Emma Eckstein
Emma Eckstein (* 28. Januar 1865 in Gaudenzdorf; † 1924 in Wien) war eine österreichische Frauenrechtlerin und Kinderbuchautorin. Prominenz erlangte sie vor allem als eine von Sigmund Freuds wichtigsten frühen Patientinnen.

Leben
„Über Emma Ecksteins frühe Jahre wissen wir nicht viel. Bis 1905 schrieb sie einige Aufsätze (...); danach scheint sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und in einem Zimmer voller Bücher gelebt zu haben; aufgrund einer rätselhaften Krankheit, die ihre Umgebung für hysterisch, sie selbst aber für organisch bedingt hielt, war sie ihr Leben lang an ihre Couch gefesselt.“
Emma Eckstein wurde am 28. Januar 1865 in eine prominente jüdischen Familie mit engen Verbindungen zu Freud geboren. Einer ihrer Brüder war der Polyhistor Friedrich Eckstein, ein anderer Gustav Eckstein (1875-1916), ein Sozialdemokrat und Genosse des deutsch-tschechischen Philosophen und sozialdemokratischen Politikers Karl Kautsky; ihre Schwester, Therese Schlesinger, war eine der ersten weiblichen Mitglieder des Nationalrates.[1] Eckstein selbst scheint aktiv an der Wiener Frauenbewegung beteiligt gewesen zu sein: Beide Schwestern waren Mitglied im Allgemeinen österreichischen Frauenverein.[2]
Um die Jahrhundertwende veröffentlichte Emma Eckstein unter dem Einfluss ihrer Gespräche mit Freud einige Texte, in denen sie zu Fragen der Sexualerziehung Stellung nahm. 1899 erschien in der sozialistischen Zeitschrift Die neue Zeit ein Aufsatz zur sexuellen Aufklärung von Kindern, in dem sie die erzieherische Dringlichkeit einer kindgemäßen Darstellung des elterlichen Geschlechtsverkehrs betont. Da das Kind weder Scham noch sexuelle Empfindungen kenne, solle der Geschlechtsakt als Zeugungswunsch der Eltern und Ausdruck von Liebe und Zärtlichkeit dem Kind verständlich und emotional zugänglich gemacht werden.[3] An gleicher Stelle polemisierte sie in einer späteren Rezension gegen eine mütterliche Erziehung, die ihren Töchtern Triebangst und Schamgefühl (wegen eines unehelichen Kindes) vermittelt.[4] In einer Broschüre von 1904, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes befasst sie sich unter Berufung auf die zeitgenössische Wissenschaft und führende Psychiater mit der Schädlichkeit kindlicher Masturbation:
„Für die Kindheit ist die Masturbation ein tückischer Feind. Unbemerkt und ungeahnt schleicht er sich in die Kinderstube ein und arbeitet dort emsig an der Zerstörung von Jugend und Kraft, von Körper und Geist seiner Opfer, die ihm überlassen bleiben, weil die berufenen Hüter die Gefahr nicht verdrängen, oder auch nur sehen gelernt haben“
Sie empfiehlt die Verbündung des Erziehers mit dem gesunden Willen des Kindes mit dem Ziel, die Verachtung des Kindes für solche Regungen zu bestärken.[5]
Ist Tenor ihrer Publikationen hier der Hinweis auf die Seelenqualen junger Frauen, die durch fehlende oder unzulängliche Sexualaufklärung verursacht sind, so wendet sie sich in Das Dienstmädchen als Mutter dem Thema der Verführung unerfahrener Mädchen vom Lande durch seine Dienstherrn in der Gastfamilie zu: Die zeitgenössische Gesetzeslage schütze die Familienangehörigen vor solchen Übergriffen seitens des Personals, welche als strafwürdiges Vergehen angesehen seien; sie schütze aber nicht die Ehre des Mädchens, welches sich in familiärer Obhhut glaubt.[6]
1918 erschien ihr Kinderbuch Von Spinnen und Ameisen, das 1962 eine Neuauflage erfuhr.[7]
Nach einer Operation 1910 war Eckstein teilweise invalide und zog sich stark zurück; sie starb am 30 Juli 1924 an einer Hirnblutung.[8]
Bedeutung für die Psychoanalyse
Ernest Jones, der erste Biograph Freuds, setzte sie mit Persönlichkeiten wie Lou Andreas-Salomé und Joan Riviere gleich als einen Typ Frau von mehr intellektueller und vielleicht maskuliner Art... [welche] eine bedeutende Rolle in [Freuds] Leben spielte.[9]
Von Verwandten wurde sie als erste analytisch behandelte Patientin Freuds bezeichnet.[10] Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Freud ihr nach der ursprünglichen Behandlung seinerseits Patienten zur analytischen Behandlung überwiesen hat.[11] Damit kann sie als erste weibliche Psychoanalytikerin gelten.[12]
Sie galt darüberhinaus als direktes Vorbild der Irma in Freuds prototypischer Deutung des Traums von Irmas Injektion.
Ecksteins Analyse durch Freud
Zwischen 1892 und 1893 begab sich Emma Eckstein wegen vager Symptome wie Magenschmerzen und leichter Depressionen in Verbindung mit ihrer Menstruation sowie einer als hysterisch diagnostizierten Gehstörung[13] bei Freud in psychoanalytische Behandlung.
In der Auseinandersetzung mit der komplexen Symptomatik Emma Ecksteins entwickelte Freud seine Vorstellungen über mögliche ätiologische Modelle (Verführung als Kindheitstrauma, Masturbation, Verdrängung der infantilen Sexualität) im Hinblick auf seine grundlegende, nosologische Unterscheidung von Aktual- und Abwehrneurosen.[14]
Eckstein versorgte Freud während der Analyse mit dem Material, das ihm ermöglichen würde, hysterische Symptomatik theoretisch aufzuarbeiten (...), ihn über das Niemandsland zwischen Fantasie und Gedächtnis lehrte.[15] In der Arbeit mit ihr fügte Freud seinen Theorien neue Elemente zu Wunscherfüllung, Psychose und Traumdeutung hinzu.[16]
Misslungene Operation
Freud vermutete bei Eckstein, zusätzlich zur Hysterie, eine "Nasenreflex-Neurose", ein Krankheitsbild, das von seinem Freund und Mitarbeiter Wilhelm Fliess, einem Hals-, Nasen- und Ohrenarzt bekannt gemacht wurde. Fliess behandelte diese "Neurose" durch Kauterisation innerhalb der Nase, bei lokaler Anästhesie durch Kokain. Dies führte laut Fliess zu temporären positiven Ergebnissen, wie der Verbesserung depressiver Symptome. Er nahm an, dass eine Operation, im Gegensatz zu temporärer Kauterisation, zu dauerhafter Besserung führen könnte und begann, an diagnostizierten PatientInnen Operationen durchzuführen, beispielsweise an Eckstein und Freud selbst.
Emma Ecksteins Operation war ein Desaster. Sie litt an Infektionen und starken Blutungen; durch einen von Freud herangezogenen Spezialisten wurde daraufhin die von Fliess zurückgelassene Verbandsgaze entfernt. Ecksteins Nasengänge waren so stark beschädigt, dass die permanent entstellt blieb. Freud gab diesen ärztlichen Behandlungsfehler seines Kollegen zuerst zu, schrieb jedoch später an Fließ, dass dieser nicht verantwortlich war für die Blutungen; es habe sich vielmehr um „Blutungen aus Sehnsucht“ (Wunschblutungen) gehandelt: Die Patientin hätte unbewusst Aufmerksamkeit durch die Blutungen erwecken wollen, um so ihr Bedürfnis nach liebevoller Zuwendung zu stillen.
Verführungstheorie
In einem Brief an Fliess 1897 zitiert Freud Ecksteins analytische Ergebnisse als Unterstützung seiner sogenannten Verführungstheorie, die besagt, dass alle Neurosen Folgen kindlichen sexuellen Missbrauchs durch einen Erwachsenen sind, meist den Vater.[17]
Jeffrey Masson, der Freuds Abkehr von der Verführungstheorie zugunsten des Konstrukts des Ödipuskonfliktes scharf kritisiert, deutet einen Zusammenhang zwischen der Abkehr von der - von Eckstein bekräftigten - Verführungstheorie und Ecksteins misslungener Operation an.[18] Obwohl breite Übereinstimmung und Ablehnung bezüglich Freuds eklatanter Leugnung eines Behandlungsfehlers durch Fließ herrscht,[19] wird Ecksteins Bedeutung in Hinblick auf Freuds Absage an die Verführungstheorie außer von Masson selbst nur selten hervorgestellt; für Masson sei sie laut Kritikern das prototypische psychoanalytische Opfer, durch Freud und Fliess zu ihren Zwecken missbraucht und somit Symbol für Massons Agenda.[20]
Literatur
Zur Quellenlage
Der Psychoanalytiker Max Schur erhielt die Erlaubnis, die Originalbriefe einzusehen und publizierte 1966 in einem Aufsatz die Geschichte Emma Ecksteins als erster. Weitere Aufschlüsse brachte die Veröffentlichung sämtlicher Briefe Freuds an Fließ durch Jeffrey Masson im Jahr 1985. Masson (1984) dürfte in Hinsicht der Quellenlage der wohl umfassendste Bericht sein: Neben seiner Recherche zur publizistischen Tätigkeit Ecksteins verfügte er als Herausgeber über die vollständige Kenntnis der erhaltenen Fließ-Briefe, der Briefe Freuds an Eckstein aus deren Nachlass, sowie Zugang zu Interviews, die K. R. Eissler mit Angehörigen der Eckstein (Albert Hirst und Dr. Ada Elias) geführt hat.
- Freuds Fallbeschreibung in: Die endliche und die unendliche Analyse (1937), Gesammelte Werke, Band 16, S. 66. kann mit plausiblen Gründen auf Emma Eckstein bezogen werden.[21]
- Max Schur: Some additional day residues of the specimen dream of psychoanalysis, in: Psychoanalysis, hg. v. R. M. Loewenstein et al., New York 1966, S. 45–85
- Max Schur: Sigmund Freud. Leben und Sterben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973
- Taschenbuchausgabe: Suhrkamp (st 778), Frankfurt 1982, 3. A. 2006, ISBN 3-518-37278-5
- Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Rowohlt, Reinbek 1984
- überarbeitete Neuausgabe als: Was hat man dir, du armes Kind, getan? oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Aus dem Amerikanischen neu übersetzt und kritisch bearbeitet von Monika Waldmüller. Kore, Freiburg im Breisgau 1995
Siehe auch
Weblinks
- Emma Eckstein in der Datenbank Frauen in Bewegung 1848–1938 der Österreichischen Nationalbibliothek
- "Eckstein, Emma (1865-1924)." International Dictionary of Psychoanalysis. Ed. Alain de Mijolla. Vol. 1. Gale Cengage, 2005. eNotes.com. 23 Dec, 2012 <http://www.enotes.com/emma-eckstein-reference/>
Referenzen
- ↑ Appignanesi, p. 138
- ↑ Marina Camboni, Networking Women (2004) p. 32; vgl. auch Weblinks
- ↑ Original in: Die neue Zeit, Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, 18 (1899-1900), S.666-669 Emma Eckstein, Eine wichtige Erziehungsfrage (Pdf, 300Kb, abgerufen am 18. Dezember 2012); Vgl. auch Masson (1984), Anhang A: Freud und Emma Eckstein, S.263ff.
- ↑ Die neue Zeit, Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, 21, Nr. 24 (1902-1903), S.768; (abgerufen am 18. Dezember 2012)
- ↑ Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes, Leipzig: Curt Weigand, 1904 (38 Seiten); Zitat und Referat nach Masson (1984), S. 267 ff.
- ↑ Das Dienstmädchen als Mutter in: Dokumente der Frauen,2, Nr. 14 (1899-1900),hgg. von August Fickert, Marie Lang und Rosa Meyreder, S. 594-598; referiert nach Masson (1984), S. 272
- ↑ Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk. 1918 (Konegens Kinderbücher 104); vgl. Eintrag auf Eckstein Emma auf biografiA (biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen)
- ↑ Appignanesi, p. 140
- ↑ Ernest Jones, The Life and Work of Sigmund Freud (Penguin 1964) p. 474
- ↑ Masson (1984), S.77
- ↑ Vgl. Masson (1984), Anhang A: Freud und Emma Eckstein, S.265 u.f.; Masson fand neben der beiläufigen Erwähnung einer solchen Tätigkeit Ecksteins durch Freud (in einem Brief an Fließ vom 12. Dezember 1897) im Nachlass Ecksteins 14 Briefe Freuds aus der Zeit zwischen 1895 und 1910; darunter eine undatierte Notiz auf einer Visitenkarte Freuds, die auf ein solches kollegiales Verhältnis vor 1902 hinweist.
- ↑ Vgl.: Lisa Appignanesi & John Forrester, Freud's Women (London 2005) p. 204 and p. 144, sowie den Artikel "Eckstein, Emma" im International Dictionary of Psychoanalysis, s. Weblinks
- ↑ Vgl. Literatur: Freuds Falldarstellung (1937)
- ↑ Als Aktualneurose galt ihm etwa die damals häufig diagnostizierte Neurasthenie, die er auf eine Störung des Sexualchemismus, ausgelöst durch vom vollständigen Geschlechtsverkehr abweichendes Sexualverhalten wie Masturbation oder Koitus interruptus zurückführte. Hysterie und Zwangsneurose hingegen zählte er zu den Abwehrneurosen und damit zugleich den Neuroseformen, die einer eigentlich analytischen Aufklärung und Therapie zugänglich seien.
- ↑ Bronfen, p. 255-6
- ↑ Appignanesi, p. 137
- ↑ Gay, p. 91
- ↑ Janet Malcolm, In the Freud Archives (London 1997) p. 51
- ↑ Gay, p. 84-5
- ↑ Robinson, p. 129
- ↑ Vgl. Masson (1984), S. 276 ff.; Freuds Darstellung auf Projekt Gutenberg-DE
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Eckstein, Emma |
| KURZBESCHREIBUNG | Patientin Sigmund Freuds |
| GEBURTSDATUM | 28. Januar 1865 |
| GEBURTSORT | Gaudenzdorf |
| STERBEDATUM | 1924 |