„Verzuiling“ – Versionsunterschied
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Mit '''Verzuiling''' ('''Versäulung''') bezeichnet man vor allem in den [[Niederlande]]n einen konfessionell oder weltanschaulich begründeten besonderen [[Partikularismus]]. Im „versäulten“ sozio-politischen System lebten religiös, sozial und kulturell definierte Gruppen nebeneinanderher und hatten parallele soziale Organisationen (Kirchengemeinden, Bildungsanstalten, Volksbanken, Kammern und andere mehr). In den Niederlanden wird zwischen einer christlich-protestantischen (calvinistischen), einer katholischen, einer [[Sozialismus|sozialistischen]] und der neutralen oder allgemeinen Säule unterschieden. |
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'''Verzuiling''' (Versäulung) ist ein [[Soziologie|soziologischer]] Begriff. |
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Er bezeichnet die [[Parallelgesellschaft|vertikale Gliederung]] der Gesellschaften in den [[Niederlande]]n und in [[Belgien]]. |
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Diese Gliederung ist keine Einteilung in ethnische Gruppen, sondern eine Einteilung in religiöse und politische Gruppen. |
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Seine Blüte hatte das System in der Zeit von 1920 bis 1970, überstand also auch den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] unbeschädigt trotz der entgegenstrebenden Bemühungen in der Nachkriegszeit. Die Bevölkerungsgruppen haben in einer Art „freiwilligen Apartheid“ nebeneinander gelebt, um ''soeverein in eigen kring'', „souverän im eigenen Kreise“ ([[Abraham Kuyper]]), sein zu können.<ref>[[Horst Lademacher]]: ''Geschichte der Niederlande. Politik – Verfassung – Wirtschaft''. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, ISBN 3-534-07082-8, S. 258.</ref> Die notwendige Zusammenarbeit zwischen den Säulen fand vor allem auf der Ebene der Eliten statt. |
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Jede Säule hatte dabei ihre eigene Kirche, ihren eigenen Rundfunk, eigene Zeitungen, Gewerkschaften, politische Parteien, Wohnungsbauvereine, Schulen, soziale Einrichtungen, Sportvereine und sogar Betriebe. |
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In der Mitte des 20. Jahrhunderts war dies so ausgeprägt, |
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dass z.B. bestimmte Geschäfte nur Personal einstellten, |
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die Mitglied einer bestimmten Kirche waren. |
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Dies führte zu großen kulturellen Unterschieden, |
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nicht nur in den großen Städten, sondern teilweise auch auf dem Lande. |
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Dies hatte zur Folge, dass ganze Bevölkerungsgruppe nebeneinander lebten, ohne viel Kontakt miteinander zu haben. |
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== Konfessionelle Wurzeln == |
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Die stark repressive Politik der Habsburger hatte das junge [[Lutheraner|Luthertum]] aus den Niederlanden ferngehalten, bis in der Folge des [[Reformatorischer Bildersturm#Niederlande|Bildersturms]] (1566) der [[Calvinismus]] Fuß fasste und während des [[Achtzigjähriger Krieg|Achtzigjährigen Krieges]] (1568–1648) zur vorherrschenden Konfession wurde. Nach der Vertreibung der Habsburger nahm der „Statthalter“ (also ursprünglich der Vertreter des Monarchen) eine vor allem militärische, aber auch politische Vormachtstellung ein. Die Statthalter aus dem Hause [[Oranien-Nassau]] waren wie die Bevölkerungsmehrheit Calvinisten, während die katholischen Gebiete, die den Habsburgern abgerungenen [[Generalitätslande]], wie Kolonien verwaltet wurden. Zudem gab es Strömungen, die sich den Ideen des [[Humanismus]] und später der [[Aufklärung]] verpflichtet fühlten. |
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Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Spaltung des niederländischen Calvinismus, als sich die ''Gereformeerde Kerken'' von der ''[[Niederländisch-reformierte Kirche|Nederlands-Hervormde Kerk]]'' (NH) trennten. ''Gereformeerd'' war ursprünglich nur ein anderes Wort für den Niederlandismus ''hervormd'' (beides heißt „reformiert“), nun nannten sich so diejenigen, die die NH-Kirche zu wenig streng und rechtgläubig fanden. Innerhalb der quasi staatskirchlichen NH-Kirche blieb der ''Gereformeerde Bond'', der zum Teil strenger als die ''Gereformeerde Kerken'' ist, hinzu kommen weitere strenggläubige Gruppen wie die ''Oud-Gereformeerden''. Seit 2004 gibt es die [[Protestantische Kirche in den Niederlanden]], die aber auch nicht alle ''Gereformeerden'' zufriedenstellt. |
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==Niederlande== |
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Es ist nicht immer möglich, Säulen genau zu definieren. |
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Trotzdem kann man in den Niederlanden zwischen einer protestantischen, einer katholischen und einer sozialistischen Säule unterscheiden. |
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Man kann auch von einer "allgemeinen" oder liberalen Säule sprechen, |
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obwohl manche Liberal den Standpunkt vertreten, |
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dass es niemals eine liberale Säule gegeben hat. |
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Dies kommt daher, dass die Liberalen gegen die Versäulung waren. |
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== Konfessionelle Parteibildungen == |
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In den 60er Jahren setzte die Entsäulung ein. |
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Ein wichtiger Impuls zur Parteienbildung in den Niederlanden war 1878/79 die Gründung der ''[[Anti-Revolutionaire Partij]]'' (ARP) des ''gereformeerden'' Predigers [[Abraham Kuyper]], der nicht mehr glaubte, dass der [[Calvinismus]] weiterhin der ganzen Gesellschaft den Stempel aufdrücken könne. Seine Lösung war eine Abschottung der Rechtgläubigen, um im eigenen Milieu den eigenen Ideen treu zu bleiben. Hiermit fanden sie Zustimmung bei den Katholiken, die sich für sich selbst etwas Ähnliches wünschten. Größter Katalysator dieser ''verzuiling'' wurde die Schulfrage, in der 1917 ein Kompromiss zwischen Konfessionellen und Liberalen gefunden wurde. Danach werden die konfessionellen „besonderen“ Schulen (nicht alle „besonderen“ Schulen sind konfessionell) im gleichen Maße wie staatliche Schulen vom Staat finanziert. Im politischen Tauschhandel stimmten die Konfessionellen dafür dem allgemeinen Wahlrecht zu. |
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Heute ([[2004]]) ist die Versäulung so gut wie verschwunden, |
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obwohl es immer noch einige Reste davon gibt, |
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z.B. die Vielfalt der öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaften. |
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In der ''[[Christelijk-Historische Unie]]'' (CHU) sammelten sich 1908 diejenigen, die weiterhin versuchten, dem ganzen Staat ein calvinistisches Gesicht zu geben. Es ist schwierig, die beiden Parteien ARP und CHU genau voneinander abzugrenzen; antirevolutionär und christlich-historisch waren lange Zeit Synonyme. Auch persönliche Konflikte zwischen den politischen Führern spielten eine Rolle, und da der autoritäre Abraham Kuyper viele Intellektuelle und Honoratioren abschreckte, wurde er mit der ARP schließlich zum Fürsprecher der „kleinen Leute“, ''gereformeerden'' Handwerkern und Kaufleuten. In den 1960er Jahren hatte die ARP einen starken sozialen Flügel. Die CHU galt lange als wirtschaftlich konservativer und auch von Adligen dominiert; sie war eher mit der NH-Kirche als mit den ''Gereformeerde Kerken'' verbunden. |
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Manche sind der Meinung, dass bestimmte niederländische Moslems sich bewusst dafür entscheiden, |
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sich in eine eigene Säule zurückzuziehen. |
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== Die klassischen Säulen == |
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===Entstehen der Versäulung=== |
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Dem Pluralismus-Forscher [[Arend Lijphart]] zufolge kam es nun zu den folgenden Säulen:<ref>Arend Lijphart: ''Verzuiling, pacificatie en kentering in de Nederlandse politiek'', 9. Auflage, Haarlem 1992.</ref> |
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Die erste niederländische Säule entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts, |
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* Der Katholischen Säule gehörten so gut wie ausschließlich die Römisch-Katholischen an. Parteien: [[Katholieke Volkspartij]] (KVP), kleinere Splittergruppen wie die KNP. |
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als sich die orthodoxen Protestanten |
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* Eine Protestantisch-Christliche Säule vereinte neben den ''Gereformeerden'' das orthodoxere Drittel der NH-Kirche. Parteien: Vor allem für die ''Gereformeerden'' die [[Anti-Revolutionaire Partij]], sonst die [[Christelijk Historische Unie]]. Daneben gibt es bis heute kleinere strengreligiöse Parteien wie die [[Staatkundig Gereformeerde Partij]] (gegründet 1918) und die [[ChristenUnie]] (ein Zusammenschluss älterer Parteien von 2001). |
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von der [[Niederländisch-reformierte Kirche|Niederländisch-reformierten Kirche]] (Nederlandse Hervormde Kerk) |
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* In der Allgemeinen oder auch Neutralen Säule fanden sich alle ''onkerkelijken'' („Unkirchlichen“) und die liberaleren sowie die wenig kirchengebundenen NH-Anhänger wieder, außerdem die übrigen Gläubigen wie Juden, Lutheraner, Baptisten, Remonstranten und andere. Parteien: Die liberalen Parteien wie [[Volkspartij voor Vrijheid en Democratie]] und [[Democraten 66]]; zum Teil die CHU; sonstige Kleinparteien. |
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loslösten und emanzipierten. |
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* Manche Darstellungen gliedern aus der Allgemeinen Säule eine Sozialistische Säule der Arbeiter aus, aus sozialen / politischen Gründen. Parteien: [[Partij van de Arbeid]], daneben auch [[Communistische Partij van Nederland]] und [[Pacifistisch Socialistische Partij]]. |
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Die Kirchen, die die orthodoxen Protestanten gründeten, waren die [[Gereformeerde Kerken in Nederland]]. |
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Das Trennende war hier also ein religiöser Gegensatz innerhalb des [[Protestantismus]]. |
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Ein Angehöriger beispielsweise der Katholischen Säule war also ein Niederländer, der KVP wählte, den [[Katholieke Radio Omroep]] hörte (später auch im Fernsehen sah) und eine katholische Zeitung las: etwa ''[[De Tijd (Niederlande)|De Tijd]]'' oder ''[[De Maasbode]]'', als Arbeiter wahrscheinlich die ''[[De Volkskrant|Volkskrant]]''. Als letzterer schloss er sich einer katholischen Gewerkschaft im katholischen Dachverband [[Federatie_Nederlandse_Vakbeweging#Geschichte|NKV]] an. Seine Kinder besuchten katholische Schulen und danach die [[Radboud-Universität Nimwegen|katholische Universität in Nimwegen]]. Auch Freizeitvereine waren nach Säulen getrennt organisiert, vom Sportclub bis zur [[Esperanto]]-Vereinigung. |
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Auch die sozialistische Arbeiterbewegung fing an, eine eigene Gegenkultur zu organisieren. |
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== Kritik am Säulenmodell und Auflösung der „Versäulung“ == |
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Die Katholiken organisierten ebenfalls eine eigene Säule. |
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[[Datei:Religie in Nederland 2006.png|miniatur|Anteile der Religionen an der Gesamtbevölkerung 2006: orange die Konfessionslosen, blau die Katholiken und danach rot die Protestanten und in gelb die Moslems.]] |
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Das Trennende war hier der religiöse Gegensatz zwischen dem protestantisch geprägten Staat |
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und dem katholischen Bevölkerungsteil. |
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Die maßgebliche Schrift zur Theorie der ''verzuiling'' als spezifisch niederländischem Pluralismus stammt von [[Arend Lijphart]] (1968), der damals bereits die Auflösung des Systems beschrieb. Mittlerweile gibt es Kritik an seiner Darstellung, beispielsweise von [[Jan van Putten]], der die vierte oder Allgemeine Säule eher für ein ideologisches Konstrukt hält. |
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Nachdem sich große Teile der niederländischen Bevölkerung in Säulen georganisiert hatten, |
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waren die nicht-versäulten Niederländer kulturell und politisch homogener geworden, |
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nämlich nicht-sozialistisch, nicht-katholisch und nicht-protestantisch-orthodox, |
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und eher liberal. |
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Diesen unversäulten Rest könnte die "allgemeine Säule" oder die "liberale Säule" nennen. |
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Wenn diese Gruppe eine Säule war, dann war sie das eher wider Willen, |
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denn viele Liberale lehnten die Versäulung der niederländischen Gesellschaft ab. |
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Vergleicht man die ''verzuilung'' mit dem [[Partikularismus]] östlich der Grenze, so findet man in [[Deutschland]] ebenfalls katholische und sozialistische Subkulturen oder ''sozialmoralische Milieus'' bzw. Gegeneliten (vor allem im [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreich]] und der [[Weimarer Republik]] mit der katholischen [[Deutsche Zentrumspartei|Zentrumspartei]]), weniger jedoch eine „protestantische Säule“. Dies ist vielleicht auf das Luthertum zurückzuführen, das nicht so streng wie die ''Gereformeerden'' bzw. die Orthodoxen der NH-Kirche war und daher die Liberalen weniger abgestoßen hat. |
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''Siehe auch: [[Niederlande#Religion|Niederlande, Religion]]'' |
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Das niederländische System der ''verzuiling'' gehört großteils der Vergangenheit an, erklärt aber immer noch einige Phänomene des Parteiensystems wie etwa die beiden kleinen religiösen Parteien, die „Blutgruppen“ (Strömungen, also antirevolutionär, katholisch usw.) im CDA und das Gründungsmotiv von PvdA und [[Democraten 66|Democraten 66 (D66)]]. |
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===Entsäulung=== |
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Nach dem 2. Weltkrieg setzte die Entsäulung ein. |
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Im Zuge der Erosion der früher fest gefügten sozialen und weltanschaulichen Milieus kam es während der letzten Jahrzehnte jedoch zur Gründung zahlreicher neuer Parteien, darunter auch Ein-Thema-Parteien, [[Regionalpartei]]en und populistische Bewegungen. Die bisher erfolgreichsten neuen Gruppierungen waren die linksliberalen D66, die rechtspopulistische [[Lijst Pim Fortuyn|LPF]] und die linke, früher [[Maoismus|maoistische]] [[Socialistische Partij|SP]]. Da gesellschaftliche Traditionen und Bindungen weiterhin an Kraft verlieren, kommt es zu einer steigenden Zahl von Wechselwählern. |
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Dies war zum Teil eine Folge des [[Zweiter_Weltkrieg|2. Weltkrieges]]. |
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In dieser Zeit hatten sich Menschen aus unterschiedlichen Säulen zusammengefunden, |
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um gemeinsam gegen den [[Faschismus]] zu kämpfen. |
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== Weitere Länder == |
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Ein Beispiel dafür waren die persönlichen Kontakte und Gespräche |
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{{Belege}} |
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im Gefangenenlager Beekvliet in [[Sint-Michielsgestel#Beekvliet|Sint-Michielsgestel]]. |
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In [[Belgien]] gibt es keine protestantische Säule, dort gibt oder gab es eine katholische Säule, eine sozialistische Säule und eine liberale Säule, die das Land bis in die Nachkriegszeit stark prägte. Inzwischen gibt es vor allem aber eine flämische und eine wallonische Säule, die allerdings mit Ausnahme der [[Region Brüssel-Hauptstadt|Region Brüssel]] deutlich regional getrennt sind. Siehe dazu [[Flämisch-wallonischer Konflikt]]. |
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Im [[Libanon]] hat die sogar verfassungsrechtliche Versäulung den Bürgerkrieg nicht verhindern können. Ämter wie das Staatsoberhaupt oder der Ministerpräsident sind Gruppen wie den Christen oder Sunniten vorbehalten. |
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==Belgien== |
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In Belgien gibt es keine protestantische Säule, dort gibt es eine katholische Säule, eine sozialistische Säule und eine liberale Säule. |
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In [[Israel]] gibt es ein der ''Verzuiling'' ähnliches Phänomen, in dem die religiösen Parteien jeweils eigene gesellschaftliche Subsysteme mit zugehörigen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Arbeiter- und Wirtschaftsverbänden herausgebildet haben.<ref>Gary S. Schiff: ''Tradition and Politics. The Religious Parties of Israel.'' Wayne State University Press, Detroit 1977, S. 219–220.</ref> |
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==Andere Länder== |
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Eine ähnliche Entwicklung war auch in [[Nordirland]] bemerkbar. |
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In Deutschland spricht man traditionell nicht von einer Versäulung, sondern vom [[Partikularismus]]. Bei den [[Liste der Reichstagswahlkreise des Deutschen Kaiserreichs|Wahlen im Kaiserreich]] (1871–1918) konnte man ein Wahlverhalten feststellen, das ebenfalls drei große Gruppen unterscheiden ließ: bürgerlich-protestantische Parteien, nämlich Konservative, Links- und rechtsliberale, vereinten sich oft gegen einen katholischen oder sozialistischen Kandidaten (wobei zu beachten ist, dass im deutschen Kaiserreich nur Männer wählen durften, denn das [[Frauenwahlrecht]] kam erst 1919). Im Gegensatz zu den Niederlanden wurde der Partikularismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutsamen Teil bereits überwunden, unter anderem, weil die Aufnahme der [[Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950|Vertriebenen]] die konfessionelle Durchmischung förderte. Es entwickelte sich ein Zwei- oder Zweieinhalb-Parteien-System, in dem die SPD sich stärker der Mittelklasse öffnete und die CDU/CSU Liberale, Konservative und Nationalisten beider großen Konfessionen zusammenfasste. |
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In Österreich gibt es, zum Teil bis heute noch, „schwarze“ und „rote“ Parallelorganisationen, z. B. bei Touringclubs (ÖAMTC vs. ARBÖ) oder Sportverbänden (Sportunion vs. ASKÖ). {{Siehe auch|Politische Farbe}} |
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== Siehe auch == |
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* [[Parallelgesellschaft]] |
* [[Parallelgesellschaft]] |
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* [[Lagertheorie (Politik)|Lagertheorie]], vergleichbares Modell in der Ersten Republik Österreichs |
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== Literatur == |
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[[Kategorie:Sozialstruktur]] |
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* Arie L. Molendijk: ''Versäulung in den Niederlanden: Begriff, Theorie, lieu de mémoire.'' In: [[Friedrich Wilhelm Graf]] / [[Klaus Große Kracht]] (Hrsg.): ''Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert.'' Böhlau, Köln u. a. 2007, S. 307–327 [= Industrielle Welt 73] ISBN 978-3-412-20030-5. Vgl. https://www.ariemolendijk.nl/downloads/download0022.pdf . |
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[[Kategorie:Niederlande]] |
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* Paul Luyks: ''Versäulung in den Niederlanden. Eine kritische Betrachtung der neueren Historiographie'', in: Zentrum für Niederlande-Studien Jahrbuch 2 (1991), S. 39–51. |
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[[Kategorie:Belgien]] |
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* Rudolf Steininger: ''Polarisierung und Integration. Vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung der Gesellschaft in den Niederlanden und in Österreich''. Hain, Meisenheim am Glan 1975 [= Politik und Wähler 14] (= Univ. zu Köln, Phil. Fak., Diss. o. J.) ISBN 3-445-01233-4. |
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* Jakob Pieter Kruijt, [[Walter Goddijn]]: ''Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse.'' In: [[Joachim Matthes (Soziologe)|Joachim Matthes]] (Hrsg.): ''Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden.'' Luchterhand, Neuwied/Berlin 1965, S. 115–149. |
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== Einzelnachweise == |
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[[en:Pillarisation]] |
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Aktuelle Version vom 27. Juni 2025, 10:35 Uhr
Mit Verzuiling (Versäulung) bezeichnet man vor allem in den Niederlanden einen konfessionell oder weltanschaulich begründeten besonderen Partikularismus. Im „versäulten“ sozio-politischen System lebten religiös, sozial und kulturell definierte Gruppen nebeneinanderher und hatten parallele soziale Organisationen (Kirchengemeinden, Bildungsanstalten, Volksbanken, Kammern und andere mehr). In den Niederlanden wird zwischen einer christlich-protestantischen (calvinistischen), einer katholischen, einer sozialistischen und der neutralen oder allgemeinen Säule unterschieden.
Seine Blüte hatte das System in der Zeit von 1920 bis 1970, überstand also auch den Zweiten Weltkrieg unbeschädigt trotz der entgegenstrebenden Bemühungen in der Nachkriegszeit. Die Bevölkerungsgruppen haben in einer Art „freiwilligen Apartheid“ nebeneinander gelebt, um soeverein in eigen kring, „souverän im eigenen Kreise“ (Abraham Kuyper), sein zu können.[1] Die notwendige Zusammenarbeit zwischen den Säulen fand vor allem auf der Ebene der Eliten statt.
Konfessionelle Wurzeln
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die stark repressive Politik der Habsburger hatte das junge Luthertum aus den Niederlanden ferngehalten, bis in der Folge des Bildersturms (1566) der Calvinismus Fuß fasste und während des Achtzigjährigen Krieges (1568–1648) zur vorherrschenden Konfession wurde. Nach der Vertreibung der Habsburger nahm der „Statthalter“ (also ursprünglich der Vertreter des Monarchen) eine vor allem militärische, aber auch politische Vormachtstellung ein. Die Statthalter aus dem Hause Oranien-Nassau waren wie die Bevölkerungsmehrheit Calvinisten, während die katholischen Gebiete, die den Habsburgern abgerungenen Generalitätslande, wie Kolonien verwaltet wurden. Zudem gab es Strömungen, die sich den Ideen des Humanismus und später der Aufklärung verpflichtet fühlten.
Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Spaltung des niederländischen Calvinismus, als sich die Gereformeerde Kerken von der Nederlands-Hervormde Kerk (NH) trennten. Gereformeerd war ursprünglich nur ein anderes Wort für den Niederlandismus hervormd (beides heißt „reformiert“), nun nannten sich so diejenigen, die die NH-Kirche zu wenig streng und rechtgläubig fanden. Innerhalb der quasi staatskirchlichen NH-Kirche blieb der Gereformeerde Bond, der zum Teil strenger als die Gereformeerde Kerken ist, hinzu kommen weitere strenggläubige Gruppen wie die Oud-Gereformeerden. Seit 2004 gibt es die Protestantische Kirche in den Niederlanden, die aber auch nicht alle Gereformeerden zufriedenstellt.
Konfessionelle Parteibildungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ein wichtiger Impuls zur Parteienbildung in den Niederlanden war 1878/79 die Gründung der Anti-Revolutionaire Partij (ARP) des gereformeerden Predigers Abraham Kuyper, der nicht mehr glaubte, dass der Calvinismus weiterhin der ganzen Gesellschaft den Stempel aufdrücken könne. Seine Lösung war eine Abschottung der Rechtgläubigen, um im eigenen Milieu den eigenen Ideen treu zu bleiben. Hiermit fanden sie Zustimmung bei den Katholiken, die sich für sich selbst etwas Ähnliches wünschten. Größter Katalysator dieser verzuiling wurde die Schulfrage, in der 1917 ein Kompromiss zwischen Konfessionellen und Liberalen gefunden wurde. Danach werden die konfessionellen „besonderen“ Schulen (nicht alle „besonderen“ Schulen sind konfessionell) im gleichen Maße wie staatliche Schulen vom Staat finanziert. Im politischen Tauschhandel stimmten die Konfessionellen dafür dem allgemeinen Wahlrecht zu.
In der Christelijk-Historische Unie (CHU) sammelten sich 1908 diejenigen, die weiterhin versuchten, dem ganzen Staat ein calvinistisches Gesicht zu geben. Es ist schwierig, die beiden Parteien ARP und CHU genau voneinander abzugrenzen; antirevolutionär und christlich-historisch waren lange Zeit Synonyme. Auch persönliche Konflikte zwischen den politischen Führern spielten eine Rolle, und da der autoritäre Abraham Kuyper viele Intellektuelle und Honoratioren abschreckte, wurde er mit der ARP schließlich zum Fürsprecher der „kleinen Leute“, gereformeerden Handwerkern und Kaufleuten. In den 1960er Jahren hatte die ARP einen starken sozialen Flügel. Die CHU galt lange als wirtschaftlich konservativer und auch von Adligen dominiert; sie war eher mit der NH-Kirche als mit den Gereformeerde Kerken verbunden.
Die klassischen Säulen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Dem Pluralismus-Forscher Arend Lijphart zufolge kam es nun zu den folgenden Säulen:[2]
- Der Katholischen Säule gehörten so gut wie ausschließlich die Römisch-Katholischen an. Parteien: Katholieke Volkspartij (KVP), kleinere Splittergruppen wie die KNP.
- Eine Protestantisch-Christliche Säule vereinte neben den Gereformeerden das orthodoxere Drittel der NH-Kirche. Parteien: Vor allem für die Gereformeerden die Anti-Revolutionaire Partij, sonst die Christelijk Historische Unie. Daneben gibt es bis heute kleinere strengreligiöse Parteien wie die Staatkundig Gereformeerde Partij (gegründet 1918) und die ChristenUnie (ein Zusammenschluss älterer Parteien von 2001).
- In der Allgemeinen oder auch Neutralen Säule fanden sich alle onkerkelijken („Unkirchlichen“) und die liberaleren sowie die wenig kirchengebundenen NH-Anhänger wieder, außerdem die übrigen Gläubigen wie Juden, Lutheraner, Baptisten, Remonstranten und andere. Parteien: Die liberalen Parteien wie Volkspartij voor Vrijheid en Democratie und Democraten 66; zum Teil die CHU; sonstige Kleinparteien.
- Manche Darstellungen gliedern aus der Allgemeinen Säule eine Sozialistische Säule der Arbeiter aus, aus sozialen / politischen Gründen. Parteien: Partij van de Arbeid, daneben auch Communistische Partij van Nederland und Pacifistisch Socialistische Partij.
Ein Angehöriger beispielsweise der Katholischen Säule war also ein Niederländer, der KVP wählte, den Katholieke Radio Omroep hörte (später auch im Fernsehen sah) und eine katholische Zeitung las: etwa De Tijd oder De Maasbode, als Arbeiter wahrscheinlich die Volkskrant. Als letzterer schloss er sich einer katholischen Gewerkschaft im katholischen Dachverband NKV an. Seine Kinder besuchten katholische Schulen und danach die katholische Universität in Nimwegen. Auch Freizeitvereine waren nach Säulen getrennt organisiert, vom Sportclub bis zur Esperanto-Vereinigung.
Kritik am Säulenmodell und Auflösung der „Versäulung“
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Die maßgebliche Schrift zur Theorie der verzuiling als spezifisch niederländischem Pluralismus stammt von Arend Lijphart (1968), der damals bereits die Auflösung des Systems beschrieb. Mittlerweile gibt es Kritik an seiner Darstellung, beispielsweise von Jan van Putten, der die vierte oder Allgemeine Säule eher für ein ideologisches Konstrukt hält.
Vergleicht man die verzuilung mit dem Partikularismus östlich der Grenze, so findet man in Deutschland ebenfalls katholische und sozialistische Subkulturen oder sozialmoralische Milieus bzw. Gegeneliten (vor allem im Kaiserreich und der Weimarer Republik mit der katholischen Zentrumspartei), weniger jedoch eine „protestantische Säule“. Dies ist vielleicht auf das Luthertum zurückzuführen, das nicht so streng wie die Gereformeerden bzw. die Orthodoxen der NH-Kirche war und daher die Liberalen weniger abgestoßen hat.
Das niederländische System der verzuiling gehört großteils der Vergangenheit an, erklärt aber immer noch einige Phänomene des Parteiensystems wie etwa die beiden kleinen religiösen Parteien, die „Blutgruppen“ (Strömungen, also antirevolutionär, katholisch usw.) im CDA und das Gründungsmotiv von PvdA und Democraten 66 (D66).
Im Zuge der Erosion der früher fest gefügten sozialen und weltanschaulichen Milieus kam es während der letzten Jahrzehnte jedoch zur Gründung zahlreicher neuer Parteien, darunter auch Ein-Thema-Parteien, Regionalparteien und populistische Bewegungen. Die bisher erfolgreichsten neuen Gruppierungen waren die linksliberalen D66, die rechtspopulistische LPF und die linke, früher maoistische SP. Da gesellschaftliche Traditionen und Bindungen weiterhin an Kraft verlieren, kommt es zu einer steigenden Zahl von Wechselwählern.
Weitere Länder
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Belgien gibt es keine protestantische Säule, dort gibt oder gab es eine katholische Säule, eine sozialistische Säule und eine liberale Säule, die das Land bis in die Nachkriegszeit stark prägte. Inzwischen gibt es vor allem aber eine flämische und eine wallonische Säule, die allerdings mit Ausnahme der Region Brüssel deutlich regional getrennt sind. Siehe dazu Flämisch-wallonischer Konflikt.
Im Libanon hat die sogar verfassungsrechtliche Versäulung den Bürgerkrieg nicht verhindern können. Ämter wie das Staatsoberhaupt oder der Ministerpräsident sind Gruppen wie den Christen oder Sunniten vorbehalten.
In Israel gibt es ein der Verzuiling ähnliches Phänomen, in dem die religiösen Parteien jeweils eigene gesellschaftliche Subsysteme mit zugehörigen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Arbeiter- und Wirtschaftsverbänden herausgebildet haben.[3]
In Deutschland spricht man traditionell nicht von einer Versäulung, sondern vom Partikularismus. Bei den Wahlen im Kaiserreich (1871–1918) konnte man ein Wahlverhalten feststellen, das ebenfalls drei große Gruppen unterscheiden ließ: bürgerlich-protestantische Parteien, nämlich Konservative, Links- und rechtsliberale, vereinten sich oft gegen einen katholischen oder sozialistischen Kandidaten (wobei zu beachten ist, dass im deutschen Kaiserreich nur Männer wählen durften, denn das Frauenwahlrecht kam erst 1919). Im Gegensatz zu den Niederlanden wurde der Partikularismus in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutsamen Teil bereits überwunden, unter anderem, weil die Aufnahme der Vertriebenen die konfessionelle Durchmischung förderte. Es entwickelte sich ein Zwei- oder Zweieinhalb-Parteien-System, in dem die SPD sich stärker der Mittelklasse öffnete und die CDU/CSU Liberale, Konservative und Nationalisten beider großen Konfessionen zusammenfasste.
In Österreich gibt es, zum Teil bis heute noch, „schwarze“ und „rote“ Parallelorganisationen, z. B. bei Touringclubs (ÖAMTC vs. ARBÖ) oder Sportverbänden (Sportunion vs. ASKÖ).
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Parallelgesellschaft
- Lagertheorie, vergleichbares Modell in der Ersten Republik Österreichs
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Arie L. Molendijk: Versäulung in den Niederlanden: Begriff, Theorie, lieu de mémoire. In: Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Große Kracht (Hrsg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Böhlau, Köln u. a. 2007, S. 307–327 [= Industrielle Welt 73] ISBN 978-3-412-20030-5. Vgl. https://www.ariemolendijk.nl/downloads/download0022.pdf .
- Paul Luyks: Versäulung in den Niederlanden. Eine kritische Betrachtung der neueren Historiographie, in: Zentrum für Niederlande-Studien Jahrbuch 2 (1991), S. 39–51.
- Rudolf Steininger: Polarisierung und Integration. Vergleichende Untersuchung der strukturellen Versäulung der Gesellschaft in den Niederlanden und in Österreich. Hain, Meisenheim am Glan 1975 [= Politik und Wähler 14] (= Univ. zu Köln, Phil. Fak., Diss. o. J.) ISBN 3-445-01233-4.
- Jakob Pieter Kruijt, Walter Goddijn: Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse. In: Joachim Matthes (Hrsg.): Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden. Luchterhand, Neuwied/Berlin 1965, S. 115–149.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Horst Lademacher: Geschichte der Niederlande. Politik – Verfassung – Wirtschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1983, ISBN 3-534-07082-8, S. 258.
- ↑ Arend Lijphart: Verzuiling, pacificatie en kentering in de Nederlandse politiek, 9. Auflage, Haarlem 1992.
- ↑ Gary S. Schiff: Tradition and Politics. The Religious Parties of Israel. Wayne State University Press, Detroit 1977, S. 219–220.