Der Jasager
| Daten | |
|---|---|
| Originaltitel: | Der Jasager |
| Gattung: | Schuloper / Lehrstück |
| Originalsprache: | deutsch |
| Autor: | Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann |
| Literarische Vorlage: | Komparu Zenchiku: Tanikô; Arthur Waley: Tanikô - The Valley-Hurling |
| Musik: | Kurt Weill |
| Erscheinungsjahr: | 1930 |
| Uraufführung: | 23. Juni 1930 |
| Ort der Uraufführung: | Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin |
| Personen | |
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Der „Jasager“ entstand als „Schuloper“ für die Veranstaltung „Neue Musik Berlin“ 1930 auf der Basis eines japanischen [Nō]]-Theater-Stücks aus dem 15. Jahrhundert. Das Stück entwickelt eine sehr einfache Fabel: Ein Junge beteiligt sich trotz einiger Bedenken seines Lehrers an einer Expedition zu den großen Ärzten jenseits des Gebirges, um Medizin und Rat für seine kranke Mutter zu bekommen. Auf dem Weg wird der Junge selbst krank und kann weder selber weitergehen noch getragen werden. Mit seinem Einverständnis wird der Junge nach dem „Großen Brauch“ ins Tal und damit in den Tod gestürzt. Zentrales Thema ist das Einverständnis des Jungen, das äußerst verschieden interpretiert wurde: Als religiöse Größe, als Opfer für eine Gemeinschaft, als Kadavergehorsam gegenüber sinnlosen Normen und Autoritäten und als Aufforderung an das Publikum, diesem Einverständnis zu widersprechen.
Entstehung
Textgrundlage ist das [Nō]]-Theater-Stück Tanikô aus dem 15. Jahrhundert, das dem japanischen Autor Komparu Zenchiku Ujinobu (1405-1468) zugeschrieben wird.[1] Elisabeth Hauptmann erinnert sich, dass sie 1928 oder 29 Interesse für die traditionellen japanischen Nō-Stücke (能) entwickelt habe.
Nō ist eine japanische Theaterform aus dem 14. Jahrhundert. Elisabeth Hauptmann erklärte 1972 in einem Interview, dass ihr aufgrund ihrer geringen Theatererfahrung die Einfachheit der Fabel gefallen habe.[2] Für Brecht war das Nō vor allem durch die extreme Stilisierung interessant. Wie im epischen Theater arbeitet der japanische Darsteller mit genau überlegten, einfachen Gesten. Das Nō-Theater verzichtet auf realistische, wirklichkeitsnahe Darstellung, es gibt artistische Elemente, Musik- und Tanzeinlagen. Der Chor übernimmt erzählende Aufgaben und verbindet die Teile der Handlung. Die Verständlichkeit des Wortes und der Handlung hat Vorrang vor der Musik.
Elisabeth Hauptmann übersetzte neun Texte aus Arthur Waleys Nachdichtung „The No-Plays of Japan“, das ein Bekannter ihr aus London mitgebracht hatte. Zunächst Kurt Weill und später auch Bertolt Brecht zeigten Interesse. Aus der Übersetzung von „Taniko oder Der Wurf ins Tal“ wurde das Lehrstück „Der Jasager“.[3] Obwohl das Stück zum Großteil aus der Übersetzung Elisabeth Hauptmanns besteht, wurde sie damals nicht als Mitautorin erwähnt, und bis heute erscheint als Autor meist nur Bertolt Brecht. In einem Interview von 1972 gab Hauptmann an, Brechts Hauptbeiträge seien die Idee vom Einverständnis des Knaben mit seine Hinrichtung und der veränderte Schluss gewesen. Elisabeth Hauptmann führt die Nichtnennung auf den Zeitdruck vor den Berliner Festwochen zurück. Für die Publikation in der Publikationsreihe „Versuche“ habe sie selbst vergessen, ihren Namen anzugeben.
Als „Schuloper“ hatte der „Jasager“ pädagogische Ziele im Sinne der Reformpädagogik: Das gemeinsame Musizieren und Spielen sollte Gemeinschaftserlebnisse und musikalische Schulung verbinden.
Tanikô - Feudale Ethik der Opferbereitschaft
Das Nō-Theater-Stück Tanikô steht in einer Tradition feudalen Theaters. Nur Samurai durften in dieser klassischen Form auftreten oder zuschauen. Zur Ideologie der Samurai gehörte eine spezifische Auslegung des Buddhismus, die das irdische Leben als vergänglich und den Tod als bedeutungslos entwertete. Zu den feudalen Wertvorstellungen gehörte die Bereitschaft, für den Herrn zu sterben.[4] Dem Tanikô-Stück liegt eine ältere Legende zu Grunde, die aus der religiösen Strömung des Shugendō stammt. Deren Anhänger, „Shugenja“ oder „Yamabushi“ (山伏, „in den Bergen verborgen“), waren für religiöse Rituale in den Bergen bekannt. Der Übersetzer Johannes Sembritzki gibt an, dass der Begriff Tanikô ein Menschenopfer bezeichne (Tanikô ≈ „jemanden dem Brauch des Talwurfs unterwerfen“).[5] Die englische Nachdichtung Waleys aus dem Jahre 1921 lässt den religiösen Hintergrund weg und beendet seinen Text mit dem Tod des Knaben und der Schuldzuweisung an die Täter. So bleiben die symbolische Bedeutung der Krankheit sowie die Motivation für den Tod im Dunkeln.
Laut Johannes Sembritzki handelt es sich bei der Reise durchs Gebirge im Original um eine rituelle Wallfahrt unter strenger Askese und mit rituellen Regeln. Die Tötung des Knaben sei gerechtfertigt durch die symbolische Bedeutung der Krankheit, die als göttliches Zeichen auf die Unreinheit des Erkrankten interpretiert werde.
„Sie beschließen, dem ‚Großen Gesetz‘ zu folgen: ‚Erkrankt ein Pilger unterwegs, so ist das ein göttlicher Hinweis auf seine Unreinheit. Er gefährdet damit seine Mitpilger und den Erfolg der Wallfahrt. Um sich selbst zu retten, müssen sie ihn töten.‘“
Das Original endet jedoch nicht mit dem Tod des Knaben. Nachdem die Pilger unter großem Leid und vom Chor überzeugt von der Bedeutungslosigkeit des irdischen Lebens das Ritual durchgeführt haben, will sich auch der trauernde Meister dem Ritual des Talwurfs unterziehen. Seine Begleiter flehen daraufhin den mythischen Gründer En no Gyōja und die Dämonen an, den Knaben ins Leben zurückzurufen, was auch geschieht. Der Meister erweist sich als Reinkarnation des En no Gyōja.[6]
Bearbeitung des Textes für den Jasager
Der Text des Brechtstückes besteht zu etwa 90% aus der Übersetzung Elisabeth Hauptmanns.[7] Dennoch wird aus den wenigen Änderungen Brechts eine Tendenz sichtbar. Zunächst werden in Arthur Waleys Nachdichtung noch enthaltene religiöse Motive entfernt, aus der Pilgerfahrt wird eine „Forschungsreise“[8] zu den „großen Ärzten“[9], und auch der Knabe will nicht für seine Mutter beten, sondern bessere Medikamente und ärztlichen Rat suchen. Eingefügt wird dafür ein neues Motiv: das Einverständnis des Knaben mit seiner Hinrichtung. Damit greift Brecht ein Motiv des Badener Lehrstücks vom Einverständnis (1929) wieder auf. Bedeutet dort das „Einverständnis“ noch Akzeptanz für die Gesetze von Natur und Gesellschaft, geht es hier um die Bereitschaft, für ein Prinzip oder eine Gruppe in den Tod zu gehen.[10] Kurt Weill interpretiert im Sinne der Opferbereitschaft, dass der Knabe mit der Aufgabe konfrontiert werde, „für eine Gemeinschaft oder für eine Idee, der er sich angeschlossen hat, alle Konsequenzen auf sich zu nehmen“[11].
Zu Beginn des Stückes übernimmt der Chor die Aufgabe, die Frage des Einverständnisses ins Zentrum des Interesses zu rücken. Laut Partitur soll dieser Eingangschor zwischen den Akten und am Ende wiederholt werden.
„Der Grosse Chor
Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis
Viele sagen ja, und doch ist da kein Einverständnis
Viele werden nicht gefragt, und viele
Sind einverstanden mit Falschem. Darum:
Wichtig zu lernen ist Einverständnis.“
Der Lehrer stellt sich vor und berichtet von seinen Reiseplänen durchs Gebirge zu den ‚großen Lehrern‘. Er erfährt von der Krankheit der Mutter. Mutter und Lehrer sind dagegen, dass der Junge mit dem Lehrer reist. Der Junge besteht aber trotz aller Warnungen auf seinem Willen, durch die gefährliche Reise Medikamente und Beratung für die kranke Mutter bei den „großen Ärzten“[12] zu erlangen. Der Lehrer und die Mutter beziehen am Ende des ersten Akts den Entschluss des Sohnes noch einmal auf die Thematik des Einverständnisses.
„Der Lehrer, die Mutter
Oh, welch tiefes Einverständnis!
Viele sind einverstanden mit Falschem, aber er
Ist nicht einverstanden mit der Krankheit, sondern
Daß die Krankheit geheilt wird.“
Am Anfang des zweiten Aktes fasst der Chor die Ereignisse der Reise zusammen: Sie sind schnell gegangen und der Junge wird krank. Zuerst versucht der Lehrer, die Krankheit als Müdigkeit zu interpretieren, aber seine Begleiter halten hartnäckig an der Diagnose fest:
„Die drei Studenten untereinander
(…) Wir sprechen es mit Entsetzen aus, aber seit alters her herrscht hier ein großer Brauch: die nicht weiter können, werden in das Tal hinabgeschleudert.“
Das Ritual schreibt weiterhin vor, dass der Kranke gefragt werden müsse, ob man seinetwegen umkehren solle. Die Antwort des Kranken ist aber ebenfalls vorgeschrieben: „Ihr sollt nicht umkehren.“[13] So führen die drei Studenten die Tat aus. Der große Chor berichtet:
„Dann nahmen die Freunde den Krug
Und beklagten die traurigen Wege der Welt
Und ihr bitteres Gesetz
Und warfen den Knaben hinab.“
An dem Rande des Abgrunds
Und warfen ihn hinab mit geschlossenen Augen
Keiner schuldiger als sein Nachbar
Und warfen Erdklumpen
Und flache Steine
Hinterher.: GBA, Bd. 3, S. 53
Aufführung und Wirkung
Am 23. Juni 1930 fand die Uraufführung bei einer Veranstaltung des Berliner Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in der Aula statt. Von der Festwoche Neue Musik hatte Brecht sich inzwischen mit Eisler distanziert. Weill und Brecht wollten ihre Aufführungen jetzt „außerhalb bürgerlicher Institutionen“ durchführen.[14] Die Aufführung wurde ausschließlich mit Schülern aus Berlin durchgeführt. Die Ausstattung war spartanisch: Eine zweigeteilte Bühne mit beschrifteten Tafeln, die den jeweiligen Ort nennen.[15] Auch knüpft man an die Nō-Tradition an, die mit einer Bühne ohne Kulissen arbeitete.
Die Rezeption war voller Gegensätze. Walter Dirks[16] und Siegfried Günther[17] interpretierten die Aufführung als religiöse Predigt. In der Oper kämen metaphysische und religiöse Motive zum Ausdruck.[18] Frank Warschauer sah in der Weltbühne das Stück als Verteidigung von Kadavergehorsam und sinnloser Autorität.[19]
Das Stück wurde bis 1932 60 Mal inszeniert.[20]
Textausgaben
- Elisabeth Hauptmann (Übersetzung): Taniko oder Wurf ins Tal, in: Der Scheinwerfer, Städtische Bühnen Essen, Spielzeit 1929/30, H. 6/7
- Elisabeth Hauptmann (Übersetzung): Taniko oder Wurf ins Tal, Funkfassung für Radio Berlin, gesendet am 23. Juni 1930
- Erstdruck in der Zeitschrift „Die Musikpflege“ 1930/31, H. 1, S. 53 - 58
- Vorabdruck aus dem 4. Heft „Versuche“, Berlin (Gustav Kiepenheuer) 1930
- Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 3, Stücke 3, S. 47-58, Frankfurt a. M. 1988 (zitiert als GBA)
- Bertolt Brecht (Autor), Peter Szondi (Herausgeber), Elisabeth Hauptmann (Übersetzer): Der Jasager und Der Neinsager: Vorlagen, Fassungen, Materialien, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 1999, 112 Seiten, ISBN 978-351810171
- Kurt Weill: Der Jasager - Schuloper in 2 Akten - Klavierauszug. Schott Music 2003, ISBN 979-0008016677, ASIN 0008016674
- Kurt Weill: Der Jasager : Klavierauszug (englisch). Universal Edition 2003, ISBN 979-0008062070, ASIN 0008062072
Tonaufnahmen
- Kurt Weill (Komponist); Bertolt Brecht (Autor) - Die Jasager, Audio CD, Music Alliance Membran Gmbh, ASIN B001NPAGKU
- Kurt Weill (Komponist); Bertolt Brecht (Autor) - Die Jasager, Audio CD, Polydor CD 839 727-2, auch bei Line Music CD 5.00991 und Membran Music 232579 mit Joseph Protschka, Lys Bert, Willibald Vohla, Siegfried Kohler
- Kurt Weill (Komponist); Bertolt Brecht (Autor) - Die Jasager, Audio CD, Capriccio CD, CD 60 020-1, Fredonia Chamber Singers, Kammerchor der Universität Dortmund, Orchester Campus Cantat 90, Willi Gundlach
- Kurt Weill (Komponist); Bertolt Brecht (Autor) - Die Jasager, Audio CD, FONO CD, FCD 97 734, Chor und Orchester des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums Konstanz, Peter Bauer
Sekundärliteratur
- Jan Knopf: Brecht-Handbuch, Theater, Stuttgart (Metzler) 1986, ungekürzte Sonderausgabe, ISBN 3-476-00587-9
- Klaus-Dieter Krabiel: Der Jasager / Der Neinsager, in: Jan Knopf: Brecht-Handbuch Bd. 1 "Stücke", Stuttgart (Metzler) 2001 (Neuausgabe), ISBN 3-476-01829-6, S. 242 - 253
Weblinks
- Kurt Weill Foundation for Music, Erläuterungen mit Musikbeispielen
Einzelnachweise
- ↑ Klaus-Dieter Krabiel: Der Jasager / Der Neinsager, S. 245
- ↑ vgl. Sabine Kebir: Ich fragte nicht nach meinem Anteil, S. 149
- ↑ Sabine Kebir: Ich fragte nicht nach meinem Anteil. S. 150ff.
- ↑ vgl. Klaus-Dieter Krabiel: Der Jasager / Der Neinsager, S. 243
- ↑ zitiert nach: Klaus-Dieter Krabiel: Der Jasager / Der Neinsager, S. 243
- ↑ vgl. Klaus-Dieter Krabiel: Der Jasager / Der Neinsager, S. 244
- ↑ vgl. GBA, Bd. 3, S. 421
- ↑ GBA, Bd. 3, S. 49
- ↑ GBA, Bd. 3, S. 50
- ↑ vgl. GBA, Bd. 3, S. 421f.
- ↑ Kurt Weill: Über meine Schuloper ‚Der Jasager‘. zitiert nach: GBA, Bd. 3, S. 422
- ↑ GBA, Bd. 3, S. 50
- ↑ GBA, Bd. 3, S. 54
- ↑ GBA, Bd. 3, S. 423
- ↑ vgl. GBA, Bd. 3, S. 424
- ↑ Rhein-Mainische Volkszeitung vom 30. Dezember 1930
- ↑ Die Musik, Stuttgart und Berlin 1930/31, Heft 7
- ↑ vgl. GBA, Bd. 3, S. 424
- ↑ Die Weltbühne Berlin 1930, Nr. 28; zitiert nach: GBA, Bd. 3, S. 424
- ↑ vgl. GBA, Bd. 3, S. 424