Neokonservatismus
Der Neokonservativismus (auch Neo-Konservatismus) ist eine politisch konservative Strömung besonders in den USA, die traditionelle Quellen der Autorität (Familie, Staat, Religion) in den Mittelpunkt stellt. Der Neokonservatismus gewann in der Person führender Politiker wie Paul Wolfowitz oder Richard Perle prägenden Einfluss auf die Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik unter George W. Bush. Diese wegen ihrer Befürwortung militärischer Konfliktregulierung oftmals als "Falken" geltenden Politiker und Intellektuellen werden als "Architekten" eines interventionistischen Unilateralismus der USA gesehen. Vielfach wird auch ein "imperiales Projekt" dieser Kreise ausgemacht, dass die US-amerikanische Hegemonie in der Welt sichern soll.
Konzepte
Die politische Gruppierung der Neokonservativen unterstützt einen rigorosen Antikommunismus und profilierte sich in den vergangenen 25 Jahren insbesondere durch die Befürwortung einer interventionistischen Außenpolitik und unilateraler Hegemonieansprüche. Bei der Durchsetzung ihrer interventionistischen Konzepte sind die Neocons auch bereit, Spannungen mit traditionellen Konzepten der Diplomatie und sogar des Völkerrechts in Kauf zu nehmen. Während in bestimmten Bereichen ursprünglich durchaus auf staatlichen Dirigismus gesetzt wurde, decken sich - vor allem in jüngster Zeit - ihre elementaren wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte (und insbesondere deren Umsetzung in politische Praxis) häufig weitgehend mit jenen neoliberaler Theoretiker (George W. Bush: "Gesunde Kinder brauchen keine Krankenversicherung.").
Gleichzeitig grenzen sie sich scharf von traditionellen "Right-Wing"-Konservativen ab, deren Konzepte des Protektionismus und Isolationismus - wie sie z. B. von dem Ex-Republikaner Pat Buchanan vertreten wurden - sie entschieden ablehnen.
Ursprünge
Die Wurzeln in der "Old Left" (alten Linken)
Die intellektuellen Gründer des Neokonservativismus, Daniel Bell, Nathan Glazar, Irving Howe und der prominenteste unter ihnen, Irving Kristol, waren Absolventen des City College of New York, einer Kaderschmiede, die wegen ihrer harten Aufnahmekriterien bei fehlenden Studiengebühren als "Harvard des Proletariats" bezeichnet wurde. Diese Intellektuellen waren großteils Kinder ostjüdischer Emigranten, einer Bevölkerungsgruppe, die oft besonders unter Armut zu leiden hatte. Diese Herkunft machte die Intellektuellen zugänglich für die neuen und revolutionären Ideen des Sozialismus und des Kommunismus. Die Weltwirtschaftskrise radikalisierte in den 1930er Jahren die gesamte US-amerikanische Gesellschaft, so auch die Studentenschaft des New Yorker City College.
Aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage und dem damit verbundenen sozialen Elend wurde eine grundlegende Veränderung der Sozialpolitik gefordert und in dem sog. New Deal teilweise auch erreicht. Dies führte zu einem Staatsinterventionismus, der zu anderer Zeit in der US-amerikanischen Gesellschaft keine Chance hatte. Dies stärkte die Macht des Staates und insbesondere auch die Macht der Zentralregierung in Washington.
Opposition zur "New Left" (Neuen Linken)
Aus dem Kreis der liberalen und sozialistischen Befürworter des Zweiten Weltkriegs formierte sich eine Gruppierung von Intellektuellen, die konservative, sozialistische und liberale Vorstellungen in sich vereinte. Diese Gruppe von kritischen Intellektuellen, oft selbst aus der sog. Arbeiterklasse stammend, bildet den Nukleus der so genannten Neokonservativen - auch wenn diese Bezeichnung damals noch nicht gebräuchlich war.
Irving Kristols Buch Neo-conservatism : The Autobiography of an Idea dürfte der eigentliche Namensgeber für die hier diskutierte politische Ideologie sein. Aufgrund der neuartigen Verbindung unterschiedlicher Positionen geraten die Grenzen dieser Gruppierung bisweilen unscharf. Es lassen sich allerdings durchaus wichtige Haltungen und Einstellungen benennen, die die Neokonservativen miteinander verbinden. Diese stammen überwiegend aus den Zeiten des Kalten Krieges, als die "Neocons" vielfach noch den Demokraten nahestanden (wie zum Beispiel Jeane Kirkpatrick): staatliche Verantwortung in der Wirtschaft zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, Wertkonservatismus im Sinne der Erhaltung eines starken Amerikas im Innern und eine auf nicht konterkarierbare militärische Dominanz setzende Außenpolitik (Zitat George W. Bush: "A military second to none."). Auffallend ist die Dichotomisierung in Gut und Böse, die auch nach dem Ende des Kalten Krieges das Weltbild der Neocons bestimmt.
Die Neokonservativen des Kalten Krieges setzten sich in scharfe Opposition gegenüber der sog. "New Left" (David Horowitz u.a.), was sie stärker an den traditionellen konservativen Flügel heranrückte. Zwar befürworteten die Neocons eine sozialstaatliche Politik im Inneren, nach Außen traten sie aber als strikter Gegner jeder Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und als Verfechter der US-amerikanischen Vorherrschaft auf. Diese Verknüpfung von "konservativen" und "progressiven" Elementen ist bis heute das Kennzeichen der so genannten Neocons. Die propagandistische Rechtfertigung von Interventionen und Maßnahmen, etwa gegenüber den "Schurkenstaaten" (Rogue States), fußt meist auf Menschenrechtsargumenten, denen - für sich genommen - vorderhand kaum zu widersprechen sein dürfte, und dem jedenfalls bekundeten Willen, Demokratie und Freiheit weltweit zu verteidigen und zu verbreiten (Nation-Building).
Theoretische Wurzeln
Ein wichtiger Theoretiker für die Neokonservativen ist der Philosoph Leo Strauss. Albert Wohlstetter - schon zu Zeiten der Kuba-Krise Berater von John F. Kennedy und u.a. Paul Wolfowitz' Doktorvater - wird mit zahlreichen Protagonisten des Neokonservativismus in Verbindung gebracht. Nachhaltige Wirkung sowohl auf Politiker als auch auf Intellektuelle - allerdings nicht nur neokonservativer Provenienz - hatte der aus Tschechien stammende Josef Korbel (der Vater der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Korbel Albright). Zudem ist bei nicht wenigen Wortführern eine intellektuelle Beeinflussung durch Carl Schmitt - direkt oder vermittelt durch Leo Strauss - anzunehmen.
In der Regierung George W. Bushs werden eine Reihe einflussreicher Politiker dem Lager der Neokonservativen zugerechnet, darunter, neben Perle und Wolfowitz: Douglas Feith (Verteidigungsministerium), Staatssekretär John Bolten (Außenministerium) und Lewis Libby (Chief of Staff unter Vizepräsident Dick Cheney). Als ihre "Schaltzentrale" wird unter anderem das American Enterprise Institute (AEI) genannt, ein expandierender Think Tank in Washingtons Zentrum. Erheblichen Einfluss hat auch das Project for the New American Century (PNAC), dem zahlreiche der Bush-Regierung nahestehende Intellektuelle und Politiker angehören. Mit Eleana Benador (Benador Associates) verfügen die Neocons über eine einflussreiche PR-Agentur mit vielfältigen Kontakten zu Politik, Wirtschaft und Medien.
Der Neokonservativismus als eine "jüdische" Bewegung
Einer der kontroversesten Punkte der Diskussion um den Neokonservatismus ist dessen Beziehung zu einer speziellen Spielart jüdisch-intellekueller Tradition. So ist dem Neokonservatismus der Vorwurf gemacht worden, primär jüdische Interessen zu fördern. In seiner zugespitztesten Variante grenzt dieser Vorwurf an offenen Antisemitismus und krude Verschwörungstheorien. Dies ist z.B. der Fall, wenn - in der Regel durch Rechtsextreme - eine jüdisch gesteuerte "Machtergreifung der Neocons" konstruiert wird.
Publizistische Foren
Periodika wie Policy Review, Commentary, The New Republic (bis zur vehementen Unterstützung des Irak-Feldzuges ursprünglich ein eher liberale Zeitschrift), The Public Interest, The American Spectator, The Weekly Standard (wohl das einflussreichste Magazin, von William Kristol gegründet), The National Review (wie der "Weekly Standard" mit häufig ebenso offenherzigen wie aufschlussreichen Einlassungen und scharfen Polemiken gegen die verhassten liberals; Hauptzielscheiben des von Jonah Goldberg verantworteten Magazins im Außenpolitischen sind Europa - hier insbesondere Frankreich - und die UNO) und oft auch das Wall Street Journal (und dessen Ableger Opinion Journal) veröffentlichen regelmäßig Beiträge neokonservativer Vordenker und von Politikern, die ihnen nahestehen.
Literatur
- Kristol, Irving: Neo-conservatism. The Autobiography of an Idea. Ivan R. Dee, Publisher, 1999. - ISBN 1-56663-228-5
- Kagan, Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin: Siedler 2003. - ISBN 3-886-80794-0
- Micklethwait, John/Wooldridge, Adrian: The Right Nation: Conservative Power in America. New York: Penguin Books, 2004. - ISBN 1-594-20020-3
- Wohlstetter, Albert: Swords from Plowshares. The Military Potential of Civilian Nuclear Energy. University of Chicago Press, 1979. - ISBN 0-22690-476-8
- Gold, Philip: Take Back the Right: How the Neocons and the Religious Right Have Hijacked the Conservative Movement. Carroll & Graf Publishers, 2004. -
- Stelzer, Irwin: The Neocon Reader. Grove Press, January 2005. - ISBN 0-80214-193-5
- Dobbins, James et al.: America’s Role in Nation-Building. From Germany to Iraq. Santa Monica, CA: The Rand Corporation, 2003. - ISBN 0-8330-3460-X (PDF-Download)
Weblinks
- Interview mit Christian Hacke - "Glänzende Voraussetzung für die neokonservative Revolution" ("Manager-Magazin", 3. November 2004)
- Robert Kagan, Power and Weakness (Policy Review No. 113, June 2002) - (Einer der Schlüsseltexte der "Neocons" - s. Literatur)
- Thomas Pany, Die Fürsten des IV.Weltkriegs (Telepolis, 28. April 2003)
- Thomas Pany, Die Prätorianer-Garde des Imperiums (Telepolis, 5. Mai 2003) (Teil 2 des o.g. Beitrags zum Netzwerk der Neokonservativen in den USA)
- Sven-Oliver Bemmé, Ideologisierte amerikanische Innenpolitik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: Historische Voraussetzungen für die 'neokonservative' Politiklinie in der Ära Clinton (Diplomarbeit 1999/2000)
- Siebo M.H. Hansen, Ideologie und Praxis des Neokonservatismus (aus: "Die Politische Meinung", Konrad-Adenauer-Stiftung - PDF-Datei)