Negatives Stimmgewicht
Als Negatives Stimmgewicht wird der Effekt bei einer Wahl beschrieben, bei dem Stimmen sich entgegen dem Wählerwillen auswirken, d. h. wenn Stimmen für eine Partei dieser einen Verlust an Sitzen bescheren oder Stimmen, die nicht für eine Partei abgegeben werden, dieser einen Gewinn an Sitzen einbringen.
Auftreten
Das negative Stimmgewicht tritt in größerem Maße bei Wahlen auf, die Verhältniswahl mit Mehrheitswahl verbinden, ohne jedoch einen letztlichen Ausgleich nach dem Proporz vorzunehmen. Besonders bei Bundestagswahlen in Deutschland ist dies der Fall, da hier anfallende Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.
So erhalten bei der Bundestagswahl die Parteien Sitze im Deutschen Bundestag aufgrund der Zweitstimmenergebnisse im Bund und dann aufgrund ihrer Zweitstimmenergebnisse in den einzelnen Bundesländern. Die Sitze werden entsprechend der Landeslisten zugeteilt.
Es kommt nun häufiger vor, dass eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als ihr dort von den Zweitstimmen her zustehen. Diese Mandate können nicht mit Listenmandaten dieser Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden und erhöhen somit die Gesamtzahl der Mandate für diese Partei (Überhangmandate). Die zusätzlichen Mandate werden nicht ausgeglichen, d. h., den anderen Parteien werden nicht weitere Sitze zugeteilt, sodass der Proporz wieder stimmt.
Man nehme nun an, dass eine Partei in diesem Bundesland A (im Beispiel unten: Brandenburg) so viele Zweitstimmen weniger (im Beispiel: 50.000) erhalten hätte, dass sie in der Gesamtaufrechnung im Bundesgebiet noch die gleiche Anzahl von Sitzen gehabt hätte. Gleichzeitig nehme man an (dies ist weniger hypothetisch, als es erscheinen mag), dass aber aufgrund der Verteilung auf die Listen der Partei in den einzelnen Ländern diese Partei in dem betreffenden Land ein Mandat weniger erhielte.
In diesem Fall entfiele auf die Liste dieser Partei in einem anderen Bundesland (Bundesland B - Bremen) ein Mandat mehr.
Es kann dann also vorkommen, dass eine Partei in dem Ausgangsland A (Brandenburg) die gleiche Anzahl von Mandaten behält (da ja Direktmandate nicht verloren gehen können), gleichzeitig aber in dem zweiten Land B (Bremen) ein Mandat mehr bekommt, weil sie weniger Stimmen erhalten hat.
Dieses in der Realität nicht selten auftretende Paradoxon trägt den Namen Negatives Stimmgewicht. Das negative Stimmgewicht hängt unmittelbar mit den Überhangmandaten und damit mit der Erststimme zusammen. Das negative Stimmgewicht kann nur auftreten, wenn eine Partei in einem Bundesland mindestens gleich viele Direktmandate gewinnt wie ihrer Landesliste in diesem Bundesland zustehen.
Das negative Stimmgewicht ist mit der Gleichheit und Transparenz (Unmittelbarkeit) einer Wahl unvereinbar.
Allgemeines Beispiel
Es gibt zwei Bundesländer mit zwei Parteien. Insgesamt werden 500.000 Stimmen abgegeben. Es gibt 50 Sitze im Bundestag, also 25 Direktmandate.
Partei X erhält 250.000 Stimmen, Partei Y 250.000 Stimmen.
In Land A gewinnt Partei X 144.000 Stimmen und 6 Direktmandate, Partei Y 137.000 Stimmen und 7 Direktmandate. Andererseits gewinnt Partei X in Land B 106.000 Stimmen mit 11 Direktmandaten und Partei Y 113.000 Stimmen mit 2 Direktmandaten.
Partei X stehen dann 25, Partei Y 25 Mandate zu (Oberverteilung). Der Landesliste von Partei X im Land A stehen 14, im Land B 11 Sitze zu. Der Landesliste von Partei Y im Land A stehen 14 Sitze, in Land B 11 Sitze zu. In diesem Fall entstehen keine Überhangmandate: Beide Parteien haben 25 Sitze im Bundestag.
Nun sei es so, dass Partei X im Land B 5.000 Zweitstimmen weniger erhält. Dann hat Partei X insgesamt nur 245.000 Zweitstimmen. Die Angaben für Partei Y bleiben völlig gleich. Insgesamt sind damit nur 495.000 Stimmen abgegeben worden.
Dennoch erhalten beide Parteien 25 Sitze (rechnerisch 24,75 für Partei X).
Partei X hat im Land A nach wie vor 144.000 Stimmen, im Land B jedoch nur 101.000 Stimmen. Damit stehen der X-Landesliste im Land A 15 (14,69) Sitze, der X-Landesliste im Land B jedoch nur noch 10 Sitze zu. Partei X hat aber im Land B 11 Direktmandate gewonnen, sodass sie alle 11 Mandate behalten darf (eines der Direktmandate ist damit ein Überhangmandat).
Damit erhält Partei X im Land A ihre 6 Direktmandate, dazu kommen 9 Landeslistenplätze; in Land B erhält sie 11 Direktmandate. Mithin hat sie schlussendlich 26 Sitze. Partei Y erhält im Land A 7 Direktmandate und dazu 7 Landeslistenplätze, im Land B 2 Direktmandate und 9 weitere Landeslistenplätze, insgesamt also 25 Sitze.
Partei X hat damit im neuen Parlament eine Mehrheit von 26:25, weil sie 5.000 Zweitstimmen weniger erhalten hat.
(Dieses Beispiel vernachlässigt zur Vereinfachung die Vorschrift des Bundeswahlgesetzes, dass eine Partei, die die absolute Mehrheit der Zweitstimmen erhält, automatisch auch die Mehrheit der Mandate bekommt.)
Geschichtliches Auftreten
Wahl des Deutschen Bundestages bis 1998
In der Geschichte der Bundestagwahlen ist das Auftreten des negativen Stimmgewichts bei den Bundestagswahlen 1990, 1994 und 2002 bei wahlrecht.de nachgewiesen (siehe Link unten). Ferner gibt es weitere Beispiele:
- 1961 hätte die CDU Schleswig-Holstein bei 39.671 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen. Im gleichen Jahr hätte die CDU Saarland bei 48.902 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- 1983 hätte die SPD Bremen bei 73.622 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen. Ebenso hätte die SPD Hamburg bei 73.569 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- 1987 hätte die CDU Baden-Württemberg bei 18.705 Stimmen weniger ein Mandat mehr bekommen.
- Die SPD hätte 1990 ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Bremen 8.000 Stimmen weniger erhalten hätte. Ebenso hätte die CDU, wenn sie in Thüringen 2.600 Stimmen weniger erhalten hätte, ein Mandat mehr erhalten.
- Die CDU hätte 1994 jeweils ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen oder Sachsen-Anhalt 19.089 Stimmen oder in Thüringen 13.629 Stimmen weniger erhalten hätte.
- Die SPD hätte 1998 ein Mandat mehr bekommen, wenn sie in Brandenburg 70.955 Stimmen weniger erhalten hätte oder aber in Sachsen-Anhalt 21.323 Stimmen oder in Thüringen 21.228 Stimmen und gleichzeitig in Brandenburg 1.000 Stimmen weniger erhalten hätte.
Weiter gibt es diverse Fälle, in denen eine Partei weniger Mandate bekommen hätte, wenn sie mehr Stimmen erhalten hätte. Dies trifft auf die CDU Schleswig-Holstein 1957 (88.833 Stimmen mehr, dann zwei Mandate weniger), die CDU Saarland 1961 (10.828 mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Schleswig-Holstein 1980 (7.809 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Bremen 1983 (4.083 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Hamburg 1983 (8.199 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die CDU Mecklenburg-Vorpommern 1990 (13.545 Stimmen mehr und gleichzeitig in Thüringen 1.000 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die CDU Sachsen-Anhalt 1990 (6.314 Stimmen mehr und gleichzeitig in Thüringen 1.000 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die CDU Thüringen 1990 (66.693 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Bremen 1994 (1.042 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Brandenburg 1994 (73.403 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Hamburg 1998 (16.651 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger), die SPD Mecklenburg-Vorpommern 1998 (6.628 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger) und die SPD Brandenburg 1998 (4.015 Stimmen mehr, dann ein Mandat weniger) zu.
Wahl des Deutschen Bundestages 2002
Bei der Bundestagswahl 2002 ging der SPD wegen 50.000 zu vieler Zweitstimmen in Brandenburg ein Sitz verloren, der sonst an die Bremer SPD-Landeslistenkandidatin Cornelia Wiedemeyer gegangen wäre.
Berechnung Gesamtstimmenzahl für die Bundestagswahl 2002
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Partei | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze letztendlich | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze letztendlich |
---|---|---|---|---|---|---|
SPD | 18.488.668 | 246,95 | 247 | 18.438.668 | 246,56 | 247 |
CDU | 14.167.561 | 189,24 | 189 | 14.167.561 | 189,45 | 189 |
CSU | 4.315.080 | 57,64 | 58 | 4.315.080 | 57,70 | 58 |
Bündnis '90/Die Grünen | 4.110.355 | 54,90 | 55 | 4.110.355 | 54,96 | 55 |
FDP | 3.538.815 | 47,27 | 47 | 3.538.815 | 47,32 | 47 |
gesamt (nur Bundestagsparteien) | 44.620.479 | 596,001 | 596 | 44.570.479 | 595,991, 2 | 596 |
1 Die beiden Mandate für die PDS-Abgeordneten wurden zuvor abgezogen (Ausgangslage 598 Sitze)
2 Rundungsfehler
Das heißt, die Gesamtgrundmandatszahl für die SPD verbleibt bei 247. Diese 247 Sitze werden nun entsprechend den in den Ländern erreichten Stimmen der SPD vergeben:
Berechnung Sitze für die SPD für die Bundestagswahl 2002
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Land | Wählerstimmen für SPD | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze letztendlich | Wählerstimmen | Sitze nach Hare-Niemeyer | Sitze letztendlich |
---|---|---|---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 1.989.524 | 26,58 | 27 | 1.989.524 | 26,65 | 27 |
Bayern | 1.922.551 | 25,68 | 26 | 1.922.551 | 25,75 | 26 |
Berlin | 685.170 | 9,15 | 9 | 685.170 | 9,18 | 9 |
Brandenburg | 707.871 | 9,46 | 10 | 657.871 | 8,81 | 9 (-1) |
Bremen | 183.368 | 2,45 | 2 | 183.368 | 2,46 | 3 (+1) |
Hamburg | 404.738 | 5,41 | 5 | 404.738 | 5,42 | 5 |
Hessen | 1.355.496 | 18,11 | 18 | 1.355.496 | 18,16 | 18 |
Mecklenburg-Vorpommern | 405.415 | 5,42 | 5 | 405.415 | 5,43 | 5 |
Niedersachsen | 2.318.625 | 30,98 | 31 | 2.318.625 | 31,06 | 31 |
Nordrhein-Westfalen | 4.499.388 | 60,11 | 60 | 4.499.388 | 60,27 | 60 |
Rheinland-Pfalz | 918.736 | 12,27 | 12 | 918.736 | 12,31 | 12 |
Saarland | 295.521 | 3,95 | 4 | 295.521 | 3,96 | 4 |
Sachsen | 861.685 | 11,51 | 12 | 861.685 | 11,54 | 12 |
Sachsen-Anhalt | 618.016 | 8,26 | 8 | 618.016 | 8,28 | 8 |
Schleswig-Holstein | 743.838 | 9,94 | 10 | 743.838 | 9,96 | 10 |
Thüringen | 578.726 | 7,73 | 8 | 578.726 | 7,75 | 8 |
gesamt (nur SPD) | 18.488.668 | 247,013 | 247 | 18.438.668 | 246,993 | 247 |
3 Rundungsfehler
Übersicht über die Überhangmandate (ÜM)
Reale Stimmenverhältnisse | 50.000 SPD-Stimmen in Brandenburg weniger | |||||
Land | Landeslistensitze SPD | Direktmandate SPD | Sitze letztendlich | Landeslistensitze SPD | Direktmandate SPD | Sitze letztendlich |
---|---|---|---|---|---|---|
Baden-Württemberg | 27 | 7 | 27 | 27 | 7 | 27 |
Bayern | 26 | 1 | 26 | 26 | 1 | 26 |
Berlin | 9 | 9 | 9 | 9 | 9 | 9 |
Brandenburg | 10 | 10 | 10 | 9 | 10 | 10 (1 ÜM) |
Bremen | 2 | 2 | 2 | 3 | 2 | 3 |
Hamburg | 5 | 6 | 6 (1 ÜM) | 5 | 6 | 6 (1 ÜM) |
Hessen | 18 | 17 | 18 | 18 | 17 | 18 |
Mecklenburg-Vorpommern | 5 | 5 | 5 | 5 | 5 | 5 |
Niedersachsen | 31 | 25 | 31 | 31 | 25 | 31 |
Nordrhein-Westfalen | 60 | 45 | 60 | 60 | 45 | 60 |
Rheinland-Pfalz | 12 | 7 | 12 | 12 | 7 | 12 |
Saarland | 4 | 4 | 4 | 4 | 4 | 4 |
Sachsen | 12 | 4 | 12 | 12 | 4 | 12 |
Sachsen-Anhalt | 8 | 10 | 10 (2 ÜM) | 8 | 10 | 10 (2 ÜM) |
Schleswig-Holstein | 10 | 10 | 10 | 10 | 10 | 10 |
Thüringen | 8 | 9 | 9 (1 ÜM) | 8 | 9 | 9 (1 ÜM) |
gesamt (nur SPD) | 247 | 171 | 251 (4 ÜM) | 247 | 171 | 252 (5 ÜM) |
Durch den einen Sitz, der der Landesliste Brandenburg verloren geht und dafür der Bremer Landesliste zufällt, entsteht in Brandenburg ein zusätzliches Überhangmandat, welches der SPD 252 Sitze im Bundestag anstatt nur 251 einbringt.
Weblinks
- Wahlrecht.de - Negatives Stimmgewicht
- Spektrum der Wissenschaft 1999, S. 71, Paradoxien des Bundestags-Wahlsystems