Ein Tagebuch (auch als Diarium bezeichnet) ist ein autobiographische Dokumentation in chronologischer Form. Es ist ein Medium der Selbstdarstellung und zeichnet sich durch einen hohen Grad an Subjektivität aus. Der Verfasser schreibt meist täglich seine Erlebnisse aus dem eigenen Leben und Schaffen mit unmittelbaren Eindruck der Situation in einem Buch oder digitalen Medium nieder. Das Tagebuch hält private Ereignisse fest und wird für gewöhnlich nicht im Bewusstsein einer Veröffentlichung geschrieben.
Das Tagebuch verfolgt die "Linie des eigenen Lebens" Tag für Tag (Max Dessoir). Es gibt einen frischen Eindruck des Erlebten wieder. In einem Tagebuch werden Erlebnisse, aber auch Stimmungen und Gefühle aufgezeichnet, um die Gegenwart für die eigene Zukunft zu bewahren. Ein Kennzeichen aller Tagebücher ist die Regelmäßigkeit des Berichtens.
Formale Gestaltung
Der Stil eines Tagebuchs kann sehr unterschiedlich sein, möglich ist alles "von der anspruchlosesten Alltagsprosa bis zur Höhe des sprachlichen Kunstwerkes" (P.Boerner). Bezeichnend für das Tagebuch sind die schubweisen Aufzeichnungen im Präsens. Der Verfasser macht damit deutlich, er befindet sich im Jetzt, er kann die Zukunft nicht vorausahnen. Das Tagebuch ist somit nie abgeschlossen, es befindet sich immer im Wachsen, im Entstehen, sein Ausgang ist offen. Es kann bis zum Tode des Verfassers reichen. Typisch ist das Unsystematische und Bruchstückhafte in Tagebüchern, spätere Eintragungen müssen nicht auf früheren fußen. Gelegentlich wird die Tagebuchführung sogar unterbrochen, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu beginnen. Der Inhalt eines Tagebuchs ist normalerweise privater Natur. Der Verfasser schreibt über Dinge, die er beobachtet hat und die ihn beschäftigen. Die Bewertung von Ereignissen und Gedanken ist oft unsicher und zeigt sich erst auf längere Sicht. Der Stil in diesen privaten Tagebüchern ist oft direkter und unvermittelter als in Tagebüchern die der Veröffentlichung dienen. Menschen legen Zeugnis ab über sich und ihre Umwelt, womit private Tagebücher als Überrest eine wichtige Quelle für Historiker sein können.
Geschichte des Tagebuchs
Das Tagebuchschreiben im heutigen Sinne setzt in Europa erst mit der Renaissance ein. In dieser Epoche wird sich der Mensch erstmals über seine Individualität bewusst, was Voraussetzung für das Verfassen eines Tagebuches ist. Vorläufer des Tagebuches lassen sich aber schon in der Antike finden. Ein Beispiel dafür sind die assyrischen Tontafelkalender aus dem sechsten Jahrhundert mit Notizen über Marktpreise, Wasserstände, Wetterverhältnisse und ähnliches. Die Tatenberichte babylonischer Herrscher oder römischer Kaiser, sowie Aufzeichnungen von Träumen und deren Deutung, sind ebenfalls erste Versuche, Ereignisse festzuhalten. Im Mittelalter sind Chroniken, Logbücher und Aufzeichnungen von Mystikerinnen die Vorreiter des Tagebuches. Durch das in der Renaissance wachsende Ich-Bewusstsein des Menschen und sein selbstbewusstes Heraustreten aus der Anonymität gewinnen Meinungen und Darstellungen von Erlebnissen an Bedeutung. Der Mensch wird Zeuge von vielen neuen Erfahrungen und Entwicklungen, die in dieser sogenannten Schwellenzeit zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit auftreten.
Bloßes Registrieren dieser Entwicklungen, wie beispielsweise in Logbüchern oder Berichten, reicht nicht mehr aus. Der Mensch will die neuen Eindrücke verarbeiten und tut dieses in Beobachtungs- und Reisejournalen oder Memorialbüchern. Ein Beispiel für diese Veränderung ist das anonym geschriebende "Journal d'un bourgeois de Paris". Hier werden Beobachtungen über das Zeitgeschehen der Jahre 1405 bis 1449 beschrieben und durch Kommentare begleitet. An diesem Text werden auch subjektive Reaktionen auf den gesellschaftlichen Wandel dieser Zeit sichtbar. Vorwiegend sind die Tagebücher aber noch Chroniktagebücher, in denen die Beobachtung den Vorrang hat vor der Reflexion.In Deutschland gilt das noch bis ins 17. Jahrhundert hinein. Das Tagebuch des Engländers Samuel Pepys(1633-1703) wirkt dagegen modern.
Das zehnbändige, in Kurzschrift geschriebene Tagebuch, das mit dem 1. Januar 1660 beginnt und zum Schauplatz von Pepys' täglichem Kampf mit seiner Eitelkeit und Prunksucht, aber auch seinen Ängsten vor Strafen, Krankheiten und Tod wurde, wuchs auf dem Boden des Puritanismus, eine von vielen religliösen Bewegungen, die sich gegen die offizielle Kirche richteten. Dadurch, dass Pepys in seinem Tagebuch sein eigenes, wie auch fremdes Verhalten einer kritischen Prüfung unterzieht, schlägt er damit die Brücke vom objektiv-privaten Tagebuch der Renaissance, zum subjektiv-privaten Tagebuch der Gegenwart. Ab dem 18. Jahrhundert wird die Diaristik zunehmend subjektiver. Durch das politische System des Absolutismus zieht sich der Bürger ins Private zurück. Auch die Religion wird, besonders im Pietismus, zunehmend subjektiviert, wodurch viele religiöse Tagebücher entstanden, die als Mittel zur Seelenerforschung oder als Beichte dienten. Die Aufklärung unterstützt weiterhin die Tendenz, das Tagebuch als einen persönlichen Rechenschaftsbericht zu sehen, während die empfindsamen Tagebücher in erster Linie die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen psychologisch beschreiben. Das französische "Journal intime" greift im 19. Jahrhundert die Ich-Analyse des empfindsamen Tagebuches auf und verstärkt diese Tendenz.
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts werden beispielsweise Autoren, wie E.T.A. Hoffmann oder Friedrich Hebbel von den französischen Intimisten beeinflußt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Tagebuch wieder etwas objektiver und dient als literarische Werkstatt oder Erinnerungshilfe.
Das Tagebuchschreiben wird besonders im 20. Jahrhundert immer populärer. Ausnahmesituationen, wie die beiden Weltkriege und die politische und soziale Isolation während der NS-Diktatur,veranlassen die Menschen zunehmend ihre Erlebnisse in Tagebüchern niederzuschreiben. Berühmtestes Werk dieser Zeit ist das Tagebuch der Anne Frank.
Erst in den 1970er und 1980er Jahren trugen die Schlagworte Selbstfindung und Selbstverwirklichung dazu bei, dass immer mehr Frauen literarisch in der Tagebuchproduktion hervortraten.
Tagebücher heute
Tagebücher können als Ratgeber für den Schreiber selbst dienen; das Tagebuchschreiben wird auch als therapeutische Methode propagiert (Schreiben als Therapie). Biografische Bücher über schwere selbst erlebte oder miterlebte Lebenskrisen entstehen meist aus oft erst nach vielen Jahren überarbeiteten Tagebüchern. Der Stil solcher Veröffentlichungen reicht von „Betroffenheitsliteratur“ bis hin zu Sozialreportagen und Ratgebern. Die mit Abstand größte Reihe auf dem deutschen Buchmarkt sind die „Erfahrungen“ im Verlag Bastei-Lübbe. Auch in Book-on-Demand-Verlagen werden solche Erfahrungsberichte in großer Zahl verlegt.
Eine moderne Form von Tagebüchern sind Weblogs.
Das Deutsche Tagebucharchiv sammelt private Tagebücher.
Bekannte Tagebücher
- Tagebuch des Samuel Pepys, 1660-1669
- Tagebücher von Franz Kafka
- Tagebücher von Thomas Mann, erhalten für 1918–1921 und 1933–1955
- Tagebuch der Anne Frank aus der Zeit des Nationalsozialismus
- Tagebücher von Victor Klemperer
- Echolot, Zusammenstellung von Tagebucheinträgen und Alltagsdokumenten zu bestimmten Tagen des Zweiten Weltkriegs (4 Bände), von Walter Kempowski
- Tagebücher von Max Frisch, 1946–1949 und 1966–1971
- Tagebücher von Julien Green
- Tagebücher von Ernst Jünger
- Hitler-Tagebücher (Fälschung von 1983)
- Tagebücher von Kurt Cobain, 1988-1994
- Tagebücher von Joseph Goebbels, 1923-1945
Für Autoren, die Tagebücher geschrieben haben, siehe auch: Kategorie:Tagebuch
Literatur
- P. Boerner: Tagebuch, J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1969.
- Donald G. Daviau (Hrsg.): Österreichische Tagebuchschriftsteller. Edition Atelier, Wien 1994, ISBN 3-9003-7988-2
- E. Henning: Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Struktur der Selbstzeugnisse, besonders der Tagebücher, Autobiographien, Memorien und Briefe, in: Genealogie 10, 1971, S.385-391.
- Gustav René Hocke: Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie. Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-596-10883-7
- Gabriele Wilz, Elmar Brähler (Hrsg.): Tagebücher in Therapie und Forschung. Ein anwendungsorientierter Leitfaden. Hogrefe, Göttingen u. a. 1997, ISBN 3-8017-0812-8
- Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, ISBN 3-534-03127-X
- Sachlexikon: Literatur. hrsg. von Volker Meid. München 2000