„Der Richter und sein Henker“ – Versionsunterschied
[ungesichtete Version] | [gesichtete Version] |
Hfst (Diskussion | Beiträge) Wikilink Markierungen: Visuelle Bearbeitung Mobile Bearbeitung Mobile Web-Bearbeitung |
|||
(542 dazwischenliegende Versionen von mehr als 100 Benutzern, die nicht angezeigt werden) | |||
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
{{Dieser Artikel|behandelt den Roman von Friedrich Dürrenmatt. Zu den gleichnamigen Adaptionen siehe [[Der Richter und sein Henker (Begriffsklärung)]].}} |
|||
'''Der Richter und sein Henker''' ist ein [[Roman]] des Schweizer Schriftstellers [[Friedrich Dürrenmatt]] aus dem Jahr [[1950]]. |
|||
<!--schweizbezogen--> |
|||
'''Der Richter und sein Henker''' ist ein [[Roman]] des Schweizer Schriftstellers [[Friedrich Dürrenmatt]] und erschien zuerst vom 15. Dezember 1950 bis zum 31. März 1951 in acht Folgen in der Zeitschrift ''[[Beobachter (Zeitschrift)|Der Schweizerische Beobachter]]''. Dürrenmatt schrieb ihn aus Geldnot („als ich auf dem trockenen saß“, so Dürrenmatt) für ein Honorar von 1000 [[Schweizer Franken|Franken]].<ref>[[Heinz Ludwig Arnold]]: ''Annäherung an Friedrich Dürrenmatt''. In: ders.: ''Querfahrt mit Dürrenmatt. Aufsätze und Vorträge''. Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-23007-9, S. 17–33, Zitat S. 21.</ref> |
|||
== Inhalt == |
|||
Die Hauptfigur ist [[Kommissar|Kommissär]] Bärlach, der kurz vor seinem Tod steht und mit seinem Gehilfen Tschanz den Mordfall an einem Berner Polizeileutnant aufklären muss. Schon zu Anfang des Romans erkennt Bärlach, dass Tschanz, geleitet von seinem Neid auf den Polizeileutnant, der wahre Mörder ist. Im Verlauf der Handlung trifft Bärlach Gastmann, dieser hatte aus einer Laune heraus vor Bärlachs Augen einen Mord begangen, wobei Bärlach nie in der Lage war Gastmann dieses Verbrechen nachzuweisen. |
|||
Im Roman geht es um zwei Kriminalfälle, die zeitlich weit auseinander liegen, aber durch die gegensätzlichen Charaktere des [[Bern]]er [[Kommissär]]s Bärlach und des Abenteurers Gastmann verbunden sind, der sich inzwischen nach [[Lamboing]] oberhalb des Bieler Sees zurückgezogen hat. Vor vier Jahrzehnten wetteten die beiden um die Wirkung des Zufalls: Bärlach behauptete, dass der Zufall letztlich alle Verbrechen ans Tageslicht bringe, Gastmann dagegen, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen die meisten Verbrechen nicht nur ungeahndet, sondern sogar ungeahnt lasse. Zum Beweis tötet er drei Tage später vor den Augen Bärlachs einen Kaufmann, und es gelingt Bärlach nicht, ihn dingfest zu machen. Während Gastmann eine erfolgreiche Verbrecherkarriere macht, ist Bärlach immer einen Schritt hinterher. |
|||
Geschickt spielt Bärlach den Mörder Tschanz gegen Gastmann aus, so dass dieser Gastmann tötet. Als Bärlach Tschanz dann offenbart, dass er weiß, dass Tschanz der eigentliche Mörder ist, versucht dieser zu flüchten, wird aber vom Zug erfasst, als er mit seinem Wagen einen Bahnübergang durchfahren will. |
|||
Nach vierzig zermürbenden Jahren und inzwischen todkrank, schleust Bärlach als letzten Versuch seinen besten Mitarbeiter Schmied unter falschem Namen in Gastmanns – in Politik und Finanzwelt gut vernetzte – gehobene Gesellschaft ein. Nach ersten Ergebnissen wird Schmied aber auf einer Landstraße zwischen [[Twann]] und Lamboing in seinem Auto ermordet aufgefunden. Damit beginnt der Roman. Zur Unterstützung erhält Bärlach einen jungen Polizisten namens Tschanz, der sehr eifrig versucht, Beweise dafür zu finden, dass Gastmann die Tat begangen hat. Tschanz dagegen ist verwundert und zunehmend verärgert, wie gleichmütig Bärlach die Untersuchung angeht. Es passieren allerlei rätselhafte Dinge: Bärlach äußert gegenüber seinem Vorgesetzten Lutz, dass er einen konkreten Verdacht hat, sagt ihn aber nicht. Er überrascht Tschanz, indem er nachts die Tat am Tatort nachstellt, nur dass jetzt Tschanz am Steuer sitzt. Bei Gastmann greift ein Bluthund Bärlach an, den Tschanz daraufhin erschießt, es stellt sich aber heraus, dass Bärlach sich durch Armverband und Pistole in der Tasche ohnehin geschützt hatte. Gastmann dringt bei Bärlach ein und nimmt die Mappe mit Schmieds Recherchen an sich. Bei diesem Dialog erfährt der Leser von der Wette. |
|||
Die Beziehung zwischen Bärlach und Gastmann reicht vierzig Jahre zurück. Gastmann erinnert Bärlach daran: „Ich hielt die kühne Wette, in deiner Gegenwart ein Verbrechen zu begehen, ohne dass du imstande sein würdest, mir dieses Verbrechen beweisen zu können.“ Gastmann behielt Recht. Ein zentrales Thema des Buchs ist infolge dieses Geschehens die Frage, ob es gerechtfertigt ist, einen Menschen zu richten, der ein Verbrechen begangen hat, dessen Verbrechen aber nicht nachweisbar ist. Bärlach bejaht die Frage, als er zu Gastmann sagt: „Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast“ - und gibt damit seine Niederlage als Kriminalist zu. |
|||
Bei einem späteren Treffen teilt Bärlach Gastmann mit, dass er um dessen Unschuld im Hinblick auf Schmied weiß, ihm aber einen Henker schicken wird, der ihn tötet als Kompensation dafür, dass der Mord an dem Kaufmann noch immer ungesühnt ist. Dieser Henker ist Tschanz, der zunehmend energischer und verzweifelter versucht, den Verdacht auf Gastmann zu lenken. Er ist der Mörder Schmieds, weil er ihm den privaten und beruflichen Erfolg neidete und sich stets zurückgesetzt fühlte. Nachdem Tschanz Gastmann tatsächlich getötet hat, offenbart ihm Bärlach in einem großen Finale, dass er ihn von Anfang an in Verdacht hatte und ihn gut funktionalisieren konnte. Denn Tschanz musste den Verdacht von sich ablenken und war daher vehement auf Gastmann fokussiert, den wiederum Bärlach zur Strecke bringen wollte. |
|||
Man kann den Roman auch als Frage auffassen, wann der Mensch sich selbst bestimmt, wann er über andere bestimmt (als Richter) und wann er zum Instrument anderer (als Henker) wird. Tschanz zu Bärlach am Ende der Geschichte: „Dann waren Sie der Richter und ich der Henker“. Kurz darauf tötet Tschanz sich selbst. |
|||
== Personencharakteristik == |
|||
==Verfilmung== |
|||
'''Hans Bärlach''' |
|||
Eine vielbeachtete [[Adaption]] gelang [[1975]] [[Maximilian Schell]], der das Drehbuch schrieb und Regie führte. |
|||
:Bärlach ist ein Kriminalkommissär in Bern. Er ist von „schweigsamer, bedächtiger und hintergründiger Wesensart“.<ref>Annemarie van Rinsum, Wolfgang van Rinsum: ''Lexikon literarischer Gestalten.'' Band 1: ''Deutschsprachige Literatur'' (= ''[[Kröners Taschenausgabe]].'' Band 420). 2., durchgesehene Auflage. Kröner, Stuttgart 1993, ISBN 3-520-42002-3, S. 36.</ref> Der todkranke Kommissar treibt ein doppelbödiges Spiel, in dem er sich im Hintergrund hält und von dort die Fäden zieht, um seinen alten Rivalen und Verbrecher Gastmann nach gut vier Jahrzehnten überführen zu können. Da er es nicht schafft, ihn mit legalen Mitteln festzunehmen, benutzt er Tschanz, seinen Assistenten, als „Henker“ und kann seinen Widersacher töten. Neben Bärlachs Lebenserfahrungen ist auch seine Haltung als Schweizer gegenüber dem Nationalsozialismus bezeichnend sowie der Kampf mit innerbehördlichen Hierarchien. Der rücksichtslose Einsatz der eigenen Person gipfelt in einem psychischen Zweikampf mit dem Mörder Schmieds, in dessen Verlauf Bärlach, der wirklich todkrank ist, vorgaukelt, seine Krankheit sei nur aus taktischen Gründen gespielt gewesen. |
|||
'''Tschanz''' |
|||
Die Hauptrollen übernahmen [[Jon Voight]] als Walter Tschanz, [[Jacqueline Bisset]] in der Rolle der Anna Crawley, der Regisseur [[Martin Ritt]], der Hans Baerlach darstellte sowie [[Robert Shaw]] als Richard Gastmann. Weitere Rollen übernahmen [[Helmut Qualtinger]] und [[Friedrich Dürrenmatt]], der einen Kurzauftritt als Friedrich übernahm. |
|||
:Tschanz ist ein Kriminalbeamter in Bern. Wegen seines krankhaften Ehrgeizes bringt er „seinen Kollegen Schmied um, dem er Fähigkeit, Erfolg, Bildung und sein Mädchen neidet“.<ref>van Rinsum: ''Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur'', S. 464</ref> Bärlach kann ihn aber schnell entlarven, macht ihn aber zu seinem Assistenten in der „Mordsache Schmied“ und benutzt ihn regelrecht als seinen „Henker“, um Gastmann zu töten. Am Ende wird Tschanz von einem Zug erfasst und stirbt. |
|||
'''Gastmann''' |
|||
:Gastmann, „ein kühler, rechnender und selbstsicherer Verbrecherkönig“,<ref>van Rinsum: ''Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur'', S. 150</ref> lebt in [[Lamboing]] oberhalb des [[Bielersee]]s. Er wird als Gelegenheitsphilosoph und „[[Nihilismus|Nihilist]]“<ref>So wörtlich vom Schriftsteller in Kap. 13</ref> bezeichnet und wegen einer Wette, die er mit Bärlach in [[Konstantinopel]] in jungen Jahren geschlossen hatte, von dem Kommissar seit 40 Jahren erfolglos gejagt. Obwohl er beim letzten Treffen mit Bärlach noch selbstsicher seine Überlegenheit auszuspielen versucht, zeigt er sich zum Schluss von Bärlach überrascht, dem es schließlich gelingt, Gastmann in eine Falle zu locken, in der dieser zu Tode kommt. |
|||
'''Dr. Lucius Lutz''' |
|||
==Zusammenfassung== |
|||
:Lutz ist der Vorgesetzte Bärlachs und vertraut, im Gegensatz zu diesem, den Methoden der „modernen Kriminalistik“. Er hat oft eine andere Meinung als der Kommissar. |
|||
== Gestaltung == |
|||
Am 3. November 1948 findet ein Dorfpolizist, Alphons Clenin, in der Nähe des Schweizer Ortes Lamboing in einem blauen Mercedes die Leiche des erschossenen Polizeileutnants Ullrich Schmied. Die Ermittlungen werden eingeleitet und an den Polizeikommissar Bärlach, der Schmieds Vorgesetzter war, in Bern übergeben. Kommissar Bärlach fährt sofort zur Wohnung des Ermordeten und nimmt dort eine Akte mit, in der sich Beweismittel gegen Gastmann, einen alten Bekannten von Bärlach, befinden. Der junge Kollege Tschanz wird als Stellvertreter Bärlachs hinzugezogen, da Bärlach todkrank ist. Die Ermittlungen richten sich schnell gegen besagten Gastmann, einem mysteriösen Mann, in dessen Villa regelmäßig Treffen reicher Leute und Diplomaten stattfinden. Als Tschanz und Bärlach um Gastmanns Haus schleichen, wird Bärlach von einem Hund angefallen, sodass Tschanz den Hund erschießen muss. Zuhause angekommen zieht Bärlach einen Revolver aus der Manteltasche und entfernt einen dicken Schutz von seiner linken Hand. Der Vorgesetzte von Bärlach wird am nächsten Tag von Gastmanns Anwalt dazu gebracht, die Ermittlungen gegen diesen einzustellen. Während Bärlach seine Ermittlungen auf die Fakten und das Wesentliche begrenzt, will Tschanz deutlich machen, dass Gastmann der Mörder sein muss. Als am nächsten Abend Bärlach sein Haus betritt, sitzt Gastmann in der Bibliothek. Es stellt sich heraus, dass die beiden sich kennen, denn sie sprechen von einer Wette, die sie einst abgeschlossen haben. Gastmann behauptete damals, dass Bärlach nie in der Lage sein würde ihm ein Verbrechen nachzuweisen. Zur Verdeutlichung tötete Gastmann gleich darauf vor den Augen Bärlachs einen Kaufmann; das Gericht ging von Selbstmord aus, da der Kaufmann kurz vor dem Konkurs stand. |
|||
Der Roman gliedert sich in 21 Kapitel. Die Wette wird rückblickend von Gastmann im elften Kapitel erzählt und steht somit genau in der Mitte, wodurch der Roman [[Achsensymmetrie|axialsymmetrisch]] angelegt ist. Gemäß der Analyse von G. Knapp<ref>Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker'', 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 20–24</ref> gibt es mehrere Erzählabschnitte mit unterschiedlicher Funktion: |
|||
Als Bärlach seinen Arzt aufsucht, erfährt er, dass er in drei Tagen operiert werden muss und ein Jahr später sterben wird. Zudem erfährt er, dass seine Krankenakte bei einem Einbruch besichtigt wurde (von Gastmann). In der selben Nacht wird Bärlach bei sich zu Hause überfallen und überlebt nur knapp. Am nächsten Morgen bricht Bärlach zu einem Erholungsaufenthalt auf und lässt Tschanz die Ermittlungen führen. In dem Taxi, mit dem er zum Bahnhof fahren will, sitzt Gastmann... |
|||
Kap. 1-3: Exposition |
|||
==Hauptpersonen== |
|||
Kap. 4-7: Erste Erzählphase |
|||
=== Bärlach === |
|||
Bärlach ist ein bekannter Schweizer Kommissär für die Stadt Bern, der auch zeitweise im Ausland gearbeitet hat (Istanbul). Er ist aufrecht, zielstrebig, furchtlos und ein Realist. Als langjähriger Gegenspieler von Gastmann verkörpert er das „Gute“. Bärlach leidet an Magenkrebs und hat nur noch kurze Zeit zu leben. |
|||
Kap. 8-10: Erstes Zwischenspiel |
|||
=== Tschanz === |
|||
Der junge, ambitionierte Polizist fühlt sich von allen vernachlässigt und zeigt wenig Gefühle. In seinen Ermittlungen ist er fixiert auf Gastmann. Er ist höflich, ungeduldig, vorsichtig aber auch sehr eifrig. Seine Leichtgläubigkeit macht ihn zu einem Spielball von Bärlach. Tschanz beneidet sein Mordopfer Schmied um dessen Freundin, dessen berufliche Karrierre und dessen Ruf. Er versucht den Job von Schmied zubekommen, indem er den Fall löst. |
|||
Kap. 11-12: Zweite Erzählphase |
|||
=== Gastmann === |
|||
Der Nihilist Gastmann verkörpert das „Böse“; er ist heimtückisch, aber auch brillant. Mit seinem vielen Geld bezahlt er die Steuern der Dorfbewohner und erkauft sich so sein Ansehen. Er veranstaltet oft Treffen mit wichtigen Personen. [[Friedrich Dürrenmatt|Dürrenmatt]] beschreibt ihn so: ''„Er wird nie das Böse tun, um etwas zu erreichen, wie andere ein Verbrechen begehen, um Geld zu besitzen, eine Frau zu erobern oder Macht zu gewinnen, er wird es tun, wenn es sinnlos ist, vielleicht, denn bei ihm sind immer zwei Dinge möglich, das Schlechte und das Gute, und der Zufall entscheidet.“'' . |
|||
Kap. 13-15: Zweites Zwischenspiel |
|||
== Weblinks == |
|||
Kap. 16-18: Dritte Erzählphase |
|||
*{{IMDb Titel|tt0075140|Der Richter und sein Henker}} |
|||
Kap. 19: Erster Schluss |
|||
''Siehe auch:'' [[Walter Lüthi]] (wird im Roman erwähnt) |
|||
Kap. 20: Zweiter Schluss |
|||
[[Kategorie:Literarisches Werk|Richter und sein Henker, Der]] |
|||
[[Kategorie:Literaturverfilmung|Richter und sein Henker, Der]] |
|||
[[Kategorie:Filmtitel|Richter und sein Henker, Der]] |
|||
Kap. 21: Nachspiel |
|||
[[en:Der Richter und sein Henker]] |
|||
[[fr:Le Juge et son bourreau]] |
|||
Exposition und Erzählphasen folgen der Struktur des traditionellen Detektivromans, des [[Whodunit]]. Ein Mord wird entdeckt und die Recherchen bringen immer mehr Details an Tageslicht, wodurch Spannung entsteht, gehalten und gesteigert wird. Allerdings gibt es bei Dürrenmatt immer wieder irritierende Brechungen. Zum Beispiel lobt Bärlach das völlig unangemessene Verhalten des Dorfpolizisten Clenin bei Auffinden der Leiche. Auch die fast schon lethargische Gleichmütigkeit Bärlachs ist gleichermaßen für Tschanz wie für den Leser verstörend. Die Zwischenspiele haben [[Retardierendes Moment|retardierende Wirkung]], sie bringen die Aufklärung nicht voran, sondern vertiefen einzelne Aspekte. Das erste Zwischenspiel gibt ironisch-gesellschaftskritische Einblicke in die Vernetzung Gastmanns mit der abgeschotteten Elite und ihren korrupten und korrumpierenden Strukturen. Im zweiten Zwischenspiel erläutert ein Dichter im Gespräch mit Bärlach aus philosophischer Sicht den Charakter Gastmanns. Dieser sei ein Nihilist, der ohne Bindung an Moral und Gesetze handelt, und der Zufall oder seine Laune entscheide, ob er das Gute oder Böse tut. Das Böse ist dann Ausdruck „seiner Freiheit: der Freiheit des Nichts“. Der erste Schluss entspricht den traditionellen Detektivgeschichten, der Täter ist gefasst oder – wie hier – tot, der Fall ist gelöst, und für Lutz ist das auch so. Der zweite Schluss ist das Raffinement dieses Werks, der den wahren Sachverhalt darstellt und Tschanz als Täter entlarvt. Da Bärlach Tschanz nach seiner Entlarvung laufen lässt, gibt es noch ein Nachspiel, indem Tschanz in seinem Auto von einem Zug erfasst wird. |
|||
Wie ein Polizeiprotokoll wird die Handlung durch genaue Orts- und Zeitangaben strukturiert. Die erzählte Zeit erstreckt sich über fünf Tage, von Donnerstagmorgen, 3. November 1948, bis zum Morgen des Dienstags (8.11.). Die Erzählzeit ist für den dritten, mittleren Tag am längsten: der Samstag umfasst allein acht Kapitel (8-15) und am Mittag, genau in der Mitte des Tages, wird von der Wette berichtet. Der Weg von Bern, dem Wohnort Bärlachs, zum knapp fünfzig Kilometer entfernten Lamboing führt über Biel nördlich um den Bieler See. Tschanz wählt aber zunächst den zehn Kilometer längeren Weg südlich über Ligertz um den See. Bärlach ist verwundert, durchschaut aber bald, dass Tschanz eine falsche Spur legen will. Dürrenmatt hat zur Zeit der Abfassung des Romans in Ligertz gewohnt, kannte sich mit den Orten also bestens aus, die dann in beiden Richtungen zuhauf im Roman erscheinen. |
|||
Ständig begegnet Bärlachs Magen-Darm-Krankheit als Leitmotiv, zum Teil auch taktisch von ihm thematisiert. Umso erstaunlicher ist, dass er dann zum großen Showdown am Schluss Tschanz mit einem opulenten Essen empfängt und dabei unmäßig zugreift, während Tschanz der Appetit vergeht. Diese Art Finale taucht bei Dürrenmatt öfter auf, zum Beispiel auch in „Die Panne“. |
|||
Es gibt eine Reihe von Naturbeschreibungen, oft während der Fahrt von Bern nach Lamboing bzw. umgekehrt oder beim nächtlichen Einbruch in Bärlachs Wohnung. Sie schaffen eine eigene, zum Teil geheimnisvolle Stimmung, haben aber oft auch Verweischarakter, zum Beispiel, wenn auf der Fahrt entlang des Ufers des Bieler Sees Wolkenungetüme und unbeständiges Wetter die Frustration Bärlachs und die Verzweiflung Tschanz’ spiegeln. Umwelt und Natur werden als Schauerkulisse und Spiegel des Inneren eingesetzt.<ref>Walter Seifert: ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker'', Oldenbourg Interpretationen Band 8, 5. überarbeitete und ergänzte Auflage, Oldenbourg Verlag, München, 1988, ISBN 3-486-88616-9, S. 49–54</ref> |
|||
Bärlach verliert letztlich die Wette, weil es ihm nicht gelingt, Gastmann seiner Verbrechen zu überführen. Der von ihm apostrophierte Zufall ist ihm vier Jahrzehnte nicht zu Hilfe gekommen. Er übt [[Selbstjustiz]], da er Gastmann für einen nicht begangenen Mord töten lässt. Dass er das überhaupt einfädeln kann, beruht allerdings auf einer ganzen Reihe von Zufällen, da Tschanz Schmied zeitlich passend ermordet und dann immer wieder Fehler macht, um seine Tat zu verschleiern, mit denen Bärlach nicht rechnen kann. Der hergebrachte Detektivroman will gerade den Zufall ausschließen, denn hier führen Recherchen und die gute Kombinationsgabe des Detektivs zur Aufklärung. G. Knapp charakterisiert „Dürrenmatts Ästhetik des Zufalls“ wie folgt:<ref>Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker'', 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 12</ref> |
|||
"Der Zufall wächst derart in Dürrenmatts erstem Detektivroman weit über sich selbst hinaus und gerät indirekt wieder zu einer Regelhaftigkeit, jener stillschweigend vorausgesetzten [[Teleologie]], die zu den Grundlagen der Gattung gehört. Indem der Autor dem Element des Zufälligen Einlass in die Gattung gewährt, es aber paradoxerweise zum Helfershelfer der gattungsbedingten Planmäßigkeit macht, erfüllt er die Form des Detektivromans auf unkonventionelle Weise und stellt sie zugleich ironisch infrage." |
|||
Die Figur des Kommissar Bärlach ist auch die Hauptfigur in Dürrenmatts Roman ''[[Der Verdacht (Dürrenmatt)|Der Verdacht]]''. Die grundlegende Kritik an der Figur des Detektivs, der richtig ermittelnd zum falschen und falsch ermittelnd zum richtigen Ergebnis kommt, findet eine Fortsetzung in dem Roman ''[[Das Versprechen (Dürrenmatt)|Das Versprechen]]''. |
|||
„Seine Krimis folgen dem klassischen Schema, ragen aber durch Ironie, Zynismus sowie gesellschaftskritische bzw. philosophische Ansätze weit über das im Genre Übliche hinaus.“<ref>Klaus-Peter Walter (Hrsg.): ''[[Reclams Krimi-Lexikon]]''. Autoren und Werke. Philipp Reclam Jun., Stuttgart 2002, ISBN 3-15-010509-9, S. 110.</ref> |
|||
== Adaptionen == |
|||
* Die erste filmische [[Adaption (Literatur)|Adaption]] wurde vom [[Süddeutscher Rundfunk|Süddeutschen Rundfunk]] für das Fernsehen produziert und am 7. September 1957 erstmals ausgestrahlt.<ref>{{IMDb|tt0050898|Der Richter und sein Henker (1957)}}</ref> [[Franz Peter Wirth]] führte Regie. Im Jahr 2012 wurde der Fernsehfilm erstmals auf DVD veröffentlicht. |
|||
* Die [[British Broadcasting Corporation]] zeigte im Rahmen ihrer [[Fernsehspiel|Fernsehspiel-Serie]] ''BBC Sunday-Night Play'' eine Adaption der Geschichte unter dem Titel ''The Judge and His Hangman'', die am 17. Dezember 1961 erstmals ausgestrahlt wurde.<ref>{{IMDb|tt1266478|"BBC Sunday-Night Play" The Judge and His Hangman (1961)}}</ref> [[Frank Pettingell]] verkörperte die Rolle von ''Inspector Hans Bärlach'', [[Brian Bedford (Schauspieler)|Brian Bedford]] die von ''Lieutenant Chanz''. Das Fernsehspiel ist bislang noch nicht auf DVD veröffentlicht worden. |
|||
* Im Jahr 1968 hat Regisseur [[Imre Mihályfi]] einen schwarz-weißen Kriminalfilm fürs ungarische Fernsehen MTV gedreht, der am 16. November 1968 in Ungarn erstmals ausgestrahlt wurde, mit [[Antal Páger]] (Bärlach) und [[Andor Ajtay]] (Gastman).<ref>{{IMDb|tt0487878|A bíró és a hóhér (1968)}}</ref> |
|||
* Für [[Radiotelevisione Italiana]] drehte [[Daniele D’Anza]] im Jahr 1972 eine weitere Verfilmung des Romans unter dem Titel ''[[Il giudice e il suo boia]]''.<ref>{{IMDb|tt0347084|Il giudice e il suo boia (1972)}}</ref> [[Paolo Stoppa]] spielte darin die Rolle ''Bärlachs'', [[Ugo Pagliai]] verkörperte ''Tschanz''. Der Fernsehfilm wurde im Jahr 2009 erstmals auf DVD veröffentlicht. |
|||
* Im Jahr 1974 folgte eine französische Verfilmung in der Regie von [[Daniel Le Comte]] unter dem Titel ''[[Le juge et son bourreau]]''.<ref>{{IMDb|tt0326995|Le juge et son bourreau (1974)}}</ref> [[Charles Vanel]] war in der Rolle des ''commissaire Baerlach'' zu sehen. [[Gilles Ségal]] spielte den ''lieutenant Terrence'', was der umbenannten Figur des ''Tschanz'' entsprach. Der Film ist bislang noch nicht auf DVD veröffentlicht worden. |
|||
* Eine vielbeachtete Adaption gelang [[Filmjahr 1975|1975]] [[Maximilian Schell]] mit dem Film ''[[Der Richter und sein Henker (1975)|Der Richter und sein Henker]]'': ''Tschanz'' wird von [[Jon Voight]] und ''Bärlach'' von [[Martin Ritt]] verkörpert.<ref>{{IMDb|tt0075140|Der Richter und sein Henker (1975)}}</ref> Dürrenmatt schrieb am Drehbuch mit und ist in einer [[Nebenrolle]] als Schriftsteller zu sehen. Im Jahr 2011 erschien der Film auf [[Blu-ray Disc|BluRay]]. Für diese Edition wurde er in Bild und Ton aufwändig restauriert. |
|||
* 1986 produzierte das [[Schweizer Radio DRS]] eine zirka 300-minütige [[Hörspiel]]fassung.<ref>[http://www.hoerdat.in-berlin.de/select.php?&col2=au.an&b=D%FCrrenmatt&col3=au.av&c=Friedrich Hörspieldatenbank HÖRDAT]</ref> |
|||
* 1988 erschien ein Comic auf der Grundlage des Romans.<ref>''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker: Comic auf der Grundlage des Romans''. Bern: Zytglogge, 6. Auflage 2003, ISBN 3-7296-0305-1.</ref> |
|||
* Am 8. November 2008 wurde die Oper ''[[Der Richter und sein Henker (Oper)|Der Richter und sein Henker]]'' von [[Franz Hummel]] in Erfurt uraufgeführt. |
|||
== Siehe auch == |
|||
* [[Walter Lüthi]] (wird im Roman erwähnt) |
|||
== Buchausgaben == |
|||
* ''Der Richter und sein Henker''. Benziger, Einsiedeln 1952 |
|||
* ''Der Richter und sein Henker''. Roman. Mit 14 Zeichnungen von [[Karl Staudinger]]. Rowohlt, Reinbek 1955, ISBN 3-499-10150-5 |
|||
* ''Der Richter und sein Henker. [[Die Panne]].'' [[Verlag Volk und Welt]], Berlin 1964 (Nachwort: [[Hermann Kant]]) |
|||
* ''Der Richter und sein Henker / Der Verdacht''. Die zwei Kriminalromane um Kommissär Bärlach. Diogenes, Zürich 1980, ISBN 3-257-20849-9 (Werkausgabe 16) |
|||
* ''Der Richter und sein Henker''. Kriminalroman. Mit zahlreichen Fotos aus dem Film und einem Anhang. Diogenes, Zürich 1985, ISBN 3-257-22535-0 |
|||
== Literatur == |
|||
* Gerhard P. Knapp: ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker''. Diesterweg, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-425-06037-6 |
|||
* Bernd Matzkowski: ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker''. Bange, Hollfeld 2001, ISBN 3-8044-1733-7 (Königs Erläuterungen und Materialien 42) |
|||
* Wolfgang Pasche: ''Interpretationshilfen Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane''. Klett. Stuttgart 1997, ISBN 3-12-922609-5 |
|||
* Theodor Pelster: ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler''. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-015374-3 |
|||
* Walter Seifert: ''Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Interpretation''. Oldenbourg, München 1975; 5. erg. A. 1996, ISBN 3-637-88616-2 |
|||
== Einzelnachweise == |
|||
<references /> |
|||
{{Navigationsleiste Werke von Friedrich Dürrenmatt}} |
|||
{{Normdaten|TYP=w|GND=4099173-8|VIAF=181638827}} |
|||
{{SORTIERUNG:Richter Und Sein Henker #Der}} |
|||
[[Kategorie:Literarisches Werk]] |
|||
[[Kategorie:Literatur (20. Jahrhundert)]] |
|||
[[Kategorie:Literatur (Deutsch)]] |
|||
[[Kategorie:Literatur (Schweiz)]] |
|||
[[Kategorie:Kriminalliteratur]] |
|||
[[Kategorie:Werk von Friedrich Dürrenmatt]] |
|||
[[Kategorie:Roman, Epik]] |
Aktuelle Version vom 14. Juni 2025, 12:46 Uhr
Der Richter und sein Henker ist ein Roman des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt und erschien zuerst vom 15. Dezember 1950 bis zum 31. März 1951 in acht Folgen in der Zeitschrift Der Schweizerische Beobachter. Dürrenmatt schrieb ihn aus Geldnot („als ich auf dem trockenen saß“, so Dürrenmatt) für ein Honorar von 1000 Franken.[1]
Inhalt
Im Roman geht es um zwei Kriminalfälle, die zeitlich weit auseinander liegen, aber durch die gegensätzlichen Charaktere des Berner Kommissärs Bärlach und des Abenteurers Gastmann verbunden sind, der sich inzwischen nach Lamboing oberhalb des Bieler Sees zurückgezogen hat. Vor vier Jahrzehnten wetteten die beiden um die Wirkung des Zufalls: Bärlach behauptete, dass der Zufall letztlich alle Verbrechen ans Tageslicht bringe, Gastmann dagegen, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen die meisten Verbrechen nicht nur ungeahndet, sondern sogar ungeahnt lasse. Zum Beweis tötet er drei Tage später vor den Augen Bärlachs einen Kaufmann, und es gelingt Bärlach nicht, ihn dingfest zu machen. Während Gastmann eine erfolgreiche Verbrecherkarriere macht, ist Bärlach immer einen Schritt hinterher.
Nach vierzig zermürbenden Jahren und inzwischen todkrank, schleust Bärlach als letzten Versuch seinen besten Mitarbeiter Schmied unter falschem Namen in Gastmanns – in Politik und Finanzwelt gut vernetzte – gehobene Gesellschaft ein. Nach ersten Ergebnissen wird Schmied aber auf einer Landstraße zwischen Twann und Lamboing in seinem Auto ermordet aufgefunden. Damit beginnt der Roman. Zur Unterstützung erhält Bärlach einen jungen Polizisten namens Tschanz, der sehr eifrig versucht, Beweise dafür zu finden, dass Gastmann die Tat begangen hat. Tschanz dagegen ist verwundert und zunehmend verärgert, wie gleichmütig Bärlach die Untersuchung angeht. Es passieren allerlei rätselhafte Dinge: Bärlach äußert gegenüber seinem Vorgesetzten Lutz, dass er einen konkreten Verdacht hat, sagt ihn aber nicht. Er überrascht Tschanz, indem er nachts die Tat am Tatort nachstellt, nur dass jetzt Tschanz am Steuer sitzt. Bei Gastmann greift ein Bluthund Bärlach an, den Tschanz daraufhin erschießt, es stellt sich aber heraus, dass Bärlach sich durch Armverband und Pistole in der Tasche ohnehin geschützt hatte. Gastmann dringt bei Bärlach ein und nimmt die Mappe mit Schmieds Recherchen an sich. Bei diesem Dialog erfährt der Leser von der Wette.
Bei einem späteren Treffen teilt Bärlach Gastmann mit, dass er um dessen Unschuld im Hinblick auf Schmied weiß, ihm aber einen Henker schicken wird, der ihn tötet als Kompensation dafür, dass der Mord an dem Kaufmann noch immer ungesühnt ist. Dieser Henker ist Tschanz, der zunehmend energischer und verzweifelter versucht, den Verdacht auf Gastmann zu lenken. Er ist der Mörder Schmieds, weil er ihm den privaten und beruflichen Erfolg neidete und sich stets zurückgesetzt fühlte. Nachdem Tschanz Gastmann tatsächlich getötet hat, offenbart ihm Bärlach in einem großen Finale, dass er ihn von Anfang an in Verdacht hatte und ihn gut funktionalisieren konnte. Denn Tschanz musste den Verdacht von sich ablenken und war daher vehement auf Gastmann fokussiert, den wiederum Bärlach zur Strecke bringen wollte.
Personencharakteristik
Hans Bärlach
- Bärlach ist ein Kriminalkommissär in Bern. Er ist von „schweigsamer, bedächtiger und hintergründiger Wesensart“.[2] Der todkranke Kommissar treibt ein doppelbödiges Spiel, in dem er sich im Hintergrund hält und von dort die Fäden zieht, um seinen alten Rivalen und Verbrecher Gastmann nach gut vier Jahrzehnten überführen zu können. Da er es nicht schafft, ihn mit legalen Mitteln festzunehmen, benutzt er Tschanz, seinen Assistenten, als „Henker“ und kann seinen Widersacher töten. Neben Bärlachs Lebenserfahrungen ist auch seine Haltung als Schweizer gegenüber dem Nationalsozialismus bezeichnend sowie der Kampf mit innerbehördlichen Hierarchien. Der rücksichtslose Einsatz der eigenen Person gipfelt in einem psychischen Zweikampf mit dem Mörder Schmieds, in dessen Verlauf Bärlach, der wirklich todkrank ist, vorgaukelt, seine Krankheit sei nur aus taktischen Gründen gespielt gewesen.
Tschanz
- Tschanz ist ein Kriminalbeamter in Bern. Wegen seines krankhaften Ehrgeizes bringt er „seinen Kollegen Schmied um, dem er Fähigkeit, Erfolg, Bildung und sein Mädchen neidet“.[3] Bärlach kann ihn aber schnell entlarven, macht ihn aber zu seinem Assistenten in der „Mordsache Schmied“ und benutzt ihn regelrecht als seinen „Henker“, um Gastmann zu töten. Am Ende wird Tschanz von einem Zug erfasst und stirbt.
Gastmann
- Gastmann, „ein kühler, rechnender und selbstsicherer Verbrecherkönig“,[4] lebt in Lamboing oberhalb des Bielersees. Er wird als Gelegenheitsphilosoph und „Nihilist“[5] bezeichnet und wegen einer Wette, die er mit Bärlach in Konstantinopel in jungen Jahren geschlossen hatte, von dem Kommissar seit 40 Jahren erfolglos gejagt. Obwohl er beim letzten Treffen mit Bärlach noch selbstsicher seine Überlegenheit auszuspielen versucht, zeigt er sich zum Schluss von Bärlach überrascht, dem es schließlich gelingt, Gastmann in eine Falle zu locken, in der dieser zu Tode kommt.
Dr. Lucius Lutz
- Lutz ist der Vorgesetzte Bärlachs und vertraut, im Gegensatz zu diesem, den Methoden der „modernen Kriminalistik“. Er hat oft eine andere Meinung als der Kommissar.
Gestaltung
Der Roman gliedert sich in 21 Kapitel. Die Wette wird rückblickend von Gastmann im elften Kapitel erzählt und steht somit genau in der Mitte, wodurch der Roman axialsymmetrisch angelegt ist. Gemäß der Analyse von G. Knapp[6] gibt es mehrere Erzählabschnitte mit unterschiedlicher Funktion:
Kap. 1-3: Exposition
Kap. 4-7: Erste Erzählphase
Kap. 8-10: Erstes Zwischenspiel
Kap. 11-12: Zweite Erzählphase
Kap. 13-15: Zweites Zwischenspiel
Kap. 16-18: Dritte Erzählphase
Kap. 19: Erster Schluss
Kap. 20: Zweiter Schluss
Kap. 21: Nachspiel
Exposition und Erzählphasen folgen der Struktur des traditionellen Detektivromans, des Whodunit. Ein Mord wird entdeckt und die Recherchen bringen immer mehr Details an Tageslicht, wodurch Spannung entsteht, gehalten und gesteigert wird. Allerdings gibt es bei Dürrenmatt immer wieder irritierende Brechungen. Zum Beispiel lobt Bärlach das völlig unangemessene Verhalten des Dorfpolizisten Clenin bei Auffinden der Leiche. Auch die fast schon lethargische Gleichmütigkeit Bärlachs ist gleichermaßen für Tschanz wie für den Leser verstörend. Die Zwischenspiele haben retardierende Wirkung, sie bringen die Aufklärung nicht voran, sondern vertiefen einzelne Aspekte. Das erste Zwischenspiel gibt ironisch-gesellschaftskritische Einblicke in die Vernetzung Gastmanns mit der abgeschotteten Elite und ihren korrupten und korrumpierenden Strukturen. Im zweiten Zwischenspiel erläutert ein Dichter im Gespräch mit Bärlach aus philosophischer Sicht den Charakter Gastmanns. Dieser sei ein Nihilist, der ohne Bindung an Moral und Gesetze handelt, und der Zufall oder seine Laune entscheide, ob er das Gute oder Böse tut. Das Böse ist dann Ausdruck „seiner Freiheit: der Freiheit des Nichts“. Der erste Schluss entspricht den traditionellen Detektivgeschichten, der Täter ist gefasst oder – wie hier – tot, der Fall ist gelöst, und für Lutz ist das auch so. Der zweite Schluss ist das Raffinement dieses Werks, der den wahren Sachverhalt darstellt und Tschanz als Täter entlarvt. Da Bärlach Tschanz nach seiner Entlarvung laufen lässt, gibt es noch ein Nachspiel, indem Tschanz in seinem Auto von einem Zug erfasst wird.
Wie ein Polizeiprotokoll wird die Handlung durch genaue Orts- und Zeitangaben strukturiert. Die erzählte Zeit erstreckt sich über fünf Tage, von Donnerstagmorgen, 3. November 1948, bis zum Morgen des Dienstags (8.11.). Die Erzählzeit ist für den dritten, mittleren Tag am längsten: der Samstag umfasst allein acht Kapitel (8-15) und am Mittag, genau in der Mitte des Tages, wird von der Wette berichtet. Der Weg von Bern, dem Wohnort Bärlachs, zum knapp fünfzig Kilometer entfernten Lamboing führt über Biel nördlich um den Bieler See. Tschanz wählt aber zunächst den zehn Kilometer längeren Weg südlich über Ligertz um den See. Bärlach ist verwundert, durchschaut aber bald, dass Tschanz eine falsche Spur legen will. Dürrenmatt hat zur Zeit der Abfassung des Romans in Ligertz gewohnt, kannte sich mit den Orten also bestens aus, die dann in beiden Richtungen zuhauf im Roman erscheinen.
Ständig begegnet Bärlachs Magen-Darm-Krankheit als Leitmotiv, zum Teil auch taktisch von ihm thematisiert. Umso erstaunlicher ist, dass er dann zum großen Showdown am Schluss Tschanz mit einem opulenten Essen empfängt und dabei unmäßig zugreift, während Tschanz der Appetit vergeht. Diese Art Finale taucht bei Dürrenmatt öfter auf, zum Beispiel auch in „Die Panne“.
Es gibt eine Reihe von Naturbeschreibungen, oft während der Fahrt von Bern nach Lamboing bzw. umgekehrt oder beim nächtlichen Einbruch in Bärlachs Wohnung. Sie schaffen eine eigene, zum Teil geheimnisvolle Stimmung, haben aber oft auch Verweischarakter, zum Beispiel, wenn auf der Fahrt entlang des Ufers des Bieler Sees Wolkenungetüme und unbeständiges Wetter die Frustration Bärlachs und die Verzweiflung Tschanz’ spiegeln. Umwelt und Natur werden als Schauerkulisse und Spiegel des Inneren eingesetzt.[7]
Bärlach verliert letztlich die Wette, weil es ihm nicht gelingt, Gastmann seiner Verbrechen zu überführen. Der von ihm apostrophierte Zufall ist ihm vier Jahrzehnte nicht zu Hilfe gekommen. Er übt Selbstjustiz, da er Gastmann für einen nicht begangenen Mord töten lässt. Dass er das überhaupt einfädeln kann, beruht allerdings auf einer ganzen Reihe von Zufällen, da Tschanz Schmied zeitlich passend ermordet und dann immer wieder Fehler macht, um seine Tat zu verschleiern, mit denen Bärlach nicht rechnen kann. Der hergebrachte Detektivroman will gerade den Zufall ausschließen, denn hier führen Recherchen und die gute Kombinationsgabe des Detektivs zur Aufklärung. G. Knapp charakterisiert „Dürrenmatts Ästhetik des Zufalls“ wie folgt:[8]
"Der Zufall wächst derart in Dürrenmatts erstem Detektivroman weit über sich selbst hinaus und gerät indirekt wieder zu einer Regelhaftigkeit, jener stillschweigend vorausgesetzten Teleologie, die zu den Grundlagen der Gattung gehört. Indem der Autor dem Element des Zufälligen Einlass in die Gattung gewährt, es aber paradoxerweise zum Helfershelfer der gattungsbedingten Planmäßigkeit macht, erfüllt er die Form des Detektivromans auf unkonventionelle Weise und stellt sie zugleich ironisch infrage."
Die Figur des Kommissar Bärlach ist auch die Hauptfigur in Dürrenmatts Roman Der Verdacht. Die grundlegende Kritik an der Figur des Detektivs, der richtig ermittelnd zum falschen und falsch ermittelnd zum richtigen Ergebnis kommt, findet eine Fortsetzung in dem Roman Das Versprechen.
„Seine Krimis folgen dem klassischen Schema, ragen aber durch Ironie, Zynismus sowie gesellschaftskritische bzw. philosophische Ansätze weit über das im Genre Übliche hinaus.“[9]
Adaptionen
- Die erste filmische Adaption wurde vom Süddeutschen Rundfunk für das Fernsehen produziert und am 7. September 1957 erstmals ausgestrahlt.[10] Franz Peter Wirth führte Regie. Im Jahr 2012 wurde der Fernsehfilm erstmals auf DVD veröffentlicht.
- Die British Broadcasting Corporation zeigte im Rahmen ihrer Fernsehspiel-Serie BBC Sunday-Night Play eine Adaption der Geschichte unter dem Titel The Judge and His Hangman, die am 17. Dezember 1961 erstmals ausgestrahlt wurde.[11] Frank Pettingell verkörperte die Rolle von Inspector Hans Bärlach, Brian Bedford die von Lieutenant Chanz. Das Fernsehspiel ist bislang noch nicht auf DVD veröffentlicht worden.
- Im Jahr 1968 hat Regisseur Imre Mihályfi einen schwarz-weißen Kriminalfilm fürs ungarische Fernsehen MTV gedreht, der am 16. November 1968 in Ungarn erstmals ausgestrahlt wurde, mit Antal Páger (Bärlach) und Andor Ajtay (Gastman).[12]
- Für Radiotelevisione Italiana drehte Daniele D’Anza im Jahr 1972 eine weitere Verfilmung des Romans unter dem Titel Il giudice e il suo boia.[13] Paolo Stoppa spielte darin die Rolle Bärlachs, Ugo Pagliai verkörperte Tschanz. Der Fernsehfilm wurde im Jahr 2009 erstmals auf DVD veröffentlicht.
- Im Jahr 1974 folgte eine französische Verfilmung in der Regie von Daniel Le Comte unter dem Titel Le juge et son bourreau.[14] Charles Vanel war in der Rolle des commissaire Baerlach zu sehen. Gilles Ségal spielte den lieutenant Terrence, was der umbenannten Figur des Tschanz entsprach. Der Film ist bislang noch nicht auf DVD veröffentlicht worden.
- Eine vielbeachtete Adaption gelang 1975 Maximilian Schell mit dem Film Der Richter und sein Henker: Tschanz wird von Jon Voight und Bärlach von Martin Ritt verkörpert.[15] Dürrenmatt schrieb am Drehbuch mit und ist in einer Nebenrolle als Schriftsteller zu sehen. Im Jahr 2011 erschien der Film auf BluRay. Für diese Edition wurde er in Bild und Ton aufwändig restauriert.
- 1986 produzierte das Schweizer Radio DRS eine zirka 300-minütige Hörspielfassung.[16]
- 1988 erschien ein Comic auf der Grundlage des Romans.[17]
- Am 8. November 2008 wurde die Oper Der Richter und sein Henker von Franz Hummel in Erfurt uraufgeführt.
Siehe auch
- Walter Lüthi (wird im Roman erwähnt)
Buchausgaben
- Der Richter und sein Henker. Benziger, Einsiedeln 1952
- Der Richter und sein Henker. Roman. Mit 14 Zeichnungen von Karl Staudinger. Rowohlt, Reinbek 1955, ISBN 3-499-10150-5
- Der Richter und sein Henker. Die Panne. Verlag Volk und Welt, Berlin 1964 (Nachwort: Hermann Kant)
- Der Richter und sein Henker / Der Verdacht. Die zwei Kriminalromane um Kommissär Bärlach. Diogenes, Zürich 1980, ISBN 3-257-20849-9 (Werkausgabe 16)
- Der Richter und sein Henker. Kriminalroman. Mit zahlreichen Fotos aus dem Film und einem Anhang. Diogenes, Zürich 1985, ISBN 3-257-22535-0
Literatur
- Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Diesterweg, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-425-06037-6
- Bernd Matzkowski: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Bange, Hollfeld 2001, ISBN 3-8044-1733-7 (Königs Erläuterungen und Materialien 42)
- Wolfgang Pasche: Interpretationshilfen Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane. Klett. Stuttgart 1997, ISBN 3-12-922609-5
- Theodor Pelster: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-015374-3
- Walter Seifert: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker. Interpretation. Oldenbourg, München 1975; 5. erg. A. 1996, ISBN 3-637-88616-2
Einzelnachweise
- ↑ Heinz Ludwig Arnold: Annäherung an Friedrich Dürrenmatt. In: ders.: Querfahrt mit Dürrenmatt. Aufsätze und Vorträge. Diogenes, Zürich 1998, ISBN 3-257-23007-9, S. 17–33, Zitat S. 21.
- ↑ Annemarie van Rinsum, Wolfgang van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten. Band 1: Deutschsprachige Literatur (= Kröners Taschenausgabe. Band 420). 2., durchgesehene Auflage. Kröner, Stuttgart 1993, ISBN 3-520-42002-3, S. 36.
- ↑ van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur, S. 464
- ↑ van Rinsum: Lexikon literarischer Gestalten deutschsprachiger Literatur, S. 150
- ↑ So wörtlich vom Schriftsteller in Kap. 13
- ↑ Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 20–24
- ↑ Walter Seifert: Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, Oldenbourg Interpretationen Band 8, 5. überarbeitete und ergänzte Auflage, Oldenbourg Verlag, München, 1988, ISBN 3-486-88616-9, S. 49–54
- ↑ Gerhard P. Knapp: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 2. Auflage, Diesterweg, Frankfurt a. Main 1985, ISBN 3-425-06037-6, S. 12
- ↑ Klaus-Peter Walter (Hrsg.): Reclams Krimi-Lexikon. Autoren und Werke. Philipp Reclam Jun., Stuttgart 2002, ISBN 3-15-010509-9, S. 110.
- ↑ Der Richter und sein Henker (1957) bei IMDb
- ↑ "BBC Sunday-Night Play" The Judge and His Hangman (1961) bei IMDb
- ↑ A bíró és a hóhér (1968) bei IMDb
- ↑ Il giudice e il suo boia (1972) bei IMDb
- ↑ Le juge et son bourreau (1974) bei IMDb
- ↑ Der Richter und sein Henker (1975) bei IMDb
- ↑ Hörspieldatenbank HÖRDAT
- ↑ Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker: Comic auf der Grundlage des Romans. Bern: Zytglogge, 6. Auflage 2003, ISBN 3-7296-0305-1.