Karl Barth (* 10. Mai 1886 in Basel, † 10. Dezember 1968 ebd.) war ein schweizerischer evangelisch-reformierter Theologe. Er gilt im Bereich der europäischen evangelischen Kirchen aufgrund seiner theologischen Gesamtleistung als "Kirchenvater des 20. Jahrhunderts".
Leben
Barths Vater Fritz Barth (1856-1912) war seit 1891 Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament an der Universität Bern. Dort verlebte Karl seine Kindheit.
Von 1904 bis 1908 studierte er protestantische Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg. Seine Lehrer waren Adolf von Harnack (1851-1930), der bedeutendste Vertreter der liberalen Theologie im deutschen Kaiserreich, und Wilhelm Herrmann (1846-1922), ein profilierter Vertreter des Neukantianismus im Gefolge von Albrecht Ritschl (1822-1889). Nach einem kurzen Vikariat im Berner Jura ging Barth erneut nach Marburg, um Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher (1768-1834) zu studieren, die die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Er wurde Hilfsredakteur der »Christlichen Welt«, einer protestantischen Zeitschrift des Herausgebers Martin Rade (1857-1940).
1909 wurde Barth Hilfsprediger an der deutschsprachigen Gemeinde in Genf. Dort lernte er Nelly Hoffmann kennen, eine begabte Violinistin. Er heiratete sie 1913. Später jedoch liebte er seine Sekretärin Charlotte von Kirschbaum.
Von 1911 bis 1921 war er Pfarrer in Safenwil, einer Bauern- und Arbeitergemeinde im Kanton Aargau. In dieser Zeit begann Barths eigene Theologie zu reifen. Er setzte sich mit sozialen Problemen vor Ort auseinander und engagierte sich für die Arbeiter seiner Gemeinde, indem er eine gewerkschaftliche Vertretung mit aufbaute. Über seinen lebenslangen Freund Eduard Thurneysen bekam er Kontakt mit den wichtigsten damaligen religiösen Sozialisten der Schweiz, Hermann Kutter (1863-1931) und Leonhard Ragaz (1868-1945). 1915 besuchte er außerdem Christoph Blumhardt (1842-1919), der ihn tief beeindruckte und sein eigenes Denken stark prägte. Kurz darauf trat Barth der Sozialdemokratie bei und vertrat in ihr die Positionen der Zimmerwalder Konferenzen (der "Zweieinhalbten Internationale", wie er sie ironisch nannte).
Ausgehend vom praktischen Problem der Predigt empfand Barth immer stärker die Unzulänglichkeit seiner theologischen Ausbildung. Er fragte sich, was er den Menschen überhaupt Hilfreiches zu sagen habe. Er studierte nun erneut die Bibel, vor allem den Römerbrief des Paulus. "Ich begann ihn zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen: nicht ohne das Gefundene Punkt für Punkt bedächtig aufzuschreiben." Dabei tauschte er sich mit Thurneysen aus und schrieb ihm z.B.: »Im Römerbrief knorze ich ... an den Felsklötzen 3. 20 ff. Was steckt da alles dahinter! ... Paulus - was muß das für ein Mensch gewesen sein und was für Menschen auch die, denen er diese lapidaren Dinge so in ein paar verworrenen Brocken hinwerfen, andeuten konnte! ... Hätten wir doch früher uns zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füßen hätten!«
Hilfe beim Verstehen dieses Textes fand Barth nicht bei seinen liberalen Lehrern, sondern bei »Biblizisten« wie August Tholuck, dem dänischen "Existentialisten" Sören Kierkegaard (1813-1855) und den Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvin. Nun erst entdeckte und erfuhr er das lebendige Gotteswort in und aus der Bibel. Als der Münchner Christian Kaiser-Verlag seine Römerbrief-Auslegung 1919 veröffentlichte, fand sie ein enormes Echo und begeisterten Zuspruch. Leser wie Emil Brunner, Barths späterer theologischer Mitkämpfer, fanden hier das reformatorische Gottes-, Menschen- und Glaubensverständnis in neuer Sprache wieder. Doch schon 1920 begann Barth eine Neubearbeitung, die 1922 erschien. Seine »Römerbrief«-Kommentare machten den Schweizer Dorfpfarrer weithin bekannt. Sie gelten als neuer reformatorischer Aufbruch in der evangelischen Theologiegeschichte, als Begründung einer Theologie des "Wortes Gottes" oder auch "Dialektischen Theologie".
Barth wurde 1921 zum Honorarprofessor auf einen für ihn eingerichteten Lehrstuhl in Göttingen berufen. Er war nicht auf eine akademische Lehrtätigkeit vorbereitet. Doch durch intensive theologische Studien gelang es ihm kurzfristig, brauchbare Vorlesungsmanuskripte zu erstellen. So verlieh ihm die Universität Münster »wegen seiner mannigfachen Beiträge zur Revision der religiösen und theologischen Fragestellung« bereits 1922 die erste Ehrendoktorwürde. 1925 folgte Barth ihrem Ruf und wurde ordentlicher Professor für Systematische Theologie in Münster.
Während seiner Lehrtätigkeit schrieb Barth weitere biblische Kommentare und erste systematische Beiträge: »Die Auferstehung von den Toten. Eine akademische Vorlesung über 1. Kor. 15« (1924), »Erklärung des Philipperbriefes« (1928), »Das Wort Gottes und die Theologie« (1. Band 1924), »Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Christlichen Dogmatik« (1927). 1930 wurde er nach Bonn berufen. Dort erschien 1931 »Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms«. Barth sah dieses Buch als eins seiner wichtigsten, das er mit der größten Liebe verfasst habe. Es wurde jedoch kaum bekannt. 1932 erschien der 1. Teilband der »Kirchlichen Dogmatik«, dem Haupt- und Lebenswerk Barths.
Mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus veränderte sich Barths Lebens- und Arbeitsschwerpunkt. Im Sommer 1933 gründete er mit Thurneysen die Zeitschrift »Theologische Existenz heute«. In der ersten Ausgabe hieß es: »Das Entscheidende, was ich heute zu diesen Sorgen und Problemen zu sagen versuche, ... besteht einfach darin, daß ich mich bemühe, hier in Bonn mit meinen Studenten ... nach wie vor und als wäre nichts geschehen - vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahme - Theologie und nur Theologie zu treiben.« Barth hat dies später als falsch erkannt, da gegenüber Adolf Hitler eine rechtzeitige direkte Gegenwehr nötig gewesen wäre.
Die Bemühungen der Nazis um die ideologische und organisatorische Gleichschaltung der evangelischen Kirche fanden bald Widerstand bei einer Minderheit der Protestanten. Die »Theologische Existenz heute« wurde zum Sprachrohr der neu entstehenden Bekennenden Kirche. Barth wurde nun ihr theologischer Lehrer. Er war seit 1919 der schärfste Gegner jeder sachfremden Ideologisierung des christlichen Glaubens. So verfasste er im Alleingang die berühmte "Barmer Theologische Erklärung", die auf der 1. Bekenntnissynode der Deutschen evangelischen Kirche am 31. Mai 1934 von 139 Vertretern aus 18 Landeskirchen einstimmig angenommen wurde. Sie wurde zur theologischen Grundlage für einen kirchlichen Widerstand gegen staatliche Vereinnahmung, ansatzweise auch gegen die systematische staatliche Verletzung elementarer Menschenrechte. Sie besteht aus 6 Thesen mit jeweils 6 Antithesen, die Barths bisherige theologische Arbeit konzentriert zusammenfassten. Die 1. These, die zugleich Basis der folgenden 5 Thesen ist, lautet:
- »Joh. 14, 6; Joh. 10, 1. 9 - Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. - Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse, Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung erkennen.«
Barth wurde in den Reichsbruderrat, das Führungsgremium der Bekennenden Kirche gewählt, verlor dieses Amt aber schon im November 1934, nachdem er den Beamteneid auf Hitler verweigert hatte. Er war nur bereit, ihn zu leisten, wenn ihm der Zusatz »soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann« gestattet würde. Auf der 2. Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem im Oktober hatte er das Schweigen der Christen gegenüber der Judenverfolgung und Rechtsbrüche des Staates scharf angegriffen. 1935 musste er demzufolge emigrieren und wurde Professor für Systematische Theologie in Basel, wo er bis 1962 wirkte. Er wollte aber »die Sache der Bekennenden Kirche immer als seine eigene Sache betrachten und ihren weiteren Gang, wie er sich auch gestalten möge, so begleiten, wie Christen die Sache ihres Herrn in der Nähe oder aus der Ferne begleiten sollen«. Dies tat er von 1938 bis 1945 durch zahlreiche Vorträge, Briefe und Eingaben an das Schweizer Behörden, z.B. zur Aufnahme von aus Deutschland fliehenden Juden. Sie wurden als »eine Schweizer Stimme« später veröffentlicht.
Barths theologische Einmischung in die Politik wurde nun immer konkreter. Als Gastdozent in Aberdeen (Schottland) erklärte er im Frühjahr 1938: »Es gibt unter Umständen eine nicht nur erlaubte, sondern göttlich geforderte Resistenz gegen die politische Macht, eine Resistenz, bei der es dann unter Umständen auch darum gehen kann, Gewalt gegen Gewalt zu setzen. Anders kann ja der Widerstand gegen die Tyrannei, die Verhinderung des Vergießens unschuldigen Blutes vielleicht nicht durchgeführt werden.« Angesichts der bedrohten Tschechoslowakei forderte Barth im September 1938 in einem Brief an Josef Hromádka (1889-1969), Dekan der evangelisch-theologischen Fakultät in Prag: »Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns - und ich sage es heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann.« Dieser Brief wurde in der »Prager Presse« veröffentlicht und erregte viel Zorn in Deutschland, aber auch bei Europas Pazifisten. Barth schrieb dazu 12 Jahre später: »Im Hromádka-Brief von 1938 habe ich - um des Glaubens willen - zum bewaffneten Widerstand gegen die stattfindende bewaffnete Drohung und Aggression Hitlers aufgerufen. Ich bin kein Pazifist und würde heute in derselben Lage dasselbe wieder tun. Der damalige Feind der tschechischen und europäischen Freiheit bewies es in jenen Tagen durch die Tat und hat es nachher immer wieder bewiesen, daß seiner Gewalt nur durch Gewalt zu begegnen war.« So empfand Barth das Verhalten Englands bei der Münchner Konferenz 1938 als Katastrophe und schweres Versagen. - Barths profiliertester Schüler Dietrich Bonhoeffer zog aus der Barmer Erklärung für sich die Konsequenz, am versuchten Tyrannenmord des 20. Juli 1944 teilzunehmen. Barth hat diesen Versuch nachträglich ausdrücklich bejaht, obwohl ihm die Hinrichtung Bonhoeffers kurz vor Kriegsende sehr nahe ging.
Nach 1945 wurde Barth Mitglied im "Nationalkommitee Freies Deutschland", in dem Antifaschisten, Sozialdemokraten und Exilkommunisten eine sozialistische Neuordnung für ganz Deutschland konzipierten. Er setzte sich nun für umfassende Versöhnung mit den Deutschen ein und beschrieb in »Die Deutschen und wir« Gottes Stellung zu diesem Volk mit den Worten:
- »Her zu mir, ihr Unsympathischen, ihr bösen Hitlerbuben und -mädchen, ihr brutalen SS-Soldaten, ihr üblen Gestaposchurken, ihr traurigen Kompromißler und Kollaborationisten, ihr Herdenmenschen alle, die ihr nun so lange geduldig und dumm hinter eurem sogenannten Führer hergelaufen seid! Her zu mir, ihr Schuldigen und Mitschuldigen, denen nun widerfährt und widerfahren muß, was eure Taten wert sind! Her zu mir, ich kenne euch wohl; ich frage aber nicht, wer ihr seid und was ihr getan habt; ich sehe nur, daß ihr am Ende seid und wohl oder übel von vorne anfangen müßt; ich will euch erquicken, gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen!«
So bekämpfte Barth in der Nachkriegszeit Rache und Hass und warb für eine christliche Solidarität mit den besiegten Deutschen. Dazu nahm er an wichtigen Kirchentreffen Teil, so z.B. der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948, auf der er das Hauptreferat »Die Unordnung der Menschen und Gottes Heilsplan« hielt: »Inmitten dieser Unordnung Gottes Reich als das der Gerechtigkeit und des Friedens anzuzeigen, das ist der prophetische Auftrag der Kirche: der Auftrag ihres politischen Wächteramtes und ihres sozialen Samariterdienstes.«
Er wurde akademisch rehabilitiert und hielt seit 1946 wieder Gastvorlesungen in Bonn und Münster. Parallel dazu setzte er seine theologische Arbeit fort und schrieb weitere Teilbände der "Kirchlichen Dogmatik", vor allem die Lehre von der "Schöpfung" (KD III) und der "Versöhnung" (KD IV). Zugleich beobachtete er aufmerksam das Zeitgeschehen und begriff sehr früh, dass der Kalte Krieg für die Kirche eine ähnliche Herausforderung darstellte wie das "Dritte Reich". So ergänzte er zusammen mit Hans Joachim Iwand das unkonkrete Stuttgarter Schuldbekenntnis der EKD mit einem konkreteren Bekenntnis zum Versagen der Kirche in der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit. In diesem "Darmstädter Wort" von 1947 bezeichnete Barth den Marxismus als legitime Erinnerung der Christen an die Auferstehung der Toten und die Diesseitigkeit des "Reiches Gottes". Nun bekämpfte er energisch den christlichen Antikommunismus und Antisozialismus, nahm aktiv Teil am Kampf gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik, gegen die atomare Aufrüstung beider Blöcke - Barth gründete den "Europäischen Kongress für nukleare Abrüstung" mit - und bezog schon 1965 klar Stellung gegen den Vietnamkrieg der USA. Die Massenvernichtungsmittel sah Barth seit 1957 wie den totalen Hitlerstaat als Angriff auf die Grundsubstanz des christlichen Glaubens, angesichts derer die Kirche eine eindeutige Entscheidung zu treffen habe. Diese Herausforderung wurde im "Nachrüstungs"-Streit der frühen 80-ger Jahre nochmals akut, aber von der EKD insgesamt nicht angenommen.
1962 reiste Barth durch die USA, wo er u.a. an der Universität Chicago und am Princeton Theological Seminary Vorträge hielt. 1963 wurde er vom Vatikan eingeladen, als Beobachter an den zwei letzten Sessionen des II. Vatikanischen Konzils teilzunehmen, musste aber wegen Krankheit absagen. 1966 reiste Barth nach Rom und traf Papst Paul VI. und Kardinal Alfredo Ottaviani zu längerem theologischem Gesprächen. Darüber berichtete er in seinem Werk »Ad limina Apostolorum«. Die katholische Einordnung des Judentums als "Religion unter Religionen" sowie das Übergehen des Islam kritisierte er scharf und mahnte schon damals ein päpstliches Schuldbekenntnis für die Kreuzzüge und die Inquisition an.
Mehrere Operationen und längere Krankenhausaufenthalte unterbrachen Barths Weiterarbeit an der »Kirchlichen Dogmatik«, so dass sein Hauptwerk unvollendet blieb. Von 1966 bis 1968 konnte er nochmals Seminare an der Basler Theologischen Fakultät abhalten. Seine letzte theologische Äußerung galt Israel.
Barth gilt weithin als der bedeutendste und einflussreichste evangelische Theologe des 20. Jahrhunderts. Er war der Begründer der Dialektischen Theologie und Überwinder des liberalen Protestantismus, der Vater der Bekennenden Kirche und geistige Mittelpunkt des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, der Versöhner der Völker im Kalten Krieg, der die "Kirche zwischen Ost und West" positionieren und zu einem entschlossenen blockübergreifenden Widerstand gegen die Aufrüstung ermutigen wollte. Seine »Kirchliche Dogmatik« ist »ein riesiges, mit keiner Leistung in der neueren evangelischen Theologiegeschichte vergleichbares Werk« (Ernst Wolf). Emil Brunner sagte über ihn: »Er hat, zuerst durch seinen prophetischen Weckruf in seinem Römerbrief-Kommentar, sodann durch die Denkarbeit, die in seiner monumentalen >Kirchlichen Dogmatik< vorliegt, der Theologie, die im Begriffe war, sich in Religionsgeschichte und -psychologie zu verlieren, ihr Thema wieder zurückgegeben...Wenn auch einige andere von uns an dieser Wendung von Anfang an mitbeteiligt waren, so haben wir doch hinter ihm zurückzutreten und zu bekennen: Diesen Durchbruch vermochte niemand anders als dieser mächtige, vehemente und geniale Geist zu vollbringen.«
1971 wurde in Basel die Karl-Barth-Stiftung unter dem Leiter Dr. Hinrich Stoevesandt gegründet. Ihr Ziel ist die Herausgabe von Barths gedrucktem und unveröffentlichtem Nachlass. Eine Gesamtausgabe von 70 Bänden ist geplant: ohne die »Kirchliche Dogmatik«, die als Hauptwerk für sich bestehenbleibt. Die Ausgabe wird mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Die Theologie Karl Barths
Einführung und Überblick
Karl Barths theologischer Ansatz, wie er sich ausformuliert in der Kirchlichen Dogmatik findet, ist ein christozentrischer. Den Christozentrismus entwickelte der späte Barth aus seinem frühe(re)n dialektischen Ansatz. In der Folge dieser anfänglichen Wort-Gottes-Theologie, wie sie Barths Kommentar zum Römerbrief noch bot, galt es, die Problematik der natürlichen Theologie zu überwinden, wie auch einen differenzierteren Weltbegriff zu finden. Denn der frühe Barth benutzte einen Begriff von Welt, der diese immer schon unter dem Gesetz stehend sah, damit aber in der Gefahr stand, säkular eine Eigengesetzlichkeit zu evozieren, die politischen Ideologien offen gewesen wäre. (Hier ist der historische Ort zu beachten: Barth und die anderen Änhänger der Dialektischen Theologie befanden sich in der Bekennenden Kirche in schroffer Gegnerschaft zu dem sich ab 1933 ausbreitende Nationalsozialismus!)
Die »christozentrische Konzentration« Barths setzt nun an einem exklusiven Offenbarungsbegriff (exkl. Offenbarungsmonismus) an, wie er auch schon vom frühen Barth vertreten wurde: Nur Gott selbst kann von Gott reden. Damit bleibt das Leitmotiv der Souveränität Gottes, aus der Barth seine Theologie »von oben« entwickelt, völlig erhalten: Am Anfang steht die Erniedrigung des Gottessohnes; dann folgt die Erhöhung des Menschensohnes. Jede Umkehrung dieser Abfolge muss nach Barth zum Anthropozentrismus führen. Die Souveränität Gott wird (christozentrisch) nun völlig als die Souveränität Christi ausgeführt. Gottes Selbstoffenbarung in Christo ist Gottes ewiges Geschenk mitten in der Zeit, woraus sich zwei Konsequenzen ergeben:
- epistemologisch: Die Ableitung aller (theologischen) Erkenntnis, wie Gottes-, Schöpfungs-, Sünden- und Selbsterkenntnis aus dem Christusereignis und damit einhergehend die Ablehnung jedweder theologia naturalis .
- ontologisch: Die Hinwendung zur Welt als einer nicht aus sich heraus guten, aber von vornherein gerechtfertigten und begnadigten .
Damit ergibt sich eine Akzentverschiebung vom richtenden hin auf den gnädigen Gott, die nun in der Kirchlichen Dogmatik durchgeführt wird. Gottes &8250;Göttlichkeit‹ wird nicht durch seine &8250;Menschlichkeit‹ ersetzt, vielmehr ist jene nun als diese umfassend gedacht. Die Menschwerdung Gottes aber lässt sich nur von der Christologie her aufweisen, die somit zur Voraussetzung Barthscher Theologie werden musste.
Mit Christus als Gott kann Barth dann die Trinitätslehre als zentrale Stelle seiner Theologie entfalten. Dies geschieht in der Verbindung von Trinitäts- und Offenbarungslehre. Die Darlegung der Trinität Gottes ergibt sich nach Barth aus der Analyse des Offenbarungsbegriffes: Nur weil Gott der Dreieinige ist, kann er sich als der dreieinige offenbaren. Aus dieser Darlegung ergibt sich aber nicht nur die konsequente Weiterführung der Entfaltung einer Theologie »von oben«, sondern auch, dass damit die immanente Trinität und die ökonomische Trinität in eins gesetzt sind. Die argumentatio ad externum wird in der argumentatio ad internum begründet und begründbar. Die geoffenbarte trinitarische Wirklichkeit Gottes führt zu der Ableitung, dass es sich bei zeitlichem Geschehen »nur um die Durchführung des in Ewigkeit Beschlossenen« handelt.
Die konsequente Entfaltung dieser Theologie »von oben« führt Barth zur Prädestinationslehre. Die Prädestinationslehre ist nun das letzte Zentrum der Barthschen Theologie. Aus der ewigen Erwählung Jesu Christi kann die Christologie, wie auch jede Schöpfungs- uns Sündenlehre, Rechtfertigungslehre und Ethik abgeleitet werden. Die Prädestinationslehre bedeutet in Barths Theologie funktional:
- Die Ableitung alles Geschehens aus dem Handeln Gottes in Jesu Christo.
- Die Ableitung des innerweltlichen Guten bzw. Bösen aus dem Willen Gottes als dem der Erwählung und der Verwerfung.
- Damit die Bestimmung der Zweitrangigkeit (und das heisst: Nichtigkeit) des Bösen.
- Die Bestimmung des Anspruchs Christi auf die gesamte Wirklichkeit (Königsherrschaft) (Hier wird die Theologie aus der »apologetischen« Haltung heraus in eine nahe zu »akkusatorische« geführt.)
Die ontologische Problematik bei Karl Barth
Theologische Aussagen werden bei Barth keiner impliziten philosophischen Ontologie oder Hermeneutik untergeordnet. Gottes Handeln am Menschen wird explizit als Handeln (actio) gefasst. Sowohl das Hören als auch das Verstehen des Wortes Gottes ist in dessen actio mit eingeschlossen.
Schon in der Negativen Ontologie (bzw »Hohlraum-Ontologie«) der Römerbrief-Theologie versucht Barth die Problematik, wie vom Menschen nun über Gott geredet werden könne, durch eine »antithetische Dialektik« zu überwinden: Die menschliche Aussage über Gott ist nur als eine auf dessen Wort hinweisende auszusprechen. Hierbei stellt sich aber die Frage, wie »[...] überhaupt eine theologische Aussage getroffen werden [kann], so dass sie dem aktualen Geschehen [sc: des Wortes Gottes] nicht vorgreift« (F.Schmid 1964, S.39), d.h. wie der Mensch an diesem Geschehen beteiligt sein soll.
In jenem theologischen Stadium Barths, das gerne mit dem Anselm-Buch verbunden wird, verweist Barth die Frage der Vermittlung des Gotteswortes, die sich für Friedrich Gogarten u.a. in einer Aufnahme des »Du« (vgl. Ebner, Buber) und für Bultmann durch eine Anknüfung an die Existentialanalyse (Heidegger) beantwortet, radikal in den Bereich Gottes: Der Bereich des Wortes Gottes umfasst danach sowohl den redenden Gott als auch den hörenden Menschen. (vgl. Barth 1927, S.111), womit sich aber »[...] die ontologische Frage umfassend [...] [stellt], insofern sie als vom Worte Gottes ausgehend auch die Wirklichkeit des Menschen als eines von Gott Angeredeten mit einschließt.« (F.Schmid 1964, 112)
- »Weil Gott da ist, darum gibt es Dasein überhaupt. [...] Alles, was außer ihm da ist, ist gleichsam in der Klammer seines Daseins da und also auch nur in der Klammer des Denkens seines Daseins (seines nicht negierbaren Daseins!) als daseiend denkbar - und also, von dieser Klammer abgesehen, immer auch als nicht da seiend denkbar.« (K.Barth 1931, 139)
Im letzten Stadium seiner theologischen Entwicklung gibt Barth in der »Kirchlichen Dogmatik« dann schon eine detailliert ausgefaltete Trinitätslehre zur Antwort auf die Problematik der Wort-Gottes-Vermittlung, indem er die Bewegung des Offenbarungsgeschehens mit dieser und der Christologie verbindet: Der sich in Christus offenbarende trinitarische Gott ist der »Gott für uns«, der in seiner Freiheit schon immer »Gott an sich« ist (vgl. KD I,1 S.178) In der erfüllten Zeit (kairos) wird die Krisis der Zeitlichkeit überwunden, werden Zeit und Ewigkeit eins in Jesu Christi. Das Verständnis Gottes, ja sogar seine »Gegenständlichkeit« versucht Barth hier in Jesu Christi Geschichte als Mitte der Zeit zu gewinnen. Diese »Gegenständlichkeit« ist zwar eine im Wort der Verkündigung lokalisierte, die aber Barth nicht gegen den Vorwurf einer Verobjektivierung , also eines Offenbarungspositivismus schützt.
Barths Analogienlehre
Bei der Frage nach Akt und Sein wird v.a. Barths Analogienlehre, die in der barthianisch- lutherischen Theologie häufig als problematisch empfunden wird, in den Mittelpunkt gerückt. Gegen den Christomonismus Barths, der kaum noch ermöglicht, die so entstandene Kluft zwischen Mensch und Gott zu überbrücken macht in Anlehnung an Bonhoeffer Joest die Ansicht geltend, Gott als Akt und als Sein verstehen zu müssen und so zu einer dynamischen und statischen Wirklichkeitsauffassung zu kommen.
Die Grundzüge dieser Frage der Vereinbarkeit einer analogia entis und einer analogia fientis finden sich im Streit um Brunners Imagolehre. Nach Barth kommt die imago Dei einzig und allein Christus zu. Dass aber neben der sog. Materialimago dem Menschen mit dem Sündenfall auch die sog. Formalimago verlustig geht, kann Barth biblisch nicht bzw. nur falsch belegen. Schon die »[...] Schöpfung kommt aus der in sich ruhenden Seinsmacht Gottes und durch sie hindurch wird auch dem Menschen substantielles Sein verliehen . (W.Joest, Sein und Akt)
Barths Aktualismus-These
Mit seinem Aktualismus versucht Barth, die Problematik von Zwei-Naturen-Lehren zu überwinden. Er tut dies nicht, indem er eine zugunsten der anderen Natur aufgibt, sondern beide in einer »Aktion Gottes« aufhebt, die in Jesus geschieht und Person mit Werk untrennbar verbindet. Jesus ist Aktion Gottes. Barths Analogienlehre wird gerade wegen ihres Aktualismus, d.h. der Auffassung, dass die Analogie selbst einen Akt darstellt, also nicht ist , sondern im Glaubensgeschehen, in der Offenbarung sukzessive (und kurzlebig?) je und je wird, kritisiert. In Barths theologischer Entwicklung verschieben sich zwar die Akzente von Immanenz über Transzendenz zur Transparenz Gottes (Pöhlmann, 112), ein grundsätzlicher Aktualismus wird aber nicht aufgegeben.
Die Problematik eines solchen Aktualismus, der das Sein als »substanzlos«, als actus purus begreift, wird in Barths Verwechslung der Termini »Substanz« und »Materie« lokalisiert; Substanz aber ist mehr als Materie, ist als Sein des Seienden zu verstehen. (vgl. Pöhlmann, 125).
- »Was sagt der Mensch Jesus inmitten des Kosmos, inmitten der anderen Menschen? Wollen wir es aufs einfachste ausdrücken, so müssen wir zweifellos antworten: er sagt sich selber. Er redet ja, indem er existiert. Er ist, indem er ist , das Wort Gottes. [...] So ist seine eigene Existenz der Inhalt der Rede dieses Menschen. Er redet also von der in ihm sich ereignenden geschöpflichen Gegenwart, Aktion und Offenbarung Gottes, von Gottes Rettertat und damit von seinem Reich, vom Geschehen seines Willens, von seinem eigenen geschöpflichen Sein vom Dienst an diesem Geschehen, von Gottes Herrschaft über ihn und darum von seiner eigenen Freiheit für diesen Dienst. Der Mensch Jesus selbst ist ja diese Rettertat, dieses Geschehen, dieser Dienst, er ist diese Herrschaft des Schöpfers und diese Freiheit des Geschöpf.« (KD III,2 177f; vgl. auch Barths Hermeneutik und Wiesner in: ThLZ 1966, 572ff.)
Wichtige Werke
- Der Römerbrief; 1919
- Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms; 1931
- Kirchliche Dogmatik; 1932ff.
- Weihnacht; 1934
- Nein! Antwort an Emil Brunner; 1934
- Credo. Die Hauptprobleme der Dogmatik, dargestestellt im Anschluß an das Apostolische Glaubensbekenntnis. 16 Vorlesungen; 1935
- Evangelium und Gesetz; 1935
- David Friedrich Strauß als Theologe. 1839-1939; 1939
Literatur
- Friedrich Wilhelm Bautz, Karl Barth; in: BBKL 1 (1990), 384-396 (mit umfangreichem Literaturverzeichnis !)
- E. Busch, Karl Barths Lebenslauf; München 1978
- J. Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher; Habil., 1996
- Wilfried Jost, Sein und Akt in der Existenz des Menschen vor Gott. Zur Interpretation der reformatorischen Anthropologie; in: StGen 8 (1955), 689-697
- Eberhard Jüngel, Barth-Studien; 1982
- C.D. Osthövener, Die Lehre von Gottes Eigenschaften bei Friedrich Schleiermacher und Karl Barth; 1996
- E.H. Quapp, Barth contra Schleiermacher? Die Weihnachtsfeier als Nagelprobe; 1978
- G.Wehr, Karl Barth. Theologe und Gottes fröhlicher Partisan.; Gütersloh 1979
Weblinks
- H.-H. Schneider, Karl Barth
- Karl Barth-Archiv in Basel
- Christianity Today
siehe auch: Carl Barth