Bürgerhaushalt

direkte Art von (kommunaler) Bürgerbeteiligung
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 3. April 2005 um 11:30 Uhr durch LittleJoe (Diskussion | Beiträge) (Link Blumberg (Schwarzwald)). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Bürgerhaushalt, auch partizipativer Haushalt oder Beteiligungshaushalt genannt, ist eine neue direkte Art von (kommunaler) Bürgerbeteiligung. Die Verwaltung einer Stadt, einer Gemeinde oder einer anderen Verwaltungseinheit legt ihren Haushalt offen und lässt die Betroffenen zumindest über den Investitionshaushalt mitbestimmen und entscheiden.

In Porto Alegre (Brasilien) wurde der Beteiligungshaushalt (Orçamento participativo) seit 1989 erstmals im großen Stil durchgeführt. Inzwischen wurde die Idee von dort in viele Teile der Welt "exportiert", u.a. im Rahmen der Agenda 21 gab es Initiativen in die Richtung.

Ziele

Mit dem Beteiligungshaushalt sollten mehrere Ziele erreicht werden:

  • Direkte Demokratie ermöglichen mit Delegierten, die denen, die sie entsenden, verantwortlich sind
  • Stärkere Beteiligung der Bevölkerung an kommunalen Entscheidungsprozessen
  • Entmachtung potenziell korrupter Politiker
  • Mittelverschwendung reduzieren
  • Politik für ärmere, weniger gut vertretene Bürger durchsetzbar machen
  • Entscheidungen auf die Ebene der Betroffenen verlagern

Verfahren

Am Beispiel von Porto Alegre wird erläutert, wie ein Beteiligungshaushalt funktioniert.

Das Verfahren wird durch die Bürger bestimmt

Ausgangspunkt war die Entscheidung, die Bürger dort zu beteiligen, wo sie leben, im Stadtteil. Die Bürger sollten die Akteure im Verfahren bleiben, daher wurde dem Verfahren eine Autonomie von Politik und Verwaltung gesichert. Das Verfahren wird seit 1989 kontinuierlich von den Bürgern mit Unterstützung der Verwaltung weiterentwickelt.

Der Zyklus des Beteiligungshaushalts

(OP = Orçamento Participativo)

Der Zyklus des OP-Verfahrens beginnt im März eines Jahres, dauert zehn Monate und wird jedes Jahr wiederholt. In den 16 Teilen der Stadt Porto Alegre werden Bürgerversammlungen einberufen, zu denen durchschnittlich mehrere Hundert Bürger erscheinen. Seit 1993 sind die Teilnehmerzahlen an den offiziellen Treffen immer zwischen 10 und 20 Tausend. Die Sitzungen beginnen zunächst mit einem Rechenschaftsbericht der gewählten OP-Räte und des Bürgermeisters oder seines Vertreters. Auf diesen Versammlungen stellt die Stadtverwaltung ihre bisherige Arbeit vor, ein Vertreter der Kämmerei informiert über die finanziellen Möglichkeiten der Kommune, stellt das Programm der Stadtverwaltung vor und legt die Spielregeln der Stadtverwaltung offen. Diese Spielregeln betreffen z.B. Baustandards oder Verantwortlichkeiten und sind mit den OP-Gremien abgestimmt.

Seit 1994 werden zudem fünf thematische Plenen angeboten, in denen die Themen Transport und Verkehr, Gesundheit und Soziales, Wirtschaftliche Entwicklung und kommunale Steuerpolitik, Erziehung, Kultur und Freizeit, sowie Kommunalorganisation und Stadtentwicklung diskutiert werden.

Die aus den Bürgerversammlungen hervorgehenden Delegierten (2 pro Stadtteil) sind meist Vertreter von Bürgerorganisationen wie Bewohnervereinen, Frauenorganisationen, Umweltschutzgruppen, Klein- und Mittelbetrieben, Landwirten, Straßenhändlern, Lehrern, Sportvereinen, Behindertenverbänden, Gewerkschaften, aber auch einige Einzelpersonen.

Die Delegierten beraten im März bis Mai die Anträge aus der Bevölkerung und harmonisieren diese mit der Haushaltsplanung der Stadtverwaltung. Sie entscheiden über die Priorisierung der Vorhaben. Die öffentlichen Delegiertenversammlungen tagen dann ohne die Stadtverwaltung über zwei Monate wöchentlich, meist abends. Offizielle Treffen mit der Stadtverwaltung finden dann wieder im Juni/Juli statt.

Die Arbeit der Delegierten in den Stadtteilen und den thematischen Plenen wird durch einen Beirat (Rat der OP-Räte), der von den Delegierten gewählt wird, auf städtischer Ebene koordiniert und dabei in enger Zusammenarbeit mit der Kämmerei und dem Stadtplanungsamt verzahnt (Juli/August). Den hohen organisatorischen Koordinations- und Kommunikationsaufwand unterstützen 20-30 in Moderation ausgebildete Mitarbeiter des Bürgeramts, sie müssen z.B. Räume organisieren, Experten beschaffen.

Im September wird der so aufgestellte Haushalt vom OP-Beirat dem Oberbürgermeister übergeben. Seine Behörde koordiniert dann die Abstimmung der strittigen Fragen. Im Oktober wird dem Stadtrat der Haushaltsentwurf überstellt, der im November darüber beschließt. Wegen der hohen Öffentlichkeit wurden vom Stadtrat lediglich geringe Änderungen am so zustande gekommenen Investitionsshaushaltsentwurf vorgenommen.

Im weiteren Verlauf werden die Maßnahmen wie Wasser- oder Abwasserversorgung, Asfaltierung von Straßen, Beleuchtung durchgeführt.

Schließlich kontrollieren die Bürgerinnen und Bürger in den Folgejahren, ob die beschlossenen Maßnahmen auch umgesetzt worden sind, auch indem sie z.B. Baumaßnahmen in ihren Wohnvierteln selber abnehmen.

Erfahrungen

Die ersten zwei Jahre war es sehr schwierig die Übung in Demokratie durchzuführen. Es gab so gut wie keine freien Haushaltsmittel für Investitionen, aber nachdem erste beschlossene Projekte durchgeführt werden konnten, nahmen die Teilnehmerzahlen stark zu. Das Verfahren ist zwar lang, führt aber mittlerweile zu sichtbaren Ergabnissen. Inzwischen wird über zweistellige Millionenbeträge entschieden.

Die anfangs bestehende Ablehnung vieler Ratsmitglieder hat sich mittlerweile überwiegend gelegt, obwohl sie ihre Entmachtung beklagen. Der Beteiligungshaushalt ist in Brasilien längst aus der "exotischen" Ecke herausgekommen. Bei den Landtagswahlen Ende 1998 hat die damals im Lande regierende bürgerliche Oppositionspartei (PMDB) ihrerseits mit einer eigenen Variante des OP Wahlkampf gemacht. Die Landtagswahl wurde von der PT gewonnen, die auch auf Landesebene das Verfahren des OP verbreitet hat.

Durch den OP kann ein verstärktes Interesse der Bürger an der langfristigen Entwicklung ihrer Kommune verzeichnet werden, etwa 30 000 Bewohner nehmen pro Jahr teil. Durch die Rechenschaftslegung, die Transparenz und die neue Verantwortlichkeit der Bürger wurde die kommunale Identität der Bürger gestärkt. Auch die Korruption ist merklich zurückgegangen. Bisher nicht an der Politik in der Stadt beteiligte Bürgergruppen konnten durch das Verfahren des OP zum "Mitmachen" gewonnen werden. Die anfangs geäußerte Befürchtung, dass die Bürger zu wenig Wissen über Verwaltung und Haushaltsaufstellung haben, konnte durch eine enge Kooperation von der NRO (Nichtregierungsorganisation) CIDADE und der Kämmerei gelöst werden. In den ersten 10 Jahren wurden über 2.000 Bürger in Sachen Haushaltsrecht, Haushaltsaufstellung und Moderationsmethoden qualifiziert.

Eine Erfahrung des brasilianischen Beispiels Porto Alegre ist, dass die Autonomie von den Verwaltungsverfahren funktioniert und für den Erfolg auch nötig ist.

Eine positive Auswirkung dieses Modells liegt in der gerechteren Verteilung städtischer Ressourcen und Finanzen. Es wurden alle Stadtteile mit Geldmitteln bedacht, ärmere aber bevorzugt, was wegen der Transparenz des Ablaufs auch für Bewohner reicherer Viertel akteptabel war. Ein Effekt war der Anstieg der Haushalte mit Abwasseranschluss von 46% (1989) auf 84% (1999). Weitere Programme der Stadtverwaltung förderten den Bau von Schulen und Wohnungen, z.B. durch die Unterstützung von Wohnungsbaukooperativen.

Die bestehende Struktur der OP-Räte und des Beirats wurde auch in anderen stadtplanerischen Zusammenhängen genutzt, z.B. als Carrefour einen neuen Supermarkt in der Zona Norte ansiedeln wollte. Hier wurde nicht alles mit dem Argument der "Schaffung von Arbeitsplätzen" akzeptiert. Es wurden Bedingungen sozialer Art formuliert, die von Carrefour dann akzeptiert wurden, u.a. der Bau eines Kindergartens, Auswahlrichtlinien für die Angestellten, Verkauf von lokalen Produkten.

Ausbreitung der Idee

Das auf der UNO-Habitat II-Konferenz prämierte Modell ("Hauptstadt der Demokratie") stößt in ganz Brasilien (über 70 Kommunen wie Belo Horizonte, Belém oder Recife), insbesondere auch in Europa (Saint-Denis (Seine-Saint-Denis), Barcelona), Nordamerika (Toronto) und selbst in Neuseeland in Christchurch auf reges Interesse.

In Deutschland haben im Rahmen des Netzwerks Kommunen der Zukunft 1998 die Gemeinde Monheim und die Stadt Blumberg ein bürgerorientiertes Haushaltsaufstellungsverfahren vor Ratsbeschluss ausprobiert, mit positiven Ergebnissen. Seit November 2000 führen die Bertelsmann-Stiftung und das Innenministerium Nordrhein-Westfalen ein gemeinsames Projekt hierzu durch. Erlangen, Hamm, Castrop-Rauxel, Vlotho arbeiten inzwischen mit Elementen des Verfahrens, wie es in Porto Alegre erprobt wurde. In Deutschland diskutieren insbesondere die Grünen und die PDS den Beteiligungshaushalt sowie andere Formen der direkten Demokratie in ihren kommunalpolitischen Papieren.

Literatur

  • Misereor/DGB/Carl-Duisberg-Gesellschaft (Hg.) Vom Süden lernen - Porto Alegres Beteiligungshaushalt wird zum Modell für direkte Demokratie
  • Carsten Herzberg Wie partizipative Demokratie zu administrativen Verbesserungen führen kann ISBN 3-8258-5691-7