Die Schatten der Globalisierung
"Die Schatten der Globalisierung" ist der Titel eines Buches von Joseph Stiglitz aus dem Jahre 2002. Der englische Originaltitel des Buches lautet "Globalization and its Discontents". Wie der Name schon sagt befasst sich das Buch mit einer Kritik der Globalisierung der Weltwirtschaft.
Kernthesen des Buches
Stiglitz Anfangskapitel mit den Titeln „Was globale Institutionen verheißen“ und „Gebrochene Versprechen“ geben bereits die Stoßrichtung des Buches an. Es geht ihm darum, die Bretton-Woods Institutionen Weltbank und den Internationalen Währungsfonds IWF auf ihre Verheißungen, ihre Gründungsprogrammatik aus dem Jahre 1944 zu verweisen. Die Versprechen von damals sind gebrochen, eine Kurskorrektur in der Weltwirtschaft sei notwendig. Hierbei interessiert ihn allerdings vor allem die aktuelle Politik, die Historie des Bretton-Woods Abkommens nennt er nur kurz, bereits in den Anfangskapiteln geht es vor allem um die Politik des IWF in den 90er Jahren.
Stiglitz prangert im weiteren Verlauf seines Buches vor allem die Politik des IWF seit den 80er Jahren als Haupthindernis auf dem Weg zu Armut und Entwicklung an. Die marktradikale Ideologie des IWF, so seine Kernthese, habe nicht nur keine Erfolge in Sachen Armutsbekämpfung vorzuweisen, sondern verschärfte im Gegenteil die globale Kluft zwischen Reich und Arm.
Asienkrise und Transformation in Osteuropa
Die wichtigsten Stützen dieser These sind seine Analysen der Asien-Krise von 1997 und der rasante Abschwung der russischen Wirtschaft nach dem Ende der Sowjetunion (Kapitel vier und fünf). In beiden Fällen, so Stiglitz, trifft den IWF eine Mitschuld. Sein Krisenmanagement wirkte in Asien nicht eindämmend, sondern trug entscheidend zur Verschärfung der Krise bei – die wenigen Länder wie etwa China, die sich nicht an die Empfehlungen des IWF gehalten haben, konnten sich vor den Auswirkungen der Krise schützen oder ihre Auswirkungen abfedern.
Ähnlich bei der Transformation in Osteuropa: Russland, dass eng mit dem IWF kooperierte und schnellstmögliche Privatisierungen durchführte, musste einen wirtschaftlichen Einbruch hinnehmen, der schlimmer ausfiel als die wirtschaftlichen Folgen des zweiten Weltkrieges. Polen und Tschechien hingegen hätten mit ihrem Weg der „sanften Reform“ den wirtschaftlichen Strukturwandel sozial verträglicher und –paradoxerweise- auch schneller bewältigt.
Stiglitz führt die fehlerhaften Ratschläge auf die auschließlich marktzentrierte Politik des IWF zurück, der die Entwicklungs und Transformationsländer nötigte, ihre Finanzmärkte übereilt zu liberalisieren und alle Kapitalverkehrskontrollen abzuschaffen. Diese Maßnahmen sollten schnellere Investitionen erleichtern, erleichterten jedoch vor allem Kapitalflucht und Devisenspekulation. Mit den liberalisierten Finanzmärkten lieferten sich die Staaten vollständig dem Weltmarkt aus – wollten sie Kapitalflucht bei einer Krise verhindern oder ihre Währung gegen Spekulationen schützen, so könnten sie dieses nicht durch gesetzliche Regelungen, sondern nur durch eigenes agieren am Markt, etwa durch Stützungskäufe für die eigene Währung erreichen. Um diese Stützungskäufe zu tätigen, waren sie wiederum auf die Gnade des IWF angewiesen. Der band seine Kreditzusagen an Bedingungen, die auf rein fiskalischen Kriterien beruhten, nämlich der Geldwertstabilität (keine Inflation), Vorrang der Schuldentilgung und ausgeglichenen Handelsbilanzen. So wurden Länder gezwungen, Investitionen ins Bildungssystem zu unterbrechen, Subventionen für Grundnahrungsmittel einzustellen um dem IWF einen ausgeglichenen Staatshaushalt präsentieren zu können. Soziale Unruhen wie etwa in Indonesien waren die Folge.
Stiglitz wendet sich allerdings gegen die These, Subventionsabbau und andere Maßnahmen des IWF seien notwendige Einschnitte, um die Volkswirtschaften zu stabilisieren und langfristig auch den Wohlstand der Bevölkerungen zu sichern.
Besonders am Beispiel Russlands und der vom IWF empfohlenen Schocktherapie, das heißt der schnellstmöglichen und mehr oder weniger unkontrollierten Privatisierung der sowjetischen Wirtschaft, weist er den Misserfolg der IWF-Rezepte nach.
Die Wirtschaft wurde privatisiert, bevor auch nur annähernd die Rahmenbedingungen einer Marktwirtschaft geschaffen waren. Stiglitz nennt hier vor allem Rechtssicherheit, ein funktionierendes Steuersystem, Vertrauen der Bürger in demokratische Institutionen, funktionierende Kontrollinstanzen für Banken und Unternehmen. Er führt sehr detailliert und beispielhaft aus, dass auch und gerade im liberalen Kapitalismus eine ganze Reihe von allgemein akzeptierten politischen Regelungen und Institutionen existieren muss, damit der Markt seine Funktion als Vermittler der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erfüllen kann.
Stiglitz wendet sich damit in überzeugender Weise gegen den Neutralitäts- und Objektivitätsidealismus der neoliberalen bzw. neoklassischen Schule, die Wirtschaft im wesentlichen als abstraktes und abgeschlossenes System darstellt, staatliche Lenkung ablehnt und politische Ökonomie per se unter Ideologieverdacht stellt. Stiglitz dreht den Spieß um. Seine Analyse der politischen Rahmenbedingungen im liberalen Kapitalismus entlarvt die abstrakten Modelle und Theoreme der neoklassischen Schule als verkürzt und ideologisch: sie geben vor, der allgemeinen Wohlfahrt zu dienen, bedienen aber in der Regel die Interessen des Finanzkapitals an Geldwertstabilität.
Um zum Beispiel zurückzukehren: die hastige Privatisierung der Staatsbetriebe in Russland und die liberalisierten Kapitalmärkte ermöglichten es den neuen „Besitzern“ der ehemaligen Kollektive diese zu zerschlagen, die einzelnen Bestandteile zu verkaufen und die Erträge ins Ausland zu schaffen. Ökonomische Anreize für produktive Nutzung der alten Staatsbetriebe existierten nicht, die Abwicklung dagegen versprach sofortige Milliardengewinne.
Diese konnten dann dank der liberalisierten Kapitalmärkte sofort in Dollar umgetauscht werden, der Rubel sank an Kaufkraft und die Inflation galoppierte.
Die Schadensbegrenzung des IWF wiederum bestand darin, immer neue Milliardenkredite (sogenannte „Bail-Outs“) zu gewähren, mit der die Jelzin-Regierung den Rubel stützen und die Raubprivatisierung weitertreiben konnte. Das ersehnte wirtschaftliche Gleichgewicht stellte sich bis heute nicht ein, und die Kredite verschwanden ebenso wie die Privatisierungserlöse auf den Schweizer Konten einer neuen Oligarchenclique.
Stiglitz wendet sich allerdings gegen die Ansicht, der im wesentlichen von den USA abhängige IWF hätte diese ökonomische Demontage Russlands zynisch und absichtlich betrieben, er führt die verfehlte Politik vielmehr auf das zur Ideologie erstarrte Interesse der Finanzwelt an niedriger Inflation und der Furcht vor einem Staatsbankrott bzw. einer kontrollierten Insolvenz zurück. Stiglitz bezeichnet den IWF ganz offen als von den Interessen der Finanzwelt dominiert, die WTO hingegen als Organ der Handelsinteressen. Lediglich sein ehemaliger Arbeitgeber, die Weltbank, scheint recht neutral über den Dingen zu stehen.
Mit den vom IWF mehrheitlich vertretenen Interessen des Finanzkapitals erklärt er dessen einseitige, immer gleiche Empfehlungen in jeder Wirtschaftskrise, für jede Volkswirtschaft: Inflationseindämmung um jeden Preis, Vermeidung des Staatsinsolvenz, weitere Privatisierungen. Denn für das Finanzkapital gibt es kein schlimmeres Schreckgespenst als Inflation und Staatsbankrott, die stets Milliardenverluste für die Gläubiger bedeuten (der Gesamtwirtschaft allerdings unter Umständen förderlich sein könnten) – während Privatisierungen in der Regel staatlich gesicherte und garantierte Erlöse abwerfen. Gepaart mit den falschen Empfehlungen des IWF trieben dessen Bail-Outs und Stützungskredite die Entwicklungs- und Transformationsländer also immer tiefer in die Schuldenkrise, anstatt sie aus dem Schuldental herauszuholen und die Krise einzudämmen.
Stiglitz Empfehlungen
Stiglitz empfiehlt eine Rückbesinnung des IWF auf seine eigentliche Aufgabe: die Intervention bei Krisen der Weltwirtschaft. Die zwangsweise Liberalisierung der Kapitalmärkte als Bedingung für erhaltene Kredite und andere Eingriffe in die innere Wirtschaftsverfassung der Entwicklungsländer lehnt er ab, sie widersprächen demokratischen Prinzipien und dienten meist nur den Interessen der Gläubiger in den Industrieländern. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist für ihn deshalb die Abschaffung der strengen politischen Konditionen, mit denen der IWF seine Kredite verknüpft. Sie seien das zentrale Instrument zur Durchsetzung der IWF-Agenda und setzen die Souveränität und die demokratische Kontrolle der abhängigen Staaten faktisch außer Kraft. Die Konditionen sollen durch selektive Kredite ersetzt werden: Länder mit erfolgreichen eigenen Stabilisierungskonzepten erhalten Unterstützung, die Initiative bleibt vor Ort.
Ist die Krise nicht mehr abzuwenden, sollen verstärkt Moratorien und Insolvenzen zum Einsatz kommen, anstatt durch weitere Kredite die Krise aufzuschieben und letztendlich den nationalen Schuldenberg zu erhöhen. Um die sozialen Folgen der Schuldenkrisen abzumildern fordert Stiglitz zudem die Hilfe der Industrieländer beim Aufbau funktionierender sozialer Sicherheitssysteme in den ärmeren Regionen der Welt sowie einen Schuldenerlass für überschuldete Staaten.
Kritik an Stiglitz Thesen
Kritiker werfen Stiglitz vor, seine Sicht der Wirtschaftsentwicklung reduziere sich auf die letzten 15 Jahre. Die grundlegende Transformation der Weltwirtschaft seit der Lösung der Goldpreisbindung des Dollars, der ersten Ölkrise und vor allem der Aufkündigung des Bretton-Woods Systems der festen Wechselkurse in den 70er Jahren kommen überhaupt nicht in den Blick. Die freien Wechselkurse und das damit verbundene Risiko für kleinere Nationen nimmt er als gegebenes Übel hin, empfiehlt private Risikoversicherungen - weiß aber im Grunde selbst, dass sich das enorme Kursrisiko so nicht ausschalten lässt. Stiglitz zitiere lediglich den Gründungsauftrag des IWF der sich eben auf dieses feste Wechselkurssystem bezog, und überträgt diese Idee auf die heutige Zeit. Eine neue Fixierung der Kurse fordert er nicht, sondern Interventionen im konkreten Fall mit jeweils eigenen Maßnahmen.
Dies würde Kritikern zufolge zweifellos die Intensivierung der Krisen durch den IWF die Zukunft vermeiden, allerdings stelle es kein grundsätzlich neuartiges Konzept dar, sondern eher eine Aufzählung von Fehlern und eine Sammlung von Anleitungen zu deren Vermeidung.
Die Aufzählung sei zweifellos korrekt, aber das grundsätzliche Problem der Globalisierung ist damit nicht einmal analysiert, geschweige denn reguliert. Es sei bezeichnend, das Stiglitz trotz der häufigen Benutzung des Begriffes Globalisierung keine Definition des Wortes anbietet – er nimmt es als gegeben hin und bietet ein Maßnahmenbündel zur Bekämpfung der Auswirkungen an, ohne ein Wort über die Ursachen zu verlieren.
Außerdem würden bei Stiglitz Sündenkatalog WTO und Weltbank nicht berücksichtigt, eine kritische Bilanz ihrer politischen Sünden fehlt. Stiglitz theoretische Grundlagen wären Versatzstücke der Keynes´schen Theorie – die er allerdings nicht auf die grundlegend veränderten globalen Wirtschaft anpasse, obwohl er ständig in Nebensätzen und mit Formulierungen wie „Wir wissen heute“ einen enormen Wissenschaftsoptimismus zeige.
Mit Begriffen wie Postfordismus oder „High-Tech-Kapitalismus“ versuchen sich die Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten an der Analyse der einer neuen globalen Produktionsweise- eine Debatte, die Stiglitz nicht berücksichtigt.
Der Charakter des Werkes als pragmatischer Fehleranalyse habe seine Ursachen auch in der Fragestellung. Im Fall Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion ginge es Stigliz lediglich darum, die Einführung des Kapitalismus und der marktwirtschaftlichen Institutionen effizient und sozial zu gestalten – eine Alternative jenseits von staatlicher Kommandowirtschaft und Kapitalismus, etwa genossenschaftliche Produktion, Demokratisierung der Wirtschaft etc. gebe es bei ihm nicht. Die Gleichsetzung von Marxismus mit dem Staatssozialismus folge letztendlich der gescheiterten marxistisch-leninistischen Parteiideologie und verstelle den Blick auf weniger autoritäre Formen des Wirtschaftens. Gleichzeitig idealisiere er die USA und Europa als demokratische Nationen mit freier Presse und funktionierender Kontrolle der öffentlichen Institutionen – obwohl ja gerade das unkontrollierbare Gebaren der G7 Finanzminister und der nicht demokratisch legitimierten Zentralbankpräsidenten dieser Nationen laut seiner Analyse für die Politik des IWF verantwortlich seien.