Strahlensatz

mathematischer Satz
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 27. Oktober 2016 um 18:03 Uhr durch Petrus3743 (Diskussion | Beiträge) (Näherungskonstruktion eines Winkels: "Strahlensatz" korrigiert, Link zu Winkel ergänzt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Strahlensatz (man spricht auch vom ersten, zweiten und dritten Strahlensatz) oder Vierstreckensatz gehört zu den wichtigsten Aussagen der Elementargeometrie. Er befasst sich mit Streckenverhältnissen und ermöglicht es bei vielen geometrischen Überlegungen, unbekannte Streckenlängen auszurechnen.

In der synthetischen Geometrie können die ersten beiden Strahlensätze mit Einschränkungen sinngemäß auf affine Translationsebenen verallgemeinert werden und gelten uneingeschränkt für desarguesche Ebenen. Dagegen gilt der dritte Strahlensatz, der in der synthetischen Geometrie auch Dreistrahlsatz genannt wird, im Allgemeinen nur für pappussche Ebenen, → siehe dazu Affine Translationsebene#Strahlensatz und Streckungen.

Formulierung der Strahlensätze

Wenn zwei durch einen Punkt (Scheitel) verlaufende Geraden von zwei Parallelen geschnitten werden, die nicht durch den Scheitel gehen, dann gelten die folgenden Aussagen:

  1. Es verhalten sich je zwei Abschnitte auf der einen Geraden so zueinander wie die ihnen entsprechenden Abschnitte auf der anderen Geraden, also zum Beispiel |ZA| : |AA'| = |ZB| : |BB'| oder |ZA| : |ZA'| = |ZB| : |ZB'|.
  2. Es verhalten sich die Abschnitte auf den Parallelen wie die ihnen entsprechenden, vom Scheitel aus gemessenen Strecken auf jeweils derselben Geraden (z. B. |AB| : |A'B'| = |ZA| : |ZA'| oder |A'B'| : |AB| = |ZB'| : |ZB|).
  3. Es stehen je zwei Abschnitte auf den Parallelen, die einander entsprechen, in gleichem Verhältnis zueinander (z. B. |BC| : |B'C'| = |CA| : |C'A'| oder |BC| : |AC| = |B'C'| : |A'C'|). Dieser Strahlensatz setzt im Gegensatz zu den ersten beiden Strahlensätzen mindestens drei Geraden voraus.
Die beiden Skizzen berücksichtigen, dass der Kreuzungspunkt Z außerhalb oder innerhalb der beiden parallelen Geraden liegen kann. Im ersten Fall spricht man gelegentlich von einer „V-Figur“ (linke Skizze), im zweiten von einer „X-Figur“ (rechte Skizze).
Skizze nach Satz 3

Der erste Strahlensatz bezieht sich also auf die Verhältnisse von Strahlenabschnitten, der zweite auf die Verhältnisse von Strahlen- und Parallelenabschnitten und der dritte auf die Verhältnisse von Parallelenabschnitten.

Bemerkung (Umkehrung des Strahlensatzes):

Ist Eigenschaft 1 erfüllt, so kann man auf parallele Geraden schließen. Ist dagegen Eigenschaft 2 gegeben, so ist ein entsprechender Schluss auf Parallelität nicht möglich.

Der Name Strahlensatz erklärt sich aus der Tatsache, dass man oft nur den Spezialfall betrachtet, in dem die beiden Parallelen auf derselben Seite des Scheitels liegen („V-Figur“). Denn dann benötigt man zur Formulierung keine zwei sich in einem Scheitel schneidenden Geraden, sondern lediglich zwei Strahlen mit gemeinsamem Ursprung.

Verwandte geometrische Konzepte

Der Strahlensatz steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der geometrischen Ähnlichkeit. Die Dreiecke ZAB und ZA'B' sind in jeder der drei Skizzen sowie ZAC und ZA'C' in der Skizze nach Satz 3 (in „Formulierung der Strahlensätze“) zueinander ähnlich. Dies bedeutet insbesondere, dass entsprechende Seitenverhältnisse in diesen Dreiecken übereinstimmen – eine Aussage, aus der sich unmittelbar der Strahlensatz ergibt.

Siehe auch: Ähnlichkeitssätze

Ein weiteres Konzept, das mit dem Strahlensatz zusammenhängt, ist das der zentrischen Streckung (einer speziellen geometrischen Abbildung). In den angesprochenen drei Skizzen bildet die linke beispielsweise die zentrische Streckung mit Zentrum Z und Streckungsfaktor (Abbildungsfaktor) 1,5 die Punkte A und B auf die Punkte A' bzw. B' ab. Entsprechendes gilt für die mittige Skizze; hier ist der Streckungsfaktor gleich -0,5.

Eine ähnlich enge Beziehung besteht zur Vektorrechnung. Die Rechenregel

 

für zwei Vektoren   und einen reellen Skalar   ist nur eine andere Ausdrucksweise für den Strahlensatz, denn es gilt dann:

 .

Hierbei bezeichnet   die Länge (euklidische Norm) des Vektors  

 

Einfache Anwendungsbeispiele

Ermittlung von Pyramidenhöhen

 
Skizze 1: Maßstab und Pyramide
 
Skizze 2: Strahlensatz

Ein einfaches Beispiel für die Anwendung des Strahlensatzes soll auf den antiken griechischen Philosophen und Mathematiker Thales von Milet zurückgehen. Dieser habe mit Hilfe eines Stabes durch Messung der Schattenlänge die Höhe der ägyptischen Cheopspyramide ermittelt. In anderen Sprachen wird der Strahlensatz daher oft auch als Satz des Thales[1] bezeichnet.

Die folgende Beispielrechnung ermittelt die Höhe der Cheopspyramide mit Hilfe des Strahlensatzes, sie entspricht jedoch vermutlich nicht der exakten Berechnung des Thales selbst[2]:

Zunächst bestimmt man die Seitenlänge der Pyramide und anschließend die Länge des Schattens eben jener. Anschließend steckt man einen Stab senkrecht in den Boden und vermisst dessen Höhe und dessen Schattenlänge. Man erhält dann die folgenden Werte:
  • Höhe des Stabes:  
  • Schattenlänge des Stabes:  
  • Direkt messbare Schattenlänge der Pyramide:  
  • Seitenlänge der Pyramide:  
  • Gesamte Schattenlänge der Pyramide:  
  • Gesuchte Höhe der Pyramide:  
Mit Hilfe des Strahlensatzes (Skizze 2) stellt man die folgende Gleichung auf:
 
Die Länge der Seite   des Dreiecks setzt sich dabei aus der halben Seitenlänge und der Länge des Schattens der Pyramide zusammen. Umgestellt nach D erhielt man:
 

Näherungskonstruktion eines Winkels

 
Konstruktion eines Winkels in Dezimalgrad mittels des dritten Strahlensatzes

Ein praktikables Beispiel für den dritten Strahlensatz in Kombination mit Zahlengeraden ist die Konstruktion eines Winkels in Dezimalgrad. Hierfür wird der Wert des Sinus oder des Kosinus vom gesuchten Winkel verwendet.

Die Grundkonstruktion besteht aus einer horizontalen Zahlengeraden s1, zwei vertikalen parallelen Zahlengeraden s2, s3 jeweils mit zehn Teilungspunkten 0,1 bis 1,0 sowie einer Diagonalen ab 1,0 von s3 durch 0,1 von s2 bis zur Zahlengeraden s1; es ergibt sich dabei auf s1 der Scheitelpunkt E. Ein Viertelkreis ab 1,0 von s2 bis s1 schließt die Grundkonstruktion (Schema) ab.

Für die Veranschaulichung der eigentlichen Konstruktion wurde der Winkel 57,14° mit seinem Sinuswert ca. 0,84 gewählt.

Zuerst wird der Teilungspunkt 0,4 mit dem Scheitelpunkt E verbunden, dabei entsteht der um ein Zehntel verkleinerte Wert 0,04 auf s2.

Anschließend nimmt man den Abschnitt der Werte 0,1 und 0,04 (größere Zirkelöffnung) in den Zirkel und überträgt ihn auf s2 ab dem Teilungspunkt 0,9; somit ergibt sich der gewählte Sinuswert 0,84.

Eine abschließende horizontale gerade Linie bis zum Viertelkreis ergibt den Schnittpunkt H für den zweiten Winkelschenkel |AH|. Der somit konstruierte Winkel 1,0AH hat den Näherungswert 57,14012...° mit einem absoluten Winkelfehler Fα ≈ 0,00012°.

Werden die relevanten Teilungspunkte mit B, D, F und G bezeichnet, ergeben sich gemäß dem dritten Strahlensatz die Verhältnisse der Abschnitte:

  und  

Beweis

Die in Satz 1 aufgestellten Streckenverhältnisse lassen sich für flächengleiche Dreiecke in der Strahlensatzfigur herleiten. Die Sätze 2 und 3 sowie die Umkehrung von Satz 1 ergeben sich dann durch die Anwendung von Satz 1 bzw. der schon bewiesenen Sätze.

Satz 1

 
Skizze zum Beweis von Satz 1

Die Lote von A' bzw. B' auf die Gerade   haben die gleiche Länge, da   parallel zu   ist. Diese Lote sind Höhen der Dreiecke ABB' bzw. ABA', welche die zugehörige Grundseite   gemeinsam haben. Für die Flächen gilt daher   und weiter   oder flächenvereint  .

Somit gilt dann auch:

  und  

Das Anwenden der Standardformel zur Flächenberechnung von Dreiecken ( ) liefert dann

  und  

Kürzen liefert   und  .

Löst man beides nach   auf und setzt die rechten Seiten gleich ergibt sich

 

oder umgeformt für die Streckenverhältnisse auf je einem Strahl:

 .

Satz 1 – Beweis nach Archimedes

Außer dem oben angegebenen Beweis, der auf eine Darstellung aus Euklids Elementen (6. Buch, L.2 engl.) zurückgeht, waren in der griechischen Antike schon kürzere und elegantere Beweise möglich. Es reicht, die Gleichheit für einen Fall der möglichen Verhältnisse zu zeigen. Die anderen ergeben sich daraus unmittelbar. Euklid selbst beweist auch nur einen Fall.

Hier wird der Beweis nicht zitiert, sondern lediglich gemäß der Archimedischen Methodenlehre[3] ausgeführt:

Mit den üblichen Seiten- und Winkelbezeichnungen für die Dreiecke ABZ und A'B'Z entsprechend der Skizze oben (zur Formulierung der Strahlensätze) wird gezeigt, dass a:a' = b:b' gilt. Die Winkel   und  ' sowie   und  ' sind als Stufenwinkel gleich. Bezeichne die Höhen, die durch das Lot von Z auf die Geraden gegeben sind, mit h und h' und deren Fußpunkte mit H und H'. Da   gleich  ' haben 'ferne' Kathete und Hypotenuse in den beiden rechtwinkligen Dreiecken AHZ und A'H'Z dasselbe Verhältnis zueinander. (In 'moderner' Formulierung:   gleich Gegenkathete von   zu Hypotenuse)

Also h:b = h':b' und daher h:h' = b:b'.

Aus   gleich  ' folgt durch entsprechende Betrachtung der Dreiecke HBZ und H'B'Z die Gleichung h:a = h':a' bzw h:h' = a:a'. Und schließlich a:a' = b:b'. Was zu beweisen war.

Satz 2

 
Skizze zum Beweis von Satz 2

Konstruiere eine zusätzliche Parallele zu   durch A. Diese Parallele schneidet   in G. Somit gilt nach Konstruktion   und wegen Satz 1 gilt für die Strahlen durch B außerdem

  worin sich   durch   ersetzen lässt:  

Satz 3

Aufgrund von Satz 2 gilt:

 

Also hat man   oder umgestellt auch  .

Umkehrung von Satz 1

 
Skizze zur Umkehrung von Satz 1

Angenommen   und   wären nicht parallel. Dann gibt es eine Parallele zu  , die durch den Punkt   geht und den Strahl   in   (*) schneidet. Da nach Voraussetzung   gilt, ergibt sich

 

Andererseits gilt nach dem ersten Strahlensatz auch

 .

Dies bedeutet, dass   und   beide auf dem Strahl   liegen und den gleichen Abstand von   haben. Damit sind die beiden Punkte jedoch identisch, also  . Dies ist ein Widerspruch dazu, dass es sich nach Bedingung (*) um 2 verschiedene Punkte handeln soll. Also führt die Annahme der Nichtparallelität zu einem Widerspruch und kann daher nicht richtig sein; oder anders ausgedrückt: Es muss   gelten.

Anwendungen und Verallgemeinerungen

Literatur

  • Wendelin Degen, Lothar Profke: Grundlagen der affinen und euklidischen Geometrie. Teubner, Stuttgart 1976, ISBN 3-519-02751-8.
  • Hans Schupp: Elementargeometrie. Schöningh, Paderborn 1977, ISBN 3-506-99189-2, S. 124 ff. (Uni-Taschenbücher 669 Mathematik).
  • Manfred Leppig (Hrsg.): Lernstufen Mathematik. 1. Auflage, 4. Druck. Girardet, Essen 1981, ISBN 3-7736-2005-5, S. 157–170.
  • Hartmut Wellstein, Peter Kirsche: Elementargeometrie. Eine aufgabenorientierte Einführung. Vieweg+Teubner Verlag 2009, ISBN 978-3-8348-0856-1, S. 36–41
Commons: intercept theorem – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Nicht zu verwechseln mit dem im deutschen Sprachraum als Satz des Thales bezeichneten Spezialfall des Kreiswinkelsatzes.
  2. Von Thales selbst sind keine Werke erhalten geblieben. Es gibt jedoch mehrere historische Quellen, die die Berechnung der Pyramidenhöhe durch Thales erwähnen. Alle diese Quellen sind aber mehrere Jahrhunderte nach dem Tode Thales verfasst worden und leicht unterschiedlich in ihrer Beschreibung, so dass sich letztendlich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt, inwieweit Thales den Strahlensatz selbst oder einen Spezialfall von ihm als geometrischen Lehrsatz kannte oder ob er lediglich eine physikalische Beobachtung anwandte. So steht bei Diogenes Laertius: "Hieronymus sagt, dass es Thales sogar gelang die Höhe der Pyramiden zu bestimmen, indem er den Schatten der Pyramide genau in dem Augenblick vermass, in dem sein eigene Schattenlänge seiner Körpergröße entsprach." Eine ähnliche Formulierung findet man bei Plinius: "Thales entdeckte, wie man die Höhe von Pyramiden und anderen Objekten bestimmt, nämlich indem man den Schatten des Objektes genau zu dem Zeitpunkt misst, an dem Höhe und Schatten gleich lang sind." Bei Plutarch jedoch findet sich eine Beschreibung, die eventuell eine Kenntnis des Strahlensatzes vermuten lässt: "… ohne Schwierigkeiten und Zuhilfenahme eines Instrumentes, stellte er lediglich einen Stock am Ende des Pyramidenschatten auf und erhielt so zwei durch die Sonnenstrahlen erzeugte Dreiecke … dann zeigte er, dass die Höhe des Stocks und die Höhe der Pyramide im selben Verhältnis stehen, wie die Schattenlänge des Stockes und die Schattenlänge der Pyramide" (Quelle: Biographie des Thales im MacTutor)
  3. Archimedes Werke. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Arthur Czwalina Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, ISBN 3-534-02029-4