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„Herzog (Roman)“ – Versionsunterschied

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[[Datei:Herzog_(1964_1st_ed)_-_Saul_Bellow.jpg|mini|Herzog, in der englischen Erstausgabe von 1964]]
Der [[Roman]] '''Herzog''' ([[1964]]) gilt als das Hauptwerk von [[Saul Bellow]] und beschreibt die Orientierungskrise des [[Judentum|jüdischen]] [[Literaturwissenschaftler]]s Moses Herzog aus [[Chicago]], der sowohl zwischen verschiedenen Frauen als auch verschiedenen [[Ideologie]]n steht.
Der [[Roman]] '''Herzog'''<ref>{{Literatur |Autor=Saul Bellow |Titel=Herzog |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Volk und Wissen |Ort=Berlin |Datum=1975 |ISBN= |Seiten=}}</ref> ([[1964]]) ist das Hauptwerk von [[Saul Bellow]] und beschreibt die Orientierungskrise des [[Judentum|jüdischen]] [[Literaturwissenschaftler]]s Moses Herzog aus [[Chicago]], der sowohl zwischen verschiedenen Frauen als auch verschiedenen [[Ideologie]]n steht. Das Magazin ''[[Time (Magazin)|Time]]'' zählt den Roman [[Time-Auswahl der besten 100 englischsprachigen Romane von 1923 bis 2005|zu den besten 100 englischsprachigen Romanen]], die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden; er war 4 Wochen lang in den Jahren 1965 und 1966 auf dem [[Liste der meistverkauften Belletristikbücher in Deutschland#1961 ff.|Platz 1 der ''Spiegel''-Bestsellerliste]].


==Zum Inhalt des Romans==
== Handlung ==
Der Literaturwissenschaftler Moses Herzog gerät in eine tiefe Persönlichkeitskrise: Nach der Ehe mit Daisy (2 halbwüchsige Kinder) scheitert auch die Ehe mit Madeleine (1 kleine Tochter), die ihn mit seinem früher besten Freund Valentine Gersbach betrügt, dem er aufgrund seiner Beziehungen in Chicago dort noch eine gute Stellung beim Rundfunk verschafft hat.
Der Literaturwissenschaftler Moses Herzog gerät in eine tiefe Persönlichkeitskrise: Nachdem er seine erste Frau Daisy und ihren gemeinsamen halbwüchsigen Sohn verlassen hat, scheitert auch die Ehe mit Madeleine, mit der er eine kleine Tochter hat. Madeleine betrügt ihn mit seinem früher besten Freund Valentine Gersbach, dem Moses aufgrund seiner Beziehungen noch eine gute Stellung beim Rundfunk in Chicago verschafft hatte.
Madeleine zu Liebe hatte Herzog seine Uni-Laufbahn aufgegeben und war mit ihr für ein wiss. Projekt ein Jahr aufs Land gezogen, aber wegen wachsender Konflikte zwischen ihnen gingen beide dann wieder in die Stadt, wo er nun Vorlesungen an einer Volkshochschule hält. Madeleine trennt sich von ihm und setzt ihre Liebesaffaire mit seinem besten Freund fort, Herzog macht mit seinem Bruder eine Europareise, die ihn aber labiler als vorher zurückkehren lässt. Mehr und mehr hat er das Gefühl, dass er „entzweiging - auseinanderbrach“, seine Vorlesungen werden verworren und er wird sonderlich.
Seine Selbsterforschung und -prüfung, seine Rechtfertigungen usw. treiben ihn zu Notizen, die sich allmählich zu Briefen an seine Freunde, Bekannten, andere lebende und tote Schritsteller und zuletzt auch: Nietzsche und Gott, auswachsen. In diesen Briefen nimmt Herzog nicht nur zu seinen privaten Anliegen sondern auch kritisch zu sozialen (Armut, Landverteilung) und politischen Entwicklungen (Kalter Krieg) Stellung und erweist sich als linker Liberaler, dem auch der Marxismus nicht fremd ist: er selbst könne sich mit einschließen, wenn er von den „Millionen verbitterter Voltairianer“ schreibe, deren Seelen mit zorniger Satire angefüllt seien. <br />


Madeleine zuliebe gibt Herzog seine Universitäts-Laufbahn auf und zieht mit ihr wegen eines wissenschaftlichen Projekts für ein Jahr aufs Land. Aufgrund wachsender Konflikte zwischen ihnen kehren beide in die Stadt zurück, wo Herzog nun Vorlesungen an einer Volkshochschule hält. Madeleine trennt sich von ihm und setzt ihre Liebesaffaire mit seinem besten Freund fort, Herzog macht mit seinem Bruder eine Europareise, von der er aber labiler als vorher zurückkehrt. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass er „entzweiging - auseinanderbrach“.<ref>''Bellow'', Herzog, S. 13.</ref>
Nach den langen Schilderungen der Eskalation zwischen Madelaine und Herzog reflektiert er über seine japanische Freundin Sono und über seine neue Partnerin, Ramona, die besser als er selbst seine Bindungsängste und die Bedeutung seiner sich von ihm distanzierenden Frau (Madeleine) erkennen.
Schließlich reist er wieder in sein Landhaus, in dem er mit Madeleine gelebt hat, um seinem Sohn aus erster Ehe nahe zu sein, der ein Sommercamp besucht. Auf diesen letzten Seiten gibt es mehr und mehr Hinweise auf eine Besserung seines Zustands, das Aufscheinen von Gelassenheit und Freude über neu empfundene sinnliche Eindrücke der Natur.<br />


Seine Vorlesungen werden verworren, er wird sonderlich, seine Selbsterforschung und seine Rechtfertigungen treiben ihn zu ersten Notizen, die sich allmählich zu Briefen an Freunde, Bekannte, andere lebende und tote Schriftsteller und zuletzt auch an Nietzsche und Gott auswachsen. In diesen Briefen nimmt Herzog nicht nur zu seinen privaten Anliegen, sondern auch kritisch zu sozialen Themen (Armut, Landverteilung)<ref>''Bellow'', Herzog, S. 73, 77.</ref> und zu politischen Entwicklungen, dem Kalten Krieg,<ref>''Bellow'', Herzog, S. 71, 76 ff.</ref> Stellung und erweist sich als linker Liberaler, dem auch der Marxismus nicht fremd ist. Er selbst könne sich mit einschließen, wenn er von den „Millionen verbitterter Voltairianer“ schreibe, deren Seelen mit zorniger Satire angefüllt seien.<ref>''Bellow'', Herzog, S. 77.</ref>
==Anmerkungen zur Komposition==
*Die Entwicklung der Figur ist mehr eine kreisförmige Vertiefung, obgleich Moses seine Antagonisten und die seines Vaters auch als „Dozenten der Realität“ bezeichnet, die ganze Reflexionsarbeit also auch eine lineare, schrittweise Annäherung an die Realität sein könnte. Mit seinen Briefen ist Moses „auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen begann.“ <br />
*Die Zeitstruktur wird durch die lockere, vor- und zurückgreifende Assoziation der Szenen unklar, es entsteht ein Mosaik der Erinnerung, das nach und nach das vertieft und ausleuchtet, was am Anfang bald schon beschrieben ist: Madeleines Konvertierung vom Judentum zum Katholizismus, das Leben im Sommerhaus mit Madeleine, die wachsenden Konflikte zwischen ihnen, Herzogs zunehmende Arbeitsunfähigkeit, ihre Affaire mit seinem Freund, die Trennung, seine neue Freundin Ramona... <br />
*Es gibt einen großen Unterschied zwischen aufregend geschriebenen Passagen und einer Form- und Perspektivlosigkeit des Ganzen, einer Abwesenheit von Entwicklung, häufigen Unterbrechungen der Erzählung durch die vielen Notizen und Briefe, die wie Hindernisse mühsam zu übersteigen sind. <br />
*Die plötzliche Wendung zum Besseren gegen Ende des Buches („Wie herrlich schön ist es heute!“) ist nicht eigentlich nachvollziehbar in der Figur oder ihren Umständen angelegt: Der erste Satz des Romans („Wenn ich den Verstand verloren habe, soll´s mir recht sein, dachte Moses Herzog.“) leitet sowohl den Leidensweg ein und steht auch am Beginn der nachhaltigen Stimmungsverbesserung. Die Verrücktheit verliert sich irgendwie in Herzogs Leben, trotz fortbestehender äußerer Unaufgeräumtheit im Sommerhaus scheinen Gesundung, Glück und Seelenfrieden als Folge einer langen Erinnerungs- und Rechtfertigungsarbeit möglich: „So fing die letzte Woche seiner Briefe an.“ <br />


Nach langen Schilderungen der Eskalation zwischen Madeleine und Herzog reflektiert er über seine japanische Freundin Sono<ref>''Bellow'', Herzog, S. 251 ff.</ref> und seine neue Partnerin, Ramona,<ref>''Bellow'', Herzog, S. 262 ff.</ref> die besser als er seine Bindungsängste und die Bedeutung seiner sich von ihm distanzierenden Frau (Madeleine) erkennen.
==Anmerkungen zum Stil:==
*Eine überraschende Vielfalt der Personenbeschreibungen, die er in wunderbaren Dialogszenen (im Gespräch mit seinem Anwalt Simkin, einer früheren Schwiegermutter, mit einem Taxifahrer, beim Zuhören vor Gericht) wie en passant entwickelt: eine sprudelnde Quelle der scharfen Beobachtung und interessanten Darstellung von Personen, Stimmungen, Dialogen... Immer wieder erfrischende Exkurse, die für sich wie kleine Geschichten stehen könnten und Bellows überbordende Gestaltungsfreude zeigen.
*Ein großer Reichtum an stilsicher eingesetzten rhet. Formen und Einfällen, daher immer wieder interessant und weiterleitend. Vor allem: Ironie und Selbstironie, Asyndeton, Satzbrüche, ...
*Sehr experimentell auch das Schwanken der Erzählhaltung: Der meist personale Er-Erzähler steht der Hauptfigur sehr nahe (er berichtet von Herzogs Überlegungen, seinen Gefühlen und der Wahrnehmung anderer Figuren), ist aber nicht identisch mit ihm (gibt Rückblicke und erklärt). Dabei scheint die Ironie und Selbstironie irgendwo zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur zu entspringen. Der Erzähler hat aber auch viel Humor, steht also auf Seiten Herzogs, ist dabei kein Besserwisser. Manchmal scheint der Er-Erzähler aber auch die Hauptfigur anzusprechen, wird ein Du-Erzähler. Beim Schreiben der Briefe (Ich-Form) wechselt der Er-Erzähler nach oder vor den kursiv gesetzten Brief-texten gelegentlich zu einem Ich-Erzähler, als wenn die Intensität der Briefe sich fortsetzt in einem kontrollierten Freiraum für das Ich der Hauptfigur. Diese Erzähler-Vielfalt ist das vielleicht wichtigste formale Experiment und möglicherweise ein Versuch, die Fiktion des neutralen Erzählers zu überwinden oder ein Hinweis auf die Mühe des Moses Herzog, sich zu einem neutralen Standpunkt vorzuarbeiten – was aber gegen Ende zu einem Überwiegen des ER-Erzählers führen müßte.


Um seinem Sohn aus erster Ehe nahe zu sein, der ein Sommercamp besucht, reist er schließlich wieder in sein Landhaus, in dem er mit Madeleine gelebt hat. Auf diesen letzten Seiten gibt es mehr und mehr Hinweise auf eine Besserung seines Zustands, auf Gelassenheit und Freude über neu empfundene sinnliche Eindrücke der Natur.<ref>''Bellow'', Herzog, S. 457 ff.</ref>
[[en:Herzog (novel)]]


== Komposition ==
Der Eindruck der Unordnung in Herzogs Leben wird erzählerisch durch die Komposition des Romans unterstrichen: So gibt es einerseits die linear und kohärent erzählten Passagen mit einer Vielfalt an Charakteren, die in [[Dialog]]szenen (im Gespräch mit seinem Anwalt Simkin, mit einer früheren Schwiegermutter, mit einem Taxifahrer, beim Zuhören vor Gericht) wie ''en passant'' entwickelt werden.<ref>''Bellow'', Herzog, S. 311 ff., 329 ff., 331 ff., 334 ff.</ref> Bellow schöpft hier aus der Quelle seiner scharfen Beobachtung und der Fähigkeit zu interessanten Darstellungen von Personen, Stimmungen und Dialogen. Immer wieder trifft der Leser auf Exkurse, die wie kleine Geschichten für sich stehen könnten und Bellows überbordende Gestaltungsfreude zeigen.

Andererseits gibt es eine Abwesenheit von Entwicklung und eine Stagnation durch häufige Unterbrechung der Erzählung: die vielen Notizen und Briefe sind vom Leser wie Hindernisse in großer Anstrengung zu übersteigen. Die vor- und zurückgreifende Assoziation der Szenen löst dadurch die Zeitstruktur der Handlung weitgehend auf und statt einer linearen Abfolge entsteht ein Mosaik der Erinnerung, das nach und nach vertieft und ausleuchtet, was schon am Anfang beschrieben ist: Madeleines [[Konversion (Religion)|Konversion]] vom [[Judentum]] zum [[Katholizismus]], das Leben im Sommerhaus mit Madeleine, die zunehmenden Konflikte, Herzogs Arbeitsunfähigkeit, Madeleines lange Affäre mit seinem Freund, die Trennung, seine neue Freundin Ramona... Diese Erzählweise unterstreicht die Form- und Perspektivlosigkeit des Ganzen,

Der erste Satz des Romans, „Wenn ich den Verstand verloren habe, soll´s mir recht sein, dachte Moses Herzog.“, leitet Herzogs Leidensweg ein und wird wiederholt am Beginn seiner nachhaltigen Stimmungsaufhellung am Ende des Romans: Herzogs Verrücktheit verliert sich, irgendwie und von ihm unverstanden, aus seinem Leben. Trotz äußerer Unaufgeräumtheit scheinen Gesundung, Glück und Seelenfrieden als Folge seiner langen Erinnerungs- und Rechtfertigungsarbeit möglich: „So fing die letzte Woche seiner Briefe an.“<ref>Die „Fragen bleiben letzten Endes unbeantwortet, und dass Herzog aus dem Chaos herausfindet, ist nicht als exemplarische Lösung, sondern als privater Glücksfall zuv erstehen.“ ''Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe'', Kindler 1996, Band 2, siehe Literatur, S. 443.
</ref>

Diese Wendung zum Besseren gegen Ende der Erzählung („Wie herrlich schön ist es heute!“)<ref>''Bellow'', Herzog, S. 458 ff.</ref> ist weder in der Figur noch in ihren Umständen angelegt: Herzog beschreibt seine Antagonisten und auch seinen Vater als „Dozenten der Realität“,<ref>''Bellow'', Herzog, S. 189, 220.</ref> die ihn nach und nach mit seiner Selbstreflexion an die Realität heranführen. Aber er nähert sich allmählich nur dem, was er immer schon geahnt hatte: Mit seinen Briefen sei er „auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen begann.“<ref>''Bellow'', Herzog, S. 154.</ref> Die Basis seines neuen Selbstbewusstseins bleibt daher für Herzog trotz seiner Erinnerungsarbeit unbegriffen und fragil – die Erzählung wird zu einer Figur der kreisförmigen Vertiefung in die immer schon geahnten Gegebenheiten.

== Erzählerwechsel ==
Experimentell ist der Wechsel der Erzählhaltung: Der meist personale ''Er-[[Erzähler]]'' steht der Hauptfigur sehr nahe und berichtet beispielsweise von Herzogs Überlegungen, seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung anderer Figuren. Aber er ist nicht identisch mit ihm, denn der Erzähler fasst rückblickend Herzogs Entwicklung zusammen und erklärt distanziert das Figurenhandeln. Der Erzähler steht zwar auf Seiten Herzogs, hat Humor und erzählt nicht als Besserwisser, seine Ironie und Selbstironie scheinen ''zwischen'' dem Erzähler und der Hauptfigur zu entspringen. Manchmal aber spricht der Er-Erzähler direkt die Hauptfigur an, wird also ein Dialogpartner, ein ''Du-Erzähler.''<ref>''Bellow'', Herzog, S. 101.</ref> Beim Schreiben der Briefe (Herzog schreibt in der Ich-Form) wechselt der Er-Erzähler ''nach'' oder ''vor'' den kursiv gesetzten Brieftexten gelegentlich auch zu einem ''Ich-Erzähler''<ref>''Bellow'', Herzog, S. 70 ff.</ref> – Moses Herzog ist also sowohl ''außer'' sich als auch ''neben'' sich und manchmal auch ''er selbst''. Dieser Erzähler-Wechsel ist ein formaler Hinweis auf die schwankende, sich selbst fremde Identität der Hauptfigur und auf seine Mühe, sich zu vergewissern, wer er eigentlich sei: Diese Erzählweise ist Teil der Botschaft.

Der Roman zeigt einen ungewöhnlichen Reichtum an rhetorischen Formen, die auch sein weites Erinnerungsmosaik lesenswert machen. Ganze Passagen sind [[Ironie|ironisch]] und selbstironisch geschrieben, er häuft Attribute als [[Asyndeton|Asyndeta]], verstößt mit [[Satzbruch|Satzbrüchen]] gegen Lesererwartungen usw.

== Rezeption ==
„Die Stärke des Buches [liege] gerade in der auf gedanklich und erzähltechnisch hohem Niveau durchgeführten Konfrontation des humanen, liberalen und intellektuellem Helden mit einer Welt, für deren Bewältigung allgemein verbindliche Maximen und Lebenstechniken ohnehin kaum mehr zur Verfügung stehen.“<ref>''Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe'', Kindler 1996, Band 2, siehe Literatur, S. 443.</ref>

Almut Finck schrieb am 7. April 2005 in ihrem Nachruf auf Saul Bellow: „Saul Bellow (ist) selbst in seiner Heimat nicht mehr wirklich populär“, was nicht an seiner Qualität, aber an seinen oft politisch inkorrekten Stellungnahmen liege. Schon in seinem ersten Roman ''Mann in der Schwebe'' „hat Bellow (...) bereits den Typus seines ´ramponierten Helden´ skizziert. (...) Oder Moses Herzog in seinem besten Roman ''Herzog'' (1964) (…) - Bellows Charaktere sind intellektuelle Exzentriker mit Hang zur Funken sprühenden Melodramatik. Zwiegespaltenne Metaphysiker des 20 Jahrhunderts (…) in der unnachahmlichen Bellowschen Mischung aus Nietzsche und Marx Brothers.“<ref>''Almut Finck'': Spott ist alles, was ich habe. Meister des Widerspruchs: zum Tod des Literatur-Nobelpreisträgers Saul Bellow, [[Der Tagesspiegel]] 7. April 2005.</ref>

== Buchausgaben (Auswahl) ==
englisch:
* ''Herzog''. Viking Press, New York 1964 (Erstausgabe).
* ''Herzog''. Penguin, New York 2015, ISBN 978-0-14-310767-5.

deutsch:
* ''Herzog''. Deutsch von [[Walter Hasenclever (Übersetzer)|Walter Hasenclever]]. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1965.
* Herzog. Roman. Aus dem Amerikanischen von Walter Hasenclever. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Schönfelder, Berlin: Volk und Wissen 1975, 517 S.
* ''Herzog''. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-17870-4.

== Weblinks ==
* [https://www.deutschlandfunk.de/saul-bellow-die-drei-grossen-romane.700.de.html?dram:article_id=84098 Deutschlandfunk.de: Saul Bellow – Die drei großen Romane, „Die Abenteuer des Augie March“, „Herzog“, „Humboldts Vermächtnis“]

== Literatur ==
* [[Hubert Zapf]]: ''Der Roman als Medium der Reflexion: eine Untersuchung am Beispiel dreier Romane von Saul Bellow (Augie March, Herzog, Humboldt's gift)''. (Hochschulschrift). Lang, Frankfurt am Main, Bern, 1981. ISBN 3-8204-6114-0.
* Alexandre Maurocordato: ''Les Quatre dimensions du Herzog de Saul Bellow''. Lettres modernes, Paris 1969.
* [[Zachary Leader]]: ''The Life of Saul Bellow: To Fame and Fortune, 1915-1964''. London: Jonathan Cape, 2015.
* David Mikics: ''Bellow's people: how Saul Bellow made life into art''. W.W. Norton Company, New York [2016]. ISBN 978-0-393-24687-2.
* ''Kindlers neues Literatur-Lexikon''. Studienausgabe, Band 2, hrsg. von Walter Jens, München: Kindler 1996, ISBN 3-463-43200-5

== Einzelnachweise ==
<references />

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[[Kategorie:Literatur (Englisch)]]
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[[Kategorie:Roman, Epik]]
[[Kategorie:Saul Bellow]]

Aktuelle Version vom 2. März 2025, 21:24 Uhr

Herzog, in der englischen Erstausgabe von 1964

Der Roman Herzog[1] (1964) ist das Hauptwerk von Saul Bellow und beschreibt die Orientierungskrise des jüdischen Literaturwissenschaftlers Moses Herzog aus Chicago, der sowohl zwischen verschiedenen Frauen als auch verschiedenen Ideologien steht. Das Magazin Time zählt den Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden; er war 4 Wochen lang in den Jahren 1965 und 1966 auf dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.

Der Literaturwissenschaftler Moses Herzog gerät in eine tiefe Persönlichkeitskrise: Nachdem er seine erste Frau Daisy und ihren gemeinsamen halbwüchsigen Sohn verlassen hat, scheitert auch die Ehe mit Madeleine, mit der er eine kleine Tochter hat. Madeleine betrügt ihn mit seinem früher besten Freund Valentine Gersbach, dem Moses aufgrund seiner Beziehungen noch eine gute Stellung beim Rundfunk in Chicago verschafft hatte.

Madeleine zuliebe gibt Herzog seine Universitäts-Laufbahn auf und zieht mit ihr wegen eines wissenschaftlichen Projekts für ein Jahr aufs Land. Aufgrund wachsender Konflikte zwischen ihnen kehren beide in die Stadt zurück, wo Herzog nun Vorlesungen an einer Volkshochschule hält. Madeleine trennt sich von ihm und setzt ihre Liebesaffaire mit seinem besten Freund fort, Herzog macht mit seinem Bruder eine Europareise, von der er aber labiler als vorher zurückkehrt. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass er „entzweiging - auseinanderbrach“.[2]

Seine Vorlesungen werden verworren, er wird sonderlich, seine Selbsterforschung und seine Rechtfertigungen treiben ihn zu ersten Notizen, die sich allmählich zu Briefen an Freunde, Bekannte, andere lebende und tote Schriftsteller und zuletzt auch an Nietzsche und Gott auswachsen. In diesen Briefen nimmt Herzog nicht nur zu seinen privaten Anliegen, sondern auch kritisch zu sozialen Themen (Armut, Landverteilung)[3] und zu politischen Entwicklungen, dem Kalten Krieg,[4] Stellung und erweist sich als linker Liberaler, dem auch der Marxismus nicht fremd ist. Er selbst könne sich mit einschließen, wenn er von den „Millionen verbitterter Voltairianer“ schreibe, deren Seelen mit zorniger Satire angefüllt seien.[5]

Nach langen Schilderungen der Eskalation zwischen Madeleine und Herzog reflektiert er über seine japanische Freundin Sono[6] und seine neue Partnerin, Ramona,[7] die besser als er seine Bindungsängste und die Bedeutung seiner sich von ihm distanzierenden Frau (Madeleine) erkennen.

Um seinem Sohn aus erster Ehe nahe zu sein, der ein Sommercamp besucht, reist er schließlich wieder in sein Landhaus, in dem er mit Madeleine gelebt hat. Auf diesen letzten Seiten gibt es mehr und mehr Hinweise auf eine Besserung seines Zustands, auf Gelassenheit und Freude über neu empfundene sinnliche Eindrücke der Natur.[8]

Der Eindruck der Unordnung in Herzogs Leben wird erzählerisch durch die Komposition des Romans unterstrichen: So gibt es einerseits die linear und kohärent erzählten Passagen mit einer Vielfalt an Charakteren, die in Dialogszenen (im Gespräch mit seinem Anwalt Simkin, mit einer früheren Schwiegermutter, mit einem Taxifahrer, beim Zuhören vor Gericht …) wie en passant entwickelt werden.[9] Bellow schöpft hier aus der Quelle seiner scharfen Beobachtung und der Fähigkeit zu interessanten Darstellungen von Personen, Stimmungen und Dialogen. Immer wieder trifft der Leser auf Exkurse, die wie kleine Geschichten für sich stehen könnten und Bellows überbordende Gestaltungsfreude zeigen.

Andererseits gibt es eine Abwesenheit von Entwicklung und eine Stagnation durch häufige Unterbrechung der Erzählung: die vielen Notizen und Briefe sind vom Leser wie Hindernisse in großer Anstrengung zu übersteigen. Die vor- und zurückgreifende Assoziation der Szenen löst dadurch die Zeitstruktur der Handlung weitgehend auf und statt einer linearen Abfolge entsteht ein Mosaik der Erinnerung, das nach und nach vertieft und ausleuchtet, was schon am Anfang beschrieben ist: Madeleines Konversion vom Judentum zum Katholizismus, das Leben im Sommerhaus mit Madeleine, die zunehmenden Konflikte, Herzogs Arbeitsunfähigkeit, Madeleines lange Affäre mit seinem Freund, die Trennung, seine neue Freundin Ramona... Diese Erzählweise unterstreicht die Form- und Perspektivlosigkeit des Ganzen,

Der erste Satz des Romans, „Wenn ich den Verstand verloren habe, soll´s mir recht sein, dachte Moses Herzog.“, leitet Herzogs Leidensweg ein und wird wiederholt am Beginn seiner nachhaltigen Stimmungsaufhellung am Ende des Romans: Herzogs Verrücktheit verliert sich, irgendwie und von ihm unverstanden, aus seinem Leben. Trotz äußerer Unaufgeräumtheit scheinen Gesundung, Glück und Seelenfrieden als Folge seiner langen Erinnerungs- und Rechtfertigungsarbeit möglich: „So fing die letzte Woche seiner Briefe an.“[10]

Diese Wendung zum Besseren gegen Ende der Erzählung („Wie herrlich schön ist es heute!“)[11] ist weder in der Figur noch in ihren Umständen angelegt: Herzog beschreibt seine Antagonisten und auch seinen Vater als „Dozenten der Realität“,[12] die ihn nach und nach mit seiner Selbstreflexion an die Realität heranführen. Aber er nähert sich allmählich nur dem, was er immer schon geahnt hatte: Mit seinen Briefen sei er „auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen begann.“[13] Die Basis seines neuen Selbstbewusstseins bleibt daher für Herzog trotz seiner Erinnerungsarbeit unbegriffen und fragil – die Erzählung wird zu einer Figur der kreisförmigen Vertiefung in die immer schon geahnten Gegebenheiten.

Erzählerwechsel

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Experimentell ist der Wechsel der Erzählhaltung: Der meist personale Er-Erzähler steht der Hauptfigur sehr nahe und berichtet beispielsweise von Herzogs Überlegungen, seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung anderer Figuren. Aber er ist nicht identisch mit ihm, denn der Erzähler fasst rückblickend Herzogs Entwicklung zusammen und erklärt distanziert das Figurenhandeln. Der Erzähler steht zwar auf Seiten Herzogs, hat Humor und erzählt nicht als Besserwisser, seine Ironie und Selbstironie scheinen zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur zu entspringen. Manchmal aber spricht der Er-Erzähler direkt die Hauptfigur an, wird also ein Dialogpartner, ein Du-Erzähler.[14] Beim Schreiben der Briefe (Herzog schreibt in der Ich-Form) wechselt der Er-Erzähler nach oder vor den kursiv gesetzten Brieftexten gelegentlich auch zu einem Ich-Erzähler[15] – Moses Herzog ist also sowohl außer sich als auch neben sich und manchmal auch er selbst. Dieser Erzähler-Wechsel ist ein formaler Hinweis auf die schwankende, sich selbst fremde Identität der Hauptfigur und auf seine Mühe, sich zu vergewissern, wer er eigentlich sei: Diese Erzählweise ist Teil der Botschaft.

Der Roman zeigt einen ungewöhnlichen Reichtum an rhetorischen Formen, die auch sein weites Erinnerungsmosaik lesenswert machen. Ganze Passagen sind ironisch und selbstironisch geschrieben, er häuft Attribute als Asyndeta, verstößt mit Satzbrüchen gegen Lesererwartungen usw.

„Die Stärke des Buches [liege] gerade in der auf gedanklich und erzähltechnisch hohem Niveau durchgeführten Konfrontation des humanen, liberalen und intellektuellem Helden mit einer Welt, für deren Bewältigung allgemein verbindliche Maximen und Lebenstechniken ohnehin kaum mehr zur Verfügung stehen.“[16]

Almut Finck schrieb am 7. April 2005 in ihrem Nachruf auf Saul Bellow: „Saul Bellow (ist) selbst in seiner Heimat nicht mehr wirklich populär“, was nicht an seiner Qualität, aber an seinen oft politisch inkorrekten Stellungnahmen liege. Schon in seinem ersten Roman Mann in der Schwebe „hat Bellow (...) bereits den Typus seines ´ramponierten Helden´ skizziert. (...) Oder Moses Herzog in seinem besten Roman Herzog (1964) (…) - Bellows Charaktere sind intellektuelle Exzentriker mit Hang zur Funken sprühenden Melodramatik. Zwiegespaltenne Metaphysiker des 20 Jahrhunderts (…) in der unnachahmlichen Bellowschen Mischung aus Nietzsche und Marx Brothers.“[17]

Buchausgaben (Auswahl)

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englisch:

deutsch:

  • Herzog. Deutsch von Walter Hasenclever. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1965.
  • Herzog. Roman. Aus dem Amerikanischen von Walter Hasenclever. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Schönfelder, Berlin: Volk und Wissen 1975, 517 S.
  • Herzog. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-17870-4.
  • Hubert Zapf: Der Roman als Medium der Reflexion: eine Untersuchung am Beispiel dreier Romane von Saul Bellow (Augie March, Herzog, Humboldt's gift). (Hochschulschrift). Lang, Frankfurt am Main, Bern, 1981. ISBN 3-8204-6114-0.
  • Alexandre Maurocordato: Les Quatre dimensions du Herzog de Saul Bellow. Lettres modernes, Paris 1969.
  • Zachary Leader: The Life of Saul Bellow: To Fame and Fortune, 1915-1964. London: Jonathan Cape, 2015.
  • David Mikics: Bellow's people: how Saul Bellow made life into art. W.W. Norton Company, New York [2016]. ISBN 978-0-393-24687-2.
  • Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe, Band 2, hrsg. von Walter Jens, München: Kindler 1996, ISBN 3-463-43200-5

Einzelnachweise

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  1. Saul Bellow: Herzog. Volk und Wissen, Berlin 1975.
  2. Bellow, Herzog, S. 13.
  3. Bellow, Herzog, S. 73, 77.
  4. Bellow, Herzog, S. 71, 76 ff.
  5. Bellow, Herzog, S. 77.
  6. Bellow, Herzog, S. 251 ff.
  7. Bellow, Herzog, S. 262 ff.
  8. Bellow, Herzog, S. 457 ff.
  9. Bellow, Herzog, S. 311 ff., 329 ff., 331 ff., 334 ff.
  10. Die „Fragen bleiben letzten Endes unbeantwortet, und dass Herzog aus dem Chaos herausfindet, ist nicht als exemplarische Lösung, sondern als privater Glücksfall zuv erstehen.“ Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe, Kindler 1996, Band 2, siehe Literatur, S. 443.
  11. Bellow, Herzog, S. 458 ff.
  12. Bellow, Herzog, S. 189, 220.
  13. Bellow, Herzog, S. 154.
  14. Bellow, Herzog, S. 101.
  15. Bellow, Herzog, S. 70 ff.
  16. Kindlers neues Literatur-Lexikon. Studienausgabe, Kindler 1996, Band 2, siehe Literatur, S. 443.
  17. Almut Finck: Spott ist alles, was ich habe. Meister des Widerspruchs: zum Tod des Literatur-Nobelpreisträgers Saul Bellow, Der Tagesspiegel 7. April 2005.