Comte de Lautréamont

Lautréamont, auch Comte de Lautréamont, Pseudonym für Isidore Lucien Ducasse (* 4. April 1846 in Montevideo, Uruguay, † 24. November 1870 in Paris), war ein französischer Dichter, dessen einziges Werk „Die Gesänge des Maldoror“ auf die Literatur der Moderne und namentlich auf den Surrealismus großen Einfluss ausübte.
Leben
Lautréamonts Leben und die genauen Umstände seines Todes lagen Jahrzehnte lang im Dunklen. Außer der Geburts- und Sterbeurkunde und sechs Briefen war nichts über ihn bekannt. Mittlerweile sind einige Daten und Marginalien recherchiert, 1977 wurde sogar eine Fotografie von ihm gefunden, 1980 hat man einen siebenten Brief an Victor Hugo entdeckt. Dennoch gehört seine Biographie zu den großen Unbekannten der Literaturgeschichte.
Über sein Leben ist nicht viel mehr bekannt, als dass er 1846 in Montevideo geboren wurde, später in Paris lebte und mit 24 Jahren in einem Hotel verstarb. Im Jahr 1868 übergab er einem Verleger das Manuskript seiner „Chants de Maldoror“, der das kaum gedruckte Buch jedoch wieder aus dem Handel zog. Es erschien nicht zu seinen Lebzeiten.
Das Pseudonym Lautréamont, das Ducasse 1869 aus Vorsicht vor der Zensur im zweiten Kaiserreich für die Herausgabe seiner Dichtung „Die Gesänge des Maldoror“ wählte, ist Eugène Sues „Latréaumont“ entnommen, einem populären Schauerroman von 1837 mit einem blasphemischen Anti-Helden. Lautréamont paraphrasierte den Titel wahrscheinlich als l’autre Amon (der andere Amon - der Engel des Bösen). Nach anderer Deutung steht es für „die andere Seite des Flusses“ (l'autre Amont).
Jugend
Isidore Lucien Ducasse wurde am 4. April 1846 als Sohn des französischen Konsulatsbeamten François Ducasse und seiner Frau Jacquette-Celestine Davezacin in Montevideo (Uruguay) geboren. Über Isidores Kindheit ist so gut wie nichts bekannt, außer dass er am 16. November 1847 in der Kathedrale von Montevideo getauft wurde und dass kurz darauf seine Mutter starb, wahrscheinlich infolge einer Epidemie. 1851 erlebte er als Fünfjähriger das Ende der achtjährigen Belagerung Montevideos im argentinisch-uruguayischen Krieg, dessen grausame Details er zweifellos kennen lernte. Er wuchs dreisprachig auf, Französisch, Spanisch und Englisch, was ihm später die entsprechende Lektüre ermöglichte.
Mit dreizehn Jahren wurde Isidore im Oktober 1859 von seinem Vater ins Gymnasium nach Frankreich geschickt, wo er am Imperial Lycée in Tarbes (Hautes-Pyrénées) in französischer Erziehung und Technik geschult werden sollte. Dort schaffte er das Pensum zweier Jahre in einem und besuchte anschließend ab 1863 das Lycée Louis-Barthou in Pau (Aquitaine). Er belegte 1863/64 die Klassen Rhetorik und Philosophie (Unter- und Oberprima) und tat sich in Arithmetik und Zeichnen hervor, aber auch bereits durch Extravaganz in Denken und Stil. Er las Edgar Allan Poe, verschlang Shelley und besonders Byron, aber auch Mickiewickz, Milton, Southey, Musset, Baudelaire. Im Unterricht faszinierten ihn Racine und Corneille, vor allem aber die Szene der Blendung in Sophokles' „König Ödipus“. Für einen Aufsatz, den er nach den Erinnerungen seines Mitschülers Paul Lespès dazu nutzte „durch die zügellose Verwendung von Adjektiven und eine Anhäufung schrecklicher Todesbilder seine offensichtliche Verrücktheit zu zeigen“, wurde er von seinem Lehrer Gustave Hinstin in den Arrest gesteckt, was den jungen Isidore sehr getroffen haben soll. Nach dem Schulabschluss lebte er in Tarbes, wo er eine enge Freundschaft mit Georges Dazet schloss, dem Sohn seines Vormunds, er las viel und entschloss sich, Schriftsteller zu werden.
Jahre in Paris
Nach einem kurzen Aufenthalt bei seinem Vater in Montevideo ließ sich Ducasse Ende 1867 in Paris nieder und studierte an der École Polytechnique, gab dieses Vorhaben aber bereits ein Jahr später wieder auf. Die anhaltenden Zuwendungen des Vaters erlaubten es ihm, dem gesellschaftlichen Treiben von Paris fernzubleiben und sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen. Er wohnte im Viertel der Intellektuellen und großen Boulevards, in einem Hotel in der Rue Notre-Dame-des-Victoires Nr. 23 und arbeitete intensiv am ersten Gesang eines Prosagedichtes, das er wohl schon vor seiner Überfahrt begonnen und während der Ozeanreise fortgesetzt hatte. Er war häufiger Gast in den nahegelegenen Bibliotheken, als Anregung dienten ihm die Dichtungen der schwarzen Romantik, aber auch naturwissenschaftliche Werke und Enzyklopädien, aus denen er teilweise wörtlich zitierte. Der Verleger Léon Genonceaux beschreibt ihn als „großen, dunklen, jungen Mann, bartlos, unruhig, ordentlich und fleissig“ und berichtet, Ducasse habe „nur des Nachts an seinem Klavier“ geschrieben, „wo er laut deklamierte, wild in die Tasten schlug und zu den Klängen immer neue Verse heraus hämmerte“.
Im Herbst 1868 publizierte Ducasse anonym und auf eigene Kosten den ersten Gesang der „Gesänge des Maldoror“ (Les Chants de Maldoror, Chant premier, par ***), einen kühnen, alle Tabus brechenden Cantus über den Schmerz und die Grausamkeit, der zugleich aber ein beispielloser Text voll Schönheit, Größe und Erhabenheit ist. Das Buch schreckt auch vor Schilderungen extremster Gewaltphantasien nicht zurück, derart erstaunliche Phänomene des Bösen sind darin aufgeführt, dass es als eines der radikalsten Werke der abendländischen Literatur gilt.
Am 10. November 1868 schickte Isidore Ducasse einen Brief an den Dichter Victor Hugo, dem er zwei Exemplare des ersten Gesanges beilegte, und in dem er diesen um ein Empfehlungsschreiben für die weitere Veröffentlichung bat. Eine Neuausgabe des ersten Gesanges erschien Ende Januar 1869 in Bordeaux in der Anthologie „Parfums de l'Ame“. Dafür verwendete Isidore Ducasse erstmals sein Pseudonym „Comte de Lautréamont“.
Die Gesamtausgabe der insgesamt sechs Gesänge sollte im Spätsommer 1869 bei Albert Lacroix in Brüssel erscheinen, der auch der Verleger Eugène Sues war. Die Ausgabe lag bereits vollständig gedruckt vor, als Lacroix aus Angst vor der Zensur die Auslieferung an die Buchhändler verweigerte. Den Grund sah Ducasse in der Tatsache, „dass das Leben darin in zu herben Farben gemalt ist.“ (Brief an den Bankier Darasse vom 12. März 1870)
Ducasse bat den Verleger Auguste Poulet-Malassis, der 1857 Baudelaires „Blumen des Bösen“ herausgegeben hatte, dringend, an die Literaturkritiker Rezensions-Exemplare zu schicken, da sie allein „den Anfang einer Publikation beurteilen, die ihr Ende sicher erst später sehen wird, wenn ich das meine gesehen habe“. Er versuchte seine Position zu erklären und bot für kommende Auflagen sogar an, einige „zu starke Stellen“ zu streichen:
- „Ich habe das Böse besungen, wie Mickiewickz, Byron, Milton, Southey, A. de Musset, Baudelaire und andere es getan haben. Natürlich habe ich die Register ein wenig übertrieben gezogen, um etwas Neues im Sinne einer erhabenen Literatur zu erschaffen, die die Verzweiflung nur besingt, um den Leser zu bedrücken und ihn dadurch das Gute als Heilmittel wünschen zu lassen. Infolgedessen ist es immer das Gute, das man besingt, nur ist die Methode eine philosophischere und weniger naiv als die der alten Schule. (...) Ist dies das Böse? Nein, gewiss nicht.“ (Brief vom 23. Oktober 1869)
Poulet-Malassis erwähnte das Buch im gleichen Monat in einer Literaturzeitschrift, sonst nahm so gut wie niemand davon Notiz. Lediglich im „Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire“ wurde im Mai 1870 lapidar bemerkt, „das Buch werde wohl einen Platz unter den bibliographischen Kuriositäten finden“.
Früher Tod
Seit dem Frühjahr 1869 hatte Ducasse häufig die Wohung gewechselt, von der Rue du Faubourg-Montmartre 3 zog er in die Rue Vivienne 15, danach kehrte er zurück in die Rue du Faubourg-Montmartre und mietete er sich auf Nr. 7 in einem Hotel ein. Während er immer noch auf die Auslieferung der „Gesänge“ wartete, arbeitete Ducasse an einem neuen Text, einer Ergänzung seiner „Phänomenologie des Bösen“, in der er das Gute besingen wollte. Die beiden Werke sollten ein Ganzes bilden, eine Dialektik von Gut und Böse. Das Werk blieb jedoch Fragment.
Im April und Juni 1870 veröffentlichte Ducasse in zwei kleinen Broschüren, den Poésies I und II, das Vorwort zu diesen geplanten „Gesängen des Guten“, in denen er die beiden Teile seines Werkes mit den Begriffen „Philosophie“ und „Poésie“ unterschied und unter der Prämisse, dass der Ausgangspunkt des Kampfes gegen das Böse die Umkehr sei, verkündete:
- „Ich ersetze die Schwermut durch den Mut, den Zweifel durch die Gewissheit, die Verzweiflung durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute, die Klagen durch die Pflicht, die Skepsis durch den Glauben, die Sophismen durch kühlen Gleichmut und den Hochmut durch die Bescheidenheit“.
Gleichzeitig griff er Texte berühmter Autoren auf, kehrte ihren Sinn um, korrigierte und plagiierte sie sogar ausdrücklich: „Das Plagiat ist notwendig. Es ist im Fortschritt inbegriffen. Es geht dem Satz eines Autors zu Leibe, bedient sich seiner Ausdrücke, streicht eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige Idee.“ Darunter befanden sich vor allem die „Pensèes“ von Blaise Pascal und die Maximen La Rochefoucaulds, aber auch das Werk von La Bruyére und Vauvenargues, Dante, Kant und La Fontaine und sogar „Verbesserungen“ seiner eigenen „Gesänge“. Die Heftchen aphoristischer Prosa hatten „keinen Preis“, jeder Subskribent konnte entscheiden, welche Summe er dafür bezahlen wollte.
Am 19. Juli 1870 erklärte Napoleon III. Preußen den Krieg, nach der Gefangennahme Napoleons begann am 17. September die Belagerung von Paris, eine Situation, die Lautréamont schon aus seiner KIndheit in Montevideo kannte. Während der Belagerung verschlechterten sich die Lebensbedingungen rapide, Ducasse erkrankte laut Auskunft seines Hotelbesitzers an einem „bösartigen Fieber“.
Lautréamont starb mit vierundzwanzig Jahren am 24. November 1870 um acht Uhr morgens in seinem Hotel. Auf seiner Sterbeurkunde stand neben den Lebensdaten: „keine weiteren Auskünfte“. Da man im belagerten Paris Seuchen fürchtete, wurde Ducasse noch am nächsten Tag nach einem Gottesdienst in Notre-Dame-de-Lorette in einem provisorischen Grab auf dem Cemetière du Nord beigesetzt. Im Januar 1871 wurde sein Leichnam umgebettet.
Lautréamont hat in seinen „Poésies“ verkündet: „Ich werde keine biographischen Erinnerungen hinterlassen.“, und so liegt das Leben des mysteriösen Schöpfers der „Gesänge des Maldoror“ weiterhin im Dunklen.
Die Gesänge des Maldoror
Inhalt
Maldoror, Held und Ich-Figur, ist die Inkarnation des Bösen schlechthin. Er ist „ein schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit“, wie Maurice Maeterlinck geschrieben hat, eine „Sonne des Bösen“ (Aurore du Mal = Maldoror) und findet sich auf unserem Planeten wieder, gestrandet unter der ihm verhassten Menschheit, der er ihre eigene Schlechtigkeit vor Augen führen will.
- „Bei seinem Namen erzittern die himmlischen Heerscharen; und mehr als einer erzählt, dass Satan selbst, Satan die Inkarnation des Bösen, nicht so schrecklich sei.“ (6. Gesang, 8. Strophe)
Maldoror führt in verschiedenen Masken und Metamorphosen eine nicht enden wollende Schlacht gegen die menschliche Kreatur und Gott, seinen Erzfeind, sein erklärtes Ziel ist es, Gott und die Menschen in ihrer Schlechtigkeit zu übertreffen. Seine Mittel hierzu lauten: Ängste, Wirrnisse, Entwürdigungen, Grimasse, Herrschaft der Ausnahme und des Absonderlichen, Dunkelheit, wühlende Phantasie, das Finstere und Düstere, Zerreißen in äußerste Gegensätze, Hang zum Nichts.
- „Meine Poesie wird aus einem einzigen Angriff bestehen, geführt mit allen Mitteln gegen den Menschen, diese reißende Bestie, wie auch gegen den Schöpfer, der solch ein Ungeziefer niemals hätte erschaffen dürfen. Bände auf Bände werden sich türmen bis ans Ende meines Lebens, und doch wird man darin immer nur diesen einzigen meinem Bewusstsein dauernd gegenwärtigen Gedanken finden.“ (2. Gesang, 4. Strophe)
Maldorors grausam-luziferischer Schatten streicht durch den Tag, er trifft nur auf Tod und Schrecken, und des Nachts wird er heimgesucht von Phantomen und der Erinnerung an unaussprechliche Grausamkeiten.
- „Ich bediene mich meines Geistes, um die Wonnen der Grausamkeit zu schildern, keine flüchtigen, künstlichen Wonnen, sondern solche, die mit dem Menschen begonnen haben, die mit ihm enden werden.“ (1. Gesang, 4. Strophe)
Als satanischer Verführer will er auch andere zum Bösen verleiten, oft nur, um seine Opfer (häufig Kinder) zu quälen. Im ersten Gesang hat er „einen Pakt mit der Prostitution geschlossen, um in den Familien Zwietracht zu säen“ und trägt den „Beinamen Vampir“, dem nichts so gut ist wie das Blut eines Kindes, „wenn man es noch ganz warm trinkt“. Seine Bösartigkeit schlägt sich in minuziös beschriebenen Folterszenen nieder.
- „Man lasse seine Nägel vierzehn Tage wachsen. O! ist es süß, ein Kind, dem noch nichts auf der Oberlippe wächst, brutal aus dem Bett zu reißen und, die Augen weit geöffnet, so zu tun, als führe man sanft mit der Hand über seine Stirn, um die schönen Haare zurückzustreichen! Dann plötzlich, in dem Augenblick, wenn es dies am wenigsten erwartet, die langen Nägel in seine weiche Brust zu graben, aber so, daß es nicht stirbt; stürbe es nämlich, könnte man es später nicht leiden sehen.“ (1. Gesang, 6. Strophe)
Im dritten Gesang zeigt uns Maldoror eine Frau, die er in den Wahnsinn getrieben hat, indem er ihre kleine Tochter vergewaltigt und seine Bulldogge auf sie gehetzt hat, um den Leichnam sodann mit einem Taschenmesser auszuweiden:
- „Dieser zieht ein amerikanisches Taschenmesser hervor, mit zehn bis zwölf Klingen, die verschiedenen Zwecken dienen. Er öffnet die scharfkantigen Beine dieser stählernen Hydra; und macht sich, da er sieht, dass der Rasen noch nicht unter der Farbe des so reichlich vergossenen Blutes verschwunden ist, daran, mit diesem Skalpell mutig, ohne zu erbleichen, die Vagina des unglücklichen Kindes zu durchforschen. Aus diesem erweiterten Loch zieht er nacheinander die inneren Organe heraus: die Därme, die Lungen, die Leber und schließlich das Herz selbst werden von ihrem Sitz gerissen und durch die schreckliche Öffnung an das Tageslicht gezerrt. Der Opferer bemerkt, dass das kleine Mädchen, ein ausgenommenes Hühnchen, schon lange tot ist; er unterbricht das ständige Wachsen seiner Raserei und läßt die Leiche im Schatten der Platane weiterschlafen.“ (3. Gesang, 2. Strophe)
Im vierten Gesang wird ein Mann drei Tage an seinen Haaren aufgehängt, weil er sich geweigert hat, mit seiner Mutter sexuell zu verkehren. Er wird von ihr und seiner Frau („die beiden scheußlichsten Exemplare der menschlichen Rasse“) geteert und ausgepeitscht.
Maldoror ist aber nicht nur Sadist und Erotomane („Meine Geschlechtsteile bieten ewig das düstere Schauspiel der Schwellung“), er trägt bisweilen auch masochistische Züge: Nach der genüsslich ausgedehnten Zerfleischung eines Jünglings hegt er den Wunsch, im Tod, in der Unendlichkeit, Gleiches von dem Jungen angetan zu bekommen. Und auch die Selbstqual, das Selbstzerfleischen, ist ihm bekannt.
- „Ich habe lachen wollen wie die anderen; aber dies war unmöglich. Ich habe ein Federmesser mit scharfer Klinge genommen und mir das Fleisch dort aufgeschlitzt, wo sich die Lippen vereinigen ...“ (1. Gesang, 5. Strophe)
Maldorors Grundauffassung, dass Leben Leid und Schmerz bedeute („erinnere dich wohl, wir sind auf diesem entmasteten Schiff, um zu leiden“), resultiert aus der Erkenntnis, dass der Mensch schlecht sei. Wiederholt beklagt er dessen Egoismus und Kälte sowie die Grausamkeit Gottes, der ihn erschuf:
- „Was soll die Ungerechtigkeit in den höchsten Beschlüssen? Ist er von Sinnen, der Schöpfer?“ (1. Gesang, 13. Strophe)
Lautréamonts Hass steigert sich bis zur Blasphemie; so lässt er Gott sich vor einem Haar rechtfertigen, das er in einem anrüchigen Hause verloren hat. Maldoror kommt in ein Bordell und findet dort ein sprechendes Haar, das in einem verzweifelten Monolog nach dem Herrn ruft und nach den Gründen fragt, warum sein Herr hierher kam und sich mit einer Dirne beschmutzte. Als der Herr zurückkommt, um das verlorene Haar wieder an sich zu nehmen, ist es Gott, voller Scham über die Tat und mit den Vorwürfen Satans beladen. Reumütig hält er Gericht über sich selbst und anerkennt das Recht des Menschen auf Revolte gegen seinen Schöpfer. Maldoror schildert den Schöpfer auf der Straße liegend und „abscheulich betrunken“:
- „Betrunken wie eine Wanze, die während der Nacht drei Tonnen Blut geschluckt hat! (...) Der Mensch, der vorüberging, blieb vor dem verkannten Schöpfer stehen, und unter dem Beifall der Filzlaus und der Otter beschmutzte er das erhabene Gesicht drei Tage lang mit Kot!“ (3. Gesang, 4. Strophe)
Den Selbstmord als Befreiung untersagt er seinem Helden:
- „Ich habe das Leben wie eine Wunde empfangen, und ich habe dem Selbstmord verboten, die Narbe zu heilen. Ich will, dass der Schöpfer zu jeder Stunde seiner Ewigkeit den klaffenden Riss betrachte. Das ist die Sühne, die ich ihm auferlege.“ (3. Gesang, 1. Strophe)
Maldorors verzweifelter Kampf gegen Gott und den Menschen, jenen „sublimen Affen“, zeichnet ein in höchstem Maße grausames Bild der Welt und der Natur des Menschen, eine alptraumhafte Welt des Horrors und der befreienden Erlösung, in der Maldoror einen Freund sucht, eine verwandte Seele. Er findet sie in einer Haiin, die er beim Verschlingen von Schiffbrüchigen beobachtet:
- „Ich suchte eine Seele, die mir ähnlich wäre, und konnte sie nicht finden. Ich durchsuchte die verborgensten Winkel der Erde; meine Ausdauer war vergeblich. Allein konnte ich jedoch nicht bleiben. Ich brauchte jemanden, der meinen Charakter bejahte; ich brauchte jemanden, der ebenso dachte wie ich. (...) Einige Minuten lang sahen sie sich fest ins Gesicht; und beide erstaunten, so viel grausame Lust in den Blicken des anderen zu finden. Schwimmend drehen sie sich im Kreise, lassen einander nicht aus den Augen und jeder sagt sich: ‚Ich lebte bis jetzt im Irrtum; da ist einer, der böser ist als ich.‘ Da glitten sie zwischen zwei Wellen, einstimmig und in gegenseitiger Bewunderung aufeinander zu, die Haiin, das Wasser mit ihren Flossen zerteilend, und Maldoror, die Fluten mit seinen Armen schlagend; und sie hielten den Atem an in tiefer Verehrung, jeder von dem Wunsche erfüllt, zum erstenmal sein lebendiges Ebenbild zu betrachten.“ (2. Gesang, 13. Strophe)
Der sechste und letzte Gesang wird im Text als „kleiner Roman“ bezeichnet und erzählt die abgeschlossene Geschichte des Jünglings Mervyn (für dessen Schönheit Lautréamont die berühmte Metapher vom „zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ verwendete), der von Maldoror durch Paris verfolgt wird, um Gott „die Beute abspenstig zu machen“. Gott schickt einen Erzengel in Gestalt eines Taschenkrebses, „um den Jüngling vor einem sicheren Tod zu retten“ und Maldoror zur Rechenschaft zu ziehen, doch dieser wird von Maldoror erschlagen und Mervyn fällt Maldoror anheim:
- „Er entfaltete den Sack, den er bei sich trug, öffnete ihn, und steckte, indem er den Jüngling beim Kopf ergriff, den ganzen Körper in die Stoffhülle. Er verknotet mit seinem Taschentuch das Ende, das als Eingang diente. Da Mervyn schrille Schreie ausstieß, hob er den Sack wie ein Wäschebündel und schlug ihn mehrmals gegen das Brückengeländer. Da hielt der Delinquent, der bemerkt hatte, wie seine Knochen krachten, den Mund. Einzigartige Szene, auf die kein Romancier wieder kommen wird!“
Mervyn wird von der Säule des Place Vendôme auf die Kuppel des Panthéon geschleudert, wo man ihn als „ausgetrocknetes Skelett“ bestaunen kann.
Form und Stil
Die sechs Gesänge sind in 60 Strophen unterschiedlicher Länge unterteilt (I/14, II/16, III/5, IV/8, V/7, VI/10), waren ursprünglich nicht nummeriert und nur durch Querstriche getrennt. Die letzten acht Strophen des letzten Gesangs, der als kleiner Roman in sich abgeschlossen ist, waren mit römischen Ziffern versehen. Jeder Gesang schließt mit einer Zeile ab, die dessen Ende indiziert.
Am Anfang und am Ende der einzelnen Gesänge verweist der Text oft auf das Werk selbst, Lautréamont spricht mit Bezug auf den tatsächlichen Autor Isidore Ducasse, den er auch als „Montevideaner“ zu erkennen gibt. Um den Leser spüren zu lassen, dass er sich auf eine „gefährliche philosophische Wanderung“ begibt, bedient sich Lautréamont der Identifizierung des Lesers im Text mit dem Leser des Textes, ein Verfahren, das schon Baudelaire in der Leseanweisung für Les Fleurs du Mal verwendet hat. Ducasse kommentiert das Werk auch und gibt Anweisungen für dessen Lektüre. Schon der erste Satz enthält eine „Warnung“ an den Leser:
- „Gebe der Himmel, dass der Leser, erkühnt und augenblicklich von grausamer Lust gepackt gleich dem, was er liest, seinen abrupten und wilden Weg durch die trostlosen Sümpfe dieser finstren und gifterfüllten Seiten finde, ohne die Richtung zu verlieren; denn wofern er nicht mit unerbitterlicher Logik und einer geistigen Spannung, die wenigstens seinen Argwohn aufwiegt, an diese Lektüre geht, werden die tödlichen Emanationen dieses Buches seine Seele durchtränken wie das Wasser den Zucker“
Lautréamont schuf eine Bilderwelt infernalischer Grausamkeit, die alle literarischen Konventionen des 19. Jahrhunderts sprengte. Das Werk ist aber auch formal einzigartig. An die schwarze Romantik und die visionäre Bildsprache des Symbolismus angelehnt, verbindet Lautréamont Ironie mit absurder Komik, verwendet szenische Dialoge und Stilmittel wie die altgriechische Palinodie (Beschimpfung). Die Sprache ist überaus bildhaft, assoziativ und rauschhaft und gleitet manchmal, die écriture automatique des Surrealismus vorwegnehmend, ins Halluzinatorisch-Groteske hinüber. Lautréamont hat unter dem Eindruck eines Vortrags von Ernest Naville aus dem Jahre 1867/1868 zumindest Teile der „Chants de Maldoror“ 'automatisch' geschrieben.
Das Zusammenbringen von Gegensätzlichem, Unvereinbarem, Grausigem und Banalem, aber auch Technischem und Wissenschaftlichem in Lautréamonts Dichtung spiegelt das Bemühen wider, das Undurchschaubare, das Zerfallene mit den Mitteln der Sprache zu bannen. „Dekomponieren und Deformieren“ hat Baudelaire diesen Strukturzwang in der modernen Poesie genannt.
Das vorherrschende Stilmittel ist die Metapher. Berühmt geworden ist jene Stelle, in der Lautréamont die Schönheit des Jünglings Mervyn beschreibt:
- „Er ist schön wie die Einziehbarkeit der Fänge von Raubvögeln; oder auch wie die Unsicherheit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile in der Gegend des hinteren Nackens; oder noch eher wie diese dauernd wirksame Rattenfalle, die immer vom gefangenen Tier neu gespannt wird, also selbsttätig unendlich Nager autnehmen kann und sogar unter Stroh verborgen funktioniert; und vor allem wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!“ (6. Gesang, 3. Strophe)
Das Werk enthält aber auch von der Geschichte Maldorors unabhängige lyrisch-hymnische Passagen, etwa eine flutende Hymne an den Ozean:
- „Alter Ozean, o großer Junggeselle, wenn du die feierliche Einsamkeit deiner phlegmatischen Reiche durcheilst, bist du stolz auf deine Herrlichkeit von Geburt und auf das wahre Lob, das ich dir eifrig spende. (...) Ich grüße dich, alter Ozean!“ (I, 9)
An anderer Stelle kritisiert Lautréamont die Literaturkritik, besingt die „unbegreiflichen Päderasten“ und verherrlicht in einer Ode die Mathematik:
- „O strenge Mathematik, ich habe dich nicht vergessen, seit deine gelehrten Lektionen, süßer als Honig, wie eine erfrischende Woge in mein Herz drangen. (...) Arithmetik! Algebra! Geometrie! grandiose Dreifaltigkeit! leuchtendes Dreieck! Wer euch nicht gekannt hat, ist ein Narr!“ (II, 10)
Bemerkenswert ist das Vorkommen der verschiedensten Tierarten, deren Gewalttätigkeit und Grausamkeit ganze Strophen füllen (Gaston Bachelard hat insgesamt 185 gezählt): Die Laus, die nur dem Werk der Vernichtung lebt (II,9), der Skarabäus, der die Überreste der getöteten Geliebten vor sich herschiebt (V,2), ein wildes Schwein, das nach Herzenslust tötet (IV,6), der Delphinmensch (IV,7) oder der menschenfressende Gott (II,8).
Man hat „Die Gesänge des Maldoror“ aufgrund ihrer Grausamkeiten oft mit dem Werk des Marquis de Sade verglichen, ein Vergleich, dem Maurice Blanchot in seinem Essay „Lautréamont and Sade“ (1949) allerdings entgegen trat: „Bei Lautréamont findet man von Anfang an eine natürliche Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit, eine starke Sehnsucht nach Tugend und einen mächtigen Stolz, der weder von Perversion noch vom Bösen geleitet wird.“
Einflüsse
Es wurde immer wieder versucht, aus den „Gesängen des Maldoror“ auch Schlussfolgerungen auf das rätselhafte Leben des Autors zu ziehen. Konkrete Erlebnisse wie die viermalige Überquerung des Ozeans, die damals einen Monat dauerte und die in der „Hymne an den Ozean“ ihren Niederschlag gefunden hat, das gelegentliche Auftauchen von Pariser Straßennamen oder zeitgenössischen Mördern können jedoch nicht mehr sein als Bruchstücke bei der Erforschung einer erst „langsam exhumierten“ Biographie.
Lediglich der Kindheit in Montevideo, sich selbst als Dichter und seinem Schulfreund Georges Dazet hat Lautréamont deutlich Reverenz erwiesen:
- „Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird seinen Dichter sehen (sollte er auch nicht sogleich mit einem Meisterwerk beginnen, sondern dem Naturgesetz folgen); er ist an den Ufern Amerikas geboren, an der Mündung des La Plata, dort, wo zwei Völker, einst Rivalen, sich jetzt bemühen, einander durch materiellen und moralischen Fortschritt zu überflügeln. Buenos Aires, die Königin des Südens, und Montevideo, die Kokette, reichen sich die Freundeshand über die silbernen Wasser der großen Mündung. Aber der ewige Krieg hat seine zerstörerische Herrschaft über das Land aufgerichtet und rafft voll Wonne zahlreiche Opfer dahin. Lebe wohl, Greis, und gedenke meiner, wenn du mich gelesen hast. Du, junger Mann, sei nicht verzweifelt; denn im Vampir hast du einen Freund, trotz deiner gegenteiligen Meinung. Wenn du die Milbe mitzählst, die die Krätze verursacht, hast du zwei Freunde!“ (1. Gesang, 14. Strophe)
Georges Dazet, mit dem Ducasse am Lycée in Tarbes studiert hatte und dessen Vater sein Vormund war, wurde in der ersten Ausgabe von 1868 an dieser Stelle noch mit vollem Namen als „zweiter Freund“ genannt, in der zweiten Ausgabe im Jahr darauf war er nur mehr „D“, und in der Gesamtausgabe wurde er dann völlig weggelassen und durch „Krätzmilbe“ ersetzt. Der Grund dafür scheint darin gelegen zu haben, dass Dazet nach dem Erscheinen gegen die Nennung seines Names protestierte, was Ducasse bewog, ihn an allen Stellen durch abstoßende Tiernamen zu ersetzen.
Die Freundschaft mit George Dazet und Zeilen wie „Immer habe ich schändlichen Geschmack an bleichen Schulbuben und kränklichen Fabrikskindern gefunden“ in der Strophe der „Päderasten“ im fünften Gesang hat Forscher dazu veranlasst, über eine mögliche Homosexualität zu spekulieren. Andeutungen über „den Mund voller Blätter der Belladonna“ (II,1) als Beweis für Rauschgift wie auch Vermutungen, Lautréamont habe sozialrevolutionären und anarchistischen Zirkeln nahe gestanden, sind ohne Beweise geblieben.
Den wichtigsten Einfluss auf Ducasses Werk hatte sicherlich der Schweizer Philosoph Ernest Naville, dessen Vortragsreihe „Le Problème du mal“ (Das Problem des Bösen) 1868 in Genf als Buch erschien. Naville zählte darin drei Kennzeichen des „Guten“ auf, die allesamt in den „Gesängen des Maldoror“ auftauchen: Das Gewissen (in der zweiten Strophe ermordet Maldoror das Gewissen, das er „das gelbe Gespenst nennt“), die Freude (Maldoror ist freudlos, erst versucht er das Lachen in I,5 zu erzwingen, dann bekennt er in IV,2: „es ist sehr schwer, Lachen zu lernen“) und zuletzt die Ordnung als das Gute der Vernunft (Lautréamont drückt im 2. Gesang seine Verehrung für die Mathematik aus, deren „unbeirrbare Logik“ und „äusserste Kälte“ jenseits von Gut und Böse existiert). In einem nach christlichem Muster formulierten pessimistischen Weltverständnis, nach dem der Mensch zwar für das Gute geschaffen ist, aber bemerkt, inmitten des Bösen zu leben und sein Leben als Beute des Todes erfährt, forderte Naville den Menschen auf, Widerstand zu leisten. Dabei beschrieb er als die treibender Kraft menschlichen Strebens auf dem Weg zur Läuterung das Lob des Bösen. Genau diese Entwicklung nahm Lautréamont von seinen „Gesängen“ zu den „Poésies“: „Ich habe meine Vergangenheit verleugnet. Ich besinge nur noch die Hoffnung.“ Aber um dies zu tun, schrieb er in einem Brief an den Bankier seines Vaters, müsse man zuerst „die Zweifel dieses Jahrhunderts“ angreifen: „Schwermut, Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Jammer, grausiges Gewieher, künstliche Bosheiten, kindischen Hochmut, alberne Flüche.“ Navilles moralischer Gottesbeweis, den Lautréamont „die seltsame These“ nennt, hat diesen bei der Konzeption seiner „Poésies“ maßgeblich beeinflusst.
Wirkungsgeschichte
Lautréamonts Werk überlebte nur durch einen Glücksfall und wurde auch nur durch Zufall der Nachwelt überliefert. Der Autor hatte noch verschiedenen Änderungen zugestimmt, um die Zensur zu umgehen und eine Herausgabe zu ermöglichen, sein früher Tod verhinderte jedoch diesen Kompromiss. Erst 1890 wurden die „Gesänge“ einem größeren Publikum zugänglich gemacht, Ducasse erlebte das Erscheinen nicht mehr.
Neben Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud war es Lautréamont, der die moderne Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts am entscheidendsten beeinflusst hat. Er ist einer der wichtigsten Vorläufer des Surrealismus und wird oft dessen „Großvater“ genannt. Er gilt als Begründer der Poesie des Unbewussten, der Assoziation und Halluzination, der automatischen Schreibweise, der Poesie, die alle Grenzen überschreitet. Er berührt Satanismus, Revolte und Sprachalchimie, die an Gérard de Nerval und Baudelaire, an der Nachtseite der Romantik und am roman noir orientiert sind. Lautréamonts Themen sind mit denen des Marquis de Sade und viel später mit „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess verglichen worden.
19. Jahrhundert
Zu Lebzeiten hat Lautréamont außer einer kurzen Besprechung des ersten Gesanges durch Alfred Sircos in der Zeitschrift „La Jeunesse“ am 1. September 1868 und einer Erwähnung durch Auguste Poulet-Malassis, dem Verleger Baudelaires, nach dem Erscheinen der sechs Gesänge nicht die geringste Beachtung gefunden. Poulet-Malassis erwähnte das Buch am 25. Oktober 1869 im „Bulletin trimestriel des Publications défendues en France, imprimées à l'Estranger“ wo er Lautréamont „zur ebenso seltenen Gattung wie Baudelaire und Flaubert“ zählte und erläuterte, da der Autor wie diese glaube, „dass die ästhetische Schilderung des Bösen die stärkste Würdigung des Guten impliziert, die höchste Moral.“ Im Mai 1870 hieß es im „Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire“ nur noch „das Buch werde wohl einen Platz unter den bibliographischen Kuriositäten finden“.
Bevor die Gesamtausgabe von 1869, die der Verleger Lacroix nie an die Buchläden ausgeliefert hatte, eingestampft werden konnte, kaufte der Brüsseler Buchhändler Jean-Baptiste Rozez 1874 den gesamten Lagerbestand und veröffentlichte „Die Gesänge des Maldoror“, mit einem neuen Einband versehen, noch im gleichen Jahr, vier Jahre nach Lautréamonts Tod. Die Resonanz war auch diesmal gleich Null.
Ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung wurde 1885 der Herausgeber der belgischen Literaturzeitschrift „La Jeune Belgique“, Max Waller, auf das Buch aufmerksam und veröffentlichte im Oktober 1885 das Gespräch der Familie aus dem ersten Gesang. Er zeigte die "Gesänge“ seinen Freunden, den belgischen Schriftstellern Iwan Gilkin, Albert Giraud und Jules Destrée, der es wiederum Joris Karl Huysmans, dem Meister der Dekadenz, empfahl, Huysmans schrieb an Destrée: „Das ist ein ganz verrücktes Talent, dieser Comte de Lautréamont! (...) Was zum Teufel konnte wohl der Mensch im Leben machen, der diese furchbaren Träume geschrieben hat?“ Im Jahr darauf berichtete der katholische Erneuerer Léon Bloy in seinem autobiographischen Roman „Le Désespéré“ (Der Verzweifelte) vom Erscheinen eines „monströsen Buches, das in Frankreich noch unbekannt, in Belgien aber seit zehn Jahren veröffentlicht“ sei. In seinem Artikel „Le cabanon de Prométhée“ (Die Hütte des Prometheus) bezeichnete Bloy den Text 1890 als „flüssige Lava von verblüffender, panischer Schönheit“ und als „das Werk eines Verrückten, aber auch das eines großen Dichters“.
1890 wurden die „Gesänge“ neu herausgegeben. Der Verleger Léon Genonceaux ließ in seinem Vorwort biographische Recherchen über Lautréamont einfließen, zitierte aus Briefen und veröffentlichte sogar ein Brief-Faksimile, um Bloys These über die Verrücktheit des Autors entgegen zu treten.
1891 schließlich entdeckte der französische Symbolist Remy de Gourmont diese Neuausgabe der „Gesänge“ und wurde zum ersten großen Fürsprecher. Am 1. Februar verneigte er sich in der Zeitschrift Mercure tief vor dem Autor. Er recherchierte ein Exemplar der Erstausgabe und verfasste eine genaue vergleichende Beschreibung des Werkes, entdeckte aber auch das einzige Exemplar der Poésies in der Pariser Nationalibliothek und publizierte am 1. November die Geburtsurkunde Lautréamonts im Mercure. In seinem „Le Livre des Masques“ (Das Buch der Masken - Glossen und Dokumente über die Literatur von Gestern und Heute) nannte er ihn 1896 „einen junger Mann von wütender und unerwarteter Originalität und ein krankes, nachgerade verrücktes Genie“. Remy de Gourmont empfahl die „Gesänge“ auch dem Surrealismus-Vorläufer Alfred Jarry, der daraufhin in seinem Theaterstück „Haldernablou“ (publiziert am 1. Juli 1894 im „Mercure“) und in anderen Werken seiner Bewunderung für Lautréamonts „pataphysisches Universum“ Ausdruck verlieh und ihm in zahlreichen Zitaten Tribut zollte. Für die Neuausgabe von 1920 in der Editions de La Sirène schrieb Remy de Gourmont das Vorwort.
Um die Jahrhundertwende begeisterte sich der belgische Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck an Lautréamonts Dichtung, und rühmte sie als „Vorbild des genialen Werkes“: „Ein schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit ... blendende Blitze, violett und grün... Metaphern in der flammenden Nacht des Unbewußten.“ Und Andre Gide notierte am 23. November 1905: „Ich habe zuerst leise, dann laut den unvergleichlichen VI. Gesang des Maldoror gelesen. Durch welchen Zufall kannte ich ihn noch nicht? So etwas begeistert mich bis zur Ekstase!“
Danach geriet Lautréamont wieder in Vergessenheit.
Surrealismus
Während des ersten Weltkriegs entdeckte der französische Schriftsteller Philippe Soupault in der mathematischen Abteilung einer kleinen Buchhandlung in der Nähe des Pariser Lazaretts, in dem er 1917 untergebracht war, zufällig eine Ausgabe der „Gesänge des Maldoror“. In seinen Memoiren schreibt er:
- „Beim Licht einer Kerze, die mir erlaubt war, begann ich die Lektüre. Es war wie eine Erleuchtung. Gleich am Morgen las ich die ‚Gesänge‘ noch einmal, überzeugt, dass ich geträumt hätte... Am übernächsten Tag besuchte mich André Breton. Ich gab ihm das Buch und bat ihn, es zu lesen. Am folgenden Tag brachte er es zurück, ebenso begeistert wie ich.“
Durch diesen Zufall offenbarte sich Lautréamont den Surrealisten, sie machten ihn schnell zu ihrem Propheten. Damit begann der Siegeszug Lautréamonts. Als einer der poètes maudits (der verfluchten Dichter) wurde er neben Baudelaire und Rimbaud ins surrealistische Pantheon aufgenommen. André Gide sah es als bedeutendstes Verdienst von Aragon, Breton und Soupault an, „die literarische und ultraliterarische Bedeutung des erstaunlichen Lautréamont erkannt und verkündet“ zu haben. Für Gide war Lautréamont - mehr noch als Rimbaud - „der Schleusenmeister der Literatur von morgen“.
Louis Aragon und André Breton kopierten die einzigen Exemplare der Poésies in der Pariser Nationalibliothek und veröffentlichten den Text im April und Mai 1919 in zwei aufeinander folgenden Nummern ihrer Zeitschrift „Literature“, 1925 wurde Lautréamont eine Spezialnummer des Magazins „Le Disque vert“ mit dem Titel „Le cas Lautréamont“ (Der Fall Lautréamont) gewidmet. Viele surrealistische Autoren verfassten in der Folge Texte und Huldigungen zu Lautréamont, André Breton nahm ihn 1940 in seine „Anthologie des schwarzen Humors“ auf und schrieb in der Einleitung:
- „Die Grenzen sind gefallen, in denen Worte in Beziehung zu Worten, Dinge in Beziehung zu Dingen treten können. Ein Prinzip ständiger Verwandlung hat sich der Dinge wie der Ideen bemächtigt und zielt auf ihre totale Befreiung ab, die die des Menschen impliziert.“
1920 nahm Man Ray jene berühmt gewordene Stelle aus dem 6. Gesang als Ausgangspunkt für sein Werk „The Enigma of Isidore Ducasse“ (Das Geheimnis des Isidore Ducasse), in der Lautréamont „das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ beschrieben hatte. „Die Gesänge des Maldoror“ inspirierten zahreiche weitere bildende Künstler: Frans De Geetere, Salvador Dalí, Jacques Houplain und Rene Magritte illustrierten Gesamtausgaben, später auch Georg Baselitz. Einzelne Werke zu Lautreamont gibt es auch von Max Ernst, Victor Brauner, Oscar Dominguez, Espinoza, André Masson, Joan Miró, Matta Echaunen, Wolfgang Paalen, Kurt Seligmann und Yves Tanguy. Amedeo Modigliani trug immer ein Examplar der „Gesänge“ mit sich, die er laut auf dem Montparnasse zitierte.
In unmittelbarer Anlehnung an Lautréamonts „zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ hat Max Ernst die Struktur des surrealistischen Bildes definiert: „Accouplement de deux réalités en apparence inaccouplables sur un plan qui en apparence ne leur convient pas.”
Félix Vallotton und Salvador Dali fertigten „imaginäre“ Bildnisse Lautréamonts an, da von ihm kein Foto überliefert war.
Existentialismus
Albert Camus hat Lautréamont 1951 in seinem existentialischten Werk „L'homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte), zusammen mit dem Marquis de Sade, mit Nietzsche, Rimbaud und den Surrealisten, unter die Vertreter der „metaphysischen Revolte“, unter die „Söhne Kains“ eingereiht. Im Kapitel „La révolte métaphysique“ hat Camus die „Chants de Maldoror“ als Rache an Gott, der für alles Böse verantwortlich ist, interpretiert, als Revolte gegen eine absurde Schöpfung, gegen die Herrschaft des Bösen, die Gott zum Schuldigen stempelt, weil und wenn er allmächtig ist, und die ihn als Allmächtigen verneint, da er das Böse wider Willen zulässt. Freiheit lässt sich nur dadurch erringen, dass man Gott oder den Göttern die Führung im Böses-tun aus der Hand nimmt: Überbietung und Kulmination durch denjenigen, der betroffen ist, durch das Opfer, durch den Menschen.
Bibliographie
Werke von Lautréamont
- Les Chants de Maldoror - Chant premier, par ***, Imprimerie Balitout, Questroy et Cie, Paris, August 1868 (1. Gesang, anonym veröffentlicht)
- Les Chants de Maldoror - Chant premier, par Comte de Lautréamont, in: „Parfums de l'Ame“ (Anthologie, herausgegeben von Evariste Carrance), Bordeaux 1869 (1. Gesang, unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont veröffentlicht)
- Les Chants de Maldoror, A. Lacroix, Verboeckhoven et Cie, Brüssel 1869 (erste Gesamtausgabe, nicht ausgeliefert)
- Poésies I, Librairie Gabrie, Balitout, Questroy et Cie, Paris 1870
- Poésies II, Librairie Gabrie, Balitout, Questroy et Cie, Paris 1870
- Les Chants de Maldoror, Typ. De E. Wittmann, Paris und Brüssel 1874 (Gesamtausgabe von 1869, mit neuem Einband)
- Les Chants de Maldoror, Vorwort von Léon Genonceaux und mit einem Brief-Faksimile Lautréamonts, Ed. Léon Genonceaux, 1890 (Neuausgabe)
- Les Chants de Maldoror. Mit 65 Illustrationen von Frans De Geetere, Ed. Henri Blanchetièr, Paris 1927
- Les Chants de Maldoror. Mit 42 Illustrationen von Salvador Dali; Albert Skira Editeur, Paris 1934
- Œuvres Complètes. Mit einem Vorwort von André Breton und Illustrationen von Victor Brauner, Oscar Dominguez, Max Ernst, Espinoza, René Magritte, André Masson, Joan Miró, Matta Echaunen, Wolfgang Paalen, Man Ray, Kurt Seligmann und Yves Tanguy, G.L.M. (Guy Levis Mano), Paris 1938
- Maldoror, Mit 27 Illustrationen von Jacques Houplain, Societe de Francs-Bibliophiles, Paris 1947
- Les Chants de Maldoror. Mit 77 Illustrationen von Rene Magritte; Editions De „La Boetie“, Brüssel 1948
- Œuvres complètes. Fac-similés des éditions originales. La Table Ronde, Paris 1970 (Faksimiles der Originalausgaben)
- Œuvres complètes, nach der Ausgabe von 1938, mit den acht historischen Vorworten von Léon Genonceaux (Édition Genouceaux, Paris 1890), Rémy de Gourmont (Édition de la Sirène, Paris 1921), Edmond Jaloux (Edition Librairie José Corti, Paris, April 1938), Philippe Soupault (Edition Charlot, Paris, 1946) Julien Gracq (La Jeune Parque, Paris 1947), Roger Caillois (Edition Librairie José Corti 1947), Maurice Blanchot (Édition du Club Français du Livre, Paris 1949), Edition Librairie José Corti, Paris 1984
Deutsche Übersetzungen
- Gesamtwerk. Deutsch von Re Soupault (erste deutsche Ausgabe). Rothe, Heidelberg 1954
- Das Gesamtwerk. Die Gesänge des Maldoror; Dichtungen (Poesies); Briefe. Mit einem Nachwort von Re Soupault und mit Marginalien von Albert Camus, Andre Gide, Henri Michaux, Julien Gracq, Henry Miller, E. R. Curtius, Wolfgang Koeppen u.a., Rowohlt, Reinbek 1963; Überarbeitete Neuausgabe, Rowohlt, Reinbek 1988 ISBN 3-498-03836-2
- Die Gesänge des Maldoror. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Studie über den Autor und sein Werk von Re Soupault. Mit 20 Gouachen von Georg Baselitz. Im Anhang - Der Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautreamont und Carroll von Elisabeth Lenk, Rogner & Bernhard, München. 1976
- Poesie. Vorwort von Guy E. Debord und Gil J. Wolman. Übersetzt von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt. Mit Abbildungen. Edition Nautilus, Hamburg 1979 ISBN 3921523389
- Werke. Die Gesänge des Maldoror, Dichtungen, Briefe. Übersetzung von Wolfgang Schmidt, Edition Sirene, Berlin 1985
- Das Gesamtwerk. Die Gesänge des Maldoror, Dichtungen (Poésies), Briefe. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Re Soupault, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1988 ISBN 3-498-03836-2
- Die Gesänge des Maldoror (Übersetzung: Ré Soupault) Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 2004, ISBN 3-499-23547-1
Sekundärliteratur
- Rainer Wölzl: Lautreamont, Die Gesänge des Maldoror. Mit einem Essay von Peter Gorsen. Picus, Wien 1992, ISBN 3-85452-121-9
- Andre Breton: Die verlorenen Schritte. Essays, Glossen, Manifeste. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Holger Fock. Critica diabolis, Ed. Tiamat, Berlin 1989, ISBN 3-923118-96-1
- Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und Texte über Baudelaire, Coleridge, Lautreamont und Gérard de Nerval, Matthes & Seitz, München 1993, ISBN 3-88221-200-4
- Ulrich Berkes: Eine schlimme Liebe. Tagebuch über Leben und Werk des Dichters Isidore Ducasse, Aufbau, Berlin/Weimar 1987, ISBN 3-351-00342-0
- Das Geheimnis des unglaublichen Comte de Lautréamont, Texte zu Lautréamont von Aimé Césaire, René Daumal, Tristan Tzara, Giuseppe Ungaretti, Maurice Blanchot, Gaston Bachelard, André Breton, Antonin Artaud, Louis Aragon, Belindra, Fancis Ponge, Philippe Sollers, Leon Pierre-Quint und Illustrationen von Salvador Dali, René Magritte, Yves Tanguy, Max Ernst, Joan Miro, Oscar Dominguez, Man Ray, Victor Brauner, Kurt Seligmann, André Masson u.a., Edition Tiamat, 1986
- Louis Aragon: Lautréamont und wir, in: „Surrealismus in Paris 1919-1939“. Ein Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Essay von Karlheinz Barck. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun., 1986. (Der Aufsatz schildert die erste Lautréamont-Rezeption in den Jahren 1917/18)
- Anthologie des Schwarzen Humors. Hg. und Vorwort von Andre Breton (1939), Rogner & Berhard, München 1979. Textsammlung mit Beiträgen von (und mit jeweils einführenden Worten von Andre Breton über) Jonathan Swift, Marquis de Sade, Georg Christoph Lichtenberg, Charles Fourier, Thomas de Quincey, Pierre-Francois Lacenaire, Christian Dietrich Grabbe, Petrus Borel, Edgar Allan Poe, Xavier Forneret, Charles Baudelaire, Lewis Carroll, Villiers de L'Isle-Adam, Charles Cros, Friedrich Nietzsche, Joris-Karl Huysmans, Isidore Ducasse Comte de Lautreamont, Arthur Rimbaud, Alphonse Allais, Jean Pierre Brisset, O. Henry, J.M.Synge, Andre Gide, Francis Picabia, Guillaume Apollinaire, Pablo Picasso, Jakob van Hoddis, Hans Arp, Marcel Duchamp, Jacques Vache, Alfred Jarry, Franz Kafka, Salvador Dali, Gisele Prassinos, Jean-Pierre Duprey, Jacques Rigaut, Jacques Prévert, Leonora Carrington u.a.; Die Erstausgabe der Anthologie erschien 1940, vier Tage vor dem Fall von Paris. Die Ausgabe wurde von der Regierung Petain verboten. Die nächsten beiden Ausgaben erschienen 1945 und 1950 mit vermehrten Inhalt.
- Philippe Soupault: Lautréamont. Etude, extraits, documents, bibliographie, Paris 1927; Neuauflage (Poetes d'aujourd'hui 6), Pierre Seghers, Paris 1946
- Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade, Editions de Minuit, Paris 1949
- Louis Aragon: Lautréamont et nous, Les Lettres françaises, 1./8. Juni 1967. (Als selbständige Publikation 1992 bei Pin-Balma Sables veröffentlicht.)
- Edouard Peyrouzet: Vie de Lautreamont, Editions Bernard Grasset, Paris 1970, ISBN 0-03-735016-1
- Alex de Jonge: Nightmare Culture: Lautréamont and Les Chants de Maldoror, Secker and Warburg, 1973
- Gaston Bachelard: Lautreamont, Corti, Paris 1974
- Jeremy Reed: Isidore: A Novel about the Comte de Lautreamont, Peter Owen Limited 1991 (fiktionale Biographie)
- Louis Jarnover: Lautréamont et les chants mágnetiques, Sulliver, Arles 2002, ISBN 2-911199-79-0
Weblinks
- http://www.uni-greifswald.de/~dt_phil/studenten/falmer/chants_f.html Die Gesänge des Maldoror
- http://www.uni-greifswald.de/~dt_phil/studenten/falmer/chants_f.html Wolfgang Koeppen: Der Großvater des Surrealismus
- http://www.cavi.univ-paris3.fr/phalese/MaldororHtml/Sommaire.htm Ausführliche französische Seite
- http://www.maldoror.org/ Dichtungen (in Französisch), Texte, Dokumente, Aktuelles, großes Bildarchiv
- http://rocbo.chez-alice.fr/litter/ducasse/biblio2.htm Bibliographie
- http://corumcle.edres74.ac-grenoble.fr/biograpi/lautreamont1.htm Fotos
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Lautréamont, Comte de |
| ALTERNATIVNAMEN | Ducasse, Isidor Lucien (eigentlicher Name) |
| KURZBESCHREIBUNG | französischer Schriftsteller |
| GEBURTSDATUM | 4. April 1846 |
| GEBURTSORT | Montevideo, Uruguay |
| STERBEDATUM | 24. November 1870 |
| STERBEORT | Paris |