Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich
Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich war das auf staatsorganisationsrechtliche Streitigkeiten beschränkte Verfassungsgericht der Weimarer Republik.
Sitz, Organisation und Verfahren
Der Staatsgerichtshof (StGH) wurde aufgrund Art. 108 der Weimarer Verfassung (WRV) nach Maßgabe eines Ausführungsgesetzes beim Reichsgericht mit Sitz in Leipzig errichtet. Der StGH war kein ständiges Gericht, er wurde nach Bedarf einberufen. Den Vorsitz führte der Präsident des Reichsgerichts. Über seine Verfahrensordnung bestimmte das Gericht in eigener Autonomie. Die Entscheidungen ergingen "Im Namen des Reichs" und waren unanfechtbar. Für ihre Vollstreckung war nach Art. 19 II WRV der Reichspräsident zuständig.
Eine spezielle amtliche Sammlung der StGH-Entscheidungen gab es nicht, sie wurden im Anhang der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen und in zwei privaten Sammlungen veröffentlicht.
Zuständigkeiten
Die Staatsgerichtsbarkeit war in Weimar auf viele Instanzen verteilt. Der StGH hatte also keine umfassende Zuständigkeit.
Der Staatsgerichtshof war nach der Reichsverfassung lediglich zuständig
- für den Reich-Länder-Streit betreffend die Ausführung von Reichsgesetzen durch die Länder (Artikel 15 WRV),
- für Vermögensauseinandersetzungen bei der Neugliederung des Reichsgebiets (Artikel 18 WRV),
- für Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Landesgericht zu ihrer Erledigung bestand (Artikel 19 WRV). Die Zuständigkeit des StGH war insoweit subsidiär.
- für Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande auf Antrag eines der streitenden Teile (Artikel 19 WRV),
- für die Anklage gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder einen Reichsminister auf Antrag des Reichstags mit der Behauptung, dass der Reichspräsident, der Reichskanzler oder ein Reichsminister schuldhaft die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt habe (Ministeranklage). Der Antrag auf Erhebung der Anklage musste von mindestens hundert Mitgliedern des Reichstags unterzeichnet sein und bedurfte der Zustimmung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Mehrheit (Artikel 59 WRV). Das Verfahren war nach den Regeln der Strafprozessordnung zu führen. Aussagen über mögliche Strafen machte die Verfassung nicht. Die quasistrafrechtliche Ministeranklage blieb Theorie: in den gut 13 Jahren der faktischen Geltung der WRV wurde sie weder im Reich noch in den Ländern jemals erhoben.
- für die mit der Bildung des Deutschen Reichsbahn auf das Reich übergegangenen Enteignungsbefugnisse und Hoheitsrechte (Artikel 90 WRV),
- für Streitigkeiten, die durch die Aufhebung der Reservatrechte Bayerns und Württembergs bei der Post- und Telegraphenverwaltung und entsprechend bei Eisenbahnen, Wasserstraßen und Seezeichen entstanden (Artikel 170, 171 WRV).
Hingegen war nach Art. 13 II WRV nicht der StGH sondern das Reichsgericht berufen, die Vereinbarkeit von Landes mit dem Reichsrecht im Wege der abstrakten Normenkontrolle zu prüfen, wofür in Spezialbereichen auch andere Gerichte wie der Reichsfinanzhof zuständig waren.
Bekannte Fälle
Bekannt geworden ist der Fall Preußen contra Reich.
Ende des Staatsgerichtshofes
Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 kam umgehend das Ende der Weimarer Verfassungsgerichtsbarkeit. Es galt das "Führerprinzip", das eine Überprüfung von Entscheidungen der Exekutive durch eine umabhängige juristische Instanz nicht vorsah. Der StGH stellte seine Arbeit ein. Ein Auflösungsgesetz oder einen anderen formellen Akt hat es nicht gegeben. Seine letzten Entscheidungen verkündete das Gericht am 21. Februar 1933.
Würdigung
Der StGH war das erste unabhängige Reichsverfassungsgericht in der deutschen Rechtsgeschichte. Seine Bedeutung war allerdings deutlich geringer als die des Bundesverfassungsgerichts. Im Bereich der gesamten Weimarer Staatsgerichstbarkeit ergingen zwischen 1920 und 1933 weniger als 180 Entscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe brachte es im vergleichbaren Zeitraum nach 1952 auf rund 600 veröfentlichte Entscheidungen. Das lag vor allem am hohen Anteil von Verfassungsbeschwerden, ein Rechtsbehelf, den es in der Weimarer Republik nicht gab.
Die Staatsgerichtsbarkeit während der Weimarer Republik litt unter einer Zersplitterung der Zuständigkeiten und Kompetenzlücken. So war der Staatsgerichtshof nicht zuständig für die Klärung von Verfassungsstreitigkeiten auf Reichsebene. Es gab weder die Möglichkeit zur abstrakten noch zur konkreten Normenkontrolle, das Gericht konnte Reichsgesetze also nicht auf ihre Übereinstimmung mit der Reichsverfassung hin prüfen. Auch fehlte eine Entscheidungsbefugnis in einer sog. Organklage bei Streitigkeiten zwischen obersten Reichsorganen.
Bereits in der Weimarer Republik wurden jedoch vereinzelt solche umfassenden Befugnisse gefordert. Bekannt ist in diesem Zusammenhang die Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen um den Hüter der Verfassung, bei der letzterer sich für eine Verfassungsgerichtsbarkeit stark machte, während Schmitt die Rolle des obersten Verfassungshüters dem Reichspräsidenten zusprach.
Der größte Mangel der Weimarer Verfassungsgerichtsbarkeit aber war das Fehlen einer Verfassungsbeschwerde, mit der jeder Bürger die Verletzung seiner Grundrechte rügen konnte. Zwar gab es in der Reichsverfassung einen umfangreichen Grundrechtskatalog. Doch die meisten Artikel hatten nur programmatischen Charakter und waren kein unmittelbar geltendes, einklagbares Recht. Für den Bürger stand damit der Weg zum Staatsgerichtshof nicht offen.