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Bundeswehreinsatz in Afghanistan

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Deutsche ISAF-Patrouille: Spähwagen Fennek (vorn) und ATF Dingo (hinten).

Der Deutsche Bundestag beschloss in zwei Abstimmungen am 16. November und 22. Dezember 2001 auf Antrag der von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) geführten rot-grünen Bundesregierung sich an der Terrorismusbekämpfung der Operation Enduring Freedom zu beteiligen sowie am ISAF-Einsatz zur Stabilisierung Afghanistans teilzunehmen. Seitdem ist Deutschland mit heute über 4.000 Soldaten, wobei laut Bundestagsmandat 5350 möglich wären, der drittgrößte Truppensteller der ISAF.

Einsatz

Deutschland hat seit Mitte 2006 die Verantwortung für die Operation in der Nordregion. In seinem Verantwortungsbereich stellt Deutschland in Kunduz und Feyzabad zwei der fünf Provincial Reconstruction Team genannten regionalen Wiederaufbauteams. Diese haben die Aufgabe, die Autorität der Zentralregierung in der Fläche zu stärken und dazu beizutragen, ein stabiles Umfeld für den zivilen Wiederaufbau zu schaffen. Die deutschen PRTs sind vergleichsweise groß, werden allerdings aufgrund des fehlenden Kontakts zur lokalen Bevölkerung und der Verweigerung von Nachtpatrouillen von den Vereinten Nationen als am wenigsten effektiv eingeschätzt.[1] Seit Juli 2008 stellt Deutschland außerdem die schnellen Eingreifkräfte Quick Reaction Force für die Nordregion. Um Kritik der ISAF-Verbündeten zu begegnen, beteiligt sich die Luftwaffe seit Dezember 2009 an Kampfeinsätzen der Royal Air Force im Süden Afghanistans.[2]

2002 übernahm Deutschland außerdem Aufbau und Ausbildung der neuen afghanischen Polizeikräfte. Die durch massive Unterfinanzierung und personelle Unterbesetzung praktisch wirkungslose Mission gilt als einer der entscheidenden Schwachpunkte beim Aufbau einer afghanischen Zentralgewalt.[3] Inzwischen sind auf deutscher Seite 43 Soldaten gefallen.

Führung

Rechtsgrundlage

Der Deutsche Bundestag hat zuletzt am 16. Oktober 2008 der Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mit 442 Ja-Stimmen (77,5 Prozent) von 570 abgegebenen Stimmen zugestimmt.

Am 26. Februar 2010 stimmte der Deutsche Bundestag einer Verlängerung des Afghanistan-Mandats bis Ende Februar 2011 zu. In der namentlichen Abstimmung sprachen sich 429 von 586 Abgeordneten für das neue Mandat aus, abgelehnt wurde es von 111 Parlamentariern, 46 Abgeordnete enthielten sich. Das Mandat sieht vor, dass das Bundeswehrkontingent auf bis zu 5350 Soldaten aufgestockt werden kann.[4]

Kosten

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt bei einem „realistischen Szenario“, von einigen weiteren Jahren Engagement, die Kosten der deutschen Beteiligung auf 26–47 Milliarden Euro. Sollte dieses weiter zunehmen, würde das „Kriegsbudget“ jedoch erheblich wachsen müssen. Bei einem Abzug im Jahr 2011 betrachtet das Institut eine Gesamtsumme von 18–33 Mrd. Euro als realistisch. Die große Spanne erklärt sich nach Angaben des DIW aus „Unsicherheitsfaktoren“ in den Annahmen der Studie. Würde die deutsche Beteiligung länger andauern, könnten die Kosten jährlichen um zusätzliche 2,5-3 Mrd. ansteigen. Offizielle Zahlen bezifferten die Kosten dagegen auf nur 1059 Millionen Euro für 2010.[5]

Einsatzbedingte Zusatzausgaben der Bundeswehr für ISAF[6]

Jahr Personal-
ausgaben
Erhaltung von
Wehrmaterial
Militärische
Beschaffungen
Militärische
Anlagen
Nicht aufteilbare sächliche
Verwaltungsausgaben
Gesamtsumme
2002 35,4 Mio. 42,0 Mio. 122,6 Mio. 19,9 Mio. 86,3 Mio. 306,2 Mio.
2003 66,5 Mio. 56,4 Mio. 137,2 Mio. 10,6 Mio. 112,6 Mio. 383,3 Mio.
2004 66,9 Mio. 82,2 Mio. 94,1 Mio. 9,8 Mio. 84,5 Mio. 337,5 Mio.
2005 68,2 Mio. 75,3 Mio. 101,8 Mio. 27,2 Mio. 104,8 Mio. 377,3 Mio.
2006 92,2 Mio. 70,6 Mio. 99,2 Mio. 52,8 Mio. 186,0 Mio. 500,8 Mio.
2007 112,8 Mio. 102,1 Mio. 86,8 Mio. 56,2 Mio. 157,4 Mio. 515,3 Mio.
2008 120,5 Mio. 136,4 Mio. 52,4 Mio. 36,1 Mio. 156,5 Mio. 501,9 Mio.
2009 157,7 Mio. 184,9 Mio. 101,8 Mio. 51,6 Mio. 172,3 Mio. 668,3 Mio.
Total 720,2 Mio. 749,9 Mio. 795,9 Mio. 264,2 Mio. 1060,4 Mio. 3590,6 Mio.

Rezeption

In einer repräsentativen Befragung im Dezember 2009 bezweifelte eine große Mehrheit der Bundesbürger, dass die Bundesregierung umfassend und ehrlich über den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan informiert. 69 Prozent der Befragten forderten einen möglichst schnellen Abzug der deutschen Streitkräfte; 27 Prozent sprachen sich für eine Fortsetzung des militärischen Engagements aus.[7]

Die zunehmend kritische Bewertung des ISAF-Einsatzes in der öffentlichen Diskussion in Deutschland gründet auf folgenden Befunden: Im konzeptionellen Design der ISAF-Mission seien die extrem defizitären Strukturen des kriegszerstörten afghanischen Staatswesens nicht hinreichend berücksichtigt worden. Faktisch müsse ein "Staatsaufbau ohne Staat" betrieben werden.[8] Die Ziele des Einsatzes seien zu hoch definiert gewesen, "mit Hoffnungen und Illusionen überfrachtet". Die Planer seien auf eine hoffnungsvoll wartende Bevölkerung vorbereitet gewesen, nicht auf wachsenden Widerstand.[9] Die Militäroffensive amerikanischer und britischer Streitkräfte im Süden habe dazu geführt, dass Aufständische in andere Landesteile ausgewichen sind, besonders in den Norden. Der Aufbau der afghanischen Armee und Polizei gehe deutlich langsamer voran als geplant.[10] Das deutsche Engagement bei der Polizeiausbildung sei ungenügend.[11] [12] Die durch die Politik gegebenen Einsatzbeschränkungen der deutschen Soldaten bei gleichzeitig bestehenden Fähigkeitslücken führten dazu, dass der Selbstschutz vor der Sicherheitsherstellung rangiere und die Bundeswehr hauptsächlich mit der Eigensicherung beschäftigt sei. Die zivil-militärische Interaktion sei aufgrund unzureichender Präsenz nur in reduziertem Umfang möglich.[13] Hinzu kommt, dass auch der Beitrag der ISAF unter den Soldaten der US-Armee zunehmend kritischer bewertet wird. Gängig ist dort selbst in Führungskreisen die Uminterpretation “I Suck At Fighting”.

Dokumentationen

  • Sterben für Afghanistan. Deutschland im Krieg (D 2010, Redaktion: Stefan Aust/Claus Richter, ausgestrahlt ZDF 16. März 2010, 21.00h-21.45h).
  • Die Afghanistan-Lüge. Die Soldaten, die Politik und der Krieg (D 2010, Regie: Mathias Feldhoff, Hans-Ulrich Gack, Andreas Huppert), ausgestrahlt ZDF, 8. April 2010, 00.35h-01.20h.
  • Krieg im Indianerland - Die Bundeswehr in Kundus (D 2010,, Regie: Steffen Schwarzkopf, ausgestrahlt N24, 27. Mai 2010, 16.15h-17.00h).
  • An vordersten Fronten (D 2010, Redaktion: Ashwin Raman, ausgestrahlt ARD, 23. September 2010, 00.00h-00.45h).

Belege

  1. Ahmed Rashid: Descent into Chaos: the United States and the Failure of Nation Building in Afghanistan. Viking, New York 2008, ISBN 978-0-670-01970-0. S. 200
  2. Michael Smith: "Von Biggles goes bombing with the RAF ". The Sunday Times (Vereinigtes Königreich), 4. April 2010, abgerufen am 17. April 2010.
  3. Judy Dempsey: Germany Assailed for Training Afghan Police Poorly. International Herald Tribune, 15. November 2006.
  4. Bundestag beschließt Truppenaufstockung Spiegel Online, 26. Februar 2010
  5. Tilman Brück, Olaf de Groot, Friedrich Schneider: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 25. Mai 2010, abgerufen am 20. Juli 2010 (Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 21/2010).
  6. Quelle: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/020/1702026.pdf
  7. http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2009/dezember/
  8. Michael Paul: Zivil-militärische Interaktion im Auslandseinsatz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 48/2009)
  9. Herfried Münkler
  10. Bente Aika Scheller, Heinrich-Böll-Stiftung
  11. Ronja Kempin: "Verschenkte Jahre bei der Polizeiausbildung"
  12. Jens Borchers: Die Mär vom Polizeiaufbau
  13. Michael Paul: Zivil-militärische Interaktion im Auslandseinsatz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 48/2009)