„Ethnosoziologie“ – Versionsunterschied
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Die '''Ethnosoziologie''' (von {{grcS|''ethnos''}} „Volk“, und [[latein]]isch ''socius'' „Gefährte“, und ''[[-logie]]'') untersucht als [[Ethnologie|ethnologisches]] Fachgebiet das [[Gesellschaft (Soziologie)|gesellschaftliche]] Zusammenleben der Menschen bei [[Ethnie|ethnischen Gruppen]] und [[Indigene Völker|indigenen Völkern]] weltweit, vor allem ihre [[Deszendenzregeln|Verwandtschaftsbeziehungen]], [[Heiratsregeln]] und [[Sozialstruktur|soziale Organisation]]. Die Ethnosoziologie entspricht der britischen [[Sozialanthropologie#Social anthropology (Großbritannien)|''social anthropology'']] ([[Sozialanthropologie]]) oder auch der US-amerikanischen [[Sozialanthropologie#Cultural anthropology (USA)|''cultural anthropology'']]. Als „[[Kulturanthropologie]]“ wird allerdings im deutschen Sprachraum die Europäische Ethnologie bezeichnet ([[Volkskunde]]). Die Benennung als ''Ethnosoziologie'' wurde 1931 vom österreichischen [[Ethnologe]]n [[Richard Thurnwald]] eingeführt, um Ethnologie und [[Soziologie]] enger miteinander zu verbinden. Unter den deutschen Ethnosoziologen sind etwa [[Wilhelm Emil Mühlmann]], [[Horst Reimann (Soziologe)|Horst Reimann]] und [[Georg Elwert]] hervorgetreten. |
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Der Begriff '''Ethnosoziologie''' wurde von [[Ludwig Gumplovicz]] eingeführt und von [[Richard Thurnwald]] verwandt, um [[Ethnologie]] und [[Soziologie]] enger aneinander zu schließen. Unter den deutschen Ethnosoziologen der Gegenwart ([[2004]]) ist [[Georg Elwert]] besonders hervor getreten. |
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In den USA werden ethnosoziologische Stoffe als ''Cultural Anthropology'', im UK als ''Social Anthropology'' bearbeitet. Im Deutschen bezeichnet [[Kulturanthropologie]] hingegen eine Fortentwicklung der [[Volkskunde]]. |
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Bis zum Ende der 1960er-Jahre beschäftigte sich die Ethnosoziologie fast ausschließlich mit der Analyse von Verwandtschaft ''(kinship)'', [[Verwandtschaftssystem]]en und [[Verwandtschaftsterminologie]]n. Es wurde angenommen, dass [[Sozialstruktur|soziale Strukturen]], [[Recht]]svorstellungen und alle Formen der Sozialorganisation in nicht-[[Industrialisierung|industrialisierten]] Gesellschaften vorrangig durch [[Verwandtschaftsbeziehung]]en bestimmt seien. Damit geriet die Ethnosoziologie unter den Verdacht des [[Ethnozentrismus|Ethno-]] und des [[Androzentrismus]]. US-amerikanische Ansätze unterstellten ihr, Vorstellungen von Verwandtschaft, die sich mit der Industrialisierung in Europa herausgebildet hätten, beispielsweise die [[Kernfamilie]], unkritisch den nicht-industriellen Gesellschaften gegenüberzustellen. Auch sei der [[Matrilinearität|matrilinearen]] Abstammung (nach der Mütterlinie) zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden oder matrilineare Systeme seien mit den Begrifflichkeiten und Analysekonzepten [[Patrilinearität|patrilinearer]] Systeme untersucht worden (so Roger Keesing 1975). Diese Ansätze wurden wiederum kritisiert. |
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Seit den 1970er-Jahren verlagerte sich der Mittelpunkt der ethnosoziologischen Forschung auf das [[Individuum]] und die wirtschaftlichen, rechtlichen und kognitiven Bedingungen [[Soziales System|sozialer Systeme]]. Es entstanden Studien zu Personen, zu [[Gender|Geschlechterbeziehungen]] und sozialen [[Geschlechterrolle]]n, zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, zu [[Macht]], [[Staat]]sorganisation und Organisation sozialer Prozesse. In angrenzenden Bereichen entwickelten sich Forschungen zur politischen oder religiösen Organisation ([[Politikethnologie]], [[Religionsethnologie]]), zu gesellschaftstypischen Denkweisen und Wissensbeständen, ihrer Überlieferung und Verbreitung ([[Kognitive Ethnologie]]) oder zu [[Indigene Völker|indigenen]] Heil- und Behandlungssystemen ([[Ethnomedizin]]). |
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* [[Soziales Netzwerk (Soziologie)|soziales Netzwerk]] (Soziologie: beispielsweise Bekanntschaftsnetzwerke) |
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* ''[[Manchester School of Anthropology]]'' (interaktionistische Richtung der britischen Ethnologie) |
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* Wolfgang Kraus: ''Zum Begriff der Deszendenz: Ein selektiver Überblick.'' In: ''Anthropos.'' Band 92, 1997, S. 139–163 ([https://www.jstor.org/stable/40465363 Voransicht bei JSTOR]). |
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* Horst Reimann (Hrsg.): ''Soziologie und Ethnologie: Zur Interaktion zwischen zwei Disziplinen.'' Westdeutscher Verlag, Opladen 1986, ISBN 3-531-11853-6. |
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* [[Alan Barnard (Anthropologe)|Alan Barnard]], Anthony Good: ''Research Practices in the Study of Kinship.'' Academic Press, London 1984, ISBN 0-12-078980-9 (englisch). |
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* Roger Keesing: ''Kin Groups and Social Structure.'' Holt Rinehart and Winston, New York 1975, ISBN 0-03-012846-3 (englisch; Neuauflage: 2005). |
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Zeitschrift: |
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* Erdmute Alber, [[Bettina Beer]] u. a. (Hrsg.): ''[[Sociologus|Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie]].'' Duncker & Humblot, Berlin ab 1925, {{ISSN|1865-5106}}. |
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== Weblinks == |
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* Margrit E. Kaufmann: [http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2004/Ethnologische_Geschlechterforschung/Geschlecht_thematisieren/index.phtml ''Geschlecht thematisieren: Feministische Ansätze in der Ethnologie.''] In: ''[[Museum der Weltkulturen#Journal-Ethnologie|Journal Ethnologie]].'' 2004 (Bremer Institut für Kulturforschung bik, Universität Bremen). |
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* Gabriele Rasuly-Paleczek: ''Einführung in die Formen der sozialen Organisation.'' Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien 2011 (Unterlagen zu ihrer Ethnosoziologie-Vorlesung): |
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* Wolfgang Kraus: {{Webarchiv |url=http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/kinship/kinship.pdf |text=''Kinship Studies.'' |wayback=20131004}} (PDF: 834 kB, 24 S.) In: ''Strategien für vernetztes Lernen: Eine Lernumgebung zu Methoden und Grundlagenwissen.'' Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2008 (deutsch; grundlegende Einführung in die ethnosoziologische Verwandtschaftsforschung). |
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* Dieter Steiner: [https://www.humanecology.ch/index.php?lng=de&pag=12&spg=0&nav=3&sub=9&ssb=0&slm=0 ''Soziales im engeren Sinne.''] Eigene Webseite, Zürich 1998 (umfassende Abhandlung über soziale Organisation, der Autor ist emeritierter Professor für Humanökologie). |
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* Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: [https://www.univie.ac.at/Voelkerkunde/cometh/glossar/heirat/heirat.htm ''Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie.''] Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997 (vertiefende Anmerkungen, mit Quellenangaben). |
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Englisch: |
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* Dennis O’Neil: [https://www2.palomar.edu/anthro/tutorials/cultural.htm ''Cultural Anthropology Tutorials.''] Behavioral Sciences Department, Palomar College, San Marcos California, 2013 (umfangreiche Studientutorials zu sozialanthropologischen und ethnosoziologischen Themen, mit anschaulichen Abbildungen). |
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* Brian Schwimmer: [http://umanitoba.ca/faculties/arts/anthropology/tutor/kinmenu.html ''Tutorial: Kinship and Social Organization.''] Department of Anthropology, University of Manitoba, Kanada, 2003 (umfangreiches Einführungstutorial in Verwandtschaft und soziale Organisation). |
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Aktuelle Version vom 29. Oktober 2024, 18:20 Uhr
Die Ethnosoziologie (von altgriechisch ethnos „Volk“, und lateinisch socius „Gefährte“, und -logie) untersucht als ethnologisches Fachgebiet das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen bei ethnischen Gruppen und indigenen Völkern weltweit, vor allem ihre Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratsregeln und soziale Organisation. Die Ethnosoziologie entspricht der britischen social anthropology (Sozialanthropologie) oder auch der US-amerikanischen cultural anthropology. Als „Kulturanthropologie“ wird allerdings im deutschen Sprachraum die Europäische Ethnologie bezeichnet (Volkskunde). Die Benennung als Ethnosoziologie wurde 1931 vom österreichischen Ethnologen Richard Thurnwald eingeführt, um Ethnologie und Soziologie enger miteinander zu verbinden. Unter den deutschen Ethnosoziologen sind etwa Wilhelm Emil Mühlmann, Horst Reimann und Georg Elwert hervorgetreten.
Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bis zum Ende der 1960er-Jahre beschäftigte sich die Ethnosoziologie fast ausschließlich mit der Analyse von Verwandtschaft (kinship), Verwandtschaftssystemen und Verwandtschaftsterminologien. Es wurde angenommen, dass soziale Strukturen, Rechtsvorstellungen und alle Formen der Sozialorganisation in nicht-industrialisierten Gesellschaften vorrangig durch Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt seien. Damit geriet die Ethnosoziologie unter den Verdacht des Ethno- und des Androzentrismus. US-amerikanische Ansätze unterstellten ihr, Vorstellungen von Verwandtschaft, die sich mit der Industrialisierung in Europa herausgebildet hätten, beispielsweise die Kernfamilie, unkritisch den nicht-industriellen Gesellschaften gegenüberzustellen. Auch sei der matrilinearen Abstammung (nach der Mütterlinie) zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden oder matrilineare Systeme seien mit den Begrifflichkeiten und Analysekonzepten patrilinearer Systeme untersucht worden (so Roger Keesing 1975). Diese Ansätze wurden wiederum kritisiert.
Seit den 1970er-Jahren verlagerte sich der Mittelpunkt der ethnosoziologischen Forschung auf das Individuum und die wirtschaftlichen, rechtlichen und kognitiven Bedingungen sozialer Systeme. Es entstanden Studien zu Personen, zu Geschlechterbeziehungen und sozialen Geschlechterrollen, zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, zu Macht, Staatsorganisation und Organisation sozialer Prozesse. In angrenzenden Bereichen entwickelten sich Forschungen zur politischen oder religiösen Organisation (Politikethnologie, Religionsethnologie), zu gesellschaftstypischen Denkweisen und Wissensbeständen, ihrer Überlieferung und Verbreitung (Kognitive Ethnologie) oder zu indigenen Heil- und Behandlungssystemen (Ethnomedizin).
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- soziales Netzwerk (Soziologie: beispielsweise Bekanntschaftsnetzwerke)
- Manchester School of Anthropology (interaktionistische Richtung der britischen Ethnologie)
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Wolfgang Kraus: Zum Begriff der Deszendenz: Ein selektiver Überblick. In: Anthropos. Band 92, 1997, S. 139–163 (Voransicht bei JSTOR).
- Horst Reimann (Hrsg.): Soziologie und Ethnologie: Zur Interaktion zwischen zwei Disziplinen. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986, ISBN 3-531-11853-6.
- Alan Barnard, Anthony Good: Research Practices in the Study of Kinship. Academic Press, London 1984, ISBN 0-12-078980-9 (englisch).
- Roger Keesing: Kin Groups and Social Structure. Holt Rinehart and Winston, New York 1975, ISBN 0-03-012846-3 (englisch; Neuauflage: 2005).
Zeitschrift:
- Erdmute Alber, Bettina Beer u. a. (Hrsg.): Sociologus. Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Duncker & Humblot, Berlin ab 1925, ISSN 1865-5106.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Margrit E. Kaufmann: Geschlecht thematisieren: Feministische Ansätze in der Ethnologie. In: Journal Ethnologie. 2004 (Bremer Institut für Kulturforschung bik, Universität Bremen).
- Gabriele Rasuly-Paleczek: Einführung in die Formen der sozialen Organisation. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien 2011 (Unterlagen zu ihrer Ethnosoziologie-Vorlesung):
- Teil 1/5: 1,0 MB ( vom 21. Oktober 2013 im Internet Archive)
- Teil 2/5: 1,9 MB ( vom 21. Oktober 2013 im Internet Archive)
- Teil 3/5: 874 kB ( vom 17. Oktober 2013 im Internet Archive)
- Teil 4/5: 765 kB ( vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive)
- Teil 5/5: 227 kB ( vom 4. Oktober 2013 im Internet Archive)
- Wolfgang Kraus: Kinship Studies. ( vom 4. Oktober 2013 im Internet Archive) (PDF: 834 kB, 24 S.) In: Strategien für vernetztes Lernen: Eine Lernumgebung zu Methoden und Grundlagenwissen. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2008 (deutsch; grundlegende Einführung in die ethnosoziologische Verwandtschaftsforschung).
- Dieter Steiner: Soziales im engeren Sinne. Eigene Webseite, Zürich 1998 (umfassende Abhandlung über soziale Organisation, der Autor ist emeritierter Professor für Humanökologie).
- Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997 (vertiefende Anmerkungen, mit Quellenangaben).
Englisch:
- Dennis O’Neil: Cultural Anthropology Tutorials. Behavioral Sciences Department, Palomar College, San Marcos California, 2013 (umfangreiche Studientutorials zu sozialanthropologischen und ethnosoziologischen Themen, mit anschaulichen Abbildungen).
- Brian Schwimmer: Tutorial: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, University of Manitoba, Kanada, 2003 (umfangreiches Einführungstutorial in Verwandtschaft und soziale Organisation).