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Kopftuchstreit

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Islamischer Geistlicher und türkische Frauen mit Kopftuch

Der Kopftuchstreit bezieht sich auf die Frage, ob das Tragen einer Kopfbedeckung als Symbol einer besonderen Auslegung des Islam in bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit, insbesondere bei Bediensteten des Staates und in staatlichen Ausbildungseinrichtungen, rechtlich gestattet ist oder untersagt werden soll. Dabei handelt es sich um einen Konflikt zwischen der Religionsfreiheit der Bürger einerseits und der religiösen Neutralitätspflicht des Staates andererseits.

Hintergrund

Vorauszuschicken ist, dass im Islam keine kirchlich-hierarchische Organisation existiert. Zwar gibt es studierte Gelehrte, deren Beratung in Anspruch genommen wird, aber Ratschäge gleichen eher den unverbindlichen Hinweisen eines Hausarztes.

Daher gibt es unter Muslimen durchaus verschiedene Auffassungen in vielen Bereichen. Bei der Kopftuchfrage herrscht jedoch weitestgehende Einigkeit. Dennoch gilt immer das islamische Pinzip "kein Zwang sei im Glauben" (Sure 2:256), das dem Individuum zumindest in der Theorie eine uneingeschränkte Glaubensfreiheit zuordnet.

Viele Muslime sehen im Koran ein Gebot für die Frau begründet als Geste des Glaubens ihren Kopf zu bedecken (Suren 17:32, 33:59 und 24:31) sowie dem Hadith, in dem der letzte Prophet Muhammad die Muslimas dazu anhält, ihren Körper außer Gesicht und Händen zu bedecken; dessen authentische Herkunft von Muhammad ist unter muslimischen Gelehrten (Sunniten, Schiiten) aller Strömungen unumstritten. Lediglich unter westlichen (nichtmuslimischen) Islamwissenschaftlern ist die vollständige Authenzität der Hadithe umstritten. Die Muslime verweisen in dieser Diskussion auf ihre 'kritische Hadithwissenschaft', die die Authenzität von Überlieferungen untersucht.

In den o. a. Suren ist die Rede von einem Kleidungsstück, das sich die Muslima über ihren Oberkörper legen soll, so dass sie 'als Gläubige erkannt' werden. Auch für männliche Muslime gibt es Kleidungsvorschriften, die allerdings nur den Bereich zwischen Knie und Bauchnabel betreffen.

Gleiche Frömmigkeitsgebote existieren auch im Christentum und Judentum und werden gleich unterschiedlich praktiziert. Zu einem spezifischen Kopftuchstreit ist es in der jüngeren Vergangenheit v. a. in Frankreich und Deutschland gekommen, wo diese Bräuche mehrheitlich aufgegeben sind. Wegen der divergierenden Religionspraxis dieser Glaubensgemeinschaften wurde das Tragen eines Kopftuchs als etwas besonders muslimisches oder als ein rein politisches Akt stilisiert. In vielen europäischen Länder ist das Kopftuch jedoch akzeptiert (vgl. exemplarisch Österreich). Praktizierende Muslime betonen, dass das Kopftuch Symbol ihres Glaubens ist - und keine politische Haltung. Daraus resultiert ein Anspruch auf Schutz der Religions- und Glaubensfreiheit.

Außer Zweifel steht jedoch, dass das Tragen eines Kopftuches nicht nur religiös bedingt ist, sondern vielfach auch kulturell und ethnisch motiviert ist. Im Einzelfall ist dies jedoch nicht überprüfbar und ist daher der Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums überlassen.

Rechtsvergleich

Deutschland

Bekannt in Deutschland ist vor allem der Fall, bei dem die muslimische Lehrerin Fereshta Ludin ihre Einstellung als Beamtin auf Probe in den Schuldienst des Bundeslandes Baden-Württemberg anstrebte. Dies wurde ihr verweigert, da sie nicht bereit war, während des Unterrichts auf das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten. Die Begründung der Schulbehörde lautete: Das Kopftuch sei Ausdruck kultureller Abgrenzung und damit nicht nur religiöses Symbol, sondern auch politisches Symbol. Die mit dem Kopftuch verbundene 'objektive' Wirkung kultureller Desintegration lasse sich mit dem Gebot des Grundgesetzes einer staatlichen Neutralität in Glaubensfragen nicht vereinbaren.

Das Bundesverfassungsgericht hat dazu entschieden (vgl. Urteil oder Pressemitteilung), dass ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine gesetzliche Grundlage fand. Eine entsprechende Regelung könne nicht durch eine Behördenentscheidung (oder auf untergesetzlicher Normsetzungsebene) getroffen werden, sondern müsse durch Landesgesetz geschaffen werden - ein Weg, der den Landesparlamenten freisteht, jedoch bis dann nicht beschritten wurde. Ob das Kopftuch ein politisches und damit zugleich unzulässiges Symbol sei – ein Punkt auf dem die staatliche Argumentation und der öffentliche Diskurs fußten –, hat das Verfassungsgericht nicht für relevant gehalten.

Mehrere Bundesländer haben sich vorerst gegen ein Verbot entschieden. Das erste Bundesland, das ein Verbot jedoch erließ, war das zuvor unterlegene Land Baden-Württemberg, wo ein entsprechendes Gesetz am 1. April 2004 verabschiedet wurde. Es ist umstritten, weil es "christlichen und abendländischen Bildungs- und Kulturwerten und Traditionen" einen besonderen Stellenwert zuspricht und sich damit (zumindest verbal) gegen die o. a. Rechtsprechung auflehnt. Das Grundgesetz fordert u. a. Art. 33 GG eine Gleichbehandlung aller Religionen, und auch das Verfassungsgericht hatte in seinem Urteil dies hervorgehoben. Hessen hat inzwischen ein Verbotsgesetz gleicher Struktur erlassen.

Auch in Berlin bahnt sich ein Verbot an: Allerdings geht ein vereinbarter Gesetzesentwurf mit einem Totalverbot religiöser Symbole im öffentlichen Dienst weit über das Kopftuchverbot hinaus. Die beiden großen Kirchen haben daraufhin Protest eingelegt und rechtliche Schritte angekündigt.

Siehe auch: Kruzifix-Beschluss

Österreich

In Österreich ist die islamische Glaubensgemeinschaft seit der Verkündung des Islamgesetzes 1912 offiziell anerkannt und mit anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Die Muslime besitzen eine weitreichende innere Autonomie. Das Tragen von Kopftuch gilt als eine Inanspruchnahme des Rechtes auf Religionsfreiheit, das in Artikel 14 Abs. 1 des Staatsgrundgesetzes 1867 sowie in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieft ist. Es gibt daher in Österreich kein Kopftuchverbot.

Frankreich

In Frankreich ist seit der Verabschiedung des Gesetzes über die Trennung von Staat und Kirche im Jahr 1905 der Laizismus offizielle Staatsdoktrin. Seitdem ist es Lehrern an staatlichen Schulen und Universitäten untersagt, im öffentlichen Unterricht "auffällige religiöse Symbole" zur Schau zu stellen. Unklar ist, wieweit dieses Verbot auch Symbole politischer Ideologien ('Roter Stern', Che Guevara-Symbolik) betrifft.

Nach langer Debatte hat das Parlament am 10. Februar 2004 beschlossen, dass das Tragen größerer religiöser Zeichen, wie Kippa, Voile(Kopftuch) und Habit auch Schülern und Studenten verboten ist. Lediglich kleine religiöse Zeichen, wie z. B. kleine Davidsterne oder Kreuze sind erlaubt. In Frankreich ist der Laizismus in großen Bevölkerungsgruppen anerkannt. Kritiker sehen darin jedoch eine ernsthafte Einschränkung der Religionsfreiheit, während Befürworter auf das Postulat republikanischer Werte wie Gleichheit hinweisen.

Allerdings wurde die französische Debatte auch durch den sozialen Druck und durch gewalttätige Vorfälle bestimmt, denen junge Frauen in einem vorwiegend muslimischem Umfeld ausgesetzt sind. Die französische Frauenrechtsorganisation Ni putes, ni soumises (Weder Huren noch Unterworfene) spricht sich für die Beibehaltung des Schleierverbotes in öffentlichen Einrichtungen aus, da sie einigen dieser jungen französischen Frauen der Vorstädte Freiräume böte, während im Stadtteil der Schleier vielmals unumgänglich sei, um Angriffen männlicher Jugendlicher aus dem Weg zu gehen.

Anlässlich eines Besuches des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy im Dezember 2003 in Ägypten erklärte Muhammad Sayyid Tantawi, Großscheich der renommierten al-Azhar-Universität in Kairo, dass die Verschleierung ein göttliches Gebot sei, aber dass Frauen, die in nichtmuslimischen Ländern unter Verbotszwang lebten, von dieser Verpflichtung ausgenommen wären. Auch Soheib Bencheikh, der selbsterklärte 'Großmufti' von Marseille und religiöse Instanz der französischen Mittelmeermetropole, äußerte Verständnis für ein Nichttragen des Kopftuches unter Verbotszwang.

Das Kopftuchverbot für Schülerinnen zog weite Kreise. Dabei wurden im August 2004 (Irak-Krieg) die beiden französischen Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot von einer militant-islamistischen Gruppe entführt, die von Frankreich die Aufhebung des Verbotes forderten.

Das Verbot seit Schulbeginn am 2. September 2004 in Kraft; Alleine am ersten Schultag weigerten sich 70 Schülerinnen, das Kopftuch abzulegen. Viele wichen auf andere Kopfbekleidungen aus . Einige Schülerinnen wechselten auf islamische Schulen oder verließen die Schule unter Zwang ohne Schulabschluss. Die Schulbehörden entscheiden nun über Verweise für die Schülerinnen, die sich weigerten ihr Kopftuch trotz Verbot abzulegen.

Großbritannien

Da Großbritannien bereits eine lange Tradition im Umgang mit Migranten aus Commonwealthstaaten haben, ist die Gesellschaft sehr multikulturell geprägt. In Großbritannien haben die Sikhs vor den Muslimen erreicht, dass das Tragen von Turbanen für Lehrkräfte geduldet wird. Daher wurde auch den Muslimen keine Kleidung verboten. Bei Schülern gilt allgemein die Pflicht zur Schuluniform, die einen gewissen Rahmen vorgibt (z. B. Länge des Kopftuches, etc.). Jedoch wird das Kopftuch im Allgemeinen geduldet.

Türkei

In der Türkei ist das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Behörden verboten. Alle öffentlich Bediensteten wie Beamte und Lehrerinnen, aber auch Schülerinnen und Studentinnen sind von dieser Regelung betroffen. In der Privatwirtschaft und in der Privatssphäre existiert kein Verbot. Aus diesem Grund studieren wohlhabende Frauen aus streng religiösen Familien in Westeuropa, wo eine solche Einschränkung nicht existiert. Teilweise umgehen Frauen das Verbot durch Tragen einer Perücke.

Das Kopftuchverbot wird auch mit polizeilichen Maßnahmen durchgesetzt (so wird Studentinnen mit Kopftuch das Betreten von Universitäten verboten). Der war vor allem Ende der 90er und Anfang des neuen Jahrhunderts Thema hitziger Debatten. Die Türkische Republik sieht sich als laizistischer Staat, der weder eine religiöse Präferenz besitzt, noch in seinen Institutionen duldet.

Die kemalistische Elite betrachtet das Tragen eines Kopftuchs, vor allem bei Studentinnen, als politisches Symbol einer islamistischen Bewegung. Aus deren Sicht geht es bei dem Streit nicht primär um die Freiheitsrechte, sondern um einen ideologischen Kampf des laizistischen Staates mit den Islamisten.

Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat am 10. November 2005 das Verbot als vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention angesehen. Sie bestätigte damit das Urteil der ersten Kammer des Gerichts, das am 28. Juni 2004 die Beschwerde einer türkischen Medizinstudentin abwies. Es stelle keine Verletzung des Grundsatzes der Religionsfreiheit dar, wenn einer Studentin mit Kopftuch der Zugang zu einer öffentlichen Hochschule untersagt werde. Die Richter stuften die Kopfbedeckung als Symbol einer "extremistischen Bewegungen" ein. Die Türkei verfolge mit dem Verbot das Ziel, bürgerliche Freiheitsrechte zu schützen und die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Derzeit wird in der Türkei über eine, von der Bevölkerungsmehrheit befürwortete, Aufhebung des Kopftuchverbotes diskutiert. (Stand: Juni 2005)

Siehe auch: Urteil der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 10. November 2005

USA

In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es seit Ende März 2004 einen Streit über das Tragen von Kopftüchern an Schulen. Eine Schulbehörde im Bundesstaat Oklahoma hat ein muslimisches Mädchen wegen Tragens eines Kopftuchs vom Unterricht ausgeschlossen. Das Washingtoner Justizministerium hat auf dem Rechtsweg erreicht, dass das Mädchen auch mit Kopftuch zur Schule gehen darf.

Schweiz

In der Schweiz beteiligten sich zuletzt vor allem die beiden größten Detailhandelsketten Migros und Coop an der Kopftuchfrage. Während Mitarbeiterinnen des erstgenannten Konzerns - wenn es hygienisch verantwortbar ist - Kopftücher tragen dürfen, hat Coop entschieden, keine Kopftücher zuzulassen, weil die Kleidungsvorschriften darauf nicht ausgelegt seien. Im Kanton Genf ist das Tragen von Kopftüchern - nicht nur für islamische, sondern auch für fundamental-christliche Schülerinnen und Lehrerinnen - an Schulen verboten.

Iran

In der Islamischen Republik Iran gibt es einen allgemeinen Zwang, das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen, nicht nur in Institutionen, sondern auch im Alltagsleben. Lediglich auf privaten nicht einsehbaren Geländen und in Wohnungen kann das Kopftuch entfernt werden. Verstöße gegen dieses Gebot werden juristisch verfolgt und sind wegen der Aufsicht durch die Pacharan sehr selten. Viele junge Frauen insbesondere in Theheran und anderen großen Städten testen aus, wie weit sie einen Teil ihrer Haare zeigen können. In iranischen Weblogs werden Positionen pro und contra vertreten. Viele Iraner und Iranerinnen, z.B. die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi vertreten die Position, dass jede Frau selbst entscheiden können muss, ob sie sich bedeckt oder nicht. Da es in Diktaturen keine Meinungsumfragen gibt, ist die Haltung der Mehrheit unklar. Auf dem Land bedecken sich viele Frauen aus traditionellen Gründen. Unter dem Schah-Regime war das Kopftuch in den Mittel- und Oberschichten nicht so sehr verbreiet.

Siehe auch

Literatur