Goldene Regel
Die von Edmund S. Phelps aufgestellte goldene Regel wird auch als phelpsches Theorem bezeichnet, s. dort.
Als goldene Regel wird allgemein ein für eine gesellschaftliche Gruppe wichtiger Merkspruch oder ein markantes Motto bezeichnet, im engeren Sinne bezieht sich die Bezeichnung aber auf die in dem Sprichwort
- Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.
ausgedrückte moralische Regel, die in mannigfaltigen Variationen Grundbestandteil der ethischen Vorstellungen vieler Religionen ist. Einerseits ist sie von Kants kategorischem Imperativ zu unterscheiden, denn die goldene Regel bezieht sich auf den Einzelnen (und sein Gegenüber), nicht auf ein allgemeines Sittengesetz. Andererseits erhebt auch die goldene Regel formal einen universellen Geltungsanspruch und abstrahiert vom konkreten Einzelfall. Manche bezeichnen sie als volkstümliche Variante des kategorischen Imperativs. Für viele Philosophen beinhaltet die goldene Regel den Kern von Moral, weil sie an die menschliche Vorstellungskraft, Einfühlung, Gegenseitigkeit und Folgenbewusstsein appelliert. Meine Freiheit zu wählen bleibt und ebenso meine Verantwortung für diese Wahl.
Beispiele (chronologisch geordnet)
- 1. Jahrtausend v. Chr.: "Was alles dir zuwider ist, das tue auch nicht anderen an." (Shayast-na-Shayast 13, 29), Zoroastrismus
- 9.-6. Jahrhundert v. Chr.: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR." (Die Bibel, Leviticus 19, 18), Judentum
- 8. Jahrhundert v. Chr.: "Dass die (menschliche) Natur nur gut ist, wenn sie nicht anderen antut, was ihr nicht selbst bekommt." (Dadistan-i-Dinik 94, 5), Zoroastrismus
- 620 v. Chr.: "Was immer du deinem Nächsten verübelst, das tue ihm nicht selbst." Pittakos von Mytilene, einer der griechischen Sieben Weisen
- 6. Jahrhundert v. Chr.: "Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen." (Udana-Varga 5, 18), Buddhismus
- 500 v. Chr.: "Tue anderen nicht, was du nicht möchtest, das sie dir tun." (Analekte 15, 23), Konfuzianismus
- 500 v. Chr.: "Ein Wort, dass als Verhaltensregel für das Leben gelten kann, ist Gegenseitigkeit. Bürde anderen nicht auf, was du selbst nicht erstrebst." (Lehre vom mittleren Weg 13, 3), Konfuzianismus
- 500 v. Chr.: "Daher übt er (der Weise) keine Gewalt gegen andere, noch heißt er andere so tun." (Acarangasutra 5, 101-102), Jainismus
- 500 v. Chr.: "Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügten." Buddhismus
- 5. Jahrhundert v. Chr.: "Tue anderen nicht an, was dich ärgern würde, wenn andere es dir täten." Sokrates, griechischer Philosoph
- 400 v. Chr.: "Soll ich mich andern gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten?" Platon, griechischer Philosoph
- 4. Jahrhundert v. Chr.: "Man soll sich nicht auf eine Weise gegen andere betragen, die einem selbst zuwider ist. Dies ist der Kern aller Moral. Alles andere entspringt selbstsüchtiger Begierde." (Mahabharata, Anusasana Parva 113, 8; Mencius Vii, A, 4), Hinduismus
- 150er v. Chr.: "Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan." (Mahabharata 5, 1517), Hinduismus und Brahmanismus
- 200 v. Chr.: "Was du nicht leiden magst, das tue niemandem an." Judentum, Buch Tobit
- 1. Jahrhundert: "Alles, was ihr für euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch." (Die Bibel, Matthäus 7, 12), Christentum
- 2. Jahrhundert: "Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar." (Talmud, Shabbat 31a), Judentum
- 6. Jahrhundert: "Allen Menschen das zu tun, was du wünschest, selbst dir getan zu haben, und anderen das nicht zu tun, was du auch dir selbst nicht tun wolltest." Islam, Mohammed
- 9. Jahrhundert: "Niemand von euch ist ein Gläubiger, bevor er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst begehrt." (Hadith), Islam
- (19. Jahrhundert): "Und wenn du deine Augen auf die Gerechtigkeit wendest, so wähle für deinen Nächsten dasjenige, was du für dich selbst erwählet hast." (Brief an den Sohn des Wolfs 30), Bahá'í
- 1999: "Tue nichts, was du nicht möchtest, das man dir tun soll." (British Humanist Society), Humanismus
positive und negative Form
Zwischen den einzelnen Versionen sind leichte, aber relevante Unterschiede feststellbar. So sind die muslimische und Bahá'í-Variante wie auch die aus der Bergpredigt entnommene christliche positiv formuliert und fordern nicht nur das Nichttun dessen, was selbst nicht gewünscht wird, sondern auch das Tun dessen, was man selbst erstrebt. Damit werden diese Versionen von vielen als anspruchsvoller angesehen. Andere wiederum vermuten dahinter ein größeres Sendungsbewusstsein und verdeckten Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol, zu wissen was denn gut und richtig sei.
Ein näherer Vergleich beider Varianten soll weitere Unterschiede erhellen. Die positive Form "Was du willst, was man dir tu, das füge auch dem andern zu", lässt sich reduzieren auf die Aussage "Tue Gutes!" Hier wird ein Tun gefordert, was Schlechtes ausschließt. Was allerdings gut ist, wird eher subjektiv und also sehr unterschiedlich definiert. Die negative Form "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu" kann auf den Inhalt "Tue nichts Böses" verkürzt werden. Hier ist vom Unterlassen die Rede, etwas nicht zu tun (meist eine sehr aktive Entscheidung). Was hingegen Böses ist, kann eher objektiviert werden. Böses bedeutet für uns Gewalt, Verletzungen, etwas was uns schädigt. Wenn ich bewusst vermeide andere zu schädigen und ihnen nicht meinen Willen aufzwinge, ist das ein moralisches Handeln. Verstöße gegen Sitte und Gesetz widersprechen diesem Anspruch.
Kritik
Gegen die goldene Regel wird kritisch eingewandt, dass sie selbst bei gutem Willen fehlleiten kann, da die subjektive Sicht des Handelnden zum alleinigen Maßstab gemacht wird. Das, was er selbst wünscht, muss nicht unbedingt auch für seinen Nächsten erwünscht sein, und das, was ihm unangenehm ist, muss nicht auch für seinen Nächsten ähnlich unangenehm sein. Sowohl die positiven als auch die negativen Formulierungen können daher nach Taten oder Unterlassungen rufen, die der "Begünstigte" möglicherweise nicht so haben möchte. Daher sind aus dieser Sicht für eine tugendhafte Lebensweise weitere ethische Prinzipien in Betracht zu ziehen. Nach christlicher Lehre ist dies z. B. die Nächstenliebe.
Verteidigung
Der vielfach unterstellte Egoismus der goldenen Regel, man übertrage die eigenen Wünsche auf andere ist kurzsichtig, denn man will von anderen ja auch seinen Bedürfnissen gemäß behandelt werden (Gegenseitigkeit). Wer auf den eigenen Vorteil bedacht ist, muss das Wohl der Gesellschaft bedenken. Diese Erkenntnis verdanken wir Adam Smith (Der Reichtum der Nationen, 1776), der uns darauf aufmerksam macht, dass ein Bäcker gute Brötchen backen muss um gut zu verdienen. Zu den Fehlinterpretationen der goldenen Regel zählt, dass sie mitunter als Vergeltung betrachtet wird. Talion aber (Gleiches mit Gleichem) ist ein Reaktionsprinzip: ich antworte (mit gleichen Mitteln), während die goldene Regel ein Aktionsprinzip ist: ich agiere bewusst, handle vorausschauend, vermeide Provokation, Gewalt, reine Vergeltung.
Wie wir die Sache auch drehen: Die mögliche Eigennutz tritt nur ein, wenn wir den anderen achten. Damit erreiche ich eine gewisse Balance – die Frage nach dem gegenseitigen Nutzen führt im zweiseitige Zusammenleben zur "natürlichen" Sittlichkeit. Wer seine Vernunft nach der generellen Rückbezüglichkeit befragt, strebt "soziale" Sittlichkeit an, die das Gemeinwohl befördern will und anerkennt die goldene Regel damit als universelles Moralprinzip. Ein wesentliches Überprüfungskriterium ist hier das der Allgemeingültigkeit: Was wäre, wenn alle so handelten? Nur ist die goldene Regel als Empfehlung nicht so restriktiv wie Kants kategorischer Imperativ, welcher dem Einzelnen seine lebendige Individualität nimmt und immer und überall und ausnahmslos auf Pflichterfüllung dringt.
Grundwert und Gesetzescharakter
Die goldene Regel ist in den fünf Weltreligionen fest verankert. Ihre Bindekraft spiegelt sich u. a. im Projekt Weltethos von Hans Küng und der "Erklärung zum Weltethos" durch das Parlament der Weltreligionen (1993). [1]
Darüber hinaus trägt die goldene Regel teils Gesetzescharakter und findet sich sinngemäß im deutschen Grundgesetz, Artikel 2 (Handlungsfreiheit, Freiheit der Person): „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ und in der deutschen Straßenverkehrsordnung, § 1. Grundregeln: "(1) Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. (2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird."
Im aktuellen Wirtschaftsleben wird die goldene Regel als Grundwert der eBay-Gemeinschaft ausgewiesen: "4. Wir fordern jeden dazu auf, sich anderen gegenüber so zu verhalten, wie er von ihnen behandelt werden möchte."