Die Befreiungstheologie ist eine christliche Strömung, die sich seit 1960 vor allem in Lateinamerika, aber auch Südafrika und einigen Ländern Asiens entwickelte. Sie bezieht sich auf sozialkritische Bibeltraditionen, auf eine eigenständige und variable Analyse der politökonomischen Abhängigkeit (dependencia: Dependenztheorie) und fordert von daher eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaftsordnung im Interesse der Armen.
Entstehung
Seit der kubanischen Revolution 1959 bildeten sich in den armen, meist katholisch geprägten Bevölkerungsschichten ehemaliger europäischer Kolonien vermehrt sogenannte Basisgemeinden. Deren Mitglieder waren meist landlose Bauern, Slumbewohner und Analphabeten, die ihre Alltagsprobleme gemeinsam zu bewältigen versuchten. Hier entstand eine Auslegung der biblischen Botschaft, die diese eng auf die reale Situation ihrer Adressaten bezieht und daraus eine gesellschaftliche Hoffnungsperspektive für sie zu entwickeln versuchte. Zum ersten Mal wurde Theologie nicht als rein universitäres Studienfach, das einer wohlhabenden akademischen Elite vorbehalten war, aufgefasst, sondern als unmittelbar praktische Bibelauslegung der Betroffenen selber.
Beginnend 1964 mit einem Militärputsch in Brasilien, installierten sich in fast allen Ländern Lateinamerikas von den USA ökonomisch und militärisch gestützte Militärdiktaturen, die eine für die Bevölkerungsmehrheit katastrophale Innenpolitik betrieben. So kam es seit 1965 dort wie in Argentinien, Chile, Peru, El Salvador, Nicaragua u.a. immer wieder zu Rebellionen, Umstürzen und Revolutionsversuchen.
In deren Kontext stellte sich ein wachsender Teil von Christengemeinden und Kirchenvertretern auf die Seite der um Befreiung kämpfenden Bevölkerung. Die Rolle der Kirche blieb jedoch zwiespältig: Ein Teil der Kirchenhierarchie stand stets eng an der Seite der jeweils Herrschenden. Ein anderer Teil jedoch entwickelte aus den konkreten Erfahrungen mit Unterdrückung, Folter, Polizeistaat, Rechtlosigkeit und Elend heraus eine neue und umfassende Solidarität mit armen Bevölkerungsmehrheiten. 1968 in Medellin beschloss das gesamte lateinamerikanische Episkopat diese "Option für die Armen" als Leitlinie der Kirchenpolitik.
Ähnliche Aufbrüche gab es auch in den USA selbst, wo sich aus der Bürgerrechts- und Protestbewegung der 60er Jahre eine "schwarze Theologie" gegen den alltäglichen Rassismus entwickelte. Diese wirkte wiederum auf die christlich motivierte Anti-Apartheid-Bewegung Südafrikas ein. Auch auf den Philippinen, in Sri Lanka und Indien entstand seit 1968 eine "Theologie des Kampfes". Diese Bestrebungen werden oft als "Dritte-Welt-Theologie" zusammengefasst, obwohl sie jeweils eigenständig sind und auch europäische und nordamerikanische Vertreter beeinflusst haben.
Vertreter
Der Begriff selber wurde von dem peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez im Jahr 1972 in seiner Schrift "Teología de la liberación" geprägt. In Europa wurden vor allem die folgenden Theologen oder Kirchenführer bekannt:
- Helder Camara: Erzbischof von Olinda und Recife.
- Camilo Torres:Priester und Guerillakämpfer im Gefolge Ernesto Che Guevaras.
- Oscar Arnulfo Romero: Bischof von El Salvador, von rechtsextremen Todesschwadronen während einer Messe ermordet.
- Samuel Ruiz Garcia stand von 1960 bis 2000 der Diözese San Christobal (Chiapas, Mexiko) als Bischof vor.
- Ernesto Cardenal: Priester und Dichter, später Kulturminister in der Regierung der Sandinisten Nicaraguas. Er wurde als Mitbegründer einer Basiskommune auf der Insel Solentiname bekannt, aus der das "Evangelium von Solentiname" - Bibelauslegungen der Campesinos (landlosen Kleinbauern) - hervorging.
- Leonardo Boff: katholischer Theologe und Menschenrechtsaktivist. Er wurde für 1985 von der römischen Kongregation für die Glaubenslehre unter dem Vorsitz Kardinal Joseph Ratzingers – heute Papst Benedikt XVI. – wegen seiner Schriften zur Befreiungstheologie zu einem Jahr des Schweigens verurteilt und verlor alle kirchlichen Funktionen.
- Paulo Evaristo Kardinal Arns: emeritierter Erzbischof von São Paulo.
Weniger bekannte Vertreter der Befreiungstheologie sind auch
Sie vertreten unterschiedliche theologische Ansätze, denen aber die unverbrüchliche Verbindung von Kirche und Volk gemeinsam ist. Auch der schwarze Theologe James H. Cone aus den USA lässt sich den Befreiungstheologen zuordnen.
Eine wichtige Inspirationsquelle für die meist katholischen Befreiungstheologen war das Zweite Vatikanische Konzil, das 1962 größere Reformen in der römisch-katholischen Kirche einleitete. Sie haben über die Ökumene und christliche Basisgruppen auch in den sozialkritischen Protestantismus hineingewirkt. Hier haben westliche Theologen versucht, ähnliche Grundideen auch für die reichen Kirchen Europas und Nordamerikas geltend zu machen. Darunter sind:
- Harvey Cox: liberaler Vertreter des "social gospel" in den USA.
- George Casalis: französischer Schüler Karl Barths und libertärer Sozialist im Gefolge von Jean Paul Sartre.
- Helmut Gollwitzer: wichtigster deutscher Schüler Karl Barths und Freund Rudi Dutschkes, der seit 1970 die These "Christen müssen Sozialisten sein" vertrat.
- Jürgen Moltmann: lutherischer Theologe mit linkshegelianischem Ansatz, vertritt den jüdisch-christlichen Dialog als wesentlichen Beitrag zu einer ökumenischen Befreiungstheologie.
- Dorothee Sölle: deutsche Schülerin Rudolf Bultmanns, vertrat eine radikal kirchenkritische existenziale Interpretation des Evangeliums; feministische Sozialistin, die lange auch in den USA lehrte.
- Ulrich Duchrow: Lutheraner, der im Gefolge Dietrich Bonhoeffers die gerechte Weltwirtschaftsordnung zur vorrangigen Bekenntnisfrage für die Ökumene erklärt hat.
- Franz Hinkelammert: Katholik, der eine Analyse der Gesetze des Weltmarkts für das ökumenische Programm gegen transnationale Konzerne (TNCs) vorgelegt hat.
Programm
Die Befreiungstheologie ist ursprünglich eine Theologie der Armen selber. Die Entwicklung der Basisgemeinden mit gemeinsamen, von keinen Amtsträgern geleiteten Gottesdienstformen war weit fortgeschritten, als die ersten "Befreiungstheologen" auf dem internationalen Buchmarkt zu Gehör kamen. Ihre Autoren verstehen sich nicht als "Erfinder" einer neuen Theologie, sondern als Sprachrohr der Unterdrückten. Diese selber waren es, die in der Bibel ihr ureigenstes Thema, die Befreiung aus jeder Form der Sklaverei, wiederentdeckten und daraus politische Folgerungen für ihre Realität ableiteten.
Die Befreiungstheologie will diese Entdeckung unterstützen und praktisch wirksam werden lassen. Dies wird damit begründet, dass Befreiung das durchgehende Hauptthema der Bibel sei und die Armen und Unterdrückten die zentralen Adressaten dieser Befreiung seien. Dabei kommt der Exodustradition entscheidende Schlüsselbedeutung zu: Hier erscheint der Gott Israels als der, "der das Elend seines Volkes sieht und die Schreie über ihre Bedränger hört" (Ex. 3, 7). Dies wird im Neuen Testament ebenfalls gleich zu Anfang bekräftigt, wo Maria als Lobpreis für die ihr zugesagte Geburt des Messias singt: "Er stößt die Mächtigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer." (Lk. 1, 53)
Darum wird Erlösung als Zentralbegriff der biblischen Heilsbotschaft nicht wie in der traditionellen Kirchentheologie ausschließlich spirituell verstanden, sondern als eine sozialpolitische und ökonomische revolutionäre Veränderung. Das Heil, das die Bibel verkündet, wird nicht mehr nur auf das Jenseits bezogen, sondern auf die gesellschaftliche Realität im Diesseits. Die Befreiungstheologen betonen, dass sie diese Deutung nicht willkürlich, sondern im Anschluss an den Eigensinn der Bibel gewinnen. Sie folgern daraus eine grundsätzliche Neuorientierung der Kirche an der Zukunft der Armen: nicht nur in ihren Ländern, sondern als Herausforderung an die Gesamtkirche und die Ökumene.
Methodisch lässt sich die Befreiungstheologie der Kontextuellen Exegese zuordnen. Dabei wird die sozialpolitische Analyse der konkreten Gegenwartssituation vorausgesetzt, um daraus Leitlinien für die Textauslegung zu gewinnen, die sich wiederum auf die eigene Lage zurückbeziehen (Hermeneutischer Zirkel).
Politisch favorisieren befreiungstheologische Entwürfe meist ein sozialistisches Gesellschaftsmodell, wobei sie sich deutlich gegen die Dominanz von sowjetisch gelenkten Parteien und neuen Diktaturen abgrenzten und die basisdemokratischen und genossenschaftlichen Elemente betonen. Bezugspunkt ihrer Sozialkritik ist die so genannte Dependenztheorie, die die Mechanismen der Ausbeutung aus einer doppelten Interessenidentität erklärt: zum einen aus der engen Verflechtung der eigenen nationalen Eliten mit den Eliten der reichen Industrienationen (Klassen-Antagonismus), zum anderen aber auch der Einbindung großer Teile der Lohnabhängigen in das Wohlstandsgefälle in den reichen Ländern (Nord-Süd-Gefälle).
Folgen
Innerkirchliche
Besonders die lateinamerikanischen Befreiungsgemeinden und -theologen haben die Kirchenhierarchie in den eigenen Ländern, aber auch die Religionsausübung in den reichen Industriestaaten angegriffen. Zur Analyse der eigenen Lage gehörte zwangsläufig die Kritik am Missbrauch der Religion als wesentlichen Stützpfeiler der Unterdrückung, zur Durchsetzung von Ausbeutungsinteressen und Verdummung der Armen.
Politische und kirchliche Reaktionen folgten unvermeidbar. Das neue Verständnis von Erlösung als Befreiung und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die politischen Systeme in Lateinamerika führten in der katholischen Kirche zu heftigen Kontroversen. Unter anderem wurde der Vorwurf erhoben, dass die Befreiungstheologie ein marxistisches Gesellschaftsmodell anstrebe. Papst Johannes Paul II. setzte sich - etwa durch Versetzung von Priestern, die ihr anhingen, oder durch Ernennung von Gegnern zu Bischöfen - gegen die Befreiungstheologie ein. Ein vom jetzigen Papst Benedikt XVI. formulierter Vorwurf lautete, die Befreiungstheologie mache sich zum Steigbügelhalter von Diktatoren. Schon Ende der 60er Jahre wurden politische Strategien zum Kampf gegen die B. entwickelt (Morde, Pogrome, Verschleppungen usw.). Befreiungstheologen werfen dagegen die überkommene, so genannte Verbindung von Thron und Altar gerade in südamerikanischen Ländern vor. Die Kirche dürfe nicht die Menschen zum Werkzeug ihrer institutionellen Selbsterhaltung machen, sondern die Menschen müssten die Kirche zum Werkzeug zur Erhaltung der Schöpfung machen.
Der theoretische Ansatz, Theologie von den Armen und Unterdrückten für die Armen und Unterdrückten zu machen, wurde in der Praxis nicht immer durchgehalten. Manche Konzepte der Befreiungstheologie lehnten die Volksfrömmigkeit als antiaufklärerisch ab und verkannten dabei deren große trost- und hoffnungsstiftende Bedeutung für das einfache Volk. Sie gingen damit an den Interessen der Armen und Unterdrückten vorbei und wurden erneut zu einer akademischen Angelegenheit, die niemand erreichte. So konnte die Befreiungstheologie sich nicht überall zu einer kirchlichen Massenbewegung entwickeln, während dies der charismatischen Bewegung in Lateinamerika mancherorts gelang. Dies hing auch mit politischen Enttäuschungen zusammen: Das Ausbleiben einer wirklich gerechten Sozialordnung, die die Massen am politischen Entscheidungs- und Gestaltungsprozess beteiligt, hatte vielerorts eine Rückwendung zu rein innerlichen Jenseitserwartungen zur Folge.
Sozial
Die aus den Basisgemeinden hervorgegangene Befreiungstheologie wirkte auf diese zurück und begründete viele neue soziale Initiativen in Lateinamerika, Südafrika und Südasien, aber auch zu deren Unterstützung in der westlichen Welt. Das zeigte sich etwa an zunehmender Aufmerksamkeit für Themen der "einen Welt" in den drei Hauptbereichen Umweltschutz (Bewahrung der Schöpfung), soziale Gerechtigkeit, fairer Handel und Menschenrechte. Die Befreiungstheologie hat innerhalb der Kirchen der reichen westlichen Welt ein etwas größeres Bewusstsein für die soziale Not der Menschen in Lateinamerika geschaffen.
Literatur
- Boff, Clodovis; Pixley, Jorge: Die Option für die Armen, Düsseldorf: Patmos 1987
- Boff, Leonardo: Die Neuentdeckung der Kirche. Basisgemeinden in Lateinamerika, Mainz: Grünewald 1980
- Boff, Leonardo: Kirche, Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Düsseldorf: Patmos 1985
- Boff, Leonardo: Jesus Christus, der Befreier, Freiburg/Breisgau: Herder 1986
- James H. Cone: Black Theology and Black Power. ISBN 1570751579
- derselbe: Black Theology of Liberation. ISBN 0883446855
- Dussel, Enrique: Herrschaft und Befreiung. Ansatz, Stationen und Themen einer lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Fribourg: 1985
- Ellacuría, Ignacio; Sobrino, Jon (Hg.): Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, 2 Bde., Luzern: Exodus 1995-1996
- Fornet-Betancourt, Raúl: Befreiungstheologie: Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft, Mainz: Grünewald 1997
- Gutiérrez, Gustavo: Die historische Macht der Armen, Mainz: Grünewald 1984
- Gutiérrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, Mainz: Grünewald 1992
- Hinkelammert, Franz-Josef: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus, Freiburg/Schweiz: Exodus; Münster: Liberación 1985
- Hinkelammert, Franz-Josef: Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschaftstheorie, Luzern: Exodus; Mainz: Grünewald 1994
- Hinkelammert, Franz-Josef: Kultur der Hoffnung. Für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Naturzerstörung, Mainz: Grünewald; Luzern: Exodus 1999
- Klinger, Elmar: Armut - Eine Herausforderung Gottes. Der Glaube des Konzils und die Befreiung des Menschen, Zürich: Benziger 1990
- Klinger, Elmar; Zerfaß, Rolf (Hg.): Die Basisgemeinden - ein Schritt auf dem Weg zur Kirche des Konzils, Würzburg: Echter 1984
- Michael Löwy (Hrsg.): Theologie der Befreiung und Sozialismus. Internationale Sozialistische Publikationen GmbH, Frankfurt/Main 1987, ISBN 3883321303
- Sobrino, Jon: Christologie der Befreiung. Bd. 1, Mainz: Grünewald 1998
Siehe auch
- Jean-Bertrand Aristide (es ist umstritten, ob er als Vertreter der Befreiungstheologie angesehen werden kann)
- Hugo Assmann
- Juan Luis Segundo
- Clodovis Boff
- Jon Sobrino
- Ignacio Ellacuria
- Luis Espinal
- Marc Ellis (ein jüdischer Befreiungstheologe).
- Horst Goldstein
- Norbert Greinacher
- Ulrich Duchrow
- Franz Hinkelammert
- Erwin Kräutler
- Alberto Libanio
- Antônio Moser
- Ronaldo Muñoz
- Dorothee Sölle
- Paulo Suess
- Samuel Ruiz Garcia
- Religiöser Sozialismus
Weblinks
- Theologie der Befreiung Zusammenfassung, Zeittafel und Hyperlinks
- Historische Genese der Befreiungstheologie und Dependenztheorie