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Ludwig Wittgenstein

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Ludwig Josef Johann Wittgenstein (* 26. April 1889 in Wien; † 29. April 1951 in Cambridge) war einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Er hatte großen Einfluss auf die Philosophiegeschichte: Eine ganze Philosophierichtung, nämlich die (sprach-)analytische Philosophie entstand unter dem Einfluss von Wittgensteins Werken. Darüber hinaus hat er die Logik und die Philosophie der Logik befruchtet.

Leben

Ludwig Wittgenstein war das jüngste von acht Kindern des Großindustriellen Karl Wittgenstein, der vorwiegend in der Stahlindustrie tätig war. Er wurde katholisch erzogen, obwohl drei seiner vier Großeltern aus jüdischen Familien kamen. Wie er selbst zeichneten sich seine Geschwister durch außerordentliche musische und intellektuelle Fähigkeiten aus. Sein Bruder Paul etwa wurde ein berühmter Pianist. Diesen Fähigkeiten stand jedoch eine seelische Labilität gegenüber: Zwei seiner Brüder töteten sich. Auch Ludwig Wittgenstein legte Zeit seines Lebens (insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs) depressive Verhaltensweisen an den Tag und erwies sich im menschlichen Miteinander als einerseits herrisch und rechthaberisch, andererseits als sensibel und unsicher. Alle Zeitgenossen beschreiben Wittgenstein als außerordentlich beeindruckende Persönlichkeit.

Ludwig Wittgensteins intellektuelle Erziehung begann mit häuslichem Privatunterricht in Wien, ab 1903 besuchte er dann die Realschule in Linz (an der zur gleichen Zeit, seit 1900/01, auch Adolf Hitler Schüler war). Am 28. Oktober 1906 immatrikulierte sich Ludwig Wittgenstein an der Technischen Hochschule Berlin, der heutigen Technischen Universität Berlin. Ursprünglich hatte er bei Ludwig Boltzmann in Wien studieren wollen. Für Berlin entschied sich Wittgenstein, weil sein Realschulzeugnis ihm die Einschreibung an der Universität erst nach einem weiteren Studium erlaubte. In Berlin beschäftigte sich Wittgenstein, so die Schwester Hermine in ihren Familienerinnerungen, "viel mit flugtechnischen Fragen und Versuchen." Doch dann zog die Philosophie ihn in seinen Bann. Hermine Wittgenstein notierte: "Zu dieser Zeit oder etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d.h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und so völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam."

Nach dem Abschlussdiplom 1908 ging Wittgenstein nach Manchester, wo er versuchte, einen Flugzeugmotor zu bauen; ein Plan, den er bald aufgab. Dann arbeitete er an "Verbesserungsvorschlägen für Flugzeugpropeller", einem Projekt, für das er am 17. August 1911 das Patent erhielt. Schließlich aber dominierte die Philosophie: Nicht zuletzt auf Anregung Gottlob Freges setzte Wittgenstein seine Studien in Cambridge fort, wo er sich insbesondere mit Bertrand Russell beschäftigte, der sich durch Wittgenstein nach den ersten Begegnungen gar nicht beeindruckt zeigte: "Nach der Vorlesung kam ein hitziger Deutscher, um mit mir zu streiten. .. Eigentlich ist es reine Zeitverschwendung, mit ihm zu reden." (Russell 16.11.1911). Dies sollte sich nicht mal zwei Wochen später ändern: "Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang (ein Österreicher), und ich glaube, wirklich intelligent." (Bertrand Russell an Ottoline Morrell, 29.11.1911). Mit Russells Unterstützung wurde Wittgenstein im November 1911 in die elitäre Geheimgesellschaft Cambridge Apostles gewählt.

Bereits 1911 begann Wittgenstein mit der Arbeit an seinem ersten philosophischen Werk, der Logisch-philosophischen Abhandlung. Diese Arbeit wurde durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg unterbrochen. Das Werk wurde schließlich im Sommer 1918 vollendet. Es erschien jedoch erst 1921 in einer fehlerhaften Version in der Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie. 1922 wurde schließlich eine zweisprachige Ausgabe unter dem heute bekannten Titel der englischen Übersetzung veröffentlicht: Tractatus Logico-Philosophicus. Abgesehen von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und einem Wörterbuch für Volksschulen blieb der Tractatus das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Wittgensteins.

Mit dem Tractatus vollzog Wittgenstein den "linguistic turn" in der Philosophie, die Wendung zur Sprache: Sprache und Denken sind gemäß dieser Auffassung untrennbar miteinander verbunden, einen Satz zu verwenden, ist, den Sinn des Satzes zu denken. Philosophische Probleme zu verstehen heißt wesentlich auch, die Funktionsweise der Sprache zu verstehen. Der Kern von Wittgensteins Frühphilosophie besteht in einer Abbildtheorie der Erkenntnis: die Bedeutung eines Wortes besteht in einem Gegenstand, den es vertritt, und so wie die Gegenstände in einem Tatbestand stehen die Worte im Satz zueinander; es ist die identische Struktur (Anordnung der Bestandteile) von Satz und Wirklichkeit, die die Abbildung dieser durch jenen leistet. "Wahr" sind Sätze, deren vorgestellter Sachverhalt nicht nur in der Wortanordnug, sondern auch in Wirklichkeit besteht, "falsch" sind Sätze, deren vorgestellter Sachverhalt nur in der Wortanodrnung, nicht aber in Wirklichkeit besteht. "Sinnlos" sind "Sätze", die etwas vorstellen, das weder als Wortanordnung noch als Tatsache vorstellbar ist, da es unlogisch ist. Wittgenstein entwickelt im Tractatus neue logische Verfahren (so genannte "Wahrheitstabellen"), die heute in keinem Lehrbuch zur Logik fehlen. "Es handelt sich, ganz eigentlich um die Darstellung eines Systems" (aus einem Brief Wittgensteins an Ficker, den Herausgeber des "Brenner", von dem Wittgenstein eine Veröffentlichung im "Brenner" erhoffte, nachdem etliche Verleger ihm abgesagt hatten). Laut Wittgenstein ist die Logik das Wesen aller Erkenntnis - sowie deren Grenze. Diese Auffassung führte Wittgenstein schließlich zu einer negativen Metaphysik: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt". Der Tractatus schließt mit dem viel zitierten Satz: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Mit der Veröffentlichung des Tractatus glaubte Wittgenstein, seinen Beitrag für die Philosophie geleistet zu haben, und wandte sich anderen Tätigkeiten zu. Zunächst wurde er für einige Jahre Volksschullehrer "in einem der kleinsten Dörfer, es heißt Trattenbach und liegt vier Stunden südlich von Wien im Gebirge" (Brief an Russell), war jedoch bald in pädagogischer Hinsicht überfordert (sowie inhaltlich unterfordert). Er beschäftigte sich außerdem mit photographischen Experimenten, der Bildhauerei, und arbeitete als Gärtnergehilfe in einem Kloster. Von 1926 bis 1928 erstellte er für seine Schwester Margarete Stonborough in Wien ein Haus (Haus Wittgenstein). In diesen Jahren erwies sich Wittgenstein als praktisch tätiger Ingenieur und Architekt, der sich keinesfalls im Elfenbeinturm der Philosophie einschloss. Später schrieb Wittgenstein rückblickend: "Die Arbeit an der Philosophie ist - wie vielfach die Arbeit in der Architektur - eigentlich mehr die/eine Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)"

Ende der 1920er Jahre begann Wittgenstein sich wieder mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Dabei stand er in Kontakt zu den Mitgliedern des Wiener Kreises, dessen Diskussionen er maßgebend beeinflusste. Durch einen Vortrag des intuitionistischen Mathematikers L. E. J. Brouwer wurde er - so zumindest nach einem Bericht von Herbert Feigl - schließlich nachhaltig aufgerüttelt und wandte sich wieder der Philosophie zu. Während dieser "mittleren Phase" vertrat Wittgenstein eine Auffassung, die sich als eine Form des Verifikationismus beschreiben lässt: Die Kenntnis der Bedeutung von Sätzen geht einher mit der Kenntnis der einschlägigen Verifikations- oder Beweisverfahren.

1929 kehrte Wittgenstein als Philosoph nach Cambridge zurück; 1939 wurde er zum Nachfolger George Edward Moores berufen. Während der dreißiger Jahre gab Wittgenstein zahlreiche Kurse und Vorlesungen. Immer wieder versuchte er, seine neuartigen Gedanken, die er unter anderem in Auseinandersetzung mit seinem Erstlingswerk entwickelte, in Buchform zu verfassen und erstellte zahlreiche Manuskripte und Typoskripte. Wichtige Zwischenschritte waren "The Blue Book" (Typoskript eines englischen Diktats) und "The Big Typescript". Trotz seiner intensiven Bemühungen gelang es Wittgenstein jedoch nicht, sein Buchprojekt zu beenden. Erst posthum erschienen im Jahre 1953 die "Philosophischen Untersuchungen", durch die er schnell zu Weltruhm gelangte.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Wittgenstein nochmals praktisch tätig. Er arbeitete als Freiwilliger in einer medizinischen Forschungsgruppe, die den so genannten Wundschock untersuchte, und entwickelte Apparaturen zur kontinuierlichen Messung von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und -volumen. Dabei bediente er sich der Erfahrungen, die er während der Entwicklung seines Flugmotors gemacht hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Wittgenstein seine philosophischen Untersuchungen fort und arbeitete unter anderem an der Philosophie der Wahrnehmung und zu den Themen Gewissheit und Zweifel. Aber auch zu vielen kulturellen und wissenschaftstheoretischen Themen hat Wittgenstein Erhellendes beigetragen. 1939 schrieb er: "Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Dass diese sie etwas zu lehren haben, kommt ihnen nicht in den Sinn."

Wittgenstein starb im Jahre 1951 an Krebs. Seine letzten Worte an die Frau seines behandelnden Arztes, der ihn für die letzten Wochen seines Lebens bei sich zu Hause aufnahm, weil Wittgenstein nicht in ein englisches Krankenhaus wollte, waren: "Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben hatte." Die Frau hatte ihm mitgeteilt, seine englischen Freunde würden ihn am darauffolgenden Tag besuchen.

Zur Entwicklung der Philosophie Wittgensteins

Wenn zwei Philosophen zu ihrer Meinung über Wittgenstein befragt werden, so erhält man häufig nicht zwei verschiedene, sondern vier verschiedene Antworten: zwei unterschiedliche über Wittgensteins Frühwerk (die sich meistens noch relativ ähnlich sind) und zwei unterschiedliche über sein Spätwerk (die sich oft stark widersprechen). Gründe dafür sind unter anderem die elitäre Einstellung Wittgensteins, der besonders in der Frühphase häufig nicht dazu bereit war, ausführliche Erläuterungen zu geben. In der Spätphase war es wohl vor allem Wittgensteins hoher Anspruch an sich selbst, der ihn daran hinderte, flüssig lesbare, klar strukturierte längere Abhandlungen zu verfassen. "Nach manchen missglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, dass mir dies nie gelingen würde. Dass das beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; dass meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Richtung, in einer Richtung weiterzuzwingen."

Das heißt jedoch nicht, dass Wittgenstein nicht schreiben konnte: Die oft als kurze Dialoge verfassten, aphoristischen Bemerkungen seines Spätwerks zeichnen sich teilweise durch außerordentliche stilistische Brillanz aus. Neben der - an der philosophischen Tradition gemessen - ungewohnten Textstruktur gibt es allerdings einen interessanteren Grund für die Meinungsvielfalt über Wittgensteins Schriften: das vollkommen Neuartige an Wittgensteins Art des Philosophierens, besonders in der späteren Phase. Nur wenige Philosophen haben so intensiv über das Wesen der "Philosophie" und des "Philosophierens" nachgedacht wie Wittgenstein besonders in seiner späteren Phase, auf der im Weiteren das Schwergewicht liegen soll.

Wittgenstein hielt die meisten Probleme in der Philosophie für hausgemacht: Vor allem aufgrund oberflächlicher grammatischer Ähnlichkeiten lassen sich viele zu Denkbildern verleiten, die sie zum besten haben. In den Philosophischen Untersuchungen heißt es: "Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen." Weil dies der Fall ist, rennen die Betroffenen immer wieder gegen Wände an, ohne letztlich weiter zu kommen. Zum Beispiel kann die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Sätzen wie "Ich habe einen Stuhl" und "Ich habe einen Eindruck" oder "...Fußjucken" zu der Auffassung verleiten, dass man Eindrücke oder Empfindungen in gleicher Weise "hat" wie "Stühle" (Gegenstände, deren Besitz man durch Verkauf oder Einäscherung verlieren kann), was schließlich dazu führt, als das, was von Worten wie "Eindruck", "Empfindung" oder "Gedanke" (oder auch "Zahl") gemeint wird, unsichtbare Gegenstände anzunehmen, deren metaphysische Abmessungen dann mit entsprechenden "Theorien" oder Innenschauen ermittelt werden sollen. Das Ziel Wittgensteins besteht darin, dem solcherart, wie er meint, von der Sprache in die Irre geführten Denken den Ausweg zu weisen, indem er die normale, gemeinte Verwendung von Worten beschreibt. "Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat."

Bis zu diesem Punkt sind sich die Interpreten der Schriften Wittgensteins noch weitgehend einig. Die entscheidende Trennlinie besteht hinsichtlich der radikalen Schlussfolgerungen, die Wittgenstein aus diesem Ansatz zieht: Die Philosophie "läßt alles, wie es ist." "Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. - Da alles offen liegt, ist auch nichts zu erklären." "Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären." Für Wittgenstein ist das Philosophieren keine "erklärende" Tätigkeit, d. h. er identifiziert keine Wirkweisen welcher Art auch immer, um damit etwas zu erklären. Sondern es handelt sich um eine "therapeutische" (einem Übel abhelfende) Tätigkeit, die allein die Aufgabe hat, philosophische Probleme (innere Verkrampfungen durch irrigen Sprachgebrauch) aufzulösen.

Hinsichtlich der Interpretation dieser Thesen besteht ausgesprochen oder unausgesprochen ein großer Dissens unter den Interpreten Wittgensteins: Denn wenn sie ernst zu nehmen sind, können die Spätwerke Wittgensteins nicht wie sonstige philosophische Werke interpretiert werden, indem versucht wird, die "Hauptthesen" und "Theorien" festzustellen und ihre Entwicklung und Begründung nachzuvollziehen. Denn Wittgenstein hat laut eigenem Bekunden eben keine Thesen oder Theorien aufgestellt. Alles, was Wittgenstein in seinem Spätwerk zu vermitteln trachtete, sind Methoden und Techniken für das Lösen von philosophischen Problemen und intellektuellen Verkrampfungen. Folgende Passage aus den Philosophischen Untersuchungen stellt eine der zentralen Aussage Wittgensteins über seine Methode dar: "Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. ... es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. - Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem".

Die überwiegende Zahl der Wittgenstein-Interpreten nimmt diese Aussagen insofern nicht für bare Münze, als die Exegese der Spätphilosophie Wittgensteins in der Regel auf ähnliche Weise betrieben wird wie die anderer Philosophen: die "Thesen" und "Theorien" von Wittgensteins Spätphilosophie werden ebenso akribisch mit Hilfe philologischer und historisch-kritischer Methoden untersucht, beschrieben und kritisiert wie z.B. die von Immanuel Kant. (Wobei "Verstehen Sie Kant?" analog der Frage "Waren sie auf der Zugspitze?" ist, sich also mit "ja" oder "nein" beantworten lässt, "Verstehen Sie Wittgenstein?" kommt eher "Kennen Sie Berlin?" gleich; es gibt keine scharfe Antwort, trotzdem Grade der Kennerschaft.)

Ein Beispiel für die unterschiedlichen Interpretationsansätze ist der Umgang mit dem Begriff des Sprachspiels, den Wittgenstein oftmals verwendet. Häufig wird die Auffassung vertreten, "Sprachspiel" sei ein Kernbegriff der Philosophie Wittgensteins; es bestehe die Sprache (und - nur durch sie vorhanden - die Welt) laut Wittgenstein in sogenannten Sprachspielen: geregelten (wiederhol- und beschreibbaren) Verläufen zwischen Agenten. Jedoch wird der Sinn dieses Sprachspielbegriffs in Wittgensteins Werken weder widerspruchsfrei noch vollständig bestimmt. Man findet in seinen Texte kaum eine Definition, die über die von "Spiel" in § 66-7, Philosophische Untersuchungen, hinausginge, und definitorische Unschärfe letzlich als Merkmal des von ihr Bestimmten vertritt (vergl. Familienähnlichkeit).

Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach dem Wesen von Bedeutung: Viele Wittgenstein-Interpreten gehen davon aus, dass Wittgenstein eine Bedeutungstheorie zu entwickeln trachtete: Die Bedeutung eines Begriffes besteht in seinem regelrechten Gebrauch, den der Sprachverwender nicht durch Verstehen oder Einsicht, sondern Erziehung, gar "Abrichtung" erwirbt; er lernt das entsprechende Sprachspiel spielen. In der Tat hat Wittgenstein solche Aussagen gemacht, sie aber er selber hat diese häufig konjunktivisch eingeleitet, abweichende Definitionen gegeben und diese Pfad nicht konsquent verfolgt. Die Wittgenstein-Interpreten kritisieren - aus ihrer theoriegeleiteten Perspektive zu Recht -, dass Wittgensteins Theorien nicht einheitlich sind und sich widersprechen.

Doch diese Kritik steht und fällt mit der Behauptung, Wittgenstein habe nicht nur im Tractatus, sondern auch in seiner Spätphilosophie darauf abgezielt, Theorien aufzustellen. Wenn Wittgensteins methodische Äußerungen beim Worte genommen werden, kann diese Behauptung schwerlich aufrechterhalten werden. Wenn Wittgenstein keine Theorien aufstellte, sondern anhand von Beispielen eine Einstellung gegenüber philosophischen Problemen vermitteln wollte, dann versteht sich beinahe von selbst, dass sich einzelne Elemente der Beispiele wie Mitglieder derselben Familie widersprechen können. Denn je nach Beispiel können ganz andere Aspekte von Wichtigkeit sein: Während es für den einen Zweck sinnvoll sein kann Ähnlichkeiten hervorzuheben, kann es für einen anderen notwendig sein Unterschiede zu betonen. Eine Kritik an Wittgenstein auf dieser Grundlage würde nicht die Frage zu beantworten suchen, ob seine Theorien falsch oder richtig sind, sondern welche Beispiele und Aussagen besser oder weniger gut geeignet sind, um das Ziel der Auflösung intellektueller Verkrampfungen zu erreichen.

Vor diesem Hintergrund wird dann auch klar, warum die Begriffe Bedeutung und Sprachspiel von Wittgenstein so scheinbar uneinheitlich und mehrdeutig verwendet werden: Er setzt diese Begriffe nur ein, um gewisse Unterschiede und Ähnlichkeiten hervorzuheben und zu verdeutlichen - mehr nicht. Der Begriff des Sprachspiels hat zum Beispiel zum Ziel gewisse Ähnlichkeiten von Sprachverwendungszusammenhängen mit Spielen zu verdeutlichen. Keineswegs aber hat Wittgenstein behauptet, die Sprache sei ein Spiel bzw. bestehe aus Spielen. Wenn Wittgenstein also sagt, er beschreibe Sprachspiele, so hat dies den Zweck gewisse Verwirrungen oder Unklarheiten zu beseitigen. Ähnliches ist zum Begriff der "Familienähnlichkeit" zu sagen. Auch dieser Begriff dient dazu, Verwirrungen zu beseitigen. Es gibt Fälle, in denen Ähnlichkeiten gesehen werden, wo andere Unterschiede sehen (wie beispielweise beim Vergleich von Fotos zweier Brüder). Viele philosophische Verwirrungen entstehen, weil einer auf einer bestimmten Sichtweise beharrt, obwohl doch auch eine andere möglich wäre. Wenn klar wird, dass die verschiedenen Sichtweisen je nach Zusammenhang ihre Berechtigung haben, 'verschwinden' viele Problem wie von selbst, denn die Verkrampfung ist gelöst. Für verschiedenen Zwecke müssen unter Umständen ganz verschiedene Aspekte hervorgehoben werden. Z.B. führt Wittgestein solipsistische Theorien ad absurdum, indem er die Verwendungszusammenhänge (die Sprachspiele) von Begriffen wie "Denken", "Vorstellung", "Schmerz", "privat" beschreibt. Diese Beschreibungen sind, so wird nicht selten kritisiert, uneinheitlich und unsystematisch. Doch das liegt eben daran, dass Wittgenstein je nach Bedarf verschiedene Unterschiede oder Ähnlichkeiten betont.

Das hat auch Implikationen für die Behandlung von Früh- und Spätphase der Philosophie Wittgensteins. Viele Interpreten stellen die Philosophie des Tractatus und der Spätphase ohne Weiteres nebeneinander. Häufig wird behauptet, dass die Unterschiede eher im Inhalt der vertretenen Theorien bestehen als in der grundsätzlichen methodischen Herangehensweise. Gemäß der radikalen Interpretation der Spätphilosophie Wittgensteins ist ein solches Verfahren jedoch höchst problematisch: Zwischen Tractatus und Spätphilosophie mag es in Einzelheiten Ähnlichkeiten geben, aber der methodische Ansatz ist grundverschieden. Das wird allein schon an der Form der beiden Hauptwerke deutlich. Während der Tractatus durch die hierarchische Nummerierung der Thesen eine geradezu mathematische Stringenz suggeriert und eindeutig theoretische Behauptungen aufstellt, erscheinen die Philosophischen Untersuchungen zuweilen als wildes Durcheinander ohne durchgehenden Zusammenhang. Dieses "Durcheinander" hat aber durchaus seinen Sinn und Zweck - auch wenn der Leser sich sicherlich mehr Erläuterungen gewünscht hätte. Aber vielleicht ist diese Forderung unangemessen. Vielleicht reicht es schon aus, wenn die Leser die methodischen Äußerungen ernster nehmen als sie zunächst geneigt sind. Außerdem können natürlich auch die Leser das Philosophieren abbrechen, wann immer sie wollen...

Für Wittgenstein gilt daher umso mehr, was letztlich für alle Philosophen gilt: Nichts kann das Studium der Originalwerke selbst ersetzen.

Werke

  • Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden Frankfurt am Main,1984 (Preiswerte Taschenbuchausgabe, auch einzeln erhältlich)
  • Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47 Frankfurt am Main, 1991 (Vollständige Wiedergabe seiner letzten Vorlesungen, aufgezeichnet von drei von Wittgensteins Hörern; sie vermitteln ein sehr lebendiges Bild von dem ungewöhnlichen Lehrstil; aus dem Englischen)
  • Ludwig Wittgenstein: "Tractatus logico-philosophicus/Logisch-philosophische Abhandlung" -1959

Literatur

Biographien

  • Kurt Wuchert/Adolf Hübner: Wittgenstein Reinbek bei Hamburg, 1979 (kurz, preiswert, viele Fotos, relativ "leicht" zu lesen)
  • Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies Stuttgart, 1992 (derzeit die wohl beste Biographie mit vielen Zitaten aus Briefen und Tagebüchern; aus dem Englischen)
  • Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre Frankfurt am Main 1988 (sehr ausführlich; aus dem Englischen)
  • Wilhelm Baum: Ludwig Wittgenstein Berlin 1985 (auch span. u. slowenisch)

Einführungen und Monographien

  • Joachim Schulte: Wittgenstein Stuttgart, 2001 (Einführung)
  • Ernst Michael Lange: Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen - Ein kommentierende Einführung Paderborn 1998
  • H.O. Mounce Wittgenstein's Tractatus - An Introduction Midway Reprint (exzellente Einführung für College-Studenten - mit dem Buch hat jeder mal angefangen)
  • Chris Bezzel: Wittgenstein zur Einführung, Hamburg: Junius, 2000, 4. Auflage, ISBN 3885063301
  • Michel Ter Hark Beyond The Inner And The Outer - Wittgensteins's Philosophy of Psychology Dordrecht / Boston / London 1990

Siehe auch

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