Kontorsion

Der Begriff Kontorsion (lat. „contortio“ = Drehung, Windung) beschreibt eine außergewöhnliche Form von Akrobatik-Vorführung, bei welcher der menschliche Körper in Positionen verbogen wird, die für die meisten Menschen unerreichbar scheinen. Kontorsion ist oft Teil einer Zirkus-Nummer.
Ein Kontorsionist, auch Schlangenmensch genannt, ist somit ein Akrobat, der seinen Körper aufgrund von jahrelangem Training extrem biegen kann. Im Allgemeinen haben Kontorsionisten bereits eine ungewöhnlich hohe natürliche Beweglichkeit, die dann noch durch spezielle Turnübungen gesteigert wird.
Beschreibung
Übungen
Meistens werden Kontorsionisten entweder als Frontbender (engl. „Vorbeuger“) oder als Backbender (engl. „Zurückbeuger“) kategorisiert, abhängig davon, in welche Richtung ihre Wirbelsäule beweglicher ist. Nur wenige Darsteller beugen sich gleichermaßen geschickt nach vorn und hinten. Das Nach-hinten-Biegen wird oft auch „Kautschukarbeit“ und das Nach-vorne-Biegen nach Eduard Klischnigg „Klischniggerarbeit“ genannt.
Bei den Vorführungen zeigen Kotorsionisten unter anderem folgende Fähigkeiten:
- Frontbending-Übungen wie z.B. das Vorwärtsfalten an der Taille mit gestreckten Beinen oder das Verschränken der Beine hinter dem Kopf (der so genannte menschliche Knoten). Während einer Vorwärtsfaltung kann auch der Körper durch einen Ring oder ein Faß geführt werden.
- Backbending-Übungen wie das Berühren des Kopfes mit den Füßen oder gar dem Hintern (ein so genannter Kopfsitz) – im Stehen, auf dem Boden liegend oder im Handstand. Eine Marinelli-Beuge ist ein Backbend, bei welchem der Kontorsionist sich lediglich auf eine kleine Halterung stützt, die er im Mund hält.
- Spagat und Überspagat (ein Spagat von mehr als 180 Grad) können sowohl in Front- als auch Backbending-Übungen integriert werden. Ein Überspagat kann ausgeführt werden, indem die Füße durch zwei Stühle oder von zwei Helfern gestützt werden.
- Enterology ist die Praxis, jemandens Körper in einen kleinen, kniehohen Kasten zu drücken, der für einen Menschen viel zu klein zu sein scheint. Gewöhnlich kreuzt der Zusammengedrückte dabei die Beine und nimmt den Kopf zwischen die Knie.
- Verrenkungen der Schultern oder Hüft-Gelenke werden manchmal als eigenständige Übungen vorgeführt. Z. B. wird dabei der Arm gehoben und hinter dem Kopf vorbei auf der anderen Schulter abgelegt.
Arten von Vorstellungen
Wie andere bildende Künste kann Kontorsion verschiedene Stimmungen vermitteln, abhängig von den gewählten Kostümen und der Choreographie, sowie von der Persönlichkeit und den schauspielerischen Fähigkeiten des Darstellers. Darsteller können z.B. einen Stil wählen, der schön, athletisch, verrückt, unheimlich, sinnlich, erotisch oder humorvoll ist, und jeder dieser Stile hat Anhänger, die ihn bevorzugen, manchmal bis zum Ausschluß anderer Stile.
Einige spezielle Arten von Vorstellung:
- Ein Adage-Akt (ausgesprochen: [aˈda:ʒ]) ist ein langsamer, akrobatischer Tanz, bei welchem der männliche Partner den weiblichen Partner hebt und trägt, wobei sie Spagat und andere Beweglichkeits-Posen zeigt.
- Bei einem Rag-Doll-Akt oder Golliwog-Akt, verbiegen, tragen oder schütteln ein oder zwei Helfer den Kontorsionisten auf eine Art und Weise, daß das Publikum überzeugt wird, daß der verkleidete Darsteller eine schlaffe, lebensgroße Puppe sei. Die Vorführung endet gewöhnlich damit, daß die Puppe in einen kleinen Kasten gestopft wird, worauf sie aus diesem von selbst wieder heraussteigt und das Kostüm auszieht.
- Ein spanisches Netz ist eine Kontorsions-Vorführung, die hoch über der Bühne durchgeführt wird. Dabei hält sich der Akrobat an einer Schlaufe eines dicken weichen Taus fest, das vom Dach gehängt wird.
- Manche Darsteller hantieren während der Darbietung auch mit Requisiten, schwingen z.B. Hula-Hoop-Reifen, jonglieren mit Ringen, balancieren Türme von Weingläsern oder spielen ein Musikinstrument.
Ein Kontorsionist kann allein auftreten, kann einen oder zwei Helfer haben oder in einer Gruppe von bis zu vier Kontorsionisten aufreten.
In der Vergangenheit waren Kontorsionisten fast ausschließlich vom Zirkus und dem Jahrmarkt her bekannt, jedoch finden sie neuerdings auch zunehmend Arbeit bei Auftritten in Nachtklubs, Vergnügungsparks, in Zeitschriften-Anzeigen, auf Messen, in Fernseh-Varieté-Vorführungen, in Musikvideos, als Aufwärm-Auftritte oder im Hintergrund von Musik-Konzerten. Auch werden heute Kontorsion-Fotos und -Videoclips von Fans im Internet getauscht; mehrere Websites bieten den Zugang zu Kontorsion-Fotos gegen monatliche Bezahlung oder verkaufen Videokassetten per Post.
Mythen
Viele Mythen und Irrglauben sind über Kontorsionisten verbreitet worden; die meisten von ihnen sind dem Unwissen der breiten Öffentlichkeit über die menschliche Anatomie und Physiologie geschuldet, während andere bewußt von Kontorsionisten oder Fans erfunden wurden, um die Darbietungen noch mysteriöser erscheinen zu lassen.
- Mythos: Schlangenmenschen reiben sich ihre Gelenke mit Schlangenöl ein oder trinken spezielle Elixiere, um beweglich zu werden. – Dies war ein gängiger Mythos im 19. Jahrhundert, als Medizin-Shows Kontorsionisten engagierten, um die Wirksamkeit ihrer Arthritis-Mittel zu „beweisen“. Deren extremes Verbiegen war jedoch keineswegs die Wirkung dieser Heilmittel. Beweglichkeit ist entweder angeboren oder das Ergebnis intensiven Trainings, meistens jedoch beides.
- Mythos: „Gelenkige“ Leute haben mehr Gelenke als die meisten Menschen. – Jeder vollständig entwickelte Mensch hat genau dieselbe Anzahl von Gelenken. „Gelenkig“ ist nur ein Slangausdruck, der die äußere Erscheinung eines Menschen beschreiben soll, der sich viel weiter biegen kann, als man denken könnte, daß es die Gelenke zulassen würden. Trotz des Ursprungs des Wortes ist es ein vollkommen annehmbarer Ausdruck, um einen hyperbeweglichen Menschen zu beschreiben.
- Mythos: Kontorsionisten müssen sich ihre Gelenke ausrenken, wenn sie sich ungewöhnlich weit biegen. – einige Menschen sind tatsächlich fähig, ohne Schmerz Gelenke aus der Pfanne hüpfen zu lassen, und ohne ein Röntgenbild anzufertigen ist es unmöglich festzustellen, ob ein Gelenk gerade ausgerenkt ist oder nicht. Solange aber die Gelenkpfanne nicht krankhaft verformt ist, können die meisten Posen auch eingenommen werden, ohne ein Gelenk auszurenken. Wirkliches Ausrenken kommt während athletischer Kontorsions-Vorführungen eher selten vor, zumal ein ausgerenktes Gelenk instabil und anfällig für Verletzungen ist und auch keinerlei Gewicht halten kann.
- Mythos: Kontorsionisten können sich knochenlos in jede Richtung biegen. – Der Grad an Beweglichkeit der einzelnen Gelenke eines Menschen variiert von unterdurchschnittlicher bis zu extremer Beweglichkeit, einschließlich sämtlicher Zwischenschritte. Desweiteren bestimmmt die Beweglichkeit eines Gelenkes in eine Richtung weder die Beweglichkeit in die Gegenrichtung, noch die Beweglichkeit der anderen Gelenke im Körper. Kontorsionisten können jedoch die Illusion schaffen, knochenlose Körper zu haben, indem sie sich auf die Übungen spezialisieren, die ihre Beweglichkeit am besten zur Geltung kommen lassen; den Rest erledigen dann ihre schauspielerischen und pantomimischen Fähigkeiten.
- Mythos: Zum Kontorsionisten muß man geboren sein. – Muskel-Beweglichkeit kann erworben werden. Solange also die Gestalt der Knochen oder Gelenke nicht die Beweglichkeit einschränken, sollte es jedem ausreichend motivierten Menschen unabhängig von seiner natürlichen Beweglichkeit möglich sein, Kontorsions-Übungen zu erlernen. Diejenigen, die jedoch von Natur aus bewegliche Gelenke haben, haben einen Vorteil sowohl im Wissen, daß sie eine Begabung für Kontorsion haben, als auch bei dem Grad an Beweglichkeit, den sie schließlich erreichen können.
- Mythos: die meisten Kontorsionisten haben das Ehlers-Danlos-Syndrom oder das Marfan-Syndrom. – Menschen mit diesen Erbkrankheiten haben wirklich lose Muskeln und hyperbewegliche Gelenke und sind fähig, im Stehen erstaunliche Tricks zu vollführen. Sie haben aber häufig nicht die Kraft, auf Fingerspitzen zu stehen und einen Backbend auszuführen. Es ist für einen starken Menschen einfacher, äußerste Beweglichkeit zu gewinnen, als es für einen äußerst beweglichen ist, kräftig zu werden.
- Mythos: Frauen sind besser geeignet, Kontorsionist zu werden, als Männer. – Bilder von Kontorsionisten quer durch die Geschichte und rund um die Welt zeigen alles in allem etwa gleich viele Frauen wie Männer. Westliche Kontorsionisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren größtenteils Männer, genau wie heute im modernen Indien extreme Beweglichkeit größtenteils bei Männern zu finden ist. Außerdem zeigen medizinische Studien, daß die gleiche Anzahl von hyperbeweglichen Männern und Frauen gefunden werden, wenn der Charakterzug in der Familie vorkommt. Deshalb ist die Tatsache, daß die meisten Kontortionisten in den westlichen Kulturen heute weiblich sind, einfach nur ein Ergebnis der gegenwärtigen kulturellen Vorliebe.
Siehe auch: Hatha-Yoga, Ballett, Tango