Wälsungenblut
Wälsungenblut ist eine Novelle von Thomas Mann. Sie persifliert Richard Wagners Musikdrama Die Walküre, indem sie die snobistische Selbstverliebtheit und inzestuöse Beziehung des reichen, jüdischen Zwillingspaars Siegmund und Sieglind beschreibt.
Inhalt
Herr Aarenhold ist ein jüdischer Privatmann, der vor Zeiten als Bergwerksunternehmer einen „gewaltigen und unversiegbaren Goldstrom in seine Kasse gelenkt“ hat. In seiner Villa leben noch dessen erwachsene Kinder Kunz und Märit, sowie die neunzehnjährigen Zwillinge Siegmund und Sieglind. Während die älteren Geschwister ihren Berufen bzw. ihrer Ausbildung nachgehen - Kunz ist beim Militär, Märit studiert Jura -, sind die vom Schicksal verwöhnten Zwillinge ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und lieben „einander um ihrer erlesenen Nutzlosigkeit willen. Aber was sie sprachen, war scharf und funkelnd gefügt“. Siegmund hat das Studium der Kunstgeschichte wieder aufgegeben, nicht nur weil die Kommilitonen für seine Geruchsnerven zu selten badeten, sondern auch weil er sein nur mittelmäßiges Zeichentalent erkennt und weit davon entfernt ist, „feurige Erwartungen in sein Künstlertum zu setzen.“ Sieglinde ist verlobt und soll demnächst den Ministerialbeamten von Beckerath heiraten. Dieser wird gleich zu Beginn der Erzählung - er ist bei Aarenholds zum großbürgerlichen zweiten Frühstück geladen, das auf zwölf Uhr fällt - erbarmungslos von den spitzzüngigen Geschwistern aufs Korn genommen, ohne ihnen auch nur im mindesten rhetorisch gewachsen zu sein. Seine Reaktion bleibt matt, und die Zwillinge, voller Verachtung für seine „triviale Existenz“, erwarten auch gar nichts anderes von ihm: „Sie ließen seine arme Antwort gelten, als fänden sie, daß sie ihm angemessen sei und daß seine Art die Wehr des Witzes nicht nötig habe.“
Bei Tisch fragt Siegmund den Verlobten seiner Schwester formell um die Erlaubnis, mit Sieglinde ein letztes Mal gemeinsam Wagners Walküre besuchen zu dürfen - als Beckerath zustimmt, stellt sich heraus, dass die Karten längst besorgt sind.
Der Nachmittag ist zumindest für Siegmund zu einem großen Teil ausgefüllt durch die Vorbereitungen für diesen Opernbesuch; als Sieglinde, schon fertig angezogen, bei ihm eintritt, ist er noch dabei, Toilette zu machen. Obwohl es relativ spät wird, nehmen sie sich vor dem Aufbruch noch die Zeit, einander ein wenig zu liebkosen, wie sie es zu tun gewohnt sind. Nun registrieren sie in dieser Szene gegenseitig ihre Haut „Ganz, ganz weich bist du wieder, sagte sie und streichelte seine rasierten Wangen. Wie Atlas fühlen sich deine Ärmchen an, sagte er […].“.
Gezogen von den Pferden Baal und Zampa - das erbetene rassigere Gespann mit den weniger sinnenfrohen Namen Percy und Leiermann benötigen die Eltern an diesem Abend - gelangen sie zum Opernhaus, um auf der Bühne ihre germanischen Spiegelbilder zu sehen.
Vom Opernbesuch zurückgekehrt, trennen sie sich nach einem raschen und wortkargen Beisammensein am Abendessenstisch, doch ist für Siegmund, der sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen hat, klar, dass Sieglinde noch einmal erscheinen und ihm eine gute Nacht wünschen wird. Vor dem Spiegel beginnt er, die vorhin gesehenen Opernposen auszuprobieren, bis er sich mit tragisch schleppenden Schritten zu dem Eisbärenfell, das auf dem Boden liegt, begibt, und dort niedersinken lässt. Sieglinde, die ihn, als sie hereinkommt, nicht gleich erblickt, ist zunächst entsetzt, weil sie glaubt, er habe sich verletzt oder sei krank, lässt sich jedoch dann auf das Fell niederziehen und liebkosen, bis daraus „ein hastiges Getümmel und zuletzt nur noch ein Schluchzen wird.“. Nach diesem inzestuösen Akt fragt Sieglinde ihren Bruder, was denn nun mit Beckerath werde. In der zum Druck freigegebenen Fassung lautet der Schluss der Erzählung „Nun, sagte er, und einen Augenblick traten die Merkzeichen seiner Art sehr scharf auf seinem Gesichte hervor, dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an.“ In der ursprünglichen Fassung hatte Thomas Mann Siegmund sagen lassen: „Beganeft haben wir ihn, den Goi.“
Veröffentlichung
Die Novelle sollte in der Literaturzeitung Neue Rundschau 1906 erstveröffentlicht werden, doch zog Thomas Mann sie kurzfristig zurück, da er Auseinandersetzungen mit der Familie seiner Frau Katia fürchtete, falls das Werk von der Öffentlichkeit als Schlüsselerzählung verstanden werden sollte. Die Januarausgabe der Rundschau musste daraufhin neu gedruckt werden. Wie die Titelfiguren, die in der Erzählung eine inzestuöse Beziehung eingehen, waren Katia und ihr Bruder Klaus Zwillinge und entstammten einer wohlhabenden jüdischen Familie. Erst 1921 erschien die Erzählung in Buchform, illustriert von Thomas Theodor Heine, im Phantasus-Verlag. 1958 wurde die Erzählung in die Stockholmer Gesamtausgabe der Werke Manns aufgenommen. Gegenüber der Urfassung hat Mann den Schluss in den später publizierten Versionen entschärft und die Schlusspointe „Beganeft haben wir ihn, den Goi!“ unterdrückt. Beganeft verdankte Thomas Mann Katias Vater Alfred Pringsheim. Allerdings wusste der Schwiegervater nicht, was sein Schwiegersohn im Sinn hatte, als ihn nach einem jiddischen Ausdruck für einen gehörnten Bräutigam fragte.
Katia Mann äußerte hierzu 1973 in ihren Ungeschriebenen Memoiren: „Wenn Thomas Mann den Eindruck gehabt hätte, zwischen mir und meinem Bruder bestünde eine unerlaubte Beziehung, hätte er sich sofort von mir getrennt oder es verschwiegen, aber es doch nicht in einer Novelle der Welt bekanntgegeben. Es war sonnenklar, daß etwas Derartiges nicht bestanden haben konnte.“
Interpretation
Siegmunds Figur ist geprägt von extremen Ästhetizismus und Narzissmus. Er pflegt sich stundenlang vor seinem Spiegelkabinett, pudert sich, rasiert sich zweimal täglich, parfümiert sich und wechselt mehrmals die Krawatte. Er wird deutlich androgyn gezeichnet und kann sich daher in seiner Schwester wiederfinden. So wird der Inzest zu einer Vereinigung nicht mit der Schwester, sondern mit sich selbst und somit zum Narzissmus: „Du bist ganz wie ich […] alles ist … wie mit mir …“ Die Inzest-Szene auf dem kitschigen Eisbärenfell wird darüber hinaus zu einem ironischen Seitenhieb Thomas Manns auf den Ästhetizismus seiner Zeit. Denn Siegmund kann in seiner Selbststilisierung nur plump nachahmen (auch der Inzest in der Walküre geschieht auf einem Bärenfell), nicht selbst künstlerisch produktiv tätig werden. Daran hindert ihn der Reichtum: „Er war zu scharfsinnig, um nicht zu begreifen, dass die Bedingungen seines Daseins für die Entwickelung einer gestaltenden Gabe nicht eben die günstigsten waren.“ Denn „die Ausstattung des Lebens war so reich, so vielfach, so überladen, dass für das Leben selbst beinahe kein Platz blieb.“ – Der Luxus des bürgerlichen Lebens legt gleichsam die schöpferischen Fähigkeiten Siegmunds lahm. Hier deutet sich der für das Werk Thomas Manns so typische Künstler-Bürger-Konflikt an. Denn auch Thomas Mann befürchtete, durch den Luxus, den die Heirat mit Katia Pringsheim für ihn brachte, seine künstlerische Produktivität zu verlieren. Denn über diesem großbürgerlichem, sorgenfreien Leben schwebte für ihn auch immer die Angst vor dem Dilettantismus. Allerdings war sich Thomas Mann – im Gegensatz zu Siegmund – eben über diese Gefahren im Klaren und konnte sich den Reichtum zu Nutze machen: „Ach, Reichtum ist doch eine gute Sache […]. Ich bin Künstler genug, corruptibel genug, um mich davon bezaubern zu lassen.“[1] Denn die Grundlage für sein Künstlertum ist – immer – die Leidenschaft, die er sich auch angesichts der neuen, verbesserten Lebensumstände beibehalten möchte.
Verfilmung
Die Novelle wurde 1964 unter der Regie von Rolf Thiele verfilmt. Darsteller waren: Rudolf Forster (Graf Arnstatt) - Margot Hielscher (Gräfin Isabella) - Michael Maien (Siegmund) - Gerd Baltus (Beckerath) - Elena Nathanael (Sieglind). Die Sängerin Ingeborg Hallstein hatte einen Gastauftritt in der kleinen Rolle der Comtess Märit Arnstadt.
Anmerkung
Thomas Mann wählte den Namen von Beckerath aufgrund der schwierigen Sammler-Beziehung seines Schwiegervaters Alfred Pringsheim zu Adolf von Beckerath, dem seinerzeit in Berlin bedeutendsten nicht-jüdischen Kunstsammler.
Literatur
- Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. Auflage. Kröner: Stuttgart 2001, ISBN 3-520-82803-0.
Einzelnachweise
- ↑ Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928 . S. Fischer, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-10-048183-6, S. 156.
Weblink
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