Kollektiv Rote Rübe
Das Kollektiv Rote Rübe war ein linksgerichtetes Münchner Theaterkollektiv in den 1970er Jahren, das von Schauspielschülern gegründet wurde. Die Spielgruppe, die vornehmlich sozialkritische Themen auf die Bühne brachte, galt Mitte der 1970er als erfolgreichste freie Theatergruppe der Bundesrepublik Deutschland.
Bekannte Teilnehmer
Konstantin Wecker schrieb zwischen 1973 bis 1975 seine ersten Bühnenmusiken für Projekte des Kollektivs. Franz-Josef Degenhardt und Ton Steine Scherben arbeiteten für Plattenaufnahmen mit der Truppe zusammen.
Weblinks
Das lädierte Wunder – über das Münchner Kollektiv Rote Rübe und seine neue Show Paranoia, Die Zeit, 25. Juni 1976
Zehn Jahre Theater im Kollektiv.
Dies ist ein Versuch die Geschichte des Theaterkollektivs Rote Rübe zusammenzufassen. Ich beziehe mich dabei auf Unterlagen, die ich noch gefunden habe und meiner eigenen Erinnerung. Da ich zu keinem der ehemaligen Kollektivmitglieder Kontakt habe, bitte ich diese, falls sie auf dieser Seite reinschauen, meinen Artikel zu korrigieren. Ich habe auch noch viele schöne Fotos! Gerlinde Eger/Lennie Johnson
== Die Geschichte des Kollektivs Rote Rübe aus München.
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Der Name Kollektiv Rote Rübe leitet sich von einem Chinesischen Märchen ab in dem erzählt wird, wie ein Kind versucht eine rote Rübe aus der Erde zu ziehen. Es plagt sich ab und schafft es nicht. Kommt ein zweites Kind und hilft ziehen, Rübe bewegt sich nicht. Kommen viele, viele Kinder, hängen sich aneinander und ziehen und ziehen und schwuppdiwupp ist die Rübe raus. Ein Symbol für - genau: Solidarität - für - genau: Gemeinsam sind wir stark.
Weihnachten '71 war der Entschluß gefaßt 12 Leute, eine ganze Klasse der Münchner Otto-Falckenberg-Schauspielschule will nicht einzeln in den konventionellen Karrierebetrieb des bürgerlichen Theaters einsteigen. Sie merken, nach einem Jahr Schule, daß das Erlernte ein Publikum und ein System bedienen soll, mit dem die meisten von ihnen damals auf Kriegsfuß standen. Die Voraussetzungen ein Theater machen zu können, das dicht am Leben steht sind zweierlei: eine gemeinsame politische Motivation und so etwas wie Sympathie, Libido. Es entsteht eine Wohn- und Theatergemeinschaft mit dem Ziel als freie Gruppe zu arbeiten. Innerhalb der Schauspielschule wird ständig Propaganda gegen sie gemacht. Die Schauspielschulen sind schließlich Zulieferbetriebe für die subventionierten Theater - und auf einmal hatte die Otto-Falckenberg-Schule in einem Jahrgang kaum Nachwuchs anzubieten. Eine zeitlang versuchte die Schulleitung sogar einzelne rauszupicken und zu entlassen. Dagegen stand dann immer die Drohung, daß alle gehen würden, wenn so was passiert und konnte somit verhindert werden. Auch gegen das Vorsprechen müssen setzen sie sich zur Wehr. Trotzdem waren einige von ihnen skeptisch. Da heißt es in einem Arbeitsprotokoll: "Unsere Existenz ist jederzeit gefährdet, wir können niemandem eine Zukunftsgarantie geben. Wir haben erst ganz langsam, mit der Arbeit, zu einer politischen Motivation gefunden, haben Schulungen eingeführt (Marx gelesen, mit Kindern in Freizeitheimen gearbeitet), und das hat ein paar Leute abgeschreckt, die meinten, das liefe nun auf eine politische Kadergruppe, nicht auf eine Theatergruppe hinaus."
Nach langen Diskussionen kommen sie zu dem Schluß, daß diejenigen, welche ein neues Theater machen wollen, Basisarbeit machen müssen. Das heißt, daß man Kontakt haben muß zu Leuten, für die man spielen will, daß man Zielgruppen Stücke theoretisch entwickeln muß, die aber von den Betroffenen überprüfbar sind. Sie wollen in drei Richtungen arbeiten, die sich gegenseitig befruchten sollen: Rollenspiele, Agitationsstucke (für ein pluralistisches Publikum) und Zielgruppen Stücke. Doch das theoretische Konzept läßt sich nur zäh in die Realität umsetzen.
An der Schule noch haben sie einen gemeinsamen Feind, der sie solidarisiert. (Die Institution, das etablierte Theater als solches) Dann, später, auf sich selbst gestellt, geht es erstmal unheimlich chaotisch zu. Man sucht eine antiautoritäre Struktur und verzweifelt gleichzeitig am ungewohnten Chaos, den ewigen Diskussionen über jede Kleinigkeit. Dann fällt man wieder zurück auf autoritäre Mechanismen im Kollektiv. Dann sagt man sich wieder: wenn das so ist, dann kann ich ja gleich ans bürgerliche Theater gehen. Natürlich ist man immer wieder verzweifelt, weil alles so langsam geht, aber dann plötzlich macht man einen Sprung und merkt, wie schnell im Grunde so eine emanzipatorische Entwicklung geht, trotz bürgerlicher Erziehung, die wir alle hinter uns haben.
Am Anfang war die Gruppe auf zwei Personen fixiert, Ronny Tanner und Hans Peter Cloos, was zwei regelrechte Fraktionen gab. Die nächste Phase war dann überhaupt keine Autorität mehr zu akzeptieren. Man versucht die antiautoritäre Phase der Studentenbewegung gruppendynamisch nachzuvollziehen. Viele Leute sagten damals zu ihnen: "Ihr macht ja nix, ihr diskutiert ja bloß, und das Produkt, das dabei herauskommt (in dem Fall das Theaterstück "Prometheus"), zeigt ja gar nicht die Menge von Diskussionen." Doch die Gruppe setzt sich sehr selbstkritisch mit ihrer Arbeit auseinander und lernt schnell. Z.b. wird das spätere Stück "Frauenpower" in zwei Wochen gemacht,(laut meinen Unterlagen) wahrend der "Prometheus" noch anderthalb Jahre gedauert hat. Sie entwickeln eine Arbeitsweise, in der mehrere Regie führen. Das heißt: ein üerpruefbarer Apparat, den jeder Schauspieler hinterfragen kann. Diese zwei bis drei Leute haben nicht den Beruf Regisseur. Diese Arbeitsteilung wird für ein Projekt eingeführt, dann wird wieder neu verteilt - die Funktionen wechseln also dauernd. Ein Rotationssystem um es "sauber" zu halten von unterbewussten Machtgelüsten. Wirklich realisiert wird diese kollektive Arbeitsmethode von den Frauen der Roten Rübe, als die das Erfolgsstück "Frauenpower" entwickelten.
Für das nächste Stück gibt sich die Gruppe ein letztes Mal einem Regisseur von Außen hin. Als Auftragsproduktion der Münchner Kammerspiele (der die Schauspielschule angeschlossen ist) werden sie in dem Stück "Stifte mit Köpfen" von Hartmut Baum am "Theater der Jugend" inszeniert. Für diese Produktion dürfen sie allerdings nicht den Namen "Kollektiv Rote Rübe" verwenden.
Aber auch der Verzicht auf den damals provokanten Namen kann den Ärger mit den schwarzen Biedermännern aus den Ministerien nicht verhindern. "Stifte mit Köpfen", ein Stück des Münchner Literaturwissenschaftlers Werner Geifrig wird in seiner frechen Inszenierung zum Stein des Anstoßes. Das Bayerische Ministerium für Unterricht und Kultus will in bewährter Manier seine Schüler zu mündigen Bürgern erziehen und verbietet deshalb allen Lehrern ihre Klassen in das anrüchige Spektakel zu führen. In Dachau bei München spurtete ein Rektor zum Bahnhof und führte eine bereits zur Abfahrt angetretene Klasse wieder in die Schulstube zurück. Eine Volksschullehrerin aus München bedauerte, nicht hingehen zu dürfen: "Ich muß mit strengsten Maßnahmen rechnen." Das Stück handelt von Lehrlingen, die sich solidarisieren und so schließlich über Lehrherren-Willkür siegen. Im ersten Bild schon fällt das Wort "Scheisse". Später singt ein Mädchen "Stifte mit Köpfen sind Pfähle im Fleisch des Kapitals." Und danach tritt eine "Rübe" an die Rampe und tragt vor, was sich im Sommer 1967 in einem Münchner Siemenswerk zugetragen hat: Der Lehrling R. wurde von dem Ausbilder F. in der Toilette beim Onanieren erwischt. Es wurden über Lautsprecher alle Ausbilder zusammengerufen und der Lehrling wurde dann vor 300 Mitlehrlingen als "Schwein" und abstoßendes Beispiel angeprangert. Der Stern berichtete über diesen kleinen Skandal und die Rote Rübe war in aller Munde. Ministerialrat Dr. Eberhard Duemminger erklärt gegenüber der Illustrierten ohne auf die politische Brisanz des Stückes einzugehen nur ganz lapidar: "Das Stuck ist nicht von besonderer Bedeutung für den Unterricht."
Vielleicht nicht für den Unterricht, aber daß die "Stifte mit Köpfen" etwas mit dem Leben von Schülern und Lehrlingen zu tun hatte, zeigte sich bei fast jeder Vorstellung. Ein Schauspieler, der die undankbare Rolle eines Unternehmersprechers hatte und deshalb die Vorstellung immer wieder mit provokanten Äusserungen störte wurde vom aufgebrachten Publikum von der Bühne gezogen. Solch ein starker Effekt im Theater mag uns heute wie ein Märchen vorkommen, doch damals wäre es dem Schauspieler schlecht ergangen, hätte man nicht irgendwann erklärt, daß der Unternehmersprecher ein Schauspieler ist.
Schließlich kauft die größte deutsche Einzelgewerkschaft, die IG Metall das Stück ein und die Gruppe tingelt damit durch mehr als 100 Freizeitheime und Fabriken. War diese Produktion der Roten Rübe noch von einem eher marxistisch klassenkämpferischen Standpunkt aus gemacht, so arbeitete das Nächste eine neue soziale Bewegung auf, die auch für die linken Männer recht überraschend aufgetaucht war und sie bis ins Schlafzimmer verfolgte: die Frauenbewegung, die sich im Kampf für die Abschaffung des § 218 zusammenfand.
"Frauenpower"
In der öffentlichen Auseinandersetzung um die Abtreibung mobilisierten besonders in Bayern kirchliche Verbände gegen jegliche Reform des §218. Als im Juni '73 die Frauen des Kollektiv Rote Rübe mit anderen Feministinnen auf dem Münchner Odeonsplatz zu einer Gegendemonstration gegen die kirchlichen Moralhüter auftraten wurden sie zusammen mit vielen anderen von der Polizei festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt. Es vergingen nur zwei Tage, da fingen die zornigen Frauen an der Revue "Frauenpower" zu schreiben, die Männer waren für dieses Projekt beurlaubt.
Ein Kritiker der Berliner Morgenpost konnte gegen die Inszenierung des Aufbegehrens der Frauen nur mit Zynismus reagieren und schrieb: "Wieder wird die Welt verbessert! Diesmal vom "Jungfrauenkollektiv Rote Rübe". Allein was zum Vorschein kommt ist weniger Wurzelsaft, als ideologischer Dünnschiß. Dilettantisch dargeboten. Titel des Programms: Frauenpower, Ziel: Abschaffung des §218. Rezept: Haut den Ärzten eins aufs Maul! Und den Politikern! Und den Pfaffen! Argument: Unser Bauch gehört uns! Vom Kopf war nicht die Rede; auch erlaubt es unser Grundgesetz, Primitivthesen feilzubieten. Im Brustton sozialen Engagements heißt es dann: Mein Kind wärst du besser tot geboren, als in diesem Elend hier zu leben....Um unseren Elends-Staat zu charakterisieren, verblutet auf der Bühne - nach einem Stricknadelabortus - eine Arbeiterin; Unter den Premierenbesuchern war erwiesenermaßen keine Arbeiterin. Den bösen Männern wird bis zur Machtergreifung noch eine Galgenfrist eingeräumt: Wie singt die Damenriege der Roten Rübe: Mit eurer Herrschaft wird es vorbei sein...Merkt ihr was, Herrschaften?"
Tatsächlich sterben jährlich hunderte Frauen an dilletantisch durchgeführten Abtreibungen. Aber da will keiner hinschauen. Das Dilemma der Frauen: Männer kümmern sich weder um Verhütung noch um ungewollte Kinder. Frauen tragen das ganze Leid und Stigma. Eine Szene des Stücks "Frauenpower", in der gesagt wird, daß reiche Frauen mit viel Geld immer schon leicht zu einer Abtreibung kamen, wird von der Frauenbewegung damals stark kritisiert. Eine soziale Trennscheibe zwischen der Arbeiter- und Unternehmerfrauen soll vermieden werden. Die Gefahr der Zersplitterung der eh noch auf wackligen Beinen stehenden Frauenbewegung ist noch zu groß und erst mal ist Frau Frau, egal wo sie im sozialen Gefüge steht. Doch das Stück ist ein Renner. Der Abschlusssong: "Und dann kommt der Tag, da werden wir frei sein..." wird zum Gassenhauer und dröhnt bei jeder Frauendemo, bei jedem Frauenfest in ganz Deutschland - teilweise bis heute - aus den Lautsprechern.
Für dieses Stück entwickeln die Frauen erstmals einen sehr eigenen Stil, der später zum Markenzeichen der Roten Rübe wird. Sie malen sich die Gesichter grell weiß, die Augen schwarz, die Münder rot, wie das Makeup der Stummfilm Schauspieler war. In Anlehnung an das von Berthold Brecht so benannte Epische Theater tritt dadurch die Person des Schauspielers in den Hintergrund und ermöglicht die Darstellung mehrerer Figuren in einem Stück. So konnte man auf großen Plätzen, oft vor tauenden von Leuten, spielen. Damit auf der lauten Straße sensible Nuancen der Sprache nicht untergehen, spricht man sämtliche Dialoge im Tonstudio auf Band, untermalt von Szenenmusik wie sie im Film fast immer verwendet wird. (Diese stammt bei Frauenpower zum erstenmal von Konstantin Wecker und Peter Michael Hamel). Die Songs - im Stil des damals neu zum Leben erweckten Protestsongs, knallen aggressiv und laut durch das Alltagsgetöse der Städte. Das Spiel ist reduziert auf prägnante Gesten, dem Stummfilm entlehnt. Dieser Stil macht die Gruppe lange Zeit für wirksames politisches Theater bekannt.
Innerhalb der Gruppe verändert die Arbeit an dem Stuck die Arbeitsbeziehung zwischen Männern und Frauen. Technik, Studioarbeit, Bühnenbau und Inszenierung wird von den Frauen allein durchgeführt. Dies macht auch in Zukunft eine gleichberechtigte Arbeit erst wirklich und erhebt die Inhalte der Stücke der Roten Rübe zu echtem Leben. Mit tollen Kritiken in der Tasche und als Heldinnen der Frauenbewegung gefeiert, kommen die Ladies der Roten Rübe nach großer Tournee wieder nach München. Wieder gemeinsam mit den Männern entsteht das zweite Stück für und über Jugendliche: "Bravo, Bravo, verkauft im Stil der neuen Zeit." In der SPD-Wochenzeitung "Vorwärts" vom 21.3.74 findet sich die folgende Kritik von "Bravo, Bravo":
"Thema des Stücks sind die Freizeitprobleme der Jugendlichen, ihr Spiel mit den Träumen vom glücklichen Leben und die miese Realität, die ihnen nur Aggressionen und Frustration lasest. In kurzen Spielszenen, einem realitätsnahen Jargon, wird das Alltags-Freizeitverhalten von neun Jugendlichen aufgezeigt. Das ist vor allem da glänzend gelungen, wo das Imponiergehabe, der Kampf um Statussymbole wie das Motorrad als der Versuch deutlich gemacht wird, vorgegaukelte Verhaltensnormen zu erfüllen. Doch der Umschwung zum gemeinsamen Handeln der Gruppe, die Einsicht, daß ein Freiraum, ein selbstverwaltetes Jugendzentrum geschaffen werden muesste, wird angeklebt wie ein Happy-End, wird nicht im Prozeß der Gruppe einsichtig gemacht."
Die Rübe, bis dahin immer noch nicht subventioniert, verkauft auch "Bravo, Bravo" an die IG-Metall und spielt vor vielen tausend Jugendlichen in ganz Deutschland, die sonst nie ins Theater gehen würden. Gespielt wurde hauptsachlich in Freizeitheimen und Fabriken. Das Stück löst in den meisten Fallen heiße Diskussionen der Lehrlinge über ihre Situation aus.
Nachdem das Stück abgespielt ist, treten fünf Leute aus dem Kollektiv aus. Einer von ihnen arbeitet in Zukunft in einem Jugendzentrum irgendwo im Ruhrpot. Andere wechseln zu Kindertheater, zum Film oder an "etablierte Bühnen" um eine Einzel Karriere anzustreben. Sie wollen ihre Zeit nicht vollkommen dem Klassenkampf widmen, sondern das bestehende Theater nach Möglichkeiten abtasten. Sicher im Vergleich zur engagierten Arbeit der Roten Rübe der leichtere Weg.
Da man ja für eine große Sache gemeinsam aktiv war, sind die Austritte emotional gefärbt: Da heißt es in einem Abschiedsbrief: "Die letzten sechs Monate waren schwer, wichtig und schön. Ich verabschiede mich nicht groß, weil ich nicht weg sein will. Wir arbeiten ja auch weiter in gleicher Richtung und vielleicht noch oft politisch und organisatorisch zusammen. Hoffnungsvoll, solidarisch und traurig. E."
Oder: "Die Vorgänge um den Austritt von Ronny und Ulla zeigen mir auf, daß es in der Geschichte der Rübe und deren Gruppenprozesse nicht gelungen ist, den Begriff SOLIDARITAT praktisch anzuwenden. Konfrontiert mit eurem unsolidarischen Verhalten kann ich meine Traurigkeit und Enttäuschung nicht mehr verbergen. Jeder für sich, Ronny und Ulla, haben euch gegenüber in der Vergangenheit Lebensausserungen getan, daß es an der Zeit wäre deren Qualität und Quantität festzustellen. Das ist umsomehr notwendig als eine Trennung oder Gruppenteilung nach innen und außen existentielle Folgen hat. Das ist bisher nicht geschehen. Somit ist Euer Verhalten gegenüber R. und U. rein privater, die Konsequenzen aber politischer Natur. Ich stelle jetzt hier und heute fest, daß ich mich angesichts dieser ungeklärten Vorgänge solange nicht in der Lage sehe mit euch zusammenzuarbeiten, bis diese Zusammenhänge in ihren Ursachen und Konsequenzen selbstkritisch aufgearbeitet werden. Ich bedaure diese Entwicklung und drücke meine Enttäuschung auf diese Weise aus. Rainer Goetz Otto."
Antwort: "Lieber R.G. Otto am Samstag haben wir deinen offenen Brief bekommen. Es ist nun schon fast ein halbes Jahr her seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Uns geht es sehr gut, die Arbeit kommt auch voran. Bei uns im Kollektiv hat sich einiges verändert, du weißt, daß gerade wir, die wir ernsthaft in kollektivem Zusammenhang stehen ständig mit Veränderungen konfrontiert werden. Da wir uns immer klar und solidarisch über alles unterhalten konnten, fänden wir es dufte, wenn du mal wieder bei uns vorbei kommen könntest. Informier uns rechtzeitig. Mit sozialistischen Grüssen Kollektiv Rote Rübe."
Die Gruppe besteht noch aus drei Männern, Hans-Peter Cloos, Ludwig, Boettger und Hans Georg Berger und zwei Frauen, Katja Rupe und Magdalena Thora. Man wohnt inzwischen in einer Miet Villa in Gruenwald. Das Haus gehört dem Erfinder der Meckifigur "Diel". Die benötigten Kosten für Miete, Unterhalt, Autos, Bühne und Kostüme die vom Kollektiv Rote Rübe eingespielt werden müssen, betragen monatlich zwölftausend Deutsche Mark. Für den Einzelnen schaut nur ein mageres Taschengeld von 200 Mark für Privatkram heraus. Erstmals bekommt die Gruppe von der Stadt München einen JahreszuschuB von 12 000 Mark. Als ökonomische Grundlage gründet man die Firma Rote Rübe GmbH und ist somit Gesellschafter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichzeitig. Aus einer neuen Aufbruchstimmung heraus entsteht ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Roten Rübe: Das Stück "Terror" wird kollektiv geschrieben und inszeniert.
"Terror" In dem bis zum Bersten vollen Münchner Popschuppen "CRASH", in dem normalerweise abgetanzt, gekifft und geschmust wird, heulen im Juni '74 Sirenen auf, in der Ferne detonieren Bomben. Weiß geschminkte Soldaten drängen sich mit Maschinengewehren bewaffnet durchs Publikum. Zwei Flüchtige verstecken sich zwischen den begeisterten und gleichzeitig geschockten Zuschauern. Spanische Kommandos und Satzfetzen schreiend werden die Flüchtigen mit Maschinenpistolen auf die Bühne getrieben. Dort werden sie von einem Soldaten kaltblutig erschossen. Stille. "Wenn euch erstaunt was ihr sehen werdet, findet euch nicht damit ab, betrachtet es genau, denn nichts ist unveränderlich”, spricht sanft und eindringlich eine Stimme aus dem Lautsprecher.
Obwohl Chile weit weg ist, wurden die Rüben knapp zwei Jahre nach Pinochets Mititarputsch und dem Sturz und der Ermordung Allendes mit der brutalen Unterdrückung der Linken dort konfrontiert. Sie lernen politische Flüchtlinge aus Chile in München kennen. Ihre Erfahrungen in Chile, aber auch die in ihrer neuen Heimat, ihrem Exil in Deutschland werden zum Material und zum Anstoß für das Stuck "Terror".
"Bei schönem Wetter lasest es sich im Stadion von Santiago ganz gut leben, “ erklärt der CDU-Mann Bruno Heck nach einem Besuch in dem Massengefaengnis, in dem der Chilenische linke Protestsänger Victor Jara umgebracht wurde. Und Franz Josef Strauss lasest sich im freundlichen Gespräch mit Pinochet fotografieren. Aber auch die SPD duldet mehr oder weniger stillschweigend Folter und Unterdrückung in Chile. Der Rübe geht es in "Terror" darum die Hintergründe und Querverbindungen ins eigene Land aufzuzeigen. Den Finger auf die deutschen Firmen, die von Allende mit der Verstaatlichung bedroht waren und unter Pinochet nach dem Verbot der Gewerkschaften wieder in Ruhe und Frieden die Arbeiter mit Niedrigloehnen dort ausbeuten können zu richten. Zu zeigen, daß der CIA, der Geheimdienst unserer amerikanischen Freunde, den blutigen Putsch und Sturz der Demokratie vorbereitet und unterstützt hat und dies von unserer deutschen Regierung nicht kritisiert wird. Gegen dieses Schweigen, das politische Moral zur Farce macht, erklärten die Rüben die Notwendigkeit und die Aufforderung zum bewaffneten Widerstand dort. Nach den Vorstellungen wird hitzig diskutiert, welche Lehren aus dem Scheitern Allendes zu ziehen sind. Aufrufe nach den Vorstellungen, für den bewaffneten Widerstand in Chile zu spenden, gehen nicht wirkungslos an dem von der Rübe "terrorisierten" Publikum vorbei: 20 000 Mark werden dem Chile Komitee nach erfolgreicher Tournee überreicht.
Die Zeit von "Terror" ist ein Höhepunkt in der Geschichte der Roten Rübe. Die Musik stammt wie bei Frauenpower vom inzwischen als Protest Popikone berühmten Konstantin Wecker. Eine fruchtbare Zusammenarbeit, die zum Erfolg der Stücke der Roten Rübe großen Beitrag leistet. Ohne Popmusik keine Politik. In München uraufgeführt, stößt das Stück in ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland auf starke Betroffenheit. Einladungen kommen aus aller Welt.
The Times, Nov. '74: "Das Stück hat ein bedeutendes und berühmtes Vorbild in Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reichs". Genau wie dieses ist es vorzüglich dokumentiert und klar ausgeführt - es legt den Leichnam Chiles auf die Türschwelle der westlichen Kapitalanleger."
Innerhalb der Münchner Szene stößt der internationale Erfolg der Gruppe auf Kritik. Zwischen Bewunderung und skeptischer Betrachtung des "Berühmtseins" tritt Vorsichtigkeit ein. Dazu kommt daß Katja Rupe in der Filmbranche als erfolgreiche Schauspielerin gehandelt wird, die mit einem Preis, dem "Chaplin Schuh" ausgezeichnet wird. Ihr lastet ein in der linken Szene nicht freundlich begrüßtes Starimage an. Diese Sichtweise beschreibt bereits einen Grundkonflikt, der sich über die Jahre vergrößert und sogar eskaliert. Das Individuum ist grundsätzlich in seiner persönlichen beruflichen Entwicklung durch die Regeln des Kollektivs behindert. Nightingale I hear your trabs...
Für die Gruppe bedeuten Filmgagen von Katja Rupe (und anderen) aber einen wesentlichen Beitrag zur Unkostenbewaltigung. Dreiviertel des Geldes fließen in die Gruppenkasse, ein Viertel darf Katja Rupe behalten, da für sie die Dreharbeiten neben der Theaterarbeit zur Doppelbelastung wird. In Interviews muß Katja Rupe darauf achten, daß sie und auch generell nicht Einzelne hervorgehoben werden. Doch die Presse will immer wieder den "Chef" der Gruppe ausfindig zu machen, würde sie gern zum Star machen. Katja muß in Interviews gegen persönliche Fragen hinsichtlich ihrer Karriere abwehren und immer wieder den kollektiven Geist der Gruppe betonen.
Die Volkstheaterkooperative, ein Zusammenschluß Freier Musik- und Theatergruppen, der auch die Rote Rübe angegliedert ist, hat inzwischen bewirkt, daß staatliche Kulturgelder nicht nur in die etablierten Häuser fließt, sondern zumindest ein Bruchteil auch Freien Musik- und Theatergruppen zur Verfügung gestellt wird. Wie und nach welchen Kriterien eine Verteilung stattfinden soll ist von Anfang an ein Problem und die Diskussionen darum haben sich bis heute nicht geändert. Die in München ansässigen Gruppen kritisieren, daß die Rote Rübe inzwischen mehr im Ausland spielt als im heimatlichen München und somit die Förderkriterien, Münchner Kultur zu fördern, nicht erfüllt. Man kann aber auch nicht übersehen, daß die Rübe wohl am meisten Zuschauer mit ihrem Stücken erreicht und sich zu einem Repräsentanten Münchner Kultur im Ausland etabliert hat.
Wie auch in Zukunft öfters, wird in den Münchner Kritiken das aktuelle Stück mit vergangenen Erfolgshits verglichen und oft despektierlich abgetan, während die auswärtigen bzw. ausländischen Kritiken immer euphorischer werden. Schließlich zieht man die Konsequenz daraus und bringt die Premieren nicht mehr im heimatlichen München sondern in Berlin oder Paris heraus. Für "Viva Italia" im Jahr 1975 produziert, wird Rita Scaturati dazu engagiert.
Viva Italia, Abendzeitung, Feb. '75: "Viva Italia" will den Urlaubstraum vom Bella Italia korrigieren. Faschisten-Attentate, Justiz-Skandale, Folterungen und Strassen-Terror sind der Hintergrund für eher intimere Szenen, in denen auch "chaplineske Komik" eingestreut ist. Während einer Arbeiter Prügelei mit Rechtsradikalen schlitzen zwei Widerstands-Veteranen den Faschisten die Autoreifen auf, werden ertappt und verfolgt. In einem Tabakladen kommt es dann zur großen Abrechnung. Die Links-Veteranen sehen sich plötzlich zwei gezückten Stiletts gegenüber. Da springt die alte Rosa, die Ladenbesitzerin ein, indem sie dem Angreifer ihr entflammtes Feuerzeug unter die Faust hält.
"Trotz ununterbrochener Auftritte (12 Std. Tag ohne Ferien) manövriert die Gruppe ständig am Rande der Pleite. Durch Extra-Engagements einzelner Mitglieder bei Film und Fernsehen kann man zwar einiges dazu verdienen, aber der Traum ist: Für mehr Geld und ein bißchen mehr Freizeit zu arbeiten. Das ist allerdings immer ein unerfüllter Traum geblieben.
1976 produziert die Rote Rübe in Zusammenarbeit mit dem Trikont Verlag das Doppelalbum "kollektiv rote rübe presents". Auf den beiden Platten sind die Stücke "Frauenpower", "Terror", "Viva Italia" "Bravo Bravo" An der Platte haben Hans Georg Berger, Ludwig Boetger, Claudia Brühning, Hans-Peter Cloos, Peter Fischer, Anita von Ow, Katja Rupe, Margherita Scaturati, Ronny Tanner, Hoschi Tiessler, Magdalena Thora und Ulla Ziemann mitgearbeitet. Die Kompositionen sind von Konstantin Wecker und peter Michael Hamel. Die Musiker sind: Raymund Huber, Moran Neumüller, Uwe Rüdiger, Markus Sing, Konstantin Wecker, Rudolf Zöttl, darüber hinaus Wolfgang Dauner, Klaus Doldinger, John Hisemann, Ack van Howen, Howard Johnson, Volker Kriegel, Albert Mangelsdorff, Robert Eliseu, Peter Michael Hamel
Wieder verlassen drei wichtige Säulen das Kollektiv. Hans-Georg Berger, Hoschi Thiessler und Magdalena Thora. Die Entwicklung persönlicher Interessen konnte nicht wirklich in die Arbeit des Kollektivs einfließen, stand eher im Widerspruch zu dem Zugzwang in dem die Freie Gruppe gefangen war. Wer sich weiterentwickeln will, muß gehen. Magdalena Thora geht nach Boston um dort an der Jazzschule zu studieren. Sie ist heute unter dem Namen Leni Stern eine renomierte Jazzerin in New York ist und tourt durch die ganze Welt. Hans-Georg Berger wird Leiter des Münchner Theaterfestivals und Hoschi Thiessler geht zur Selbsterfahrung nach Poona. Es bleiben drei Leute zurück, die unter dem Verlust der Gegangenen leiden. Man hat sich doch über die Jahre aufeinander eingespielt und eng befreundet. Doch es wird weitergemacht.
In dieser Zeit entsteht auch das Drehbuch „Menschenjäger“ von Hans-Peter Cloos, das allerdings nicht verfilmt wird.
Ludwig Boettger, Katja Rupe und Hans-Peter Cloos schreiben im Frühjahr '76 das Stück "Paranoia, eine Revue gegen die Furcht und das Elend in Deutschland" und engagieren drei neue Leute: Alfons Haussmann, Molly Moll und Gerlinde Eger/heute: Lennie Johnson, treten ins Kollektiv ein. Die Musik für "Paranoia" machen zum ersten Mal die "Ton Steine Scherben" mit denen man sich über diesen Arbeitsprozeß eng befreundet.
Das Stück entsteht in einer Zeit in der die großen Ideen vom Weltkommunismus von der Erfahrung des Einzelnen - als wichtiger politischer Moment - verdrängt wird. Eine Erfahrung die das Kollektiv am eigenen Leib erlebt und der sie sich (noch) nicht beugen will. Man glaubt weiterhin an die Möglichkeit einer persönlichen Weiterentwicklung im Kollektiv durch die kollektive Arbeit. Schließlich ist man ein politisches Theater.
Bei "Paranoia" heißt es am Anfang des Stücks: "Viele großen Bücher sind schon geschrieben, viele große Aussprüche sind getan, wir skizzieren euch heute lediglich ein Bild von dem, was gelegentlich hier so läuft, obwohl wir es selber nicht mehr so recht verstehen." "Paranoia" ist in drei Teile gegliedert. Das Erbe, die Nazivergangenheit unserer Eltern, dann eine Bestandsaufnahme des Jetzt und ein Blick in die Zukunft. Im ersten Teil erzählt ein Conferencier in Strumpfhose, Stöckelschuhen und Glitzerjacket wie er früher mit Freunden ängstlich Flugblätter gegen die Nazis druckte, wie sie fast erwischt werden, schließlich aufgeben und sich anpassen. Wie er im Krieg einen Arm verliert und nachher als Tingeltangel Künstler sein Leben fristet. In seinem Song erzählt er: "Ja Mann, wie der Vogel den Kopf in den Sand steckt, haben wir beim Lachen das Sehen vergessen und als wir es sahen, blieben wir stumm." Und: "...doch wenn ich dann selbst im Auto nach Buchenwald gefahren würde, und da würden zwanzig Mann kommen und den Transport stoppen, das wäre stark."
Im zweiten Teil erzählt ein Rocker Geschichten aus seinem Viertel: der arbeitslose Ponkowsky, der im Arbeitsamt rumballert, die Hure Holly, die den Bullen auf den Leim geht, wie die Türkin Shirin bei einem Arbeitsunfall an der Akkordmaschine umkommt und - wie ein deutsches Staatsoberhaupt Unterricht nimmt bei seinem Schauspielerfreund um wirkungsvoll und eindrücklich sein reaktionäres politisches Programm beim Volk anzubringen. Als Vorlage dient die "Sonthofener Rede" von Franz Josef Strauss. Dann singt der Rocker: "Alle sagen ich war das Letzte, ein Nichts, alle sagen: das läuft nicht Junge, du bist ne Null, ich aber sage: Schluß mit der Scheisse, jetzt steig ich ganz groß ein..." Danach rast er mit dem Motorrad an einen Baum und ist tot. Die fetzige Rockmusik der "Ton Steine Scherben" läßt keinen im Publikum stillsitzen. Die große Stärke der Roten Rübe mit den Stilmitteln der Zeit, dem Jargon und der Philosophie der jungen Leute ihre Visionen zu vermitteln ist nach wie vor einzigartig und nur mit anderen internationalen Gruppen wie La Mama (New York), Peter Brook (Paris) oder dem Living Theater (Amerika/Europa) zu vergleichen. Die Vorstellungen sind nach wie vor ausverkauft und ein begeistertes Publikum feiert das Kollektiv, das inzwischen gut zusammengewachsen ist, wo immer sie auftauchen. Man tingelt durch die Lande durch Deutschland, Schweiz, Holland, Frankreich, Italien, Dänemark, Österreich.
Der dritte Teil von "Paranoia" beschäftigt sich mit der Anti AKW Bewegung, mit den Demonstrationen in Wackersdorf und Whyl. Recherchen vor Ort garantieren die Authentizität der Inhalte. Die Gruppe nimmt aktiv am politischen Geschehen teil, setzt sich hin und schreibt ein Stück. So haben Brecht, Piscator, Mayakowski und Augusto Boal gearbeitet.
In "Paranoia" erzählt nun eine Bauersfrau aus Whyl wie sie durch die Anti AKW Bewegung politisch zu Denken anfängt und ihr bisheriges Leben kritisch hinterfragt. Wie dieses Nachsinnen Auswirkungen bis ins häusliche Ehebett hat, daß sie mit ihrem Polizistengatten teilt. Dieser sieht sich selbst als Opfer des Systems. Als er auf die Anti AKW Demo auf die Demonstranten losgehetzt wird, sieht er sich mit Knüppel und Pistole seinen eigenen Freunden und Nachbarn gegenüberstehn, die ihm die Pistole wegnehmen und ein "ernstes Wörtchen" mit ihm reden. Er tritt der Anti AKW Bewegung bei und am Schluß des Stücks singen alle: "Kommt heraus ihr Brüder und Schwestern, kämpft mit uns, und fürchtet euch nicht..."
Das Stück, besonders die Alltagshorrorgeschichten des Rockers werden von einigen Leuten aus der damaligen linken Szene als übertrieben empfunden. "Bildzeitungsstil" sagen sie. Aber wie immer sind die Meinungen geteilt und die Rote Rübe bietet nach vielen Vorstellungen Diskussionen über den Inhalt des Stücks an, wo es nach wie vor heiß her geht. Das Publikum ist eine Mischung aus den damaligen politischen Gruppierungen. Die sogenannten K-Gruppen, KPD, DKP, KPD/ML, verschiedene Studentenorganisationen mit den wildesten Namen, dann die "Arbeitersache", die "Spassguerilla", "Tunix", die Frauenbewegung mit ihren verschiedenen inhaltlichen Auslegungen. Die Arbeiter selbst, früher von der Gewerkschaft IG Metall zu Rote Rübe Veranstaltungen gekarrt, bleiben nun eher weg.
Es entsteht eine neue Schallplatte mit den Songs und Szenen Ausschnitten aus "Paranoia". Musik: Ton Steine Scherben, Verlag: Trikont Verlag München.
Innerhalb der Gruppe gibt es Diskussionen, ob man am alten Rübe Stil, den weiß geschminkten Gesichtern, Stummfilmgesten und Playbackszenen wo man als Schauspieler wie an unsichtbaren Fäden vom Band dirigiert wird, festhalten soll. Als man für einige Vorstellungen noch mal "Terror" spielt, stimmen die Stimmen auf dem Band nicht mehr mit dem aktuellen Schauspielern ueberein. Doch das Stilmittel ist bereits ein Markenzeichen, dem man sich verpflichtet fühlt. Deshalb löst man die Form im nächsten Stück nur teilweise auf. Es muß wieder rasend schnell produziert werden, weil das Geld knapp ist.
Traute Hoess, bis heute eine renomierte deutsche Schauspielerin (Nestroypreis) - ein Gründungs- Mitglied aus der Zeit der Otto Falckenberg Schule, tritt dem Kollektiv wieder bei. Auch Artur Albrecht und Caroline Channioleau werden für das neue Stück "Liebe Tod Hysterie" ein Zirkus, verpflichtet.
Noch nicht genügend ausgeprobt und mit heftigen gruppeninternen Problemen belastet, tritt man die Premiere an. Von Außen und Innen ist ständig der Druck da, weiterhin die Erfolgsgruppe zu sein, die unheimliche Reißer liefert. Während die Rote Rübe sich dem Thema "Burgerinitiative" zuwendet, fordern viele Zuschauer enttäuscht, daß der RAF nicht mehr Raum eingeräumt wird und sie nicht zum bewaffneten Widerstand innerhalb Deutschlands aufruft.
Für das neue Stück "Liebe Tod Hysterie" verweigert die Stadt München den Zuschuß. Eine Gruppe die jährlich 'zigtausend Leute erreicht mit ihren Stücken ohne Geld arbeiten zu lassen, wird wieder mit dem alten Argument gerechtfertigt daß zu wenig in München gespielt wird. Die Rote Rübe kontert bewußt theatral: Sie ziehen sich im Kulturreferat nackt aus und werfen "das letzte Hemd" dem Referenten, Herrn Kolbe vor die Füße. Die vorab benachrichtigte Presse macht Fotos von den Splitternackten und druckt es in allen führenden Zeitungen. Danach ist die Stadt bereit zu verhandeln und "Liebe Tod Hysterie" wird zur Auftragsproduktion des ersten Münchner Theaterfestivals.
Bei einer Aufführung auf dem Theaterfestival, es war der Tag an dem die Nachricht vom Tod der RAF Mitglieder Holger Meins, Gudrun Ensslin und Andreas Baader alle schockierte, springt ein Zuschauer in die Zirkusarena und schlägt einen Schauspieler nieder, der einen Folterknecht darstellt, der einen politischen Gefangenen mißhandelt. Durchs Scheinwerferlicht geblendet und nicht wissend was auf ihn zukommt schlägt der Schauspieler zurück. Alle sind sehr nervös an dem Tag. Auch die Rote Rübe wird in dieser Zeit, dem "deutschen Herbst" von 1978 als sie auf Tournee ist, mit Maschinenpistolen aus den Autos kommandiert und durchsucht. Die Vorstellung an diesem Tag muß unterbrochen werden weil ein Tumult entsteht. Man diskutiert was passiert ist, alle schreien durcheinander. Jedem liegt der undurchsichtige Tod der Mitglieder der Baader Meinhof Gruppe im Magen. Die politische Brisanz der Inhalte des Theaters der Roten Rübe ist wieder einmal hautnah spürbar. Das Publikum aber auch Gerlinde Eger/Lennie Johnson, die in der Szene "Tod in der Zelle" Ulrike Meinhof darstellt, kann sich privater Tränen an diesem Tag nicht erwehren. In dem Franca Rame Text, der vom Band kommt, während Ulrike Meinhof erhängt in der Zelle baumelt, heißt es: "Weiß ist das Neonlicht das Tag und Nacht brennt, aber was ist Tag was ist Nacht wie soll ich das wissen?" Isolationshaft ist Folter und die Rote Rübe tut was sie kann um diese Information über den Alltag politischer Gefangener in deutschen Gefängnissen unter die Leute zu bringen.
Es gibt natürlich Pressestimmen, die das Stück nicht mögen: So schreibt das Erlanger Tagblatt: "Es fällt nicht leicht, einer Gruppe, der man lange vorhielt: macht mehr Theater und weniger Agitprop, jetzt zu sagen: macht weniger Zirkus, dafür mehr konkrete Aussagen. Und es fällt schwer, einem einstmals allzu Zielstrebigen und jetzt sichtlich Irritierten die frühere Leitfaden-Beckmesserei und jetzt orientierungslose Irritation vorzuwerfen. Das Milchmädchen Polit-Revue hat sich zum schlüpfrigen Theater-Dämchen mit Weltekel gewandelt; die Propaganda in endlose Traumbildnisse über Exzesse, Stille, Trauer, Leid, Angst, Leidenschaft, Traum, Erotik, Screen, Sex, Mysterien, Visionen, Rituale, Chaos gebettet. Viel Gebrüll um zu sagen: Die Welt ist schlecht; nur mit Anarcho-Theater kommt man ihr noch bei."
Die Probenarbeit zu "Liebe Tod Hysterie" wird bis hin zur Premiere auf dem Theaterfestival München von einem Filmteam begleitet. Werner Stumpf macht einen Dokumentarfilm als Abschlussfilm an der Münchner Filmhochschule. Titel: "Rote Rübe - Theater im Kollektiv".
ROTE RUEBE Theater im Kollektiv ein FILM von W. Stumpf Regie: Werner Stumpf - Kamera: Jürgen Bretzinger - s/w, 16mm magn.ton Produktion: Hochschule für Fernsehen u. Film Muenchen 1977/78 Länge: 60 Minuten.
Text zum Film: DIE THEATERGRUPPE "Kollektiv Rote Rübe" ist eine freie Münchner Theatergruppe, die 1971 von acht Schauspielschülern gegründet wurde. Das Ziel ihrer Arbeit ist engagiertes politisches Theater, das den Menschen Spaß an Veränderungen bringen soll. Sie haben ein Haus gemietet, um dort gemeinsam leben und arbeiten zu können. Sie nennen sich Theaterkollektiv. Von den geringen Subventionen der Stadt München können sie nicht leben, geschweige denn neue Produktionen finanzieren. Haupteinnahmequellen sind Tourneen im In- und Ausland. Die "Rote Rübe ist neben dem politischen Engagement ihrer Stücke besonders durch einen eigenen Theaterstil bekannt geworden. Weiß geschminkte Gesichter verbergen die Individualität der Personen, ihre Gestik hat sich auf das Wesentliche reduziert, und weil sie sich auch als Straßentheater verstehen und auch im Verkehrslärm verstanden werden wollen, spielen sie Texte und Lieder mit Playback.
Mit den Stuecken FRAUENPOWER, TERROR, und VIVA ITALIA wurde die Gruppe auch im Ausland bekannt und als wichtigstes deutschsprachiges Polittheater gefeiert. Dem Film über die "Rote Rübe" liegt das Stuck: LIEBE TOD HYSTERIE - EIN ZIRKUS zugrunde, das im Herbst '77 auf dem Theaterfestival in München Premiere hatte. Darsteller: Artur Albrecht, Ludwig Boettger, Caroline Chaniolleau, Hans-Peter Cloos, Gerlinde EgerLennie Johnson, Alfons Haussmann, Traute Hoess und Molly Moll. Musik: TON STEINE SCHERBEN.
DER FILM Als ich das erste Mal bei den Proben zuschaute, erlebte ich eine Gruppe, die Spaß untereinander hatte, die mit viel Spontaneität Szenen dort zu entwickeln verstand, wo Theater lebendige und bunte Arbeit und nicht Selbstgefälligkeit und Sterilität ist. Ich war begeistert und wollte vielen anderen mit diesem Film davon erzählen. Dann allerdings mußte ich erleben, wie mein Glaube an diese bunten, froehlichen Theatermacher zunaechst einmal bis auf einen kläglichen Rest schrumpfte. Der Probenstress wuchs. Und mit ihm das Chaos, in dem allzuviel unterging. Die Dreharbeiten begannen wahrend der Proben zu LIEBE TOD HYSTERIE. Von da beobachteten wir die Gruppe über zwei Monate. Mit der Premiere des Stucks war auch der Film abgedreht.
Als Filmhochschueler hatte ich zwar nur einen geringen Etat zur Verfuegung, jedoch den Vorteil, wesentlich unbürokratischer als bei Fernsehanstalten ueblich und ohne jede Auflage drehen zu können. Das Team bestand nicht aus Profis, aber aus Leuten, die sich für den Film einsetzten, und nur so war es möglich, über zwei Monate hinweg immer wieder bei der "Rübe" zu sein, sie bei den Proben und allen anderen Vorbereitungen für das Stuck zu beobachten.
Der Film ROTE RUBE - THEATER 1M KOLLEKTIV zeigt die "anderen" Theatermacher bei ihrer Arbeit, man erlebt sie bei sich zu Hause und sieht ein Theaterstück entstehen. Ausschnitte von der Premiere stehen am Ende des Films.
Die ROTE RUBE machte während der Probenzeit eine schwere Krise durch, die uns schon die Auflösung der Gruppe, zumindest aber ein Platzen des Stücks befürchten ließ - auch das ist ein Teil dieser Dokumentation.
Außer der oben genannten Regie u. Kamera arbeiteten am Film mit: 2. Kamera: Sari Oezaidin, 3. Kamera: Berthold Mittermayer, Ton: Jan-Christian Martens, Tonassistenz u. Aufnahmeleitung: Hans Peter Vogt, Fotograph: Henry Hauck, Schnitt: Werner Stumpf.
DER REGISSEUR Werner Stumpf wurde 1952 in Düren geboren. Er besuchte das Gymnasium und studierte später Theaterwissenschaft und Germanistik in Köln. Er brach das Studium ab, um nach München an die Hochschule für Fernsehen u. Film zu gehen. Nach einem ersten Spielfilmversuch begann er dokumentarisch zu arbeiten. ROTE RUEBE - THEATER 1M KOLLEKTIV ist sein dritter Film und Abschlussarbeit an der HFF.
Die Musikkassette "Liebe Tod Hysterie", ein Zirkus" mit Musik der Ton Steine Scherben kommt auf den Markt.
"Liebe Tod Hysterie" ist vom Bühnen Aufbau, den Kostümen, Ton und Licht sehr aufwendig. Für Tourneen eigentlich ungeeignet und eine unglaubliche Mehrarbeit. Schließlich hat man keine "Roadies". Die Schauspieler machen alles selbst. Den Bus und die Autos fahren, packen, ausladen, aufbauen, abbauen, einladen und wieder on the road. Man hat nichts als Pech. Schauspieler sind verletzt und spielen mit gebrochenen Rippen und hohem Fieber. Dann bricht der Bus wieder zusammen. Die Gruppe spaltet sich.
Hans Peter Cloos, und Katja Rupe, zwei der wichtigsten Eckpfeiler in der Geschichte der Roten Rübe verlassen die Gruppe. Unter der Regie von Hans-Peter Cloos entsteht die Scarabäus Theatre Company, die als erste Arbeit in Peter Brooks Theatre Bouffes du Nord in Paris die "Dreigroschenoper" mit großem Erfolg herausbringt. Mit dabei sind Katja Rupe, Gerlinde Eger/Lennie Johnson, Martin Sperr, Pola Kinski, Tommy Piper, Caroline Chanioleau u.a. Die Platte "Die Dreigroschenoper" wird im Neue Welt Verlag produziert. Das Stück tourt auch durch Frankreich u.a. Marseille. Hans-Peter Cloos ist bis heute ein sehr erfolgreicher Regisseur in Paris.
Ludwig Boettger, Gerlinde Eger/Lennie Johnson, Traute Hoess, Artur Albrecht, Alfons Haussmann und Molli Moll spielen dann das Stück "Liebe Tod Hysterie", das für zehn Leute konzipiert war, wobei jeder mehrer Rollen spielte, noch zu sechst. Geld kommt nie genug rein. Peter Zadek, Peter Stein und viele andere Regisseure bringen inzwischen hochsubventioniert auch politische Inhalte in die großen Schauspielhäuser Deutschlands. Dort hat man mehr Geld und bessere Mittel zur Verfügung. Man versucht Co-Produktionen mit den großen Schauspielhäusern in die Wege zu leiten, um aus dem finanziellen Desaster herauszukommen, aber keiner will sich ein ganzes Kollektiv ins Haus holen.
Hans Peter Cloos schreibt und filmt einen Beitrag für den deutschen Kinofilm „Deutschland im Herbst“ mit Katja Rupe und Andre Wilms in den Hauptrollen. Für dieses Filmprojekt tun sich die Filmemacher Alexander Kluge, Volker Schloendorf, Rainer Werner Fassbinder, Brustellin und Sinkel und H.P. Cloos zusammen. Gerlinde Eger spielt in dem Beitrag von Brustellin und Sinkel. Der Film ist eines der wichtigsten Zeitdokumente des „Deutschen Herbstes“, der „Baader Meinhof Ära“ und seinen Auswirkungen auf deutsche Rechtsverhältnisse. Die Repression auf politische Aktivitäten wird so groß, daß viele Leute einen Rückzieher machen. In Null Komma Nichts ist man der RAF zugeordnet. Auch die Rote Rübe bekommt das zu spüren. Hausdurchsuchungen sind an der Tagesordnung.
Die Zeit hat die Rote Rübe überholt. Keines der etablierten Häuser will so richtig mit den "Radikalen". Man denkt, das sind ja ultralinke die gleich alles kurz und klein schlagen. Die Gruppe ist erschöpft und schlägt sich so durch. Gerlinde Eger/Lennie Johnson, Alfons Hausmann und Molly Moll verlassen die Gruppe. Die letzte Formation in der Geschichte der Roten Rübe bildet sich 1979. Ludwig Boettger und Traute Hoess entwickeln mit Artur Albrecht, Barbara Tedeski und Petra Wagner aus dem Scherbenhaufen heraus ein neues Stück, das dem alten Wunsch ohne Playback zu spielen endlich Rechnung trägt. Das sensible, berührende und gleichzeitig lustige Stück "Die Meschuggenen, oder nach 15 Jahren bist du hier zu Hause" spielt in einer Nervenheilanstalt und wird ein neuer Hit auf kleinen Bühnen. Die Musik ist wieder von den Ton Steine Scherben, aber gesungen wird live, sogar ohne Mikro.
Die Meschuggenen, oder nach 15 Jahren bist Du hier zuhause. Eine ehrgeizige Therapeutin setzt unter dem Einfluß progressiver Theorien die Medikamente ihrer mit Schizophrenie, Katatonie, als manisch/depressiv und psychotisch diagnostizierten Patienten ab und probt mit ihnen in alternativ therapeutischer Absicht ein Hawaii Musical, das zur Hundertjahrfeier der Klinik uraufgeführt werden soll. Zwei Hawaii Mädchen und zwei Matrosen auf der Suche nach Liebe und Glück im Hafenmillieu. Die Ärztin will die Bardame spielen. Kostüme und Requisiten haben die Patienten selbst genäht und gebastelt. Alles sieht gut aus. Doch als die Patienten unter der Regie ihrer Therapeutin in Hollywoodmanier clichehafte Gefühle produzieren sollen, kommt bei den "Hawaii Mädchen" im Baströckchen und den "Matrosen" mit den langen, blauen Hosen, mehr an Gefühl heraus, als sich die Ärztin in ihren kühnsten Träumen vorstellen wollte. Die Patienten rebellieren und wollen eigene Szenen spielen, mit ihren eigenen Codes, die aber von der Therapeutin nicht gelesen werden können. Sie hat ihr eigenes festes Bild wie Gefühle auszusehen haben. Sie will gute Hans-Albers-Laune und romantische Pretty-Women-Sehnsucht. Doch die von der Therapeutin Enthemmten verstehen unter Liebe erstmal nur Sexphantasien, Liebes- und Schwangerschafts Horror. Wo Romantik gewünscht war, wird onaniert und zwar auf den Kittel der Ärztin, die man ja schließlich liebt, und gebrüllt und gehaßt. Und schon dreht sich der Spieß um. Die Ärztin brüllt zurück und tituliert die erschrockenen Patienten als perverse Schweine, ruft nach den Pflegern und läßt ihre "Schauspieler" niederspritzen. Ist obendrein auch noch beleidigt, weil ihr die "Meschuggenen" die Gesangsnummer verpatzt haben, die sie als Bardame so glänzend hinlegt. "Sie müssen jetzt aufpassen, daß sie nicht durchdrehen", sagt einer der Patienten bevor er abtransportiert wird. Im zweiten Teil treffen eine geläuterte Therapeutin und reumütige Patienten nach ein paar Wochen Pause wieder aufeinander und schaffen in einem berührenden Finale eine Annäherung zwischen Wahn und Normal. Man ist einen Schritt weiter, wenn auch nur einen kleinen.
"Die Meschuggenen" ist die letzte Produktion einer über die Jahre im Rotations- System fluktuierenden Rote Rübe. 1980 wird die GmbH aufgelöst. Jeder der Verbliebenen geht seiner eigenen Wege. Ein wichtiger Bestandteil des deutschsprachigen Theaters der Nachkriegszeit hat den Sack zugemacht. Seine Zeit ist vorbei. Es ist Zeit für eine neue Generation, eine neue politische Sprache fürs Theater zu finden. Diesbezüglich gibt es bis heute genug zu tun. Für eine lebendige Demokratie gilt es auch weiterhin viele Fragen zu stellen. Denn wie heißt es so schön in "Terror": "Wenn euch erstaunt was ihr sehen werdet, findet euch nicht damit ab, betrachtet es genau, denn nichts ist unveränderlich."
Autorin dieses Textes ist Lennie Johnson, geschrieben in Chicago 2006