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Realismus (Literatur)

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Theodor Fontane

Mit Realismus wird in der Literaturgeschichte eine literarische Strömung im 19. Jahrhundert bezeichnet. Als Zeitspanne wird ungefähr 1830 - 1890 angegeben. Die Periode der deutschen Literaturgeschichte zwischen 1850 und 1890 wird häufig auch „bürgerlicher Realismus“ oder „poetischer Realismus“ genannt.

Der Realismus will die fassbare Welt objektiv beobachten und schildern. Sein Programm ist es, sowohl die Natur als auch die Handlungen der Charaktere ohne künstliche und künstlerische Verzerrung darzustellen. Persönliche Standpunkte werden vermieden. Um größtmögliche Objektivität zu erreichen, bedient sich der Autor der Mimesis (griech: Nachahmung (der Wirklichkeit)).

Einleitung

Der Realismus als Strömung wird ungefähr im Zeitraum zwischen 1830 und 1890 angesiedelt. Als Merkmal ist der Realismus in sämtlichen Epochen sämtlicher Literaturen enthalten, vorwiegend in der Dramatik und Epik. Die trifft auf die Tragödien des Euripides, die Komödien des Aristophanes, die römischen Satiren, die Novellen und Schwänke des späten Mittelalters und der Renaissance, die Dramen Shakespeares und die barocken Schelmenromane zu. Die ersten Vertreter des psychologischen Romans, darunter der Marquis de La Fayette, Henry Fielding und Samuel Richardson, stellten erstmals seelische Vorgänge realistisch dar. In der Literaturtheorie spielt der Begriff seit Friedrich Schlegel und Schiller eine Rolle, und auch für den Roman des 19. Jahrhunderts war er sehr bedeutsam.

Der Epochenbegriff bezieht sich vor allem auf die englische, russische, französische, deutsche und amerikanische Literatur. Geprägt wurde der Begriff in diesem Kontext von Jules Champfleury durch seine Aufsatzsammlung mit dem Titel "Le réalisme" (1857). Der Realismus in Deutschland (ungefähr 1850–1890) wird häufig auch bürgerlicher Realismus oder poetischer Realismus genannt. Diese Bezeichnung rührt daher, dass der Realismus in Deutschland auch offen für Erfundenes, Poetisches und Phantastisches war (Märchen etc.). Er beschränkte sich also nicht nur auf bloße Beschreibung der Wirklichkeit und verschloss sich nicht einer Ästhetisierung der Realität. Träger dieser Bewegung war in Deutschland das Bürgertum. Deshalb spielen in Deutschland im Realismus auch bürgerliche Werte und Ideen eine Rolle. Die handelnden Charaktere sind in der Regel im Bürgertum angesiedelt.
Die beiden oben genannten Begriffe engen allerdings das Bedeutungsfeld des Realismus ein, indem sie bestimmte Konzepte und Merkmale besonders betonen.

Geschichtlicher und philosophischer Hintergrund

Jubelnde Revolutionäre nach Straßenkämpfen am 19. März 1848 in Berlin

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Literaturlandschaft in Deutschland geprägt von der Vormärzliteratur. Im Zuge der Folgen der Märzrevolution von 1848 wurden die verschiedenen literarischen Bewegungen jener Zeit einem Wandel unterworfen.

Der Aufstand führte im deutschen Sprachraum zum Rücktritt Metternichs, der Ausarbeitung einer Verfassung und der Lockerung der Zensur und des Spitzelwesens. Letztlich erwies sich die Revolution jedoch als ein "Sturm im Wasserglas", da die Beschlüsse nicht oder nur ansatzweise umgesetzt wurden. Die Hoffnungen vieler liberal gesinnter Deutscher auf Freiheit und Einheit blieben unerfüllt. Die Vertreter des Biedermeier standen ebenfalls unter dem Eindruck der Revolution.

Der Träger der Märzrevolution war neben dem Bürgertum die Arbeiterschicht, die unter den sozialen und wirtschaftlichen Umständen zunehmend schwerer zu leiden hatte. Ende 1847 formulierten Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest, das zu einer wesentlichen Schrift der internationalen Arbeiterbewegung wurde.

Obwohl der Realismus sich keiner Ideologie verpflichtet fühlte, decken sich manche Auffassungen der Arbeiterbewegung mit denen des Realismus. Vorstellungen des Marxismus (Marx orientierte sich ferner an Hegel und Jean-Jacques Rousseau) und des Materialismus sind auch für den Realismus von Bedeutung. Außerdem wurde der Realismus durch die Philosophie Ludwig Feuerbachs (Immanentismus) und Arthur Schopenhauers beeinflusst.

Entwicklung des Realismus

Zu Beginn lehnte sich der Realismus an die Philosophie des Immanentismus von Arthur Schopenhauer an, dessen Religionskritik nicht in einen resignativen Nihilismus mündete, sondern stattdessen die Hinwendung zur Diesseitigkeit propagierte. Der Mensch solle das Göttliche in sich erkennen und in diesem Sinne sein Leben leben und gleichzeitig für andere Menschen da sein (Homo homini deus - Lat. Der Mensch dem Menschen ein Gott). Der technische Fortschritt durch die Industrialisierung und den daraus entstehendem Fortschrittsglauben verstärkten diese optimistische Haltung.

Spätere Vertreter des Realismus waren hingegen von einem starken Pessimismus beeinflusst. Die sich verschärfenden sozialen Probleme infolge der Industrialisierung erschütterten das Vertrauen in den technischen Fortschritt nachhaltig. Die Erkenntnisse bedeutender Naturwissenschaftler wie Charles Darwin verschafften der Geisteshaltung des Determinismus Zulauf. Das menschliche Individuum sei ein Produkt der Evolution und seine Handlungen würden von physiologischen Prozessen in seinem Körper bestimmt. Die besondere Tragik dieser sinnlosen Existenz besteht darin, dass der Mensch diesem Fatalismus ausgeliefert ist und sich ihm stellen muss, wohl wissend, dass er den Kampf im Moment seines Todes letztlich verlieren wird. Diese Art der Betrachtung negiert jegliche Transzendenz im menschlichen Leben. Arthur Schopenhauer brachte diese Resignation auf den Punkt: „Die Welt ist die Äußerung einer unvernünftigen und blinden Kraft; in ihr zu leben heißt leiden.“

Merkmale

Wichtige Themen der realistischen Literatur sind:

  • Viele Realisten bevorzugen historische Stoffe, die eine wirklichkeitsgetreue Schilderung ermöglichen. Hier zeigt sich der Realismus vom Historismus beeinflusst, der im 19. Jahrhundert als eine Art Universalwissenschaft das kulturelle Leben erfasste.
  • Die Entstehung der Arbeiterbewegung und die Aufstände von 1848 rückten die sozialen Umstände in den Mittelpunkt des Interesses.
  • Die Frage nach der nationalen Einheit bleibt bis zur Einigung Deutschlands 1871 ein wichtiges Thema.
  • Auch der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft wird thematisiert. Für die Realisten steht nicht die Masse der Gesellschaft im Vordergrund, sondern die Persönlichkeit. Dieser psychologische Realismus legt besonderen Wert auf die Beschreibung des Innenlebens der Figuren.

Der Stil des Realismus lässt sich durch vier Eigenschaften beschreiben:

  • Der Humor wurde verwendet, um sich der Unzulänglichkeit und Tristesse der Existenz zu erwehren.
  • Detailtreue ist eine der obersten Forderungen. In der Schilderung von historischen Themen oder gesellschaftlichen Verhältnissen soll die Wirklichkeit möglichst genau mittels der Mimesis nachgeahmt werden.
  • Das Schönheitsempfinden wird als subjektiv angesehen. Während in vorhergehenden Epochen die Schönheit meist als ein objektiver Wert betrachtet wurde, verleiht im Realismus vielmehr erst der Autor den Dingen ihre Schönheit.

Die bevorzugten Textgattungen des Realismus sind die Novelle und der Roman, da beide Texttypen objektiv sind und eine genaue Beschreibung der Charaktere, deren Umfeld und deren Handlungen möglich ist. Diese Detailtreue ist beispielsweise im Drama unmöglich.

Bürgerlicher Realismus / Poetischer Realismus

Die deutsche Ausprägung des Realismus wird häufig mit dem Begriff „Bürgerlicher Realismus“ umschrieben, da die meisten deutschsprachigen Vertreter dieser Epoche aus dem Bürgertum stammen. Ihre soziale Herkunft beeinflusst auch ihre Literaturproduktion. So spiegeln ihre Werke häufig Ideale und Vorstellungen des Bürgertums wider.

Adalbert Stifter

Eine weitere Bezeichnung für dieselbe Epoche ist „Poetischer Realismus“. Dieser Begriff, der der klassischen Vorstellung von Realismus zu widersprechen scheint, hebt besonders die Bereitschaft vieler Autoren hervor, immer noch phantastischen und märchenhaften Inhalten in ihren Werken Raum zu geben. Im Sinne der Definition des poetischen Realismus können auch Autoren wie Adalbert Stifter der Epoche zugerechnet werden. Stifter beispielsweise entspricht – wiewohl traditionell dem Biedermeier zuzurechnen – in vieler Hinsicht der Definition des poetischen Realismus. So zeichnen sich seine vielgerühmten Beschreibungen durch einen realistischen Darstellungsstil aus. Auch sein Sanftes Gesetz entspricht bereits der für den Realismus typischen Konzeption der Subjektivität des Schönen.

Als mögliche Gründe für diese deutsche Eigenheit gelten:

  • Der große Einfluss der Klassiker Goethe und Schiller wirkte auch im 19. Jahrhundert fort.
  • Die Philosophie des deutschen Idealismus mag zur Auffassung beigetragen haben, Literatur solle stets den Leser erziehen, weshalb auch der Bildungsroman besonders geschätzt wurde, der eben keine realistische Darstellung der Wirklichkeit verlangt, sondern eher durch eine poetische Überhöhung ihren Zweck erreicht.
  • Die industrielle Revolution Deutschlands fand im Vergleich zu anderen Ländern wie England oder Frankreich verzögert statt. So blieben Elemente des idyllischen Landlebens in der Literatur bestehen (Allerdings zeichnet sich auch der französische Realismus durch eine Vorliebe für ländliche Idylle aus).

Die Begriffe „Bürgerlicher Realismus“ und „Poetischer Realismus“ werden teilweise synonym verwendet.

Autoren und Werke

Siehe auch

Literatur

  • Erich Auerbach: Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen 1994
  • Hugo Aust: Literatur des Realismus. Stuttgart 2000
  • Richard Brinkmann (Hrsg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt 1987
  • Stephan Kohl: Realismus: Theorie und Geschichte. München 1977
  • Reinhard Lauer (Hrsg.): Europäischer Realismus. Wiesbaden 1980
  • Edward McInnes (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. München 1996


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