfällen die tödlichen Selbstverletzungen.[12] In Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung nimmt der Anteil der Personen mit NSSV mit zunehmendem Alter ab.[13] Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert im Zeitraum 2017–2021 mehrere Projekte, die Verlauf und mögliche beeinflussende Faktoren des selbstverletzenden Verhaltens im Kindes- und Jugendalter untersuchen.[14]

Mehrheitlich liegt der Beginn der Erkrankung zwischen dem 12. und dem 15. Lebensjahr, das am häufigsten genannte Alter ist 13. Während die Auslöser in der emotional volatilen Phase der Pubertät (Liebeskummer, Aggression gegen die Eltern etc.) liegen können, werden Ursachen und Gründe oft in der Kindheit gesucht. Demnach können Konflikte, die dort nicht aufgelöst werden konnten, nun zu SVV führen.

In Deutschland sind bis zu 5,6 Mio. Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren betroffen. Oberflächliche Schnittverletzungen (Ritzen) sind mit ca. 65 % die häufigste Form im Jugendalter. Etwa zwei Drittel der betroffenen Jugendlichen sind weiblich.[15]

In Österreich haben sich ca. 20 Prozent der Minderjährigen schon einmal selbst Verletzungen zugefügt.[16]

Umgang mit Betroffenen

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Selbstverletzendes Verhalten kann von psychischen Erkrankungen ausgelöst werden, die unabhängig von anderen Symptomen vorkommen.

Während nur Fachpersonal eine Therapie durchführen kann, sollte das familiäre und soziale Umfeld durch emotionale Nähe und Sozialisierung in Krisensituationen zur Besserung der Symptomatik beitragen.

Der Versuch, einzelne Symptome zum Gegenstand der Diskussion zu machen, wirkt aufgrund des Krankheitsgewinns oft eher kontraproduktiv. Vorhaltungen wie „anderen geht es noch viel schlimmer“ nehmen den Betroffenen nicht ernst.

Eine Behandlung ist kaum gegen den Willen des Betroffenen möglich. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest: „Der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols hat von Verfassungs wegen nicht das Recht, seine erwachsenen und zur freien Willensbestimmung fähigen Bürger zu ‚bessern‘ oder zu hindern, sich selbst gesundheitlich zu schädigen.“[17] Diese Zurückhaltung gründet sich auf dem Recht des Einzelnen auf Selbstschädigung, dessen Grenzen allerdings umstritten sind.[18] Eine zwangsweise Behandlung ist in Deutschland rechtlich nur bei Minderjährigen oder bei Menschen zulässig, deren Fähigkeit zur freien Willensbildung stark beeinträchtigt ist.

Autoaggressive Personen haben die Möglichkeit einer Psychotherapie. Je früher mit der Therapie begonnen wird, desto größer sind die Chancen einer Heilung. Zur Behandlung stehen unterschiedliche Therapiekonzepte zur Verfügung; sowohl tiefenpsychologisch-psychoanalytische als auch verhaltenstherapeutische.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hat eine Behandlungsleitlinie herausgegeben, die eine Begleitbehandlung mit Psychopharmaka einschließt.[19]

Tiefenpsychologie

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Die Transference-Focused-Psychotherapy (TFP) nach Otto F. Kernberg konzentriert sich hierbei auf die Übertragung und Gegenübertragung, wobei hier ein besonderes Augenmerk auf die aktuelle Situation und die aktuellen Konflikte eines Patienten gelegt wird. Auch ist die TFP in Abgrenzung zu anderen Formen der psychoanalytisch begründeten Psychotherapie, etwa der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, nicht ausschließlich auf stützende Techniken angewiesen, auch wenn diese je nach psychosozialer Situation und Verfassung des Patienten auch eingesetzt werden.[20]

Verhaltenstherapie

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Ein Therapiekonzept, das sich unter anderem mit dem Leidensdruck und dem daraus resultierenden Problemverhalten (also auch Selbstverletzung) beschäftigt, ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie nach Marsha M. Linehan. Diese auf das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgerichtete Therapie unterscheidet zwischen Bewältigungsstrategien bei Leidensdruck (zum Beispiel durch Ablenkung oder bewusste Wahrnehmung) und Alternativen zu körperschädigendem Verhalten, sogenannten Fertigkeiten zur Stresstoleranz (Skills). Beispiele für Skills sind das Schnalzen eines Gummibands, Festhalten von Eiswürfeln, Kauen von Chilischoten oder Barfußlaufen im Schnee. Im klinischen Umfeld wird das Auftragen einer speziellen stark reizenden Salbe auf die Unterarme des Patienten als Reaktion auf einen akut auftretenden hohen Selbstverletzungsdruck praktiziert. Prinzipiell weist M. Linehan jedoch darauf hin, dass es nicht Aufgabe der co-therapeutischen Fertigkeitentrainer (Skillstrainer) sei, schwere Krisen abzufangen, sondern Aufgabe des zuständigen Psychotherapeuten. Wenn dies nicht gewährleistet sei, entstehe für die Patienten eine Versorgungslücke. Werden die Patienten ausschließlich dazu aufgefordert Fertigkeiten zur Stresstoleranz anzuwenden, könnte dies devaluierend bezogen auf den Leidensdruck und die Gefühle der Patienten wirken. Aus diesem Grund schlägt M. Linehan vor, zuerst mit Skills zur inneren Achtsamkeit zu beginnen, um eigene Gefühle zunächst bewertungsfrei wahrzunehmen. Die Fertigkeiten zur Stressbewältigung sollten anfangs auch nur für leichte und mittelschwere Spannungszustände angewendet werden, um die Selbstwirksamkeitserwartung zu erhöhen. Eine zu frühe Anwendung auf schwere Krisen widerspreche dem Prinzip der Verhaltensausformung (Shaping).

Kontinuierliche Situationsanalysen sind in der DBT unverzichtbar, um sowohl die individuellen Auslöser, als auch die individuellen Konsequenzen von selbstverletzendem Verhalten zu identifizieren. Wenn positive Verstärker identifiziert werden können, die bisher kontingent mit dem selbstverletzenden Verhalten zusammenhingen, sollen diese positiven Verstärker entfernt werden. Dadurch soll das selbstverletzende Verhalten als konditionierte Reaktion „gelöscht“ werden. Neben der Löschung des selbstverletzenden Verhaltens empfiehlt M. Linehan die positive Verstärkung (C+) alternativer oder inkompatibler Verhaltensweisen. Auf Bestrafung (C-), also auf die Anwendung aversiver Konsequenzen, die bisher nicht mit dem Verhalten zusammenhingen, sollte möglichst verzichtet werden. Insbesondere willkürliche Bestrafung könnte eher mit dem Therapeuten in Verbindung gebracht werden. Außerdem kann durch Bestrafung nur Verhalten reduziert, aber kein neues funktionaleres Verhalten aufgebaut werden. Aus dieser Überlegung heraus kann für die ambulante Therapie abgesprochen werden, nach einer Selbstverletzung für 24 Stunden kein zusätzliches Notfallgespräch zu führen. Nach einem größeren zeitlichen Abstand wäre anzunehmen, dass keine Kontingenz mehr besteht zwischen der Selbstverletzung und dem Gespräch, wodurch eine operante Verstärkung vermieden werden kann. Es geht also nicht darum generell ein Gespräch abzulehnen, sondern lediglich eine positive Verstärkung zu verhindern. Aus dieser Sicht müsste ein bereits vor der Selbstverletzung vereinbartes Gespräch nicht zwingend abgesagt werden, da es sich nicht um eine Konsequenz der Selbstverletzung handelt. Stattdessen könnte das Gespräch genutzt werden, um eine Situationsanalyse anzufertigen. Dabei müssten allerdings persönliche Ziele des Patienten zunächst zurückstehen, um eine positive Verstärkung zu verhindern. Wichtig bei der Vereinbarung eines solchen Kontingenzmanagements ist es zu besprechen, dass durch die Annahme einer operanten Konditionierung nicht unterstellt werden soll, dass die Selbstverletzung durch eine bewusste Absicht im Sinne einer appellativen Handlung motiviert ist, sondern dass positive Konsequenzen durchaus als unbeabsichtigter Nebeneffekt das Verhalten verstärken können. Grundsätzlich gehen DBT-Therapeuten davon aus, dass die Patienten ihr Bestes geben. Muss ein Notfallgespräch unter Berücksichtigung der operanten Konditionierung abgelehnt werden, sollte dies möglichst mit einer kurzen Würdigung des Leidensdrucks der Patienten geschehen (Validierung). Ein Therapieabbruch sollte im Gegensatz zu anderen Therapieformen nur in Erwägung gezogen werden, wenn andere Behandlungsansätze versagen. Dann sollte der Grund für das Versagen jedoch nicht im Patienten gesucht werden, sondern die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Therapeuten benannt werden, mit Hinweis darauf, dass andere Therapeuten oder Therapieformen vielleicht erfolgversprechender sein könnten.

Selbstverletzung als künstlerisches Ausdrucksmittel

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Aktionskünstler wie Wolfgang Flatz und Marina Abramovic überschreiten durch Selbstverletzung und andere selbst-quälerische Handlungen die üblichen Grenzen künstlerischen Ausdrucks, während Petr Pavlensky entsprechend drastische Methoden zur politischen Stellungnahme dienen.

Mediale Präsenz

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Selbstverletzendes Verhalten ist medial und künstlerisch oft rezipiert worden, zum Beispiel vom österreichischen Aktionskünstler Günter Brus oder vom Performancekünstlerduo Reindeer Werk.

Mittlerweile bekennen sich auch zunehmend Künstler und Prominente, wie z. B. Marilyn Manson, Demi Lovato oder Bodenski (Subway to Sally) zu selbstverletzendem Verhalten und thematisieren es in ihren Songs.

Auch Schauspieler und Youtuber, wie z. B. Abigail Thorn, setzen sich mit ihren persönlichen Erfahrungen zu dem Thema auseinander und teilen diese mit anderen.

Auswahl fiktiver Werke in chronologischer Auflistung:

Folgende Störungen werden zum Teil im Bereich der Zwangspektrumstörung verortet und weisen Schnittmengen zu selbstverletzendem Verhalten auf:

  • Stefanie Ackermann: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen. Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-935964-04-8.
  • Peter Brezovsky: Diagnostik und Therapie selbstverletzenden Verhaltens. Enke Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-432-89111-3
  • Norbert Hänsli: Automutilation – Der sich selbst schädigende Mensch im psychopathologischen Verständnis. Verlag Hans Huber Ber, Göttingen 1996.
  • Ulrich Rohmann: Selbstverletzendes Verhalten. Überlegungen, Fragen und Antworten. 1998.
  • Ulrich Sachsse: Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik-Psychotherapie, das Trauma, die Dissoziation und ihre Behandlung. 6. Auflage 2002.
  • Gerrilyn Smith et al.: Selbstverletzung. Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre ... Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen. 2000.
  • Mike Smith: Hilfen für Menschen mit selbstverletzendem Verhalten. 2000.
  • Marilee Strong: A Bright Red Scream. Self-mutilation and the language of pain. Penguin Books, 1999.
  • Kristin Teuber: Ich blute, also bin ich. Selbstverletzung der Haut von Mädchen und jungen Frauen. Centaurus Verlag, Herbolzheim 2000.
  • Jochen Hettinger: Selbstverletzendes Verhalten, Stereotypien und Kommunikation. Die Förderung der Kommunikation bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Autismussyndrom, die selbstverletzendes Verhalten zeigen. 1996.
  • Heinz Mühl et al.: Selbstverletzendes Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Lehrbuch aus pädagogischer Sicht. 1996.
  • Steven Levenkron: Der Schmerz sitzt tiefer. Selbstverletzung verstehen und überwinden. 2001.

Einzelnachweise

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  1. Selbstverletzendes Verhalten MedLexi, aufgerufen am 31. August 2022
  2. Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 4
  3. Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 10
  4. a b Was ist Selbstverletzendes Verhalten (SVV). In: neurologen-und-psychiater-im-netz.org. Abgerufen am 28. Juni 2016.
  5. Selbstverletzendes Verhalten (Volker Faust). In: psychosoziale-gesundheit.net. Abgerufen am 28. Juni 2016.
  6. Phänomenologie des Suizides. (PDF) Dissertationen Online, FU Berlin, abgerufen am 28. Juli 2016.
  7. Holger Salge: Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25. Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten (= Psychotherapie: Praxis). 2., vollständig überarbeitete Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-53570-7, S. 115, doi:10.1007/978-3-662-53571-4.
  8. Tic Disorders. In: American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision. American Psychiatric Association, Washington, DC 2022, ISBN 978-0-89042-575-6, S. 93–98.
  9. Autism Spectrum Disorder. In: American Psychiatric Association (Hrsg.): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, Text Revision. American Psychiatric Association, Washington, DC 2022, ISBN 978-0-89042-575-6, S. 56–68.
  10. Volker Faust: Selbstverletzendes Verhalten. Psychische Gesundheit 151. Stiftung Liebenau, Mensch – Medizin – Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2019. (Methode, betroffene Körperteile, psychosoziale Ursachen).
  11. Paul L. Plener, Michael Kaess, Christian Schmahl, Stefan Pollak, Jörg M. Fegert, Rebecca C. Brown: Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter Deutsches Ärzteblatt 2018, S. 23–30
  12. Gabriele Ellsäßer: Unfälle, Gewalt, Selbstverletzung bei Kindern und Jugendlichen 2017. Ergebnisse der amtlichen Statistik zum Verletzungsgeschehen herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, 7. April 2017, S. 7
  13. Muyang Du: Langzeitkatamnese von Patienten mit selbstverletzendem Verhalten. Open Access Repositorium der Universität Ulm. Dissertation, 2018
  14. STAR - Selbstverletzendes Verhalten: Mechanismen, Intervention, Beendigung Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, abgerufen am 27. August 2018
  15. Thomas Lempp: Kinder- und Jugendpsychiatrie BASICS. 3. Auflage. Elsevier Verlag, ISBN 978-3-437-42548-6.
  16. Eigene Sprechstunde für Selbstverletzungen. Gemeinsame Aussendung der Tirol Kliniken und der Medizinischen Universität Innsbruck, 26. Januar 2016.
  17. BVerfGE 22, 180/219 f.
  18. Kai Fischer: Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung. Peter Lang / Europäischer Verlag der Wissenschaften. Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1997, ISBN 3-631-32569-X.
  19. Leitlinie Nicht-Suizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Kindes- und Jugendalter S2k-Leitlinie 028/029, Stand: 02/2015, S. 25
  20. W. Mertens: Einführung in die psychoanalytische Therapie. Kohlhammer, Stuttgart 2000.