Benutzer:Wiesenthal/Germanische Schicksalsvorstellungen

Über die germanischen Schicksalsvorstellungen ist nur wenig bekannt. Anscheinend gingen die Germanen davon aus, dass dem Menschen ein Schicksal im Voraus bestimmt ist, das sich unabwendbar erfüllt. Die Macht, die das Schicksal festlegt, wurde wahrscheinlich seit alters her durch eine Dreiheit von Schicksalsfrauen personifiziert. Bei den Westgermanen hängen diese Frauen dunkel mit den Matronen/Idisen zusammen, in der nordischen Mythologie nennt man sie die Nornen. Nach heutigem Forschungsstand hatten die germanischen Schicksalsvorstellungen aber keine religiösen Züge.
Das Verhältnis zwischen der Schicksalsmacht und der Göttermacht
Das nordische Schöpfungslied Vǫluspá drückt aus, dass selbst die germanischen Götter ein Schicksal besaßen, dem sie nicht entrinnen konnten. Der Tod des Gottes Baldur ist vorherbestimmt, kann aber nicht verhindert werden.[1] Die Zeit, in der die Götter untergehen, wird die ragnarǫk genannt, das bedeutet wörtlich ‚das Schicksal der Götter‘[2] Weiter heißt es, als diese Zeit anbricht, dass das zugemessene Schicksal entflammt, mjǫtuðr kyndisk,[3] also seinen Lauf nimmt.
Daraus schließt man seit der älteren Forschung: Wenn die Götter gegenüber ihrem Schicksal machtlos sind, dann ist die Schicksalsmacht stärker als die Göttermacht.[4] Dieses Gedankengut hält man ohne Weiteres für heidnisch. Der Rückschluss wirft zwei Fragen auf: Wer ist mächtiger als die Götter? Und: Wenn die Germanen an ihre Götter geglaubt haben, haben sie dann gleichsam an die Macht, die das Schicksal verkörpert, geglaubt?
Quellen
Vǫluspá
Der Schicksalsbegriff nimmt im nordischen Schöpfungsgedicht Vǫluspá großen Raum ein. Es heißt dort, dass die beiden ersten Menschen, Ask und Embla, vor ihrer Menschwerdung noch schicksalslos (ørlǫglausa) waren.[5] Als Menschen schufen sie dann zwar die Götter, doch ihr Schicksal teilten ihnen die Nornen zu. Ihnen war aufgetragen, das Schicksal (ørlǫg) der Menschen bei Geburt zu bestimmen.[6] Beschrieben werden sie als drei Mädchen (meyjar), also Jungfrauen, deren Heimat die Quelle des Schicksals (urðar brunni) am Weltenbaum Yggdrasil ist. Ihre Namen lauten Urd ‚Geworden‘, Verdandi ‚Werdend‘ und Skuld ‚Gesollt‘. Aber nicht nur die Menschen haben ein Schicksal, sondern auch die Götter. Baldurs Tod ist vorherbestimmt (ørlǫg), kann aber nicht verhindert werden.[7] Das selbe gilt für den Untergang der Götter in den Ragnarök.[8] Ragnarǫk, das bedeutet übersetzt ‚das Schicksal der Götter‘[9] Mit Anbruch dieser Zeit enflammt das zugemessene Schicksal (mjǫtuðr kyndisk).[10] Das bedeutet, dass das Schicksal der Götter seinen unumkehrbaren Verlauf nimmt.
Schon die ältere Forschung erkannte, dass die Göttermacht der Schicksalsmacht unterworfen ist, da die Götter wie die Menschen nicht in der Lage sind, ihr Schicksal zu ändern.[11]
Diese Schicksalsmacht wird in der Vǫluspá personifiziert durch die drei Nornen Urðr, Verðandi und Skuld (dazu später).
Die Macht über den Göttern bei den indogermanischen Völkern
Volk | Begriff | Wörtliche Bedeutung | Macht | Beschreibung | Älteste Nachweise |
---|---|---|---|---|---|
Inder | rta(m) | unpersönlich | Die rechte Ordnung. | ||
karma | Wirken, Tat | unpersönlich | Universales Gesetz, wonach jede Tat eine der Tat entsprechende Folge hat. | 6. Jh. v. Chr. | |
samsara | beständiges Wandern | unpersönlich | Kreislauf der Wiedergeburten. | 6. Jh. v. Chr. | |
Iraner | Zurvan | Zeit | personifiziert | Schöpfergott im Zurvanismus. Vater Ahura Mazdas und Angra Mainyus. Personifikation von Zeit und Ewigkeit: bestimmt alles, verordnet alles, ordnet alles im voraus. | 4. Jh. v. Chr. |
Griechen | Moira | Anteil, der jedem zugeteilt ist | personifiziert | Bei Homer sind die Götter gegenüber den Moiren ohne Macht. | 9. Jh. v. Chr. |
Römer | Fatum | Spruch des Schicksals | unpersönlich | Unausweichlich, alles regierend. |
Immerhin haben andere indogermanische Völker eine Macht angenommen, die über dem Wirken der Götter steht. Eine gemeinsame Idee lässt sich dahinter nicht ohne Weiteres finden, doch das Bestreben, eine Macht über den Göttern zu denken, scheinen schon die Indogermanen unternommen zu haben. Dafür gibt es auch in anderen Kulturen viele Beispiele.[12]
s
Tacitus überliefert, dass die Germanen häufig durch die Deutung von Vorzeichen den Ausgang eines Geschehens im Voraus erfahren wollten.
„Auspicia sortesque ut qui maxime observant.“
„Auf Vorzeichen und Losorakel achtet niemand so viel wie sie [die Germanen].[13]“
Daraus schließt man, dass sie daran glaubten, dass die Geschehnisse vorbestimmt sind.
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Es haben sich eine Vielzahl an Wörtern der germanischen Folgesprachen erhalten, aus denen zweifellos hervorgeht, dass die Germanen daran glaubten, ein Schicksal zu haben.
Einige der Schicksalsbegriffe sind mit Tod, Krieg und Unheil verbunden. Das bedeutet, dass man das Geschick mit negativen Geschehnissen verband,[14] so wie es heute noch mit Schicksalsschlag ausgedrückt wird.
Die breite Bezeugung dieser Schicksalsbegriffe belegt, dass die dahinter stehenden Schicksalsvorstellungen noch aus urgermanischer Zeit stammen müssen, ohne dass sich aus den Begriffen ergibt, ob sich dahinter eine Schicksalsmacht oder sogar ein Glaube an sie verbirgt.
Altnordisch | Althochdeutsch | Angelsächsisch | Altsächsisch | Germanisch | Bedeutung | Indogermanische Wurzel |
---|---|---|---|---|---|---|
mjǫtuðr | - | me(o)tod, me(o)tud | metod, metud | *metoduz | Schicksal + Maß, tw. Gott | *med- „messen“ |
ørlǫg | urlag | orlæg, orleg(e) | [orlag][15] | *uzlagaz, uzlagam | Schicksal + tw. Krieg, Kampf | *legh- „legen, liegen“ |
rǫk | - | - | - | [*rako][16] | Schicksal | *reg- „Richtung, Linie, lenken, richten“ |
skap | giscap, giscaf | gesceap, gesceaf | (gi)skap, giskaft | [*gaskapam][17] | Schicksal + Beschaffenheit | *skap- „schneiden, spalten“ |
urðr | wurt | wyrd | wurd | *wurdiz | Schicksal + tw. Ereignis, tw. Tod | *uert- „drehen, wenden“ |
METODUZ, germanisch der *metoduz ‚Maß, Schicksal‘ setzt sich zusammen aus indogermanisch *med- „messen“ und einem Suffix -tu-, das eine Macht anzeigt, der der Mensch ausgesetzt ist, so wie in gotisch dauþus ‚Tod‘ und lustus ‚Lust‘.[18] Das Wort hat männliches Geschlecht und wird aktiv gebraucht, so dass die Bedeutung genau genommen die ‚zumessende, zuteilende Kraft ‘lautet[19][20] beziehungsweise ‚der Zumessende‘,[21] also die Macht, die das Schicksal zumisst. In einem altenglischen Hymnus des 7. Jahrhunderts wird meotod ‚Schicksal‘ so gebraucht, dass das Schicksal von Gott kommt, Gottes Macht ist somit dasselbe wie metudaes maecti ‚die Schicksals Macht‘.[22]
WURDIZ, germanisch, die *wurdiz ‚Schicksal, Geschick‘ setzt sich zusammen aus *wurd und einem i-Suffix und bedeutet wortwörtlich ‚das soeben Werdende, das ewige Werden‘.[23] Es leitet sich ab von indogermanisch *uer(t)- ‚(um)drehen, wenden‘, von dem auch *werþan ‚werden‘ abstammt. Werden bedeutete demnach ursprünglich ‚(sich) drehen, wenden‘, woraus sich die Bedeutung ‚sich zu etwas wenden, etwas werden‘ entwickelte. Daraus schließt man, dass in *Wurdiz eine zyklische Ablauf des Zeitgeschehens mitenthalten ist, wonach die Zukunft in die Vergangenheit mündet, vergleichbar der Drehung des Schicksalrads.[24] In der gesamten westgermanischen Überlieferung steht keine Norne hinter wyrd-wurd-wurt.[25] Mit wyrd bezeichnete man in heidnischer Zeit unbestimmt die Erfahrung eines folgenschweren Geschehens, das man selbst nicht bewirkt hatte. Gleichzeitig konnte wyrd aber auch ohne negative Wertung genutzt werden, um ein Geschehen oder Ereignis auszudrücken.[26] In christlicher Zeit bezeichnete wyrd dann überwiegend das Geschehen als Ausdruck des ununterbrochenen Wandlungsprozesses der Schöpfung nach dem göttlichen Heilsplan.[27]Schicksalsvorstellungen
[Verbindung zu Zeit = Leben, Lebensverlauf und Tod, Verbindung zu Wiederkehr] [28]
- a) Was geschehen soll, geschieht. (St249)
Was diese Schicksalsvorstellung kennzeichnet, lässt sich mit einem Satz ausdrücken: Es kommt so, wie es kommen muss. Was geschehen soll, wird geschehen.
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Schicksal steht über Zufall.(St250) Man soll das tun und kann das nicht vermeiden, was bestimmt ist. (St250) Der Held hat die Aufgabe ganz in Übereinstimmung mit dem Verhängnis zu handeln. (St255) Wille und Schicksal können aber gegeneinanderstehen. (St251)
- b) Jeder hat sein eigenes Schicksal von Geburt an. (St251)
- c) Man soll sein Schicksal nur durch rechte Mittel erkennen wollen. (St253)
=> Opfer, Seherinnen (St258 f.)
Die Schicksalsmacht
Die Schicksalsfrauen
Der Vorstellungskomplex dreier Schicksalsfrauen ist alt und stammt noch aus urgermanischer Zeit.
In der nordischen Mythologie nannte man diese drei Frauen die Nornen. Ihre Namen, Urd, Verdandi und Skuld, stammen jedoch erst aus mittelalterlicher Zeit. Verdandi taucht als Name lediglich in der Vǫluspá und den ihr entsprechenden Stellen der Prosa-Edda auf, Skuld sonst nur als Walkürenname. Das selbe gilt auch für den Namen Urds, von dem man früher glaubte, dass er auf eine urgermanische Schicksalsfrau zurückging, da seine altenglische Entsprechung wyrd in der altenglischen Literatur teilweise verwendet wurde, um eine personifizierte Schicksalsmacht zu bezeichnen. Gerd Wolfgang Weber zeigte jedoch, dass man zu diesem Ergebnis nur kommen konnte, in dem man sich allein auf Wortetymologien stützte, ohne Berücksichtigung der Textzusammenhänge in denen wyrd verwendet wurde. Wyrd war in Wirklichkeit ein altenglischer Begriff, der zwar ‚schicksalshaftes Geschehen, Schicksal‘ bedeuten konnte, aber nicht religiös von den Heiden vorbelegt war, so dass ihn die Christen übernehmen konnten und mit den christlichen Vorstellungen des aus der Antike übernommenen Schicksalskonzepts der fortuna fatalis neu ausfüllten.[29] Das als Person gedachte Wyrd ist demzufolge eine christliche Schöpfung, die nicht auf eine heidnische mythische Gestalt zurückgeht. Der Nornenname Urd hingegen taucht in der nordischen Literatur meist im Zusammenhang mit der Quelle Urðrbrunnr auf. Die Quelle wird dabei häufiger als die Norne genannt, so dass offensichtlich der Quellenname auf die Norne überging. Demnach wäre der Name der Quelle als urðrbrunnr ‚Quelle des Schicksals‘ zu übersetzen.[30] Da die Schicksalsfrauen im Mittelalter mit den römischen Parzen und griechischen Moiren gleichgesetzt wurden, übertrugen sich manche Vorstellungen, die mit ihnen verbunden waren, auf ihre germanischen Entsprechungen. Dazu gehört das Namenskonzept der Nornen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft[31] und wahrscheinlich auch ihre Nähe zum Weben und Spinnen. Im Ergebnis sind die Namen der Nornen sehr jung, jedoch die Dreiheit von Schicksalsfrauen wohl sehr alt.
Von den Westgermanen sind keine Nornen überliefert. Jedoch tragen die Matronen und Idisen auch Züge von Schicksalsfrauen, die denen der Nornen entsprechen könnten.[32] Im Ergebnis sind somit die Namen der Nornen sehr jung, aber ihre Dreiheit und ihre Aufgaben können auf älteren Vorstellungen beruhen.
Vielleicht unterschiedliche Themenkreise (Simek)
Christliche Überlagerungen
christl konzept dagegen ist göttl vorhersehung (prädestination) (uns verbietet die hl. schrift an zufall oder ein schicksal zu glauben) (sim 8)
- => höherrangige Position der Schicksalsmacht allen anderen Mächten gegenüber
(vgl. Attraktivität des Christengottes: Herr über das Schicksal, in seiner Hand steht jd Menchen Geschick)
- Schicksal = Meotod => Gott => Gottes Macht = Schicksals Macht metudaes maecti (altenglischer Hymnus um 670)
Unpersönliche Schicksalsmacht
hoch-ma-licher tendenzen einer entpersonalisierung der heidn schicksalsbegrffe, => keine quellen für unpersönl schicksalsmacht. (sim 9-10)
Zur Schicksalsmacht in Gestalt der drei Nornen gehört in der Vǫluspá neben dem mythischen Bild der Schicksalsquelle am Weltenbaum, auch der Weltenbaum selbst, da er ebenso wie die Nornen zu einer Ordnung gehört, die dem Wirken der Götter entzogen ist, und demnach der Sphäre der Schicksalsmacht zugeordnet werden kann.[33] Denn der Weltenbaum keimt schon vor der Schöpfung unter der Erde[34] und er überlebt das Endzeitgeschehen der Ragnarǫk.
Verwunderlich ist, dass die Vǫluspá keine unmittelbare Begegnung zwischen den Göttern, die die Welt erschaffen, und den Nornen, die ihr Schicksal bestimmen und ihnen ihren Willen aufzwingen, beschreibt und nichts näher darüber sagt, wie sich die beiden Mächte zueinander verhalten. Die einzige Stelle in der Schöpfungsgeschichte der Vǫluspá, die darauf anspielen könnte, sind jene dunklen Verse, in denen drei Thursinnen aus Riesenheim das Ende des goldenen Zeitalters heraufbeschwören.[35] Auch diese werden wie die Nornen als Jungfrauen bezeichnet, auch sie bilden eine Dreiheit und auch sie bestimmen den Lauf der Dinge und dennoch befremdet, dass sie die Vǫluspá als Thursen, als böse übelwollende Riesinnen bezeichnet. Das religiöse Konzept dreier heiliger Frauen, das nicht nur auf die nordische Welt beschränkt ist, weist sie überwiegend als beschützend, wohltätig und mütterlich aus. Aber vielleicht haben sie eine helle und eine dunkle Seite,[36] so wie das Leben aus der Erde kommt und schlussendlich wieder in sie zurückgeht.
Verhalten gegenüber der Schicksalsmacht
Macht | Verhalten | Angelsächsisch |
---|---|---|
Schicksal | Unterwerfung | Das Schicksal kann durch Zauber zwar erfahren werden, aber nicht abgeändert werden. |
Götter | kultische Verehrung | - |
übermenschliche Wesen, Menschen | ritueller Aufwand | Unklar ob auch kultische Verehrung im Rahmen von Ahnenkult |
Schicksal meint dabei sowohl das Geschehen, das in des Menschen Leben entscheidend eingreift, ohne dass er es beeinflussen könnte (Verhängnis), als auch die Macht, die dieses Verhängnis verantwortet (Schicksalsmacht). Verhalten: Fatalismus, Glauben an eigene Macht und Stärke, Willensfreiheit
Schicksalsglaube oder Weltanschauung
Erst um 1920 begann man, die germanischen Schicksalsvorstellungen näher zu untersuchen (Alfred Wolf, Richard Jente). In der Zeit des Dritten Reichs (1933–1945) erschienen eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema, überwiegend in Deutschland (unter anderem von Hans Naumann, Walter Baetke, Walther Gehl, Werner Wirth).[38] Die meisten dieser Arbeiten untersuchten die Frage, ob es einen germanischen Schicksalsglauben gegeben hatte. Das heißt, ob die Germanen an eine über den Göttern stehende Schicksalsmacht so geglaubt haben, wie sie an ihre Götter glaubten. Aus dem nordischen Schöpfungsgedicht Vǫluspá ergibt sich, dass selbst die Götter ein Schicksal haben, gegen das sie machtlos sind. Daraus schloss man, dass die Schicksalsmacht offensichtlich höherrangig als die Göttermacht sei. Diese Schicksalsmacht schien durch eine oder drei Schicksalsfrauen, von denen eine Urd/Wyrd hieß, ausgeübt worden zu sein. Altnordisch urðr und angelsächsisch wyrd konnten nämlich zugleich für das Schicksal als auch für eine Göttin stehen, die im Nordischen zur Dreiheit der Nornen zählt. Auf Grund dieser Erwägungen wurde ein germanischer Schicksalsglaube meist bejaht. Hans Naumann stufte ihn als heroischen Pessimismus ein: Der Germane ergibt sich wie die nordischen Götter nicht tatenlos dem unabwendbaren Schicksal, sondern er stemmt sich mit seiner Macht dagegen und geht so heldenhaft in den ihm vorbestimmten Tod.[39] Diese Ideen fanden Beifall unter den Nationalsozialisten und wurden für ihre Zwecke missbraucht. Doch spiegelte Hans Naumann eher den Geist seiner Zeit, als die Vorstellungen seiner Vorfahren.
In den fünfziger und sechziger Jahren des 20-sten Jahrhunders wurden zwar nur wenige Arbeiten zum Thema veröffentlicht, jedoch stellten sie das bisherige Bild der Wissenschaft auf den Kopf (Eduard Neumann, Ladislaus Mittner, Gerd Wolfgang Weber). Man wurde auf die Einflüsse der christlichen Prädestinationslehre von Augustinus aus dem 5. Jahrhundert und der heidnisch-antiken Schicksalsgöttin Fortuna aufmerksam. Mit der Folge, dass man sich von der Idee des germanischen Schicksalsglaubens abwandte, weil man nicht mehr in der Lage war, die christlichen und antiken Einflüsse auf die Quellen herauszufiltern. Die ältesten Beschreibungen über germanische Schicksalsauffassungen stammen von missionierenden Christen, die noch lebendigem Heidentum gegenüberstanden (Beda Venerabilis, 8. Jahrhundert). Naturgemäß hatten diese aber kein Interesse, unchristliche Inhalte zu verstehen, sondern sie nutzten die heidnischen Begriffe als Sparringpartner christlicher Wahrheit.
Nach dem heutigen Forschungsstand ist es nicht möglich, aus den vorhandenen Quellen die christlichen und antiken Einflüsse so herauszufiltern, dass die germanische Schicksalsidee klar zu Tage tritt.
Die Schicksalsvorstellungen der Germanen waren darüber hinaus offenbar auch nicht so ausgeformt, dass sie eine konkrete religiöse Bedeutung hatten. Das ergibt sich zumindest aus einem Umkehrschluss. Denn die heidnischen Schicksalsbegriffe wurden von christlichen Autoren in der Missionierungszeit weiterverwendet und im Laufe der Zeit christlich ausgestaltet. Das wäre wohl nicht geschehen, wenn in den heidnischen Schicksalbegriffen etwas gesteckt hätte, das den Christen verteufelungswürdig erschienen wäre.[40] Die Übernahme der heidnischen Schicksalsbegriffe setzte des Weiteren voraus, dass sie überhaupt nutzbar waren, christliche Inhalte zu vermitteln. Dies war durch die augustinische Lehre von der göttlichen Vorbestimmung (Prädestinationslehre) gegeben. Es stellte sich auch heraus, dass die Vorbestimmungslehre von Gottschalk von Orbais aus dem 9. Jahrhundert, der man längere Zeit ein hohes Maß an heidnischem Gedankengut zugebilligt hatte, ebenso auf dieser Prädestinationslehre fußte.[41]
In den altenglischen Beschreibungen über Wyrd sind keine heidnischen Inhalte mehr feststellbar, sie wurden hautpsächlich vom Verständnis der antiken Fortuna bestimmt (Gerd Wolfgang Weber).[42] Das Namenskonzept der drei nordischen Nornen ist nicht alt, sondern mittelalterlichen Ursprungs. Die Norne Urðr wurde nach ihrer Quelle, der Schicksalsquelle, benannt und nicht umgekehrt.
Erst in späterer, aber schon gutchristlicher Zeit lassen mittelalterliche Heldenlieder und isländische Sagas tiefere Einblicke in die Vorstellungswelt des Schicksals zu, ohne dass man hier in der Lage wäre, den christlichen Einfluss genau einschätzen zu können.[43] Immerhin deutet die Edda-Literatur, insbesondere die Vǫluspá, und die isländische Sagaliteratur darauf hin, dass die Germanen tatsächlich die Schicksalsmacht über die Göttermacht stellten.[41] Auch wenn die Namen der drei Schicksalsfrauen jung sind, können sie selbst wesentlich älter sein. Insgesamt kann man aber von den germanischen Schicksalsvorstellungen nur noch Puzzlestückchen erkennen, die aus unterschiedlichen Zeiten aus unterschiedlichen Regionen stammen und sich nicht mehr zu einem ganzen Bild zusammenfügen lassen.
Glaube an die eigene Macht und Stärke
In bereits christlicher Zeit bezeugen isländische Texte des Hochmittelalters einen Schicksalsglauben. Dieser Glaube zeigt sich jedoch vor allem als Glaube an die eigene Macht und Stärke des Ichs, máttr sinn ok megin, in Abkehr vom heidnischen Götterglauben. Doch gerade deswegen wird dadurch innerhalb einer Familien- oder lokalen Geschichte eine Brücke zwischen der heidnischen Vergangenheit und der christlichen Gegenwart geschlagen. In dieser Haltung ist der Fatalismus zwar nur ein Element, doch durch ihre Abgrenzung zur vorchristlichen Vergangenheit entwickelt sie einen eigenen Mythos zum Schicksalsglauben der heidnischen Vorfahren.[44]
Literatur
In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs.
- Gerd Wolfgang Weber: Wyrd – Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. Verlag Gehlen, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969.
- Åke Viktor Ström, Haralds Biezais: Germanische und Baltische Religion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 978-3-170-01157-1.
- Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe – Early Scandinavian and Celtic Religions. Manchester University Press, 1988, ISBN 978-0-7190-2579-2. In Auszügen Online
- Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6. Online
Einzelnachweise
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 31 f.
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 44
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 46
- ↑ Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bände. 4. Auflage. 1875–1878. Neuauflage Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, S. 636 [alt: Band 1+2, S. 714] – Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 ff. – Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113 f. – Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62 f. – Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 17
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 20
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 31 f.
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 44 f.
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 44
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 46
- ↑ Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, 3 Bände. 4. Auflage. 1875–1878. Neuauflage Marix Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-86539-143-8, S. 636 [alt: Band 1+2, S. 714] – Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9 – Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62 f. – Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113 f. – Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 ff.
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112. Vergleiche auch Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
- ↑ Tacitus: Germania. In der Übersetzung von Manfred Fuhrmann, Reclam Verlag, Stuttgart 1971
- ↑ Sim 9
- ↑ orlag bedeutete im Altsächsischen nicht mehr Schicksal, sondern nur noch Krieg.
- ↑ rako bedeutete im Germanischen nicht Schicksal.
- ↑ gaskapam bedeutete im Germanischen noch nicht Schicksal.
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 491
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 491.
- ↑ SIM 9-10
- ↑ Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, Bd. 1, S. 390
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112. Vergleiche auch Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 490 f.
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 490 f.
- ↑ Weber 145
- ↑ Weber: 132 f.
- ↑ Weber 146
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112. Vergleiche auch Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 65 f., 126, 132, 148, 155
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 151 f.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 150
- ↑ Vergleiche: Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9 der es als möglich ansieht, dass die drei Schicksalsgöttinnen älteren Datums sind. − Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 153 spricht sich wegen nordischer? Volkssagen und -glauben eindeutig dafür aus, dass die drei Schicksalsfrauen auf alten Vorstellungen beruhen.
- ↑ Vergleiche Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 165
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 2
- ↑ Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 spricht sich für diese Deutung aus. – Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie. Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 144 stellt die Deutung als möglich in den Raum.
- ↑ Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113.
- ↑ Übersicht bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
- ↑ Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 149. Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Jena 1934.
- ↑ Vergleiche Weber, der diesen Gedanken für das altenglische wyrd entwickelt: Die Weiterverwendung von wyrd durch christliche Autoren beweist, dass wyrd keine heidnische Schicksalsmacht bezeichnete, sondern ein Begriff ohne konkrete heidnisch-religiöse Vorbelastung war. (Weber: 132 f.)
- ↑ a b Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9
- ↑ Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. 1969.
- ↑ Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 8 f. – Heinrich Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage, § 2-6. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11-016423-7, S. 269
- ↑ Simek 2004 S. 9