Ensel und Krete
Ensel und Krete, dessen Untertitel Ein Märchen aus Zamonien lautet, ist ein Roman von Walter Moers. Er spielt, wie auch andere Werke Moers', auf dem fiktiven Kontinent Zamonien. Vom Autor selbst als Märchenparodie bezeichnet stellt er eine Bearbeitung des Grimmschen Märchens Hänsel und Gretel mit zwei "Fhernhachenkindern" – äußerst liebenswürdigen und anständigen Halbzwergen – in den Hauptrollen dar.
Auf der anderen Seite steht er in er Tradition romantischer Kunstmärchen, denn Moers setzt hier zum ersten Mal die Figur des zamonischen Dichterfürsten Hildegunst von Mythenmetz als fiktiven Autor des Buches, das man gerade in Begriff ist zu lesen, ein. Wie in bekannten Werken romantischer Literatur (vgl. z.B. E.T.A. Hoffmanns Roman Kater Murr) fungiert der eigentliche Autor Walter Moers nur als 'Übersetzer' des Textes aus dem Zamonischen. Dieser übersetzt es jedoch nicht nur, sondern greift zusätzlich in das angebliche Original ein, indem er es mit zahlreichen Abbildungen, Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, einigen Kommentaren zur Schwierigkeit des Übersetzens sowie der halbe[n] Biographie des Hildegunst von Mythenmetz ergänzt.
Inhalt des Märchens
Multiperspektivisches Erzählen
Moers arbeitet in Ensel und Krete zum ersten Mal dezidiert multiperspektivisch. Die Textstruktur weist verschiedene Ebenen auf. Neben der eigentlichen Märchenbearbeitung setzt Moers als Erzähler die Autor-Figur Hildegunst von Mythenmetz ein, der wiederum einerseits den erzählten Text kommentiert und reflektiert, andererseits sein eigenes Leben zum Thema des Erzählens macht.
Ebene I: Traum und Wirklichkeit
Auf der ersten Ebene finden die Abenteuer der beiden Kinder statt. Doch bereits innerhalb dieser erzählten Geschichte spielt Moers mit verschiedenen Daseinszuständen: Die halluzinogenen Giftpilze, die in dem Großen Wald wachsen, versetzen sie immer wieder in Drogenrausch. Ein See, der ehemals "ein gewaltiger Eismeteorit mit telepatischen Kräften" war, nimmt Ensel zu einer imaginären Spritztour durch das Universum mit. Der Leser kann zunehmend nicht unterscheiden, ob die Handlung auf einer 'realen' oder geträumten Ebene spielt. Dies erinnert an Kunstmärchen der Romantik (wie etwa Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck oder Der goldene Topf von ETA Hoffmann), in denen die Dichotomien Traum und Wirklichkeit, Mögliches und Unmögliches, Geglaubtes und Gewusstes gegeneinander gehalten und deren Grenzen durch rasche Wechsel vom einen zum anderen verwischt werden.
Ebene II: Die Mythenmetzsche Abschweifung
Eine weitere Erzählebene kommt durch die Mythenmetzsche Abschweifung hinzu. Diese ist ein literarisches Stilmittel, das Moers' Figur Hildegunst von Mythenmetz angeblich für Ensel und Krete erfunden hat. Sie erlaubt dem Autor - ein Begriff, der an dieser Stelle sowohl Mythenmetz als auch Moers bezeichnen kann - den Erzählfluss seiner Geschichte zu unterbrechen und entweder zu einem ganz anderen Thema abzuschweifen (z.B. das Mittagessen, das Wetter, etc.), um dann unvermittelt mit der Geschichte fortzufahren, oder seine eigenen literarischen Techniken zu reflektieren und stolz vor dem Leser auszubreiten, um dadurch seine Leistung als Autor hervorzuheben ("Darf ich an dieser Stelle einmal auf meine schriftstellerische Raffinesse hinweisen? Natürlich darf ich das, innerhalb einer Mythenmetzschen Abschweifung darf ich alles."). Erzählereinschübe dieser Art sind keineswegs neu: Es gibt sie in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Eine besondere Ausformung erfuhr diese Spielart der Metafiktion in der Romantik. Der Witz liegt in Moers spezifischen Umgang damit: Er nutzt sie, um den Auftritt des überaus eitlen und von sich selbst hybrisch überzeugten "größten Dichters Zamoniens", dessen Name und Größe dem Leser bereits aus dem Blaubär bekannt ist, plastisch zu inszenieren. Dass diese an sich eher unoriginelle literarische Technik von Mythenmetz selbst als seine persönliche Erfindung deklariert und mit seinem eigenen Namen versehen wird, ist Teil dieser Inszenierung.
Dabei geht Moers ins Extrem, wenn er seine Autorfigur eben nicht nur für den Verlauf des Romanes wichtige Techniken der Literaturproduktion preisgeben lässt, sondern den Inhalt der Abschweifungen teilweise besonders banal gestaltet, indem er den Autor z.B. seinen Schreibtisch beschreiben lässt. Erneut wird der Leser auf eine scheinbar 'realere' Ebene geführt. Dass sich dies wiederum keinesfalls banal, sondern äußerst vergnüglich liest, liegt wiederum daran, dass es sich hierbei um den Schreibtisch eines hypochondrischen Lindwurms handelt und nicht etwa um den des 'realen' Autors Walter Moers.
Intertextualität
Moers' Erzähltechnik lebt davon, dass er eine Fülle anderer literarischer Werke anzitiert und erweitert. In Ensel und Krete überwiegt die Märchenmotivik. Andererseits zieht der Leser aber auch ein Vergnügen daraus, dass er bestimmte Elemente aus anderen Zamonien-Romanen, vornehmlich Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär, wiedererkennen kann.
Ein "Moerschen": Die Märchenmotivik und ihre Variationen
Wie für jeden alten wie jungen Leser unschwer zu erkennen, stellt Ensel und Krete eine Bearbeitung des Grimmschen Märchens dar. Von der Brotspur, die zur Himbeerspur wird, über die furchtsamen Nächte im Wald bis zum Hexenhäuschen, das nur gebaut wurde, um kleine Kinder herbeizulocken (und sich hier als Magen der Hexe erweist), lässt Moers kaum eine Anspielung auf Hänsel und Gretel aus. Zudem füllt der Autor seinen kleinen Roman mit anderen klassischen Märchen- und Kinderbuchmotiven: Dass die Kinder eine Art Zwerge sind, verweist auf Schneewittchen. Auch in diesem Wald treibt der obligatorische "böse Wolf" (wie ihn der Leser etwa aus Rotkäppchen oder Der Wolf und die sieben jungen Geißlein kennt) sein Unwesen und die 'Zunge der Orchidee' erinnert an das Haar von Rapunzel. In den militärischen Forst-Buntbären lassen sich die typischen Jägerfiguren wiedererkennen. Und häufig versteht ein Märchen-Held wie BorisBoris die Sprache der Tiere (so z.B. der Titelheld Nils Holgersson in Selma Lagerlöfs Kinderbuch).
Bezüge zu anderen Zamonien-Romanen
Als zweiter Roman in der Serie der Zamonien-Romane muss Ensel und Krete die Fans enttäuschen, denn die Figur des Käpt'n Blaubär kommt selbst nicht vor. Es sind jedoch auf mehreren Ebenen Elemente des Blaubär-Romans aufgegriffen worden. An erster Stelle ist hier der Ort, der "große Wald" und die Buntbärenkolonie, zu nennen, sowie das Volk des Blaubären. Der Blaubär endet mit einem Happy End, einer leicht überzogenen Idylle (Zitat?). Dieses Motiv greift Moers in Ensel und Krete ironisch auf und steigert es ins Sarkastische, indem er die Buntbären in einer ätzend-süßlichen und von einer Militärherrschaft aufrecht gehaltenen sauberen Touristen-Idylle leben lässt.
Einzelnen Figuren bzw. "zamonische Daseinsformen" aus dem Blaubär begegnen wir jedoch wieder: Der Stollentroll, der einst im Blaubär von dem weichherzigen aber kurzsichtigen Flugsaurier Mac im Buntbärenwald abgesetzt wurde, hat nichts von seiner Fiesheit eingebüßt. Er spielt nun eine tragende Rolle, indem er die verirrten Kinder immer wieder aufs Neue absichtlich in die falsche Richtung schickt. Die Waldspinnenhexe, der unser Blaubär nur mit Mühe entrinnen konnte, kommt zwar nicht mehr direkt vor, doch ihr Tod hat seine Spuren in den Giftpilzen hinterlassen, die für die beiden Fhernhachenkinder zur Gefahr werden. Der "große Wald" erweist sich als noch ebenso unwegsam wie seinerzeit im Blaubär.
Das Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Professor Dr. Abdul Nachtigaller
Die Tradition, seine fantasievollen Gebilde und Figuren in fiktiven Lexikonartikeln zu erläutern, setzt Moers in Ensel und Krete fort. War im Blaubär das Lexikon fest im Gehirn des Ich-Erzählers installiert, der manchmal selbst von seinem plötzlich und teilweise zur Unzeit aus ihm herausbrechenden Wissen überrascht wurde, wählt Moers für seinen Autor Mythenmetz die schriftlich-gebildete Form der Wissenseinschübe: Die Fußnote. Hier werden nun teilweise mit Passagen aus dem Blaubären identische Texte abgedruckt, z.B. findet sich folgender Artikel sowohl Blaubär, S. als auch Ensel und Krete, S. 11-13.
Buntbären, die: Zamonische Sonderform aus der Familie landbewohnender Allesfresser mit dichter Fellbhaarung (Ursidae); kräftige, bis zu zwei Meter große Säugetiere mit Sprachbegabung. Das Einzigartige an den Buntbären ist ihre farbliche Individualität. Jeder Buntbär trägt ein farbiges Fell, aber keines ist von gleicher Färbung. Es gibt zum Beispiel zahlreiche rote Buntbären, aber jeder trägt eine eigene Variation der Farbe Rot: Ziegelrot, Kupferfarben, Zinnober-, Scharlach-, Mahagoni- oder Klatschmohnrot, Purpur, Karmesin, Bronzefarben, Rosa, Rubin oder Flamingorot. [...]
Mythenmetz' Beziehung zum Blaubären
Auch auf der Ebene der fiktiven Autoreinschübe wird der Blaubär erwähnt. Abgesehen davon, dass die Figur des Mythenmetz als "größter zamonischer Dichter" dort bereits eingeführt wurde, wissen wir über ihn, dass er Die Finsterbergmade verfasste, (der wir persönlich mit dem Blaubären begegnet waren). Dies erwähnt die Biographie des Dichters selbstverständlich:
- "Dunkel ist's, die Berge schweigen
Schaurig still: Das Labyrinth
Vor mir noch des Lebens Reigen
Ohne Licht und ohne Wind. - Welcher bildungsbeflissene Zamonier kennt sie nicht auswendig, alle achtundsiebzig Strophen der Finsterbergmade". (S. 233)
Der Blaubär selbst taucht - wenngleich nicht namentlich genannt - auf, wenn Mythenmetz den "Lügengladiator in Atlantis" erwähnt, der das Happy End in die zamonische Dichtkunst eingeführt habe ("Ich habe gerüchteweise von einem atlantischen Lügengladiator gehört, der seiner Geschichte einen glücklichen Ausgang gegeben hat und dafür von seinem Publikum auf Händen getragen wurde. Nun haben Vorträge von Lügengladiatoren herzlich wenig mit zamonischer Literatur zu tun, aber man sollte seine Augen vor den Zeichen der Zeit nicht verschließen.", S. 202). An dieser Stelle verweben sich das "literarische Leben" des Blaubären als Lügengladiator mit dem des Schriftstellers von Zamonien. Für Ensel und Krete ist dies auf der Ebene der Literaturreflexion von Bedeutung, denn indem das Buch die Gattung "Märchen", die klassischerweise mit dem Happy End par excellence verbunden ist, aufruft, erwartet der (menschliche) Leser ein Happy End, wobei der zamonische Leser angeblich stets ein negatives Ende erwartet. Dies diskutiert Mythenmetz in seinem Märchenroman – er verfasst sogar zwei verschiedene Schlüsse – und verweist wie gesagt dabei auf den erfolgreichen Lügengladiator. So hat also die Lügentechnik des Blaubären Auswirkungen auf die Schreibweise des Mythenmetz und somit auf den Verlauf der Geschichte, die in Ensel und Krete erzählt wird.
Zeitliche Inkohärenzen muss der Leser hierbei allerdings in Kauf nehmen: Das gesamte Buntbärenszenario legt nahe, dass Ensel und Krete viele Jahre nach der Blaubär-Handlung spielt. Dann wäre der Blaubär als Lügengladiator längst Geschichte und Mythenmetz könnte sich nicht darauf als eine neue populär-literarische Strömung berufen. Dass dies trotzdem möglich ist, zeigt die Überlegenheit von Fiktion über die Realität, die Moers bereits im Blaubär etablierte.
Eine dritte Ebene: "Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz"
Der Roman dient hauptsächlich dazu, die Figur des Hildegunst von Mythenmetz – in einem Interview von Moers als sein Alter ego bezeichnet – für das 'Zamonien-Projekt' zu etablieren. Als angebliches Nachwort, aber für das Verständnis der Figur von essentieller Bedeutung, hat Moers deshalb an die eigentliche Abenteuergeschichte "Die halbe Biographie des Hildegunst von Mythenmetz" angefügt. Unter dem Titel "Von der Lindwurmfeste zum Bloxberg" erzählt er eine Künstlerbiographie, die kein Klischee dieser Gattung auslässt. Die lange Lebensdauer der Lindwürmer ermöglicht es Moers dabei, seinen Helden die verschiedensten Formen von Dichterleben - von der drogenabhängigen Kaffeehausliteratenexistenz bis zur Korrumpierung durch die Industrie - durchlaufen zu lassen. Damit kommt jedoch eine weitere Erzählebene dazu: Moers installiert als weitere Erzählinstanz 'sich selbst', d.h. einen Erzähler gleichen Namens, als angeblich wissenschaftlichen Biographen seiner erfundenen Figur.
Immer wieder wird dabei - wie sich das für eine gute Künstlerbiographie gehört - auch die schriftstellerische Leistung des "Dichterfürsten" gewürdigt. Dabei verarbeitet Moers Elemente der Weltliteratur, indem er auf berühmte Romane anspielt (Im "Natifftoffenhaus" kann man unschwer Thomas Manns Buddenbrooks erkennen) oder die Charakteristika bestimmter Gattungen ironisch auf die Spitze treibt (So wird die barocke "Dingdichtung" zur "Totmateriedichtung", die ihren Anfang und Höhepunkt in Mythenmetz' Roman "Der sprechende Ofen" findet). Das Ganze nutzt Moers zu einigen Seitenhieben auf die Literaturwissenschaft, indem er pseudowissenschaftliche Fußnoten und Belege einfügt, die den Anschein erwecken, dass es sich bei der Biographie um ein ernsthaftes literaturwissenschaftliches Werk handelt.
Textausgaben
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz, Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2000. ISBN 3821829494 (Gebundene Ausgabe)
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz (Luxusausgabe), Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 2000. ISBN 3821851287 (Gebundene Ausgabe)
- Ensel und Krete, Eichborn Verlag, München 2001. ISBN 3821851643 (Hörbuch, gelesen von Dirk Bach)
- Ensel und Krete – Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz, Goldmann Verlag, München 2002. ISBN 3442450179 (Taschenbuch-Ausgabe)
Weblinks
www.zamonien.de Seiten des Eichborn-Verlages mit Auszügen aus Ensel und Krete