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„Individualismus“ – Versionsunterschied

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Der '''Individualismus''' ist ein Gedanken- und Wertesystem, in dem das [[Individuum]] im Mittelpunkt der Betrachtung und der Werte steht. Im Gegensatz zum Individualismus steht der [[Kollektivismus]].
Der '''Individualismus''' bezeichnet ein [[Ethik|ethisches]] Gedanken- und [[Handeln|Wertesystem]] oder eine [[politische Philosophie]], die das [[Individuum]] in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.<ref>{{Literatur |Autor=Ellen Meiksins Wood |Titel=Mind and Politics: An Approach to the Meaning of Liberal and Socialist Individualism |Auflage=1 |Verlag=University of California Press |Datum=1972 |ISBN=0-520-02029-4 |Seiten=6 |Sprache=en}}</ref> Individualistische Theorien gibt es in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.


Mit Individualismus wird auch – besonders im alltagssprachlichen Gebrauch – eine persönliche [[Geisteshaltung]] bezeichnet, bei der möglichst eigenständige Entscheidungen und Meinungsbildungen angestrebt werden, gleichgültig ob sie [[Konformität|konform]] zum gesellschaftlichen Kontext sind oder nicht. Gegensatz ist in diesem Fall der [[Kollektivismus]]. Besonders [[Künstler]] und [[Kreativität|kreative]] Menschen gelten oft als Individualisten in diesem Sinne. Darüber hinaus werden den Individualisten dieser Art oft Eigenschaften wie [[Zivilcourage]], eigenständiges und scharfsinniges Denken usw. zugeschrieben, andererseits aber auch [[Eigensinn]]igkeit und geringe [[Teamfähigkeit]].
==Entwicklung und Folgen des Individualismus==
===Geschichte===
Das Verhältnis des einzelnen Individuums und der [[Gemeinschaft]] (bzw. [[Gesellschaft]]), in der es lebt, ist seit jeher Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während [[Aristoteles]] den Menschen als Gemeinschaftslebewesen ("zóon politikón", wörtlich etwa "das auf eine [[Polis]] angewiesene Tier") auffasste und dies für lange Zeit vorherrschende Ansicht blieb, gab es in neuerer Zeit eine stärkere Betonung des Individuums. Geistesgeschichtlich geschah dies durch den [[Liberalismus]] sowie durch den [[Anarchismus]]. Im Extremfall wurde der Individualismus zum [[Egoismus]] verschärft. Gegenpositionen zum Individualismus wurden z.B. im [[Sozialismus]], im [[Nationalismus]], im [[Panarabismus]] oder im [[Islamismus]] aufgestellt. Auch religiöse Gemeinschaften wie das [[Christentum]] stehen dem Individualismus meist sehr skeptisch gegenüber.


Gerade von Verfechtern der Idee der [[Selbstverwirklichung]] wird Individualismus in Abgrenzung zu Kollektivismus als [[Emanzipation|emanzipatorische]] und [[Zivilisation|zivilisatorische]] Weiterentwicklung interpretiert.
Die Grundidee des Individualismus ist also eine Befreiungsidee. Die Befreiung des Einzelnen von zu vielen Zwängen wird als angenehm empfunden, das [[Kollektiv]] als behindernd und beengend.

Gegner der Idee der Selbstverwirklichung wenden ein, dass Selbstverwirklichung gerade in einem Team / Gemeinschaft erst richtig möglich sei. Der Einzelne werde so aufgrund der sozialen Interaktionen zumindest mehr gefordert, was ein Wachsen der [[Persönlichkeit]]en mit sich bringen könne.

== Entwicklung des Individualismus ==
=== Geschichte ===
{{Belege}}
Das Verhältnis des einzelnen Individuums zu der [[Gemeinschaft]] (bzw. [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]]), in der es lebt, ist von jeher Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während [[Aristoteles]] den Menschen als Gemeinschaftslebewesen ([[Zoon politikon]]) auffasste, gab nach [[Peter Dinzelbacher]] schon seit 1400 eine stärkere Betonung des Individuums, die sich in der [[Aufklärung]] weiterentwickelte. Geistesgeschichtlich geschah dies durch den [[Liberalismus]] sowie durch den [[Anarchismus]]. Im Extremfall wurde der Individualismus zum [[Egoismus]] verschärft. Gegenpositionen zum Individualismus wurden z.&nbsp;B. im [[Sozialismus]], [[Nationalsozialismus]], im [[Nationalismus]], im [[Panarabismus]] oder im [[Islamismus]] aufgestellt. Auch religiöse Gemeinschaften wie das [[Christentum]] stehen dem Individualismus meist skeptisch gegenüber.

Die Grundidee des Individualismus ist eine Befreiungsidee. Die Befreiung des Einzelnen von zu vielen Zwängen wird als angenehm empfunden, das [[Kollektiv]] als behindernd und beengend.


Eine weitere Begründung für den Individualismus wird durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegeben. Das westlich-individualistische System sei das offenkundig leistungsfähigste dieser Erde. Mit diesem Argument wird der allgemeine Wohlstand als Ergebnis vieler Egoismen betrachtet (vgl. [[Adam Smith]]).
Eine weitere Begründung für den Individualismus wird durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegeben. Das westlich-individualistische System sei das offenkundig leistungsfähigste dieser Erde. Mit diesem Argument wird der allgemeine Wohlstand als Ergebnis vieler Egoismen betrachtet (vgl. [[Adam Smith]]).


[[Ferdinand Tönnies]] hat (im Sinne seiner Studie ''[[Gemeinschaft und Gesellschaft]],'' 1887) für Epochen des Individualismus (wie etwa die historische der [[Renaissance]]) die [[Soziologie|soziologische]] These formuliert, es gebe keinen „Individualismus“, der nicht auf „Gemeinschaft“ fuße und in „Gesellschaft“ münde (''[[Geist der Neuzeit]],'' 1935, ²1998).
===Soziale und rechtliche Implikationen===
Der Individualismus hat in unserem Leben eine Fülle von Folgen, die uns nicht immer als Erscheinungen des Individualismus bewusst sind. Dazu gehören die Auflösungen der Familie sowie der Dorf- und anderer Gemeinschaften. Noch vor etwa einhundert Jahren haben sich die Menschen innerhalb ihrer Gemeinschaften organisiert, häufig innerhalb ihrer Berufsgemeinschaften. Es gab Eisenbahnersportvereine, Lehrergesangsvereine und andere Standes- und Berufsvereinigungen, die das gesamte Leben durchzogen.


=== Soziale und rechtliche Implikationen ===
Der Individualismus läuft parallel zu wirtschaftlichen Entwicklungen. Familiäre Rücksichten bei der Arbeitsplatzwahl werden sozial diskreditiert und in vielen Fällen von der Arbeitsagentur nicht als legitim anerkannt. Der [[Kapitalismus]] entwickelt sich um so schneller, je mehr die Menschen ihre früher als normal angesehen Bindungen an [[Familie (Soziologie)|Familie]], [[Beruf]], [[Heimat]], [[Volk]] und [[Staat]] verlieren. Umgekehrt ist es daher auch die [[Wirtschaft]], die den Individualismus fördert und widerstrebende Neigungen negativ bewertet. [[Mobilität]] und [[Flexibilität]] sind die Stichworte, unter denen die Menschen zur Einschränkung oder gar Aufgabe gewachsener Bindungen motiviert werden.
Es gibt eine Fülle von Entwicklungen, die uns nicht immer als Erscheinungen des Individualismus bewusst sind. Noch vor etwa 100 Jahren haben sich die Menschen zum Beispiel in Deutschland innerhalb ihrer Gemeinschaften organisiert, häufig mit Bezug auf die [[Arbeit (Philosophie)|Arbeit]], beispielsweise in [[Gewerkschaft]]en und Berufsgemeinschaften. Es gab Eisenbahnersportvereine, Lehrergesangsvereine und andere Standes- und Berufsvereinigungen, die das gesamte Leben durchzogen.


Deutlich werden die Veränderungen vor allem im Sport durch die Vorbildfunktion einzelner Leistungs- und [[Spitzensport]]ler, denen viele nacheifern.<ref name=":1">{{Literatur |Autor=[[Arnd Krüger]] |Titel=Ein neues Strukturmodell des Zusammenhanges von Leistung- und Breitensport |Sammelwerk=[[Leistungssport (Zeitschrift)|Leistungssport]] |Jahr=1972 |Band=2 |Nummer=6 |Seiten=437-440 |Online=https://www.iat.uni-leipzig.de/datenbanken/iks/open_archive/ls/1972_6_437-440_Krueger.pdf |Abruf=2019-04-05}}</ref> Es gibt eine allmähliche, aber signifikante Zunahme der Individualsportarten gegenüber den Mannschaftssportarten und eine [[Profisport|Professionalisierung]]. Auch in der Musikkultur gewinnen die kleine Gesangsgruppe und einzelne Solisten ein stärkeres Gewicht. Die Entwicklung des musikalischen Startums ist eng mit der massenhaften Reproduktion durch [[Tonträger]] verknüpft.<ref name=":2">Silke Borgstedt: ''Der Musikstar'', 2008, S. 41.</ref> Gleiche Kleidungsstücke als Ausdruck der Zusammengehörigkeit werden in deutlich geringerem Umfang eingesetzt. So hat auch die [[Uniform]]ierung in vielen Berufen abgenommen oder wurde gänzlich aufgehoben, in anderen wird sie außerhalb des beruflichen Bereichs schneller abgelegt als früher.
Auf der anderen Seite entwickelten sich während der Industrialisierung neue Gemeinschaften (z.B. [[Verein]]e), mit der Möglichkeit, die individuellen Interessen zusammen mit gleich Interessierten auszuüben. Unter diesem Aspekt wachsen Individualität und Gemeinschaft paradoxerweise zusammen: Individualität wird meist mit anderen und überlappenden Interessen ausgeübt. Trotzdem bleibt der
Gegensatz zum Kollektiv, dass nun Gemeinschaften sich aufgrund individueller Interessen frei bilden können.


Im Verwaltungsrecht wurden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend die Rechte der Individuen (Anwohner, „Betroffene“ usw.) gestärkt. Das Gemeinschaftsinteresse wird stärker durch die Rechte einzelner gehindert, als dies früher der Fall war. Die Gewichte verschieben sich. Dies gilt für alle Arten von Vorhaben der Gemeinden, Länder und des Bundes. Das Verwaltungsverfahrensrecht kennt eine stetige Stärkung der Rechte des individuellen Bürgers. [[Nimby|„Not in my backyard“]] ist ein häufig beobachtetes Phänomen.
Deutlich werden die Veränderungen auch im Sport. Es gibt eine allmähliche, aber signifikante Zunahme der Individualsportarten gegen über den Mannschaftssportarten. <!-- erscheint mir unglaubwrdig: bitte Quelle! Fussball ist nach wie vor Sport Nr 1 --> Auch in der Breitenkultur gewinnt die kleine Gesangsgruppe ein stärkeres Gewicht gegeünber dem großen Chor. Gleiche Kleidungsstücke als Ausdruck der Zusammengehörigkeit werden in deutlich geringerem Umfang eingesetzt. So hat auch die [[Uniform]]ierung in vielen Berufen abgenommen oder wurde gänzlich aufgehoben, in anderen wird sie außerhalb des beruflichen Bereichs schneller abgelegt als früher. <!-- auch dieses Argument ist schwach, denn Massenmoden wie die Jeans sind auch uniforme Phänomene von heute -->


In der Wirtschaft und auch in den staatlichen Verwaltungen stößt der Individualismus allerdings bereits an Grenzen. Individuelle Ziele der [[Arbeit (Philosophie)|Arbeit]] werden häufig durch Teamziele ergänzt oder ersetzt. Insbesondere in kritischen Bereichen breitet sich die Gemeinschaftsbildung durch „[[Team]]s“ wieder aus.
Im Verwaltungsrecht wurden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend die Rechte der Individuen (Anwohner, "Betroffene" usw.) gestärkt. Das Gemeinschaftsinteresse wird stärker durch die Rechte einzelner gehindert, als dies früher der Fall war. Die Gewichte verschieben sich. Dies gilt für alle Arten von Vorhaben der Gemeinden, Länder und des Bundes. Das Verwaltungsverfahrensrecht kennt eine stetige Stärkung der Rechte des individuellen Bürgers.


== Politischer Individualismus ==
===Wirtschaftliche Betrachtungen===
Politik erfordert die Zusammenarbeit einzelner Menschen. Heute sind viele Gesellschaften teilweise so stark organisiert, dass dem Einzelnen kaum mehr Raum für Selbstbestimmung bleibt.
In der Wirtschaft und auch in den staatlichen Verwaltungen stößt der Individualismus allerdings bereits an Grenzen. Indivduelle Ziele werden häufig durch Teamziele ergänzt oder ersetzt. Insbesondere in kritischen Bereichen breitet sich die [[Gemeinschaft]]sbildung durch "[[Team]]s" wieder aus. Höchstleistungen werden oftmals in Gemeinschaft erbracht. In den Managementtrainings gibt es daher heute sowohl Veranstaltungen mit dem Ziel der Förderung des Egoismus des Einzelnen als auch solche zur Förderung des Teamgeistes.


Der Individualismus spricht sich für die Freiheit des einzelnen Menschen aus. In Abgrenzung zum Anarchismus akzeptiert er staatliche Gesetze, insbesondere dann, wenn sie die Rechtsgüter des Individuums betreffen, also zum Beispiel Leben, Freiheit, Eigentum und Selbstbestimmung.
Literatur hierzu:
Karl Hackstette: Individualistische Unternehmensführung. Eine wirtschaftsphilosophische Untersuchung, Marburg 2003


Der politische Individualismus steht im Gegensatz zum kollektiven Zwang diktatorischer und faschistischer Systeme.
==Politischer Individualismus==
Der Individualismus spricht sich für das unabhängige Leben des Menschen ohne Manipulation durch den Staat oder durch die Gruppe aus und entspricht damit dem [[Anarchismus]] oder in abgeschwächter Form dem [[Liberalismus]].


==Bedeutende Theoretiker des Individualismus==
== Bedeutende Theoretiker des Individualismus ==
===[[Max Stirner]]===
Der Denkansatz zum Individualismus wird bei Stirner besonders deutlich. Sein Buch ''[[Der Einzige und sein Eigentum]]'' beginnt mit der Klage ""''Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.''""


==Kulturvergleich==
=== Max Stirner ===
Das Konzept des Individualismus wird bei [[Max Stirner]] besonders deutlich. Sein Buch ''[[Der Einzige und sein Eigentum]]'' (1844) beginnt mit der Klage:
Der Individualismus hat in der westlichen Welt eine Ausbreitung erfahren, wie es noch nie in der Geschichte der Fall war. Damit steht der Westen im Gegensatz zu den eigenen Traditionen, die nicht-individualistisch waren, aber insbesondere zu allen anderen Kulturkreisen.
Bemerkens- und bedenkenswert ist jedoch, dass keine der Strömungen des westlichen Individualismus, nicht einmal die radikalen Vertreter des US-amerikanischen [[libertarianism]] oder [[Anarchokapitalismus]] ([[Murray Rothbard]], [[Ayn Rand]]), sich auf [[Max Stirner]] berufen, sondern sich sogar ausdrücklich von ihm distanzieren.


:„Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.“
==Literatur==
* [[Franciscus Suarez]]: Über die Individualität und das Individuationsprinzip (Fünfte metaphysische Disputation)'', lateinisch deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Rainer Specht, Hamburg 1976


==Weblinks==
=== Ayn Rand ===
Die Schriftstellerin und Philosophin [[Ayn Rand]] hat mit ihrer Philosophie des [[Objektivismus (Ayn Rand)|Objektivismus]] bedeutende Beiträge zum Thema des [[Normativer Individualismus|Individualismus]] geleistet, indem sie den moralischen Individualismus betonte und für den [[Egoismus|rationalen Egoismus]] argumentierte. In ihren Werken wie ''Anthem'', ''[[Der ewige Quell (Roman)|Fountainhead]]'', ''[[Atlas wirft die Welt ab|Atlas Shrugged]]'' und zusätzlichen nicht-fiktionalen Werken legte sie eine individualistische Ethik dar, die auf Eigenverantwortung und Autonomie basiert. Sie kritisierte vehement [[Totalitarismus|kollektivistische Ideologien]] und setzte sich für den Kapitalismus als politische Systeme ein, die die Rechte des Individuums schützt. Ayn Rand hat den Individualismus in eigenen Worten wie folgt definiert:<blockquote>Der Individualismus betrachtet den Menschen – jeden Menschen – als eine unabhängige, souveräne Einheit, die ein unveräußerliches Recht auf sein eigenes Leben besitzt, ein Recht, das sich aus seiner Natur als rationales Wesen ableitet. Der Individualismus geht davon aus, dass eine zivilisierte Gesellschaft oder jede Form der Vereinigung, Zusammenarbeit oder friedlichen Koexistenz zwischen Menschen nur auf der Grundlage der Anerkennung individueller Rechte erreicht werden kann – und dass eine Gruppe als solche keine anderen Rechte als die individuellen Rechte hat seiner Mitglieder.<ref name=":3">{{Literatur |Autor=Ayn Rand |Titel=Die Tugend des Egoismus: Eine neue Auffassung des Egoismus |Verlag=TvR Medienverlag |Ort=Jena |Datum=2015-11-18 |ISBN=978-3-940431-55-4 |Seiten=129}}</ref></blockquote>

=== Ferdinand Tönnies ===
Der Begründer der deutschen Soziologie [[Ferdinand Tönnies]] belegte in seinem letzten Buch ''Geist der Neuzeit'' 1935 seine soziologische These, dass der Individualismus immer nur eine Zwischenepoche bestimmen könne, weil er nur auf ein maßgeblich „gemeinschaftlich“ eingestelltes Zeitalter folgen könne (nicht: müsse) und notwendig sein eigenes Ende dadurch herauf führe, dass er in ein Zeitalter maßgeblich „gesellschaftlichen“ Charakters münde. (Vgl. sein Grundlagenwerk ''[[Gemeinschaft und Gesellschaft]]'' (1887)).

== Kulturvergleich und Wertesystem ==
Der Individualismus hat hauptsächlich in der westlichen Welt eine Ausbreitung erfahren. Damit steht der Westen im Gegensatz zu allen anderen Kulturkreisen. Bemerkens- und bedenkenswert ist jedoch, dass keine der Strömungen des westlichen Individualismus, nicht einmal die radikalen Vertreter des [[Libertarismus]] oder [[Anarchokapitalismus]] ([[Murray Rothbard]], [[Ayn Rand]]), sich auf Max Stirner berufen, sondern sich sogar ausdrücklich von ihm distanzieren.

Bezüglich eines Wertesystems fokussiert sich der Individualismus auf persönliche [[Ambition]]en und betont neben [[Autonomie]] und [[Selbstverantwortung]] auch Wettbewerbsgedanken sowie Kompetenzdenken. Mit Hinsicht auf den Individualismus in westlichen Kulturen wird besonders auf die letzten Aspekte verwiesen. Individualismus schlägt sich zudem bereits in den Erziehungsformen jeweiliger Kulturen nieder, in denen Kinder generell schon früh zur Selbstständigkeit erzogen werden. So schlafen Kleinkinder in eher westlichen Kulturen beispielsweise meist alleine in einem separaten Zimmer, während sie in eher kollektivistisch geprägten Gesellschaften oft bei ihren Eltern bzw. der Mutter schlafen.

Dennoch kann Individualismus als Wertesystem nicht als starres Konstrukt verallgemeinert werden, da die einzelnen Merkmale in den jeweiligen Kulturen in unterschiedlicher Gewichtung und nicht etwa in ihrer Gesamtheit auftreten. Daher ist auch eine Zuordnung zu rein westlichen Gesellschaften problematisch, wenn auch in der Tendenz zutreffend.

=== Kulturvergleich in der psychologischen Forschung ===
Es gibt Untersuchungen im Bereich der [[Kulturvergleichende Sozialforschung|kulturvergleichenden Psychologie]], welche sich auf individualistische bzw. kollektivistische Kulturen beziehen. In der Regel werden Versuchspersonen aus eher individualistisch geprägten Ländern (z.&nbsp;B. den USA) mit Personen aus eher kollektivistischen Kulturen (z.&nbsp;B. vielen asiatischen Ländern) verglichen. Wichtige Forschungsbeiträge stammen u.&nbsp;a. von Nisbett, Kitayama und Markus (Myers, 2005). Einige ihrer Untersuchungen als Beispiel:
* Man zeigt Probanden ein Bild, auf dem eine Unterwasserszene mit mehreren Fischen dargestellt ist. Auf die Bitte, die Szene zu beschreiben, konzentrieren sich Asiaten vor allem auf die Umgebung bzw. auf die Gesamtdarstellung. Personen aus westlichen Kulturen konzentrieren sich hingegen stärker auf einen der großen, das Bild dominierenden Fische. Sie scheinen somit eher „individualistisch“ vorzugehen.
* Versuchspersonen werden mehrere Stifte vorgelegt. Alle Stifte bis auf einen gleichen sich exakt in ihrem Aussehen, ein Stift hat jedoch eine auffällig andere Farbe. Asiaten wählen zu ca. 65 % einen der gleichfarbigen Stifte. Amerikaner wählen zu einem deutlich höheren Anteil den einzelnen andersfarbigen Stift.
* Versuchspersonen wird ein kleines Quadrat mit einer eingezeichneten Linie gezeigt. Sie werden gebeten, eine weitere Linie in ein zweites Quadrat einzuzeichnen. Asiaten zeigen bessere Leistungen, wenn sie eine Linie, die in ihren Proportionen zum umgebenden Quadrat gleich der ersten Linie sein soll, einzeichnen. Amerikaner zeigen hingegen bessere Leistungen, wenn sie eine Linie, die gleich lang wie die andere sein soll, einzeichnen. Amerikaner können sich somit anscheinend besser an „individuellen“ Objekten und Asiaten besser an „kollektiven“ – also im Bezug zur Umgebung stehenden – Objekten orientieren.

=== Kulturunterschiede ===
In der Analyse kultureller Merkmale ist der Vergleich von Individualismus und [[Kollektivismus]] in deren Ausprägung bei Ländern, Unternehmen, sozialen Gruppen, aber auch Einzelpersonen eine von mehreren beurteilbaren, bewussten und teilweise auch sichtbaren, Dimensionen. Beispiele für vergleichsweise kollektivistische Kulturen sind die [[Chinesische Kultur#Kollektivität|chinesische]] und die [[koreanische Kultur]]. Beispiele für besonders individualistische Kulturen sind die [[USA|US-amerikanische]] und die [[Vereinigtes Königreich|britische Kultur]]. Etwa in der Mitte auf dieser Skala liegen die [[Deutsche Kultur|deutsche]] und die [[japanische Kultur]].<ref name=":4">G. Hofstede und M. Minkov: ''Long- / short term orientation: new perspectives.'' (2010). In: Asia Pacific Business Review. 16 (4). S. 493–504.</ref>

Teilweise werden Individualismus und Kollektivismus jedoch nicht als Gegenpole einer einheitlichen Dimension betrachtet, sondern als zwei unabhängige Dimensionen. Demgemäß seien beispielsweise viele lateinamerikanische Kulturen sowohl hoch individualistisch – sie erreichen dort ähnlich hohe Werte wie die USA –, als auch hoch kollektivistisch. Nur das letztere Merkmal unterscheidet sie deutlich von nordamerikanischen und westeuropäischen Kulturen.<ref name=":5">Dapha Oyserman, Heather M. Coon, Markus Kemmelmeier: ''Rethinking individualism and collectivism. Evaluation of theoretical assumptions and meta-analyses''. In: ''Psychological Bulletin'', Bd. 128 (2002). S. 3–72, {{ISSN|0033-2909}}.</ref>

== Individualismus in der Ökologie ==
In den Diskussionen des [[Naturschutz]]es wurde zunächst gemäß [[Charles Darwin]] vom Individuum ausgegangen: In einem Gebiet koexistieren alle [[Art (Biologie)|Arten]], die dorthin gelangt sind und geeignete Umweltbedingungen vorgefunden haben. Sie sind in ihrer Existenz nicht daran gebunden, für andere oder eine übergeordnete Gesellschaft Funktionen zu erfüllen wie im ökologischen [[Organizismus]]. Der Erklärung dient somit nicht ein funktionaler Bezug auf eine die Individuen umfassende Ganzheit einer Lebensgemeinschaft oder eines [[Ökosystem]]s. Es sind die Bedürfnisse der Individuen, nicht die Funktionsnotwendigkeiten einer Gemeinschaft, die die einzelnen Organismen zwingen, Beziehungen (Konkurrenz um [[Ressourcen]], [[Kooperation]]en) zu anderen herzustellen. Die Veränderung der Gesellschaft, die [[Sukzession (Biologie)|Sukzession]] erscheint ziellos, ihre Richtung hängt von zufälligen Faktoren (Umweltänderungen, Migrationen) ab. Wenn man im Rahmen dieser Theorien überhaupt von Höherentwicklung reden kann, dann ist es eine Verbesserung aus der Perspektive Einzelner, und zwar jener, die sich in der [[Konkurrenz (Ökologie)|Konkurrenz]] um Ressourcen durchsetzen.

Frühe Vertreter des Individualismus in der [[Ökologie]] sind z.&nbsp;B. [[Helmut Gams|Gams]]<ref name=":6">Helmut Gams: ''Prinzipienfragen der Vegetationsforschung. Ein Beitrag zur Begriffsklärung und Methodik der Biocoenologie.'' In: ''Vierteljahresschrift der Naturforschende Gesellschaft Zürich'', Jg. 63 (1918), 293–493.</ref> in Deutschland, Ramensky<ref name=":7">Leonty Grigorevich Ramensky: ''Die Gesetzmäßigkeiten im Aufbau der Pflanzendecke.'' In: ''Botanisches Centralblatt'', Bd. 7 (1926), S. 453–455.</ref> in Russland und Gleason<ref name=":8">Henry Allen Gleason: ''The individualistic concept of the plant association''. In: ''Bulletin of the Torrey Botanical Club''. 53 (1926), Heft 1, S. 7–26, {{ISSN|0040-9618}}</ref> in den USA. In der Ökologie dominierten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts solche Sichtweisen. In den USA wurde der Individualismus etwa ab 1950 einflussreich.<ref name=":9">Annette Voigt: ''[http://mediatum2.ub.tum.de/node?id=632738 Theorien synökologischer Einheiten. Ein Beitrag zur Erklärung der Uneindeutigkeit des Ökosystembegriffs]''. Dissertation, TU München 2008</ref><ref name=":10">[[Ludwig Trepl]]: ''Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.'' 2. Auflage. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-89547-007-4, S. 139–158.</ref>

== Siehe auch ==
* [[Individualisierung]]
* [[Methodologischer Individualismus]]
* [[Personalismus]]

== Literatur ==
* [[David G. Myers]]: ''Social Psychology''. 10. Auflage. McGraw-Hill, New York 2010, ISBN 978-0-07-337066-8.
* [[Georg Simmel]]: ''Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-29473-4.
* [[Hans-Ernst Schiller]]: ''Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus''. Frank & Timme, Berlin 2006, ISBN 3-86596-089-8 (Transfer aus den Sozial- und Kulturwissenschaften; 3).
* Karl Hackstette: ''Individualistische Unternehmensführung. Eine wirtschaftsphilosophische Untersuchung''. Metropolis-Verlag, Marburg 2003, ISBN 3-89518-443-8 (Theorie der Unternehmung; 19).
* [[Christoph Menke]]: ''Innere Natur und soziale Normativität. Die Idee der Selbstverwirklichung''. In: [[Hans Joas]], Klaus Wiegandt (Hrsg.): ''Die kulturellen Werte Europas''. Fischer, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-596-16402-8, S.&nbsp;304–352.
* [[Matthias Junge]]: ''Individualisierung''. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-593-37025-5 (Campus-Einführungen).
* [[Ulrich Beck]]: ''Kinder der Freiheit''. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-40863-1.
* [[Meinhard Miegel]]: ''Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst''. 4. Auflage. Olzog Verlag, München 1998, ISBN 3-87959-500-3.
* [[Ferdinand Tönnies]] (Autor), [[Lars Clausen]] (Hrsg.): ''Geist der Neuzeit. [1935]''. In: ''[[Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe]], Bd. 22''. De Gruyter, Berlin/New York 1998, ISBN 978-3-11-015854-0, S.&nbsp;1–223.
* [[Franciscus Suarez]] (Autor), Rainer Specht (Hrsg.): ''Über die Individualität und das Individuationsprinzip (Fünfte metaphysische Disputation)''. Meiner Verlag, Hamburg 1976, ISBN 3-7873-0376-6 (in lateinischer und deutscher Sprache).
* Karen Gloy: ''Die Selbstsuspendierung des Individualismus. Eine Auseinandersetzung mit unserer westlichen Kultur.'' Königshausen, Neumann Würzburg 2021, ISBN 978-3-8260-7372-4.

== Weblinks ==
{{Commonscat|Individualism|Individualismus}}
{{Wikiquote}}
{{Wiktionary}}
* [http://www.schumpeter.info/text1~1.htm Joseph Alois Schumpeter: Individualismus und gebundene Wirtschaft(1928)]
* [http://www.schumpeter.info/text1~1.htm Joseph Alois Schumpeter: Individualismus und gebundene Wirtschaft(1928)]
* [http://www.inkrit.de/hkwm/documents/Individualismus-HKWM06II.pdf Individualismus] (PDF; 107&nbsp;kB), in: [[Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus]] Band 6 II.
* [http://wn.elib.com/Steiner/Articles/DeInPh_index.html Rudolf Steiner: Der Individualismus in der Philosophie (1899)]
* [http://www.lsr-projekt.de/msinda.html Bernd A. Laska: Anarchistischer Individualismus / Individualanarchismus (1998)]
* [http://www.lsr-projekt.de/msakap.html Bernd A. Laska: Die Anarcho-Kapitalisten und Max Stirner (2000)]
* [http://www.lsr-projekt.de/msee.html Max Stirner: Der Einzige und sein Eigenthum. (1845)]


== Einzelnachweise ==
==Siehe auch==
<references />
[[Individualisierung]], [[Nimby]], [[Bobo]]


{{Normdaten|TYP=s|GND=4131852-3}}
[[Kategorie:Ethik]]
[[Kategorie:Wertvorstellung]]


[[Kategorie:Ethische Theorie]]
[[en:Individualism]]
[[Kategorie:Wertvorstellung]]
[[es:Individualismo]]
[[fr:Individualisme]]
[[he:אינדיבידואליזם]]
[[ja:個人主義]]
[[nl:Individualisme]]
[[pt:Individualismo]]
[[sl:Individualizem]]
[[sv:Individualism]]
[[zh:个人主义]]

Aktuelle Version vom 22. Januar 2025, 21:37 Uhr

Der Individualismus bezeichnet ein ethisches Gedanken- und Wertesystem oder eine politische Philosophie, die das Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.[1] Individualistische Theorien gibt es in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Mit Individualismus wird auch – besonders im alltagssprachlichen Gebrauch – eine persönliche Geisteshaltung bezeichnet, bei der möglichst eigenständige Entscheidungen und Meinungsbildungen angestrebt werden, gleichgültig ob sie konform zum gesellschaftlichen Kontext sind oder nicht. Gegensatz ist in diesem Fall der Kollektivismus. Besonders Künstler und kreative Menschen gelten oft als Individualisten in diesem Sinne. Darüber hinaus werden den Individualisten dieser Art oft Eigenschaften wie Zivilcourage, eigenständiges und scharfsinniges Denken usw. zugeschrieben, andererseits aber auch Eigensinnigkeit und geringe Teamfähigkeit.

Gerade von Verfechtern der Idee der Selbstverwirklichung wird Individualismus in Abgrenzung zu Kollektivismus als emanzipatorische und zivilisatorische Weiterentwicklung interpretiert.

Gegner der Idee der Selbstverwirklichung wenden ein, dass Selbstverwirklichung gerade in einem Team / Gemeinschaft erst richtig möglich sei. Der Einzelne werde so aufgrund der sozialen Interaktionen zumindest mehr gefordert, was ein Wachsen der Persönlichkeiten mit sich bringen könne.

Entwicklung des Individualismus

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Das Verhältnis des einzelnen Individuums zu der Gemeinschaft (bzw. Gesellschaft), in der es lebt, ist von jeher Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während Aristoteles den Menschen als Gemeinschaftslebewesen (Zoon politikon) auffasste, gab nach Peter Dinzelbacher schon seit 1400 eine stärkere Betonung des Individuums, die sich in der Aufklärung weiterentwickelte. Geistesgeschichtlich geschah dies durch den Liberalismus sowie durch den Anarchismus. Im Extremfall wurde der Individualismus zum Egoismus verschärft. Gegenpositionen zum Individualismus wurden z. B. im Sozialismus, Nationalsozialismus, im Nationalismus, im Panarabismus oder im Islamismus aufgestellt. Auch religiöse Gemeinschaften wie das Christentum stehen dem Individualismus meist skeptisch gegenüber.

Die Grundidee des Individualismus ist eine Befreiungsidee. Die Befreiung des Einzelnen von zu vielen Zwängen wird als angenehm empfunden, das Kollektiv als behindernd und beengend.

Eine weitere Begründung für den Individualismus wird durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gegeben. Das westlich-individualistische System sei das offenkundig leistungsfähigste dieser Erde. Mit diesem Argument wird der allgemeine Wohlstand als Ergebnis vieler Egoismen betrachtet (vgl. Adam Smith).

Ferdinand Tönnies hat (im Sinne seiner Studie Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887) für Epochen des Individualismus (wie etwa die historische der Renaissance) die soziologische These formuliert, es gebe keinen „Individualismus“, der nicht auf „Gemeinschaft“ fuße und in „Gesellschaft“ münde (Geist der Neuzeit, 1935, ²1998).

Soziale und rechtliche Implikationen

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Es gibt eine Fülle von Entwicklungen, die uns nicht immer als Erscheinungen des Individualismus bewusst sind. Noch vor etwa 100 Jahren haben sich die Menschen zum Beispiel in Deutschland innerhalb ihrer Gemeinschaften organisiert, häufig mit Bezug auf die Arbeit, beispielsweise in Gewerkschaften und Berufsgemeinschaften. Es gab Eisenbahnersportvereine, Lehrergesangsvereine und andere Standes- und Berufsvereinigungen, die das gesamte Leben durchzogen.

Deutlich werden die Veränderungen vor allem im Sport durch die Vorbildfunktion einzelner Leistungs- und Spitzensportler, denen viele nacheifern.[2] Es gibt eine allmähliche, aber signifikante Zunahme der Individualsportarten gegenüber den Mannschaftssportarten und eine Professionalisierung. Auch in der Musikkultur gewinnen die kleine Gesangsgruppe und einzelne Solisten ein stärkeres Gewicht. Die Entwicklung des musikalischen Startums ist eng mit der massenhaften Reproduktion durch Tonträger verknüpft.[3] Gleiche Kleidungsstücke als Ausdruck der Zusammengehörigkeit werden in deutlich geringerem Umfang eingesetzt. So hat auch die Uniformierung in vielen Berufen abgenommen oder wurde gänzlich aufgehoben, in anderen wird sie außerhalb des beruflichen Bereichs schneller abgelegt als früher.

Im Verwaltungsrecht wurden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend die Rechte der Individuen (Anwohner, „Betroffene“ usw.) gestärkt. Das Gemeinschaftsinteresse wird stärker durch die Rechte einzelner gehindert, als dies früher der Fall war. Die Gewichte verschieben sich. Dies gilt für alle Arten von Vorhaben der Gemeinden, Länder und des Bundes. Das Verwaltungsverfahrensrecht kennt eine stetige Stärkung der Rechte des individuellen Bürgers. „Not in my backyard“ ist ein häufig beobachtetes Phänomen.

In der Wirtschaft und auch in den staatlichen Verwaltungen stößt der Individualismus allerdings bereits an Grenzen. Individuelle Ziele der Arbeit werden häufig durch Teamziele ergänzt oder ersetzt. Insbesondere in kritischen Bereichen breitet sich die Gemeinschaftsbildung durch „Teams“ wieder aus.

Politischer Individualismus

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Politik erfordert die Zusammenarbeit einzelner Menschen. Heute sind viele Gesellschaften teilweise so stark organisiert, dass dem Einzelnen kaum mehr Raum für Selbstbestimmung bleibt.

Der Individualismus spricht sich für die Freiheit des einzelnen Menschen aus. In Abgrenzung zum Anarchismus akzeptiert er staatliche Gesetze, insbesondere dann, wenn sie die Rechtsgüter des Individuums betreffen, also zum Beispiel Leben, Freiheit, Eigentum und Selbstbestimmung.

Der politische Individualismus steht im Gegensatz zum kollektiven Zwang diktatorischer und faschistischer Systeme.

Bedeutende Theoretiker des Individualismus

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Das Konzept des Individualismus wird bei Max Stirner besonders deutlich. Sein Buch Der Einzige und sein Eigentum (1844) beginnt mit der Klage:

„Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein.“

Die Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand hat mit ihrer Philosophie des Objektivismus bedeutende Beiträge zum Thema des Individualismus geleistet, indem sie den moralischen Individualismus betonte und für den rationalen Egoismus argumentierte. In ihren Werken wie Anthem, Fountainhead, Atlas Shrugged und zusätzlichen nicht-fiktionalen Werken legte sie eine individualistische Ethik dar, die auf Eigenverantwortung und Autonomie basiert. Sie kritisierte vehement kollektivistische Ideologien und setzte sich für den Kapitalismus als politische Systeme ein, die die Rechte des Individuums schützt. Ayn Rand hat den Individualismus in eigenen Worten wie folgt definiert:

Der Individualismus betrachtet den Menschen – jeden Menschen – als eine unabhängige, souveräne Einheit, die ein unveräußerliches Recht auf sein eigenes Leben besitzt, ein Recht, das sich aus seiner Natur als rationales Wesen ableitet. Der Individualismus geht davon aus, dass eine zivilisierte Gesellschaft oder jede Form der Vereinigung, Zusammenarbeit oder friedlichen Koexistenz zwischen Menschen nur auf der Grundlage der Anerkennung individueller Rechte erreicht werden kann – und dass eine Gruppe als solche keine anderen Rechte als die individuellen Rechte hat seiner Mitglieder.[4]

Ferdinand Tönnies

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Der Begründer der deutschen Soziologie Ferdinand Tönnies belegte in seinem letzten Buch Geist der Neuzeit 1935 seine soziologische These, dass der Individualismus immer nur eine Zwischenepoche bestimmen könne, weil er nur auf ein maßgeblich „gemeinschaftlich“ eingestelltes Zeitalter folgen könne (nicht: müsse) und notwendig sein eigenes Ende dadurch herauf führe, dass er in ein Zeitalter maßgeblich „gesellschaftlichen“ Charakters münde. (Vgl. sein Grundlagenwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887)).

Kulturvergleich und Wertesystem

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Der Individualismus hat hauptsächlich in der westlichen Welt eine Ausbreitung erfahren. Damit steht der Westen im Gegensatz zu allen anderen Kulturkreisen. Bemerkens- und bedenkenswert ist jedoch, dass keine der Strömungen des westlichen Individualismus, nicht einmal die radikalen Vertreter des Libertarismus oder Anarchokapitalismus (Murray Rothbard, Ayn Rand), sich auf Max Stirner berufen, sondern sich sogar ausdrücklich von ihm distanzieren.

Bezüglich eines Wertesystems fokussiert sich der Individualismus auf persönliche Ambitionen und betont neben Autonomie und Selbstverantwortung auch Wettbewerbsgedanken sowie Kompetenzdenken. Mit Hinsicht auf den Individualismus in westlichen Kulturen wird besonders auf die letzten Aspekte verwiesen. Individualismus schlägt sich zudem bereits in den Erziehungsformen jeweiliger Kulturen nieder, in denen Kinder generell schon früh zur Selbstständigkeit erzogen werden. So schlafen Kleinkinder in eher westlichen Kulturen beispielsweise meist alleine in einem separaten Zimmer, während sie in eher kollektivistisch geprägten Gesellschaften oft bei ihren Eltern bzw. der Mutter schlafen.

Dennoch kann Individualismus als Wertesystem nicht als starres Konstrukt verallgemeinert werden, da die einzelnen Merkmale in den jeweiligen Kulturen in unterschiedlicher Gewichtung und nicht etwa in ihrer Gesamtheit auftreten. Daher ist auch eine Zuordnung zu rein westlichen Gesellschaften problematisch, wenn auch in der Tendenz zutreffend.

Kulturvergleich in der psychologischen Forschung

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Es gibt Untersuchungen im Bereich der kulturvergleichenden Psychologie, welche sich auf individualistische bzw. kollektivistische Kulturen beziehen. In der Regel werden Versuchspersonen aus eher individualistisch geprägten Ländern (z. B. den USA) mit Personen aus eher kollektivistischen Kulturen (z. B. vielen asiatischen Ländern) verglichen. Wichtige Forschungsbeiträge stammen u. a. von Nisbett, Kitayama und Markus (Myers, 2005). Einige ihrer Untersuchungen als Beispiel:

  • Man zeigt Probanden ein Bild, auf dem eine Unterwasserszene mit mehreren Fischen dargestellt ist. Auf die Bitte, die Szene zu beschreiben, konzentrieren sich Asiaten vor allem auf die Umgebung bzw. auf die Gesamtdarstellung. Personen aus westlichen Kulturen konzentrieren sich hingegen stärker auf einen der großen, das Bild dominierenden Fische. Sie scheinen somit eher „individualistisch“ vorzugehen.
  • Versuchspersonen werden mehrere Stifte vorgelegt. Alle Stifte bis auf einen gleichen sich exakt in ihrem Aussehen, ein Stift hat jedoch eine auffällig andere Farbe. Asiaten wählen zu ca. 65 % einen der gleichfarbigen Stifte. Amerikaner wählen zu einem deutlich höheren Anteil den einzelnen andersfarbigen Stift.
  • Versuchspersonen wird ein kleines Quadrat mit einer eingezeichneten Linie gezeigt. Sie werden gebeten, eine weitere Linie in ein zweites Quadrat einzuzeichnen. Asiaten zeigen bessere Leistungen, wenn sie eine Linie, die in ihren Proportionen zum umgebenden Quadrat gleich der ersten Linie sein soll, einzeichnen. Amerikaner zeigen hingegen bessere Leistungen, wenn sie eine Linie, die gleich lang wie die andere sein soll, einzeichnen. Amerikaner können sich somit anscheinend besser an „individuellen“ Objekten und Asiaten besser an „kollektiven“ – also im Bezug zur Umgebung stehenden – Objekten orientieren.

Kulturunterschiede

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In der Analyse kultureller Merkmale ist der Vergleich von Individualismus und Kollektivismus in deren Ausprägung bei Ländern, Unternehmen, sozialen Gruppen, aber auch Einzelpersonen eine von mehreren beurteilbaren, bewussten und teilweise auch sichtbaren, Dimensionen. Beispiele für vergleichsweise kollektivistische Kulturen sind die chinesische und die koreanische Kultur. Beispiele für besonders individualistische Kulturen sind die US-amerikanische und die britische Kultur. Etwa in der Mitte auf dieser Skala liegen die deutsche und die japanische Kultur.[5]

Teilweise werden Individualismus und Kollektivismus jedoch nicht als Gegenpole einer einheitlichen Dimension betrachtet, sondern als zwei unabhängige Dimensionen. Demgemäß seien beispielsweise viele lateinamerikanische Kulturen sowohl hoch individualistisch – sie erreichen dort ähnlich hohe Werte wie die USA –, als auch hoch kollektivistisch. Nur das letztere Merkmal unterscheidet sie deutlich von nordamerikanischen und westeuropäischen Kulturen.[6]

Individualismus in der Ökologie

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In den Diskussionen des Naturschutzes wurde zunächst gemäß Charles Darwin vom Individuum ausgegangen: In einem Gebiet koexistieren alle Arten, die dorthin gelangt sind und geeignete Umweltbedingungen vorgefunden haben. Sie sind in ihrer Existenz nicht daran gebunden, für andere oder eine übergeordnete Gesellschaft Funktionen zu erfüllen wie im ökologischen Organizismus. Der Erklärung dient somit nicht ein funktionaler Bezug auf eine die Individuen umfassende Ganzheit einer Lebensgemeinschaft oder eines Ökosystems. Es sind die Bedürfnisse der Individuen, nicht die Funktionsnotwendigkeiten einer Gemeinschaft, die die einzelnen Organismen zwingen, Beziehungen (Konkurrenz um Ressourcen, Kooperationen) zu anderen herzustellen. Die Veränderung der Gesellschaft, die Sukzession erscheint ziellos, ihre Richtung hängt von zufälligen Faktoren (Umweltänderungen, Migrationen) ab. Wenn man im Rahmen dieser Theorien überhaupt von Höherentwicklung reden kann, dann ist es eine Verbesserung aus der Perspektive Einzelner, und zwar jener, die sich in der Konkurrenz um Ressourcen durchsetzen.

Frühe Vertreter des Individualismus in der Ökologie sind z. B. Gams[7] in Deutschland, Ramensky[8] in Russland und Gleason[9] in den USA. In der Ökologie dominierten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts solche Sichtweisen. In den USA wurde der Individualismus etwa ab 1950 einflussreich.[10][11]

Commons: Individualismus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Individualismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Ellen Meiksins Wood: Mind and Politics: An Approach to the Meaning of Liberal and Socialist Individualism. 1. Auflage. University of California Press, 1972, ISBN 0-520-02029-4, S. 6 (englisch).
  2. Arnd Krüger: Ein neues Strukturmodell des Zusammenhanges von Leistung- und Breitensport. In: Leistungssport. Band 2, Nr. 6, 1972, S. 437–440 (uni-leipzig.de [PDF; abgerufen am 5. April 2019]).
  3. Silke Borgstedt: Der Musikstar, 2008, S. 41.
  4. Ayn Rand: Die Tugend des Egoismus: Eine neue Auffassung des Egoismus. TvR Medienverlag, Jena 2015, ISBN 978-3-940431-55-4, S. 129.
  5. G. Hofstede und M. Minkov: Long- / short term orientation: new perspectives. (2010). In: Asia Pacific Business Review. 16 (4). S. 493–504.
  6. Dapha Oyserman, Heather M. Coon, Markus Kemmelmeier: Rethinking individualism and collectivism. Evaluation of theoretical assumptions and meta-analyses. In: Psychological Bulletin, Bd. 128 (2002). S. 3–72, ISSN 0033-2909.
  7. Helmut Gams: Prinzipienfragen der Vegetationsforschung. Ein Beitrag zur Begriffsklärung und Methodik der Biocoenologie. In: Vierteljahresschrift der Naturforschende Gesellschaft Zürich, Jg. 63 (1918), 293–493.
  8. Leonty Grigorevich Ramensky: Die Gesetzmäßigkeiten im Aufbau der Pflanzendecke. In: Botanisches Centralblatt, Bd. 7 (1926), S. 453–455.
  9. Henry Allen Gleason: The individualistic concept of the plant association. In: Bulletin of the Torrey Botanical Club. 53 (1926), Heft 1, S. 7–26, ISSN 0040-9618
  10. Annette Voigt: Theorien synökologischer Einheiten. Ein Beitrag zur Erklärung der Uneindeutigkeit des Ökosystembegriffs. Dissertation, TU München 2008
  11. Ludwig Trepl: Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 2. Auflage. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-89547-007-4, S. 139–158.