„Anaximander“ – Versionsunterschied
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'''Anaximander''' ([[Griechische Sprache|griech.]] '''Anaximandros''') (* um [[7. Jahrhundert v. Chr.|611 v. Chr.]] in [[Milet]]; † [[6. Jahrhundert v. Chr.|546 v. Chr.]] in Milet) war ein [[Vorsokratiker|vorsokratischer]] griechischer [[Philosoph]]. |
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[[Datei:Anaximander.jpg|mini|Mutmaßliche Darstellung Anaximanders aus der ''[[Die Schule von Athen|Schule von Athen]]'' des [[Raphael Santi|Raffael]], 1510/1511, [[Stanzen des Raffael]] im [[Vatikanstadt|Vatikan]]]] |
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'''Anaximander''' oder '''Anaximandros''' ({{grcS|Ἀναξίμανδρος [ὁ Μιλήσιος]|Anaxímandros [ho Milḗsios]}}; * um 610 v. Chr. in [[Milet]]; † nach 547 v. Chr. ebenda) war ein [[Vorsokratiker|vorsokratischer]] [[Philosophie der Antike|griechischer Philosoph]]. Er gehört neben [[Thales]] und [[Anaximenes]] zu den wichtigsten Vertretern jenes philosophischen Aufbruchs, der mit Sammelbegriffen wie „[[ionische Aufklärung]]“<ref>Thomas M. Robinson: ''Die Ionische Aufklärung.'' In: [[Friedo Ricken]] (Hrsg.): ''Philosophen der Antike.'' Band 1. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, S. 38 ff.</ref> und „[[ionische Naturphilosophie]]“<ref>[[Christof Rapp]]: ''Die Vorsokratiker.'' Beck, München 1997, S. 27 ff.</ref> bezeichnet wird. |
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== Einordnung von Person und Bedeutung == |
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== Allgemein == |
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[[Apollodor von Athen (Schriftsteller)|Apollodor von Athen]] zufolge lebte Anaximander um 610–546 v. Chr. in Milet. Es ist wahrscheinlich, dass er [[Thales von Milet]] gekannt und mit ihm in enger Gedankengemeinschaft gelebt hat. Jedenfalls gilt er als Nachfolger und Schüler des Thales. |
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[[Bild:Anaximander.jpeg|thumb|Anaximander, Detailansicht aus "[[Die Schule von Athen]]", [[Raphael Santi]], [[1510]]/11, Stanzen des [[Vatikan]]s, [[Rom]]]] |
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[[Apollodor von Athen (Schriftsteller)|Apollodor von Athen]] zufolge lebte Anaximander um [[7. Jahrhundert v. Chr.|610]]-[[6. Jahrhundert v. Chr.|547 v. Chr.]] in Milet. Es ist wahrscheinlich, dass er [[Thales]] gekannt und mit ihm in enger Gedankengemeinschaft gelebt hat, jedenfalls gilt er als Nachfolger und Schüler des Thales. |
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Ihn beschäftigte dasselbe Grundproblem wie Thales, nämlich die Frage nach dem Ursprung allen Seins, nach der [[Arché]] ({{lang|grc|ἀρχή}}). Dafür hielt er jedoch nicht das Wasser, sondern das stofflich unbestimmte [[Apeiron|Ápeiron]] ({{lang|grc|ἄπειρον}}): das hinsichtlich seiner Größe „Unbegrenzte“ bzw. „Unermessliche“.<ref>Thomas M. Robinson: ''Die Ionische Aufklärung.'' In: [[Friedo Ricken]] (Hrsg.): ''Philosophen der Antike.'' Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 40</ref> Von Anaximanders Philosophie ist im Original nur ein einziges [[Fragment (Literatur)|Fragment]] überliefert; es stellt überhaupt den ersten erhaltenen griechischen Text in [[Prosa]]form dar.<ref>Themistios Or. 36, 317 C (DK 12 A 7); dazu Walter Burkert: ''Weisheit und Wissenschaft'', Nürnberg 1962, S. 223: „Mit ihm [dem Prosabuch] tritt etwas Neues auf in der griechischen Geistesgeschichte: das erste Prosabuch schrieb Anaximandros.“ (und ebenda Anm. 6 zur Priorität gegenüber Pherekydes mit Berufung auf von Fritz, RE 19 Sp. 2030f.)</ref> Der Großteil der philosophischen Anschauungen Anaximanders ist der zwei Jahrhunderte späteren Überlieferung des [[Aristoteles]] zu entnehmen und mit einigen Unsicherheiten behaftet. |
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Für ihn steht dasselbe Grundproblem im Vordergrund wie für Thales, nämlich die Frage nach dem Wesen des Ursprungs allen Seins, der "Arché". |
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Als bedeutender [[Astronom]] und [[Astrophysik]]er entwarf er als erster eine rein physikalische Theorie der Weltentstehung ([[Kosmogonie]]). Er gründete seine Überlegungen zur Entstehung des Weltganzen ausschließlich auf Beobachtung und rationales Denken. Auf Anaximander geht der moderne Begriff ''[[Universum|Kosmos]]'' ({{lang|grc|κόσμος}}) und die Erfassung der Welt als ein planvoll erfassbares, geordnetes Ganzes zurück. Er zeichnete ebenfalls als erster nicht nur eine geographische Karte mit der damals bekannten Verteilung von Land und Meer, sondern konstruierte auch eine ''Sphäre'', einen [[Himmelsglobus]]. Die Karte ist heute verschollen, wurde aber später durch [[Hekataios von Milet]] ausgewertet, aus dessen Werk eine halbwegs konkrete Darstellung der damaligen Weltsicht überliefert ist. |
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Anaximander gilt als der erste Systematiker und als erster Philosoph, der seine Philosophie niederschrieb. Zudem schrieb er als erster Grieche in [[Prosa|Prosaform]]. Es ist jedoch nur ein [[Fragment]] seiner eigenen Worte überliefert. |
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Nach ihm ist der [[Mondkrater]] [[Anaximander (Mondkrater)|Anaximander]] benannt. |
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Er war auch ein bedeutender [[Astronom]] und [[Astrophysik|Astrophysiker]] und entwarf als erster eine rein physikalische Kosmogonie. Er gründete seine Überlegungen zur Entstehung des Weltganzen ausschließlich auf die Beobachtung und das rein rationale Denken. Als erster beschrieb er unsere Welt als einen ''[[Kosmos]]'', der ein planvoll geordnetes Ganzes ist. Ebenfalls als erster zeichnete Anaximander eine geographische Karte mit der damals bekannten Verteilung von Land und Meer, wie er auch als erster eine ''Sphäre'', einen Himmelsglobus konstruierte. Die Karte ist heute verschollen, wurde aber später durch [[Hekataios]] aufgewertet, von dessen Werk wiederum eine halbwegs konkretes, wenn auch real ungenaues Bild der Weltsicht überliefert ist. |
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== Ursprung und Ordnungsprinzip des Weltganzen == |
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[[Datei:Anaximander Mosaic.jpg|mini|Anaximander mit Sonnenuhr, römisches Mosaik aus dem frühen dritten Jahrhundert nach Christus, [[Rheinisches Landesmuseum Trier]]]] |
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Die Grundsubstanz alles Gewordenen nach Anaximander, das Apeiron (das Grenzenlose), wird unterschiedlich gedeutet: als räumlich und zeitlich unbegrenzter [[Urstoff]]<ref>[[Christof Rapp]]: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, S. 38 ff.</ref>, als unendlich hinsichtlich Masse oder Teilbarkeit, als unbestimmt oder grenzenlos u. a.m.<ref>Christof Rapp: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, S. 40.</ref> Der Begriff des Unermesslichen spiegelt die Offenheit der Möglichkeiten, das Apeiron zu deuten, aber auch die Unvorhersehbarkeit dessen, was aus dem Apeiron entsteht oder von ihm erzeugt wird. Nach Aristoteles hat Anaximander das, was der Begriff bezeichnet, als ein den Göttern der Volksreligion vergleichbares unsterbliches und unzerstörbares Wesen betrachtet.<ref>Physik III, 203b 14; zitiert nach Thomas M. Robinson: ''Die Ionische Aufklärung.'' In: [[Friedo Ricken]] (Hrsg.): ''Philosophen der Antike.'' Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 41.</ref> |
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Mit dem einzigen erhaltenen Anaximander-Fragment liegt der erste schriftlich gefasste und überlieferte Satz der griechischen Philosophie überhaupt vor. Allerdings ist die diesbezügliche Forschung uneins, in welchem Umfang das Überlieferungsgut tatsächlich authentisch auf Anaximander zurückgeht. Die Wiedergabe durch [[Simplikios|Simplikios von Kilikien]] im 6. nachchristlichen Jahrhundert beruht ihrerseits auf einem verlorengegangenen Werk des Aristoteles-Schülers [[Theophrastos von Eresos]]. Die sich auf das Apeiron beziehende, unter dem ''Seienden'' die Vielheit der Dinge und Phänomene verstehende Kernaussage lautet: „(Woraus aber für das Seiende das Entstehen sei, dahinein erfolge auch sein Vergehen) gemäß der Notwendigkeit; denn diese schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“<ref>Zitiert nach Christof Rapp: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, S. 45 – in Parenthese ein in der Forschung strittiger Passus, den Rapp eher Aristoteles zurechnet.</ref> Damit hat Anaximander als Erster etwas nicht Wahrnehmbares und Unbestimmtes als existierend festgelegt, um so wahrnehmbare Phänomene zu erklären.<ref>Dumont’s Handbuch Philosophie. Mathias Vogt, Dumont monte, Köln 2003</ref> |
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Anaximander sagte, bei der Entstehung des heutigen, geordneten Universums hätte sich aus dem Ewigen ein Wärme- und Kältezeugendes abgesondert, und daraus sei eine Feuerkugel um die die Erde umgebende Luft gewachsen, wie um einen Baum die Rinde. |
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Die gleichsam gesetzmäßige wechselseitige Ablösung gegenstrebiger Wirkkräfte oder Substanzen in einem kontinuierlichen und ausgeglichenen Prozess dürfte für die beständige Ordnung des Kosmos stehen: ein dem Wechsel und der Veränderung ausgesetztes und doch in sich stabiles System. Uneinig ist die Forschung darüber, ob auch das Apeiron an diesem Geschehen beteiligt ist oder ob es sich um einen rein innerweltlichen Ausgleichsprozess handelt, sodass die Wirkung des Apeiron sich allein auf die Phase der [[Weltentstehung]] beschränkte. Im anderen Fall kämen auch Vorstellungen von einer Mehrzahl neben- oder nacheinander existierender Welten in Betracht.<ref>Christof Rapp: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, S. 46.</ref> Robinson erwägt, dass Anaximander sich das Universum als einen ewigen Prozess gedacht haben könnte, „in dem eine unendliche Anzahl galaktischer Systeme aus dem Apeiron geboren und wieder in es aufgenommen wird. Damit hätte er auf brillante Weise die Weltsicht der Atomisten [[Demokrit]] und [[Leukipp]] vorweggenommen, die für gewöhnlich als deren eigene Leistung betrachtet wird.“<ref>Thomas M. Robinson: ''Die Ionische Aufklärung.'' In: Friedo Ricken (Hrsg.): ''Philosophen der Antike.'' Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 43.</ref> |
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Die Gestirne entstehen laut Anaximander durch die geplatzte Feuerkugel, indem das abgespaltene Feuer von Luft eingeschlossen werde. An ihnen befänden sich gewisse röhrenartige Durchgänge als Ausblasestellen; sie seien dort als ''Gestirne'' sichtbar. In gleicher Weise entstünden auch die Finsternisse, nämlich durch Verriegelung der Ausblasestellen. |
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== Kosmos und Erde == |
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Das Meer sei ein Überrest des ursprünglich Feuchten. "Ursprünglich war die ganze Oberfläche der Erde feucht gewesen. Wie sie aber dann von der Sonne ausgetrocknet wurde, verdunstete allmählich der eine Teil. Es entstanden dadurch die Winde und die Wenden von Sonne und Mond, aus dem übrigen Teil hingegen das Meer. Daher würde es durch Austrocknung immer weniger Wasser haben, und schließlich würde es allmählich ganz trocken werden" ([[Aristoteles]] über Anaximander). Aus einem Teil dieses Feuchten, das durch die Sonne verdampfe, entstünden die Winde, indem die feinsten Ausdünstungen der Luft sich ausscheiden und, wenn sie sich sammelten, in Bewegung gerieten. Auch die Sonnen- und Mondwenden geschähen, weil diese eben, jener Dämpfe und Ausdünstungen wegen, ihre Wenden vollführten, indem sie sich solchen Orten zuwendeten, wo ihnen die Zufuhr dieser Ausdünstung gewährleistet sei. |
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[[Datei:Anaximander cosmology-de.svg|mini|links|hochkant=1.3|Kosmologie]] |
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Anaximander meinte, bei der Entstehung des heutigen, geordneten Universums habe sich aus dem Ewigen ein Wärme- und Kältezeugendes abgesondert, und daraus sei eine Feuerkugel um die die Erde umgebende Luft gewachsen, wie um einen Baum die Rinde. |
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Die Gestirne entstehen laut Anaximander durch die geplatzte Feuerkugel, indem das abgespaltene Feuer von Luft eingeschlossen wird. An ihnen befänden sich gewisse röhrenartige Durchgänge als Ausblasestellen; sie seien dort als ''Gestirne'' sichtbar. In gleicher Weise entstünden auch die Finsternisse, nämlich durch Verriegelung der Ausblasestellen. |
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Die Erde sei das, was vom ursprünglich Feuchten an den hohlen Stellen der Erde übrig geblieben sei. Anaximander meinte, die Erde sei schwebend, von nichts überwältigt und in Beharrung ruhend infolge ihres gleichen Abstandes von allen ''Himmelskreisen''. Ihre Gestalt sei rund, gewölbt, einem [[Zylinder (Geometrie)|Zylinder]] ähnelnd gleich einem steinernen Säulensegment. Wir stünden auf der einen ihrer Grundflächen; die andere sei dieser entgegengesetzt. Regengüsse bildeten sich aus der Ausdünstung, welche infolge der Sonnenstrahlung aus der Erde hervorgerufen werde. Blitze entstünden, indem der Wind sich in die Wolken hineinstürze und sie auseinander schlage. |
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Das Meer sei ein Überrest des ursprünglich Feuchten. „Ursprünglich war die ganze Oberfläche der Erde feucht gewesen. Wie sie aber dann von der Sonne ausgetrocknet wurde, verdunstete allmählich der eine Teil. Es entstanden dadurch die Winde und die Wenden von Sonne und Mond, aus dem übrigen Teil hingegen das Meer. Daher würde es durch Austrocknung immer weniger Wasser haben, und schließlich würde es allmählich ganz trocken werden“ (Aristoteles über Anaximander). Aus einem Teil dieses Feuchten, das durch die Sonne verdampfe, entstünden die Winde, indem die feinsten Ausdünstungen der Luft sich ausschieden und, wenn sie sich sammelten, in Bewegung gerieten. Auch die [[Sonnenwende|Sonnen-]] und Mondwenden geschähen, weil diese eben, jener Dämpfe und Ausdünstungen wegen, ihre Wenden vollführten, indem sie sich solchen Orten zuwendeten, wo ihnen die Zufuhr dieser Ausdünstung gewährleistet sei. |
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Seiner Auffassung nach sind die Lebewesen aus dem Feuchten durch die Wärme der Sonne entstanden, indem sie von der Sonne ihrer Feuchtigkeit beraubt wurden. Die Menschen seien ursprünglich aus Fischen bzw. fischartigen Lebewesen entstanden; im Innern dieser Lebewesen seien sie ernährt worden, und erst, nachdem sie die Fähigkeit erworben hätten, sich selbst zu helfen, seien sie aus ihnen herausgeschlüpft und an Land gegangen. |
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[[Datei:Anaximander world map-de.svg|mini|hochkant=1.3|Anaximanders Weltbild]] |
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== Ursprung bzw. [[Arché]] == |
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Ursprung [oder: Anfang] und Element sei das Unbeschränkte, das Unbegrenzte; er bestimmte es nicht als Luft oder Wasser oder etwas Ähnliches. Es sei eine gewisse Natur, und diese sei immerwährend und bereite alle Dinge zu und lenke sie. Und die Teile verwandelten sich, das All jedoch sei unverwandelbar. Das [[Apeiron]] sei das Allumfassende und schließe alles in sich ein. Er bezeichnet es als das Prinzip der seienden Dinge, und aus diesem seien die Welten und die darin befindliche Ordnung entstanden. Denn aus diesem entstehe alles und zu diesem vergehe alles. Weshalb auch unbeschränkt viele Welten produziert werden und wieder vergehen zu jenem, aus dem sie entstehen. Er spricht von Zeit, weil das Entstehen und das Dasein und das Vergehen genau abgegrenzt worden sind. Er hat also das Unbeschränkte sowohl als Ursprung wie auch als Element der seienden Dinge angewiesen. Er fügt dem hinzu, dass die Bewegung ewig sei und dass eben deshalb bei dieser Bewegung die Welten entstünden. Entstehen und Vergehen würden nur dann nicht nachlassen, wenn dasjenige, von dem das Entstehende abgetrennt wird, unbeschränkt sei. |
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Der einzig erhaltene Satz des Anaximanders lautet (nach Diels, Kranz): ''Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.'' |
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Der gesamte Satz scheint sich auf die Notwendigkeit des Entstehens (des Werdens) und des Vergehens (des Verfalls) zu beziehen. Er muss sich auf die ununterbrochene Veränderung von einander entgegengestellten Formen oder Kräften beziehen, der Grundgedanke muss also hier der Gedanke vom beständigen Austausch zwischen entgegengesetzten Substanzen sein. In der ganzen Naturwelt sind Bewegung und Veränderung eine Tatsache. Diese hat er als Notwendigkeit aufgefasst, der alles Seiende unterliegt. Was im Kosmos existiert, ist dem Wechsel und der Veränderung unterworfen; das eine nimmt den Platz des anderen ein, dem Leben folgt der Tod und umgekehrt. |
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Die Erde sei das, was vom ursprünglich Feuchten an den hohlen Stellen der Erde übrig geblieben sei. Anaximander meinte, die Erde sei schwebend, von nichts überwältigt und in Beharrung ruhend infolge ihres gleichen Abstandes von allen ''Himmelskreisen''. Ihre Gestalt sei rund, gewölbt und ähnele in der Art eines steinernen Säulensegments einem [[Zylinder (Geometrie)|Zylinder]]. Wir stünden auf der einen ihrer Grundflächen; die andere sei dieser entgegengesetzt. Regengüsse bildeten sich aus der Ausdünstung, welche infolge der Sonnenstrahlung aus der Erde hervorgerufen werde. Blitze entstünden, indem der Wind sich in die Wolken hineinstürze und sie auseinanderschlage. |
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== Seelenkonzeption == |
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== Theorie der Menschwerdung und der Seele == |
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Anaximander hielt die [[Seele]] für ''luftartig''. Der Vorstellung von der Seele als Aer liegt offenbar die Verbindung des Lebens mit Aer bzw. dem Ein- und Ausatmen zugrunde. |
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Die Entstehung der Menschheit führte Anaximander auf andere Lebewesen zurück. Ihm war aufgefallen, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Arten im Frühstadium seiner Entwicklung sehr lange Zeit benötigt, bis er für die Selbstversorgung und das Überleben aus eigenen Kräften sorgen kann. Deshalb nahm er an, dass die ersten Menschen aus Tieren hervorgegangen sind, und zwar aus Fischen oder fischähnlichen Lebewesen. Denn den Ursprung des Lebendigen suchte er im Wasser; das Leben war für ihn eine Spontanentstehung aus dem feuchten Milieu: „Anaximander sagt, die ersten Lebewesen seien im Feuchten entstanden und von stachligen Rinden umgeben gewesen. Im weiteren Verlauf ihrer Lebenszeit seien sie auf das trockene Land gegangen und hätten, nachdem die sie umgebende Rinde aufgeplatzt sei, ihr Leben noch für kurze Zeit auf andere Weise verbracht.“<ref>Fragment DK 12 A 30; zitiert nach [[Christof Rapp]]: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, S. 51.</ref> |
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Ob er zwischen dem Lebensprinzip bzw. der Atemseele des Menschen und anderer Lebewesen und in der Natur zerstreuten Anima unterschieden hat, ist unklar. |
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Wie sich Anaximanders Auffassung von Apeiron und Kosmos zu seiner Vorstellung von der Seele verhält, ob es zwischen ihnen überhaupt eine Beziehung gibt ist ungewiss. Da Anaximander die Seele für luftartig hielt, lässt sich vermuten, dass er der Seele Unsterblichkeit zugesprochen hat. Ob er an eine Beseelung des Kosmos, ferner an eine Allbeseelung, ähnlich wie sie sich Thales vermutlich vorgestellt hatte, und darüber hinaus an die Unsterblichkeit individueller Seelen gedacht hat, bleibt dahingestellt. Unsterblich ist ihm zufolge das Apeiron, wobei er auch für die Elementarkräfte nur Wechsel und keinen eigentlichen Tod angenommen zu haben scheint. In seiner dynamischen Weltanschauung, derzufolge alle Seienden und ihre Ordnung in ständigem Wandel begriffen sind, scheint das Vergehen einen Moment des Wandels darzustellen, worauf unmittelbar das Entstehen folgt. Anaximander gründet die Kontinuität alles Seienden auf die Notwendigkeit von Entstehen und Vergehen und macht die Zeit zu der Kraft, die die Ausgewogenheit zwischen Entstehen und Vergehen garantiert. Im Wandel des Seienden sind Leben und Tod [[Äquivalenz|äquivalent]]. |
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Die [[Seele]] hielt Anaximander für ''luftartig''. Der Vorstellung von der Seele als ''Aër'' mag die Verbindung mit dem Leben bzw. dem Ein- und Ausatmen zugrunde gelegen haben. Unklar ist, ob er zwischen der [[Atemseele]] des Menschen und der anderer Lebewesen unterschied. |
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== Literatur == |
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* Couprie, D.L., R. Hahn, and G. Naddaf, Anaximander in Context. Albany (New York U.P.) 2003 |
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* [[Christof Rapp]], Die Vorsokratiker, München (Beck) 1997 ISBN 3-406-38938-4 |
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Wie sich Anaximanders Auffassung von Apeiron und Kosmos zu seiner Vorstellung von der Seele verhielt, ob es zwischen ihnen überhaupt eine Beziehung gab, ist ungewiss. Da Anaximander die Seele für luftartig hielt, vermuten manche, dass er der Seele Unsterblichkeit zusprach. Ob er an eine Beseelung des Kosmos, ferner an eine Allbeseelung, ähnlich wie sie sich Thales vermutlich vorgestellt hatte, und darüber hinaus an die Unsterblichkeit individueller Seelen dachte, bleibt dahingestellt. |
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== Siehe auch == |
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* [[Liste der Philosophen]] |
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== Interpretationen == |
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[[Bertrand Russell]] interpretiert Anaximanders Theorien in der Geschichte der abendländischen Philosophie als Behauptung der Notwendigkeit eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Erde, Feuer und Wasser, die alle unabhängig voneinander danach streben können, ihre Anteile im Verhältnis zu den anderen zu vergrößern. Anaximander scheint seine Überzeugung auszudrücken, dass eine natürliche Ordnung das Gleichgewicht zwischen diesen Elementen sicherstellt, dass dort, wo Feuer war, nun Asche (Erde) ist.<ref>{{Literatur |Autor=Bertrand Russell |Titel=Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung |Verlag=Europa Verlag |Ort=Zürich |Datum=1950 |ISBN=3-88059-965-3 |Seiten=48-49}}</ref> |
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[[Friedrich Nietzsche]] behauptete in ''[[Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen]]'', Anaximander sei ein Pessimist gewesen, der behauptete, das ursprüngliche Wesen der Welt sei ein Zustand der Unbestimmtheit. Demnach muss alles Bestimmte schließlich wieder in die Unbestimmtheit übergehen. Mit anderen Worten: Anaximander betrachtete „... alles Werden als eine unrechtmäßige Emanzipation vom ewigen Sein, ein Unrecht, für das die Zerstörung die einzige Buße ist“. Die Welt der einzelnen Objekte hat in dieser Denkweise keinen Wert und sollte untergehen. Nietzsche bezeichnet [[Anaxagoras]] und die anderen [[Vorsokratiker]] als ''Vorplatoniker''.<ref>{{Literatur |Autor=Friedrich Nietzsche |Titel=Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen |Verlag=Reclam Taschenbuch |Ort= |Datum=1994 |Sprache=de |ISBN=978-3-15-007133-5}}</ref> |
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== Textausgaben == |
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* [[Hermann Diels]] (Hrsg.): ''[[Die Fragmente der Vorsokratiker]].'' Band 1. Herausgegeben von [[Walther Kranz]]. 4. Auflage (Abdruck der 3. Auflage mit Nachträgen). Weidmann, Berlin 1922 (griechisch und deutsch) |
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* Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): ''Die Vorsokratiker''. Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 32–69 (griechische Quellentexte mit deutscher Übersetzung, Erläuterungen sowie Einführung zu Leben und Werk) |
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* Jaap Mansfield (Hrsg.): ''Die Vorsokratiker''. Stuttgart 1987. (Fragmente [griech./dtsch.], Übersetzung und Erläuterungen) |
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* [[Georg Wöhrle]]: ''Die Milesier: Anaximander und Anaximenes.'' Berlin 2012. (Kommentare und griech./dtsch. Fragmente) |
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* Bertrand Russell: ''Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung'', Europa Verlag, Zürich 1950, ISBN 3-88059-965-3 |
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== Literatur == |
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'''Übersichtsdarstellungen in Handbüchern''' |
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* [[Thomas Schirren]], [[Georg Rechenauer]]: ''Zum Leben der einzelnen Philosophen. 2. Anaximander'' und Niels Christian Dührsen: ''Anaximander''. In: [[Hellmut Flashar]] u. a. (Hrsg.): ''Frühgriechische Philosophie'' (= ''[[Grundriss der Geschichte der Philosophie]]. Die Philosophie der Antike'', Band 1), Halbband 1, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 184–185 (Biographie) und 263–320 (Werk, Lehre, Rezeption) |
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'''Einführungen und Untersuchungen''' |
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* [[Walter Burkert]]: ''Iranisches bei Anaximandros.'' In: ''Rheinisches Museum für Philologie.'' Neue Folge, Band 106, 1963, S. 97–134. |
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* Dirk L. Couprie, Robert Hahn, Gerard Naddaf: ''Anaximander in Context. New Studies in the Origins of Greek Philosophy.'' State University of New York Press, Albany (New York) 2003, ISBN 0-7914-5537-8 |
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* Maria Marcinkowska-Rosóɫ: ''Die Prinzipienlehre der Milesier''. Berlin/Boston 2014. |
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* Thomas M. Robinson: ''Die Ionische Aufklärung.'' In: [[Friedo Ricken]] (Hrsg.): ''Philosophen der Antike.'' Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 45 ff. |
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* [[Christof Rapp]]: ''Die Vorsokratiker''. Beck, München 1997, ISBN 3-406-38938-4 |
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* [[Wolfgang Schadewaldt]]: ''Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Tübinger Vorlesungen Band I''. Frankfurt/M. 1978. |
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'''Rezeption''' |
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* [[Carmela Baffioni]]: ''Anaximandre dans l'Islam.'' In: Richard Goulet (Hrsg.): ''Dictionnaire des philosophes antiques.'' Band ''Supplément.'' CNRS Editions, Paris 2003, ISBN 2-271-06175-X, S. 759–761 |
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* [[Carlo Rovelli]]: ''Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe.'' Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2019, ISBN 3-498-05398-1. |
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== Weblinks == |
== Weblinks == |
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{{Commonscat|Anaximander|Anaximander}} |
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* http://www.utm.edu/research/iep/a/Anaximan.htm |
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* {{DNB-Portal|118645102}} |
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* http//:www.dirkcouprie.nl |
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'''Textausgaben''' |
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* [http://www.pinselpark.org/philosophie/a/anaxi/texte/auszug.html Verschiedene Textauszüge] |
* [http://www.pinselpark.org/philosophie/a/anaxi/texte/auszug.html Verschiedene Textauszüge] |
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* {{Webarchiv | url=http://hiphi.ubbcluj.ro/fam/texte/greci/anaximandru.pdf | wayback=20041205082644 | text=Fragmente}} (griech., engl., franz.; PDF-Datei; 136 kB) |
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* http://www.tillmann-group.de/mythen/anaximander.htm |
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* [http://history.hanover.edu/texts/presoc/anaxagor.html Fragments and Commentary], engl. Übers. von Arthur Fairbanks, The First Philosophers of Greece, London: K. Paul, Trench, Trubner 1898, 8–16. |
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* http://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSAnaximand01.php |
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'''Literatur''' |
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* http://www.anderegg-web.ch/phil/anaximandros.htm |
|||
* Karl Bormann: [http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=2&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&no_cache=1 ''Anaximander von Milet'']. In: UTB-Online-Wörterbuch Philosophie |
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* {{IEP|http://www.iep.utm.edu/anaximan/||Dirk L. Couprie}} |
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* Dirk Couprie: [http://www.dirkcouprie.nl/ Materialien zu Anaximander] (englisch) |
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* Egon Gottwein: [http://www.gottwein.de/Grie/vorsokr/VSAnaximand01.php Anaximander] |
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* Patricia Curd: „Presocratic Philosophy“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.)[http://plato.stanford.edu/archives/sum2016/entries/presocratics/]. |
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== Fußnoten == |
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<references /> |
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{{Normdaten|TYP=p|GND=118645102|LCCN=n85142191|VIAF=280059448}} |
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[[Kategorie:Mann]] |
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[[Kategorie:Vorsokratiker]] |
[[Kategorie:Vorsokratiker]] |
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[[Kategorie:Astronom der Antike |
[[Kategorie:Astronom der Antike]] |
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[[Kategorie:Kosmologe der Antike]] |
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[[Kategorie:Person als Namensgeber für einen Asteroiden]] |
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[[Kategorie:Person als Namensgeber für einen Mondkrater]] |
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[[Kategorie:Person (Milet)]] |
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[[Kategorie:Grieche (Antike)]] |
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[[Kategorie:Geboren im 7. Jahrhundert v. Chr.]] |
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[[Kategorie:Gestorben im 6. Jahrhundert v. Chr.]] |
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[[Kategorie:Mann]] |
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{{Personendaten |
{{Personendaten |
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|NAME=Anaximander |
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|ALTERNATIVNAMEN=Anaximandros der Mileter; Anaximandros von Milet; Ἀναξίμανδρος ὁ Μιλήσιος (altgriechisch) |
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|ALTERNATIVNAMEN= |
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|KURZBESCHREIBUNG=vorsokratischer griechischer Philosoph |
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|GEBURTSDATUM=um |
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|STERBEDATUM= |
|STERBEDATUM=nach 547 v. Chr. |
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|STERBEORT=[[Milet]] |
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}} |
}} |
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[[ar:أناكسيماندر]] |
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[[bg:Анаксимандър]] |
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[[bs:Anaksimandar]] |
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[[ca:Anaximandre de Milet]] |
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[[da:Anaximander]] |
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[[el:Αναξίμανδρος]] |
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[[en:Anaximander]] |
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[[eo:Anaksimandro]] |
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Aktuelle Version vom 8. März 2025, 12:55 Uhr

Anaximander oder Anaximandros (altgriechisch Ἀναξίμανδρος [ὁ Μιλήσιος] Anaxímandros [ho Milḗsios]; * um 610 v. Chr. in Milet; † nach 547 v. Chr. ebenda) war ein vorsokratischer griechischer Philosoph. Er gehört neben Thales und Anaximenes zu den wichtigsten Vertretern jenes philosophischen Aufbruchs, der mit Sammelbegriffen wie „ionische Aufklärung“[1] und „ionische Naturphilosophie“[2] bezeichnet wird.
Einordnung von Person und Bedeutung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Apollodor von Athen zufolge lebte Anaximander um 610–546 v. Chr. in Milet. Es ist wahrscheinlich, dass er Thales von Milet gekannt und mit ihm in enger Gedankengemeinschaft gelebt hat. Jedenfalls gilt er als Nachfolger und Schüler des Thales.
Ihn beschäftigte dasselbe Grundproblem wie Thales, nämlich die Frage nach dem Ursprung allen Seins, nach der Arché (ἀρχή). Dafür hielt er jedoch nicht das Wasser, sondern das stofflich unbestimmte Ápeiron (ἄπειρον): das hinsichtlich seiner Größe „Unbegrenzte“ bzw. „Unermessliche“.[3] Von Anaximanders Philosophie ist im Original nur ein einziges Fragment überliefert; es stellt überhaupt den ersten erhaltenen griechischen Text in Prosaform dar.[4] Der Großteil der philosophischen Anschauungen Anaximanders ist der zwei Jahrhunderte späteren Überlieferung des Aristoteles zu entnehmen und mit einigen Unsicherheiten behaftet.
Als bedeutender Astronom und Astrophysiker entwarf er als erster eine rein physikalische Theorie der Weltentstehung (Kosmogonie). Er gründete seine Überlegungen zur Entstehung des Weltganzen ausschließlich auf Beobachtung und rationales Denken. Auf Anaximander geht der moderne Begriff Kosmos (κόσμος) und die Erfassung der Welt als ein planvoll erfassbares, geordnetes Ganzes zurück. Er zeichnete ebenfalls als erster nicht nur eine geographische Karte mit der damals bekannten Verteilung von Land und Meer, sondern konstruierte auch eine Sphäre, einen Himmelsglobus. Die Karte ist heute verschollen, wurde aber später durch Hekataios von Milet ausgewertet, aus dessen Werk eine halbwegs konkrete Darstellung der damaligen Weltsicht überliefert ist.
Nach ihm ist der Mondkrater Anaximander benannt.
Ursprung und Ordnungsprinzip des Weltganzen
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Die Grundsubstanz alles Gewordenen nach Anaximander, das Apeiron (das Grenzenlose), wird unterschiedlich gedeutet: als räumlich und zeitlich unbegrenzter Urstoff[5], als unendlich hinsichtlich Masse oder Teilbarkeit, als unbestimmt oder grenzenlos u. a.m.[6] Der Begriff des Unermesslichen spiegelt die Offenheit der Möglichkeiten, das Apeiron zu deuten, aber auch die Unvorhersehbarkeit dessen, was aus dem Apeiron entsteht oder von ihm erzeugt wird. Nach Aristoteles hat Anaximander das, was der Begriff bezeichnet, als ein den Göttern der Volksreligion vergleichbares unsterbliches und unzerstörbares Wesen betrachtet.[7]
Mit dem einzigen erhaltenen Anaximander-Fragment liegt der erste schriftlich gefasste und überlieferte Satz der griechischen Philosophie überhaupt vor. Allerdings ist die diesbezügliche Forschung uneins, in welchem Umfang das Überlieferungsgut tatsächlich authentisch auf Anaximander zurückgeht. Die Wiedergabe durch Simplikios von Kilikien im 6. nachchristlichen Jahrhundert beruht ihrerseits auf einem verlorengegangenen Werk des Aristoteles-Schülers Theophrastos von Eresos. Die sich auf das Apeiron beziehende, unter dem Seienden die Vielheit der Dinge und Phänomene verstehende Kernaussage lautet: „(Woraus aber für das Seiende das Entstehen sei, dahinein erfolge auch sein Vergehen) gemäß der Notwendigkeit; denn diese schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“[8] Damit hat Anaximander als Erster etwas nicht Wahrnehmbares und Unbestimmtes als existierend festgelegt, um so wahrnehmbare Phänomene zu erklären.[9]
Die gleichsam gesetzmäßige wechselseitige Ablösung gegenstrebiger Wirkkräfte oder Substanzen in einem kontinuierlichen und ausgeglichenen Prozess dürfte für die beständige Ordnung des Kosmos stehen: ein dem Wechsel und der Veränderung ausgesetztes und doch in sich stabiles System. Uneinig ist die Forschung darüber, ob auch das Apeiron an diesem Geschehen beteiligt ist oder ob es sich um einen rein innerweltlichen Ausgleichsprozess handelt, sodass die Wirkung des Apeiron sich allein auf die Phase der Weltentstehung beschränkte. Im anderen Fall kämen auch Vorstellungen von einer Mehrzahl neben- oder nacheinander existierender Welten in Betracht.[10] Robinson erwägt, dass Anaximander sich das Universum als einen ewigen Prozess gedacht haben könnte, „in dem eine unendliche Anzahl galaktischer Systeme aus dem Apeiron geboren und wieder in es aufgenommen wird. Damit hätte er auf brillante Weise die Weltsicht der Atomisten Demokrit und Leukipp vorweggenommen, die für gewöhnlich als deren eigene Leistung betrachtet wird.“[11]
Kosmos und Erde
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Anaximander meinte, bei der Entstehung des heutigen, geordneten Universums habe sich aus dem Ewigen ein Wärme- und Kältezeugendes abgesondert, und daraus sei eine Feuerkugel um die die Erde umgebende Luft gewachsen, wie um einen Baum die Rinde.
Die Gestirne entstehen laut Anaximander durch die geplatzte Feuerkugel, indem das abgespaltene Feuer von Luft eingeschlossen wird. An ihnen befänden sich gewisse röhrenartige Durchgänge als Ausblasestellen; sie seien dort als Gestirne sichtbar. In gleicher Weise entstünden auch die Finsternisse, nämlich durch Verriegelung der Ausblasestellen.
Das Meer sei ein Überrest des ursprünglich Feuchten. „Ursprünglich war die ganze Oberfläche der Erde feucht gewesen. Wie sie aber dann von der Sonne ausgetrocknet wurde, verdunstete allmählich der eine Teil. Es entstanden dadurch die Winde und die Wenden von Sonne und Mond, aus dem übrigen Teil hingegen das Meer. Daher würde es durch Austrocknung immer weniger Wasser haben, und schließlich würde es allmählich ganz trocken werden“ (Aristoteles über Anaximander). Aus einem Teil dieses Feuchten, das durch die Sonne verdampfe, entstünden die Winde, indem die feinsten Ausdünstungen der Luft sich ausschieden und, wenn sie sich sammelten, in Bewegung gerieten. Auch die Sonnen- und Mondwenden geschähen, weil diese eben, jener Dämpfe und Ausdünstungen wegen, ihre Wenden vollführten, indem sie sich solchen Orten zuwendeten, wo ihnen die Zufuhr dieser Ausdünstung gewährleistet sei.

Die Erde sei das, was vom ursprünglich Feuchten an den hohlen Stellen der Erde übrig geblieben sei. Anaximander meinte, die Erde sei schwebend, von nichts überwältigt und in Beharrung ruhend infolge ihres gleichen Abstandes von allen Himmelskreisen. Ihre Gestalt sei rund, gewölbt und ähnele in der Art eines steinernen Säulensegments einem Zylinder. Wir stünden auf der einen ihrer Grundflächen; die andere sei dieser entgegengesetzt. Regengüsse bildeten sich aus der Ausdünstung, welche infolge der Sonnenstrahlung aus der Erde hervorgerufen werde. Blitze entstünden, indem der Wind sich in die Wolken hineinstürze und sie auseinanderschlage.
Theorie der Menschwerdung und der Seele
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Entstehung der Menschheit führte Anaximander auf andere Lebewesen zurück. Ihm war aufgefallen, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Arten im Frühstadium seiner Entwicklung sehr lange Zeit benötigt, bis er für die Selbstversorgung und das Überleben aus eigenen Kräften sorgen kann. Deshalb nahm er an, dass die ersten Menschen aus Tieren hervorgegangen sind, und zwar aus Fischen oder fischähnlichen Lebewesen. Denn den Ursprung des Lebendigen suchte er im Wasser; das Leben war für ihn eine Spontanentstehung aus dem feuchten Milieu: „Anaximander sagt, die ersten Lebewesen seien im Feuchten entstanden und von stachligen Rinden umgeben gewesen. Im weiteren Verlauf ihrer Lebenszeit seien sie auf das trockene Land gegangen und hätten, nachdem die sie umgebende Rinde aufgeplatzt sei, ihr Leben noch für kurze Zeit auf andere Weise verbracht.“[12]
Die Seele hielt Anaximander für luftartig. Der Vorstellung von der Seele als Aër mag die Verbindung mit dem Leben bzw. dem Ein- und Ausatmen zugrunde gelegen haben. Unklar ist, ob er zwischen der Atemseele des Menschen und der anderer Lebewesen unterschied.
Wie sich Anaximanders Auffassung von Apeiron und Kosmos zu seiner Vorstellung von der Seele verhielt, ob es zwischen ihnen überhaupt eine Beziehung gab, ist ungewiss. Da Anaximander die Seele für luftartig hielt, vermuten manche, dass er der Seele Unsterblichkeit zusprach. Ob er an eine Beseelung des Kosmos, ferner an eine Allbeseelung, ähnlich wie sie sich Thales vermutlich vorgestellt hatte, und darüber hinaus an die Unsterblichkeit individueller Seelen dachte, bleibt dahingestellt.
Interpretationen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Bertrand Russell interpretiert Anaximanders Theorien in der Geschichte der abendländischen Philosophie als Behauptung der Notwendigkeit eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Erde, Feuer und Wasser, die alle unabhängig voneinander danach streben können, ihre Anteile im Verhältnis zu den anderen zu vergrößern. Anaximander scheint seine Überzeugung auszudrücken, dass eine natürliche Ordnung das Gleichgewicht zwischen diesen Elementen sicherstellt, dass dort, wo Feuer war, nun Asche (Erde) ist.[13]
Friedrich Nietzsche behauptete in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Anaximander sei ein Pessimist gewesen, der behauptete, das ursprüngliche Wesen der Welt sei ein Zustand der Unbestimmtheit. Demnach muss alles Bestimmte schließlich wieder in die Unbestimmtheit übergehen. Mit anderen Worten: Anaximander betrachtete „... alles Werden als eine unrechtmäßige Emanzipation vom ewigen Sein, ein Unrecht, für das die Zerstörung die einzige Buße ist“. Die Welt der einzelnen Objekte hat in dieser Denkweise keinen Wert und sollte untergehen. Nietzsche bezeichnet Anaxagoras und die anderen Vorsokratiker als Vorplatoniker.[14]
Textausgaben
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Hermann Diels (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Band 1. Herausgegeben von Walther Kranz. 4. Auflage (Abdruck der 3. Auflage mit Nachträgen). Weidmann, Berlin 1922 (griechisch und deutsch)
- Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 32–69 (griechische Quellentexte mit deutscher Übersetzung, Erläuterungen sowie Einführung zu Leben und Werk)
- Jaap Mansfield (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Stuttgart 1987. (Fragmente [griech./dtsch.], Übersetzung und Erläuterungen)
- Georg Wöhrle: Die Milesier: Anaximander und Anaximenes. Berlin 2012. (Kommentare und griech./dtsch. Fragmente)
- Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, Europa Verlag, Zürich 1950, ISBN 3-88059-965-3
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Übersichtsdarstellungen in Handbüchern
- Thomas Schirren, Georg Rechenauer: Zum Leben der einzelnen Philosophen. 2. Anaximander und Niels Christian Dührsen: Anaximander. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 1), Halbband 1, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 184–185 (Biographie) und 263–320 (Werk, Lehre, Rezeption)
Einführungen und Untersuchungen
- Walter Burkert: Iranisches bei Anaximandros. In: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge, Band 106, 1963, S. 97–134.
- Dirk L. Couprie, Robert Hahn, Gerard Naddaf: Anaximander in Context. New Studies in the Origins of Greek Philosophy. State University of New York Press, Albany (New York) 2003, ISBN 0-7914-5537-8
- Maria Marcinkowska-Rosóɫ: Die Prinzipienlehre der Milesier. Berlin/Boston 2014.
- Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 45 ff.
- Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, ISBN 3-406-38938-4
- Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Tübinger Vorlesungen Band I. Frankfurt/M. 1978.
Rezeption
- Carmela Baffioni: Anaximandre dans l'Islam. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band Supplément. CNRS Editions, Paris 2003, ISBN 2-271-06175-X, S. 759–761
- Carlo Rovelli: Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2019, ISBN 3-498-05398-1.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Literatur von und über Anaximander im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Textausgaben
- Verschiedene Textauszüge
- Fragmente ( vom 5. Dezember 2004 im Internet Archive) (griech., engl., franz.; PDF-Datei; 136 kB)
- Fragments and Commentary, engl. Übers. von Arthur Fairbanks, The First Philosophers of Greece, London: K. Paul, Trench, Trubner 1898, 8–16.
Literatur
- Karl Bormann: Anaximander von Milet. In: UTB-Online-Wörterbuch Philosophie
- Dirk L. Couprie: Eintrag in James Fieser, Bradley Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Dirk Couprie: Materialien zu Anaximander (englisch)
- Egon Gottwein: Anaximander
- Patricia Curd: „Presocratic Philosophy“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.)[1].
Fußnoten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, S. 38 ff.
- ↑ Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 27 ff.
- ↑ Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 40
- ↑ Themistios Or. 36, 317 C (DK 12 A 7); dazu Walter Burkert: Weisheit und Wissenschaft, Nürnberg 1962, S. 223: „Mit ihm [dem Prosabuch] tritt etwas Neues auf in der griechischen Geistesgeschichte: das erste Prosabuch schrieb Anaximandros.“ (und ebenda Anm. 6 zur Priorität gegenüber Pherekydes mit Berufung auf von Fritz, RE 19 Sp. 2030f.)
- ↑ Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 38 ff.
- ↑ Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 40.
- ↑ Physik III, 203b 14; zitiert nach Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 41.
- ↑ Zitiert nach Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 45 – in Parenthese ein in der Forschung strittiger Passus, den Rapp eher Aristoteles zurechnet.
- ↑ Dumont’s Handbuch Philosophie. Mathias Vogt, Dumont monte, Köln 2003
- ↑ Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 46.
- ↑ Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 43.
- ↑ Fragment DK 12 A 30; zitiert nach Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, S. 51.
- ↑ Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. Europa Verlag, Zürich 1950, ISBN 3-88059-965-3, S. 48–49.
- ↑ Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Reclam Taschenbuch, 1994, ISBN 978-3-15-007133-5.
Personendaten | |
---|---|
NAME | Anaximander |
ALTERNATIVNAMEN | Anaximandros der Mileter; Anaximandros von Milet; Ἀναξίμανδρος ὁ Μιλήσιος (altgriechisch) |
KURZBESCHREIBUNG | vorsokratischer griechischer Philosoph |
GEBURTSDATUM | um 610 v. Chr. |
GEBURTSORT | Milet |
STERBEDATUM | nach 547 v. Chr. |
STERBEORT | Milet |