https://de.wikipedia.org/w/api.php?action=feedcontributions&feedformat=atom&user=Udo.bellackWikipedia - Benutzerbeiträge [de]2025-05-04T23:05:28ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.44.0-wmf.27https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Erich_Rost&diff=248921430Erich Rost2024-09-26T17:11:45Z<p>Udo.bellack: added: Kategorie:stellvertretender Minister</p>
<hr />
<div>'''Erich Rost''' (* [[19. April]] [[1919]] in [[Kirchworbis]], [[Eichsfeld]]) ist ein ehemaliger deutscher Politiker der DDR-[[Blockpartei]] [[Liberal-Demokratische Partei Deutschlands|LDPD]]. Er war Vorsitzender des Bezirksverbände [[Bezirk Magdeburg|Magdeburg]] und [[Ost-Berlin|Berlin]] der LDPD, Abgeordneter der [[Volkskammer]] und stellvertretender [[Finanzminister|Minister der Finanzen]] der [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]].<br />
<br />
== Leben ==<br />
Rost, Sohn einer Arbeiterfamilie, besuchte die Grundschule in Kirchworbis, die Kreismittelschule in [[Worbis]] und das [[Gymnasium]] in [[Duderstadt]]. Er leistete im [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] [[Kriegsdienst]].<br />
<br />
Nach Kriegsende trat er 1946 der Liberal-Demokratischen Partei bei. Rost war zunächst Sachbearbeiter und Referent in der Finanzverwaltung [[Mühlhausen/Thüringen|Mühlhausen]] sowie Referent und stellvertretender Leiter der Landesfinanzdirektion [[Thüringen]]. Ab 1952 fungierte er als Leiter der Unterabteilung Abgaben beim [[Rat des Bezirkes]] [[Bezirk Erfurt|Erfurt]]. 1954/1955 war er stellvertretender Vorsitzender des Rates des Bezirkes Erfurt. 1954 schloss er ein Fernstudium an der [[Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft|Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft]] in [[Potsdam-Babelsberg]] als [[Diplomökonom]] ab.<ref>Porträt im Zentralorgan der LDPD ''[[Der Morgen]]'', 1. Dezember 1972, S. 2.</ref> Von 1955 bis 1960 war er stellvertretender Vorsitzender des Rates des Bezirkes [[Bezirk Magdeburg|Magdeburg]] und zugleich Vorsitzender des Bezirksvorstandes Magdeburg der LDPD. Von 1955 bis 1989 gehörte er als Mitglied dem Zentralvorstand der LDPD und ab Juli 1960 (8. Parteitag) dessen Politischen Ausschusses an.<ref>Glückwunsch zum 60. Geburtstag im [[Neues Deutschland|Neuen Deutschland]], 19. April 1979, S. 2.</ref> Von 1958 bis 1960 war er Abgeordneter des [[Bezirkstag (DDR)|Bezirkstages]] Magdeburg sowie von April 1960 bis November 1963 Berliner Abgeordneter der [[Liste der Mitglieder der Volkskammer der DDR (3. Wahlperiode)|Volkskammer]] (nachgerückt für die verstorbene Abgeordnete [[Gerhilde Engelhardt]]). Von 1959 bis 1961 war er Sekretär des LDPD-Zentralvorstandes der LDPD und Vorsitzender des Bezirksverbandes Berlin der LDPD. Von 1961 bis 1972 wirkte er als stellvertretender Minister der Finanzen der DDR. Von November 1972 bis August 1984 war er Mitglied des Präsidiums und des Sekretariats des Nationalrates der Nationalen Front. Rost trat 1989 in den Ruhestand.<br />
<br />
== Auszeichnungen in der DDR ==<br />
* [[Ehrennadel der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft]] (1957)<br />
* [[Ernst-Moritz-Arndt-Medaille]] (1957)<br />
* [[Vaterländischer Verdienstorden]] in Bronze (1958, 1964), in Silber (1969) und in Gold (1979)<ref>''Neues Deutschland'', 2. Mai 1979, S. 4.</ref><br />
* [[Verdienstmedaille der DDR]] (1959)<br />
* Orden „[[Banner der Arbeit]]“ Stufe I (1976)<ref>''Neues Deutschland'', 1. Mai 1976, S. 5.</ref><br />
* Orden „[[Stern der Völkerfreundschaft]]“ in Gold (1984)<ref>''Neues Deutschland'', 2. Mai 1984, S. 2.</ref><br />
* Johannes-Dieckmann-Preis der LDPD (1989)<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): ''Handbuch der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (3. Wahlperiode)''. Supplementband, Kongress-Verlag, Berlin 1960, S. 15.<br />
* [[Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen|Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen]] (Hrsg.): ''SBZ-Biographie''. Deutscher Bundes-Verlag, Berlin 1964, S. 291.<br />
* Walter Habel (Hrsg.): ''Wer ist wer? Das Deutsche who’s who''. Teilband II. Arani-Verlag, Berlin-Grunewald 1965, S. 277.<br />
* [[Andreas Herbst (Historiker)|Andreas Herbst]] (Hrsg.), Winfried Ranke, Jürgen Winkler: ''So funktionierte die DDR.'' Band 3: ''Lexikon der Funktionäre'' (= ''rororo-Handbuch.'' Bd. 6350). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1994, ISBN 3-499-16350-0, S. 281.<br />
* Gabriele Baumgartner, [[Dieter Hebig]] (Hrsg.): ''Biographisches Handbuch der SBZ/DDR. 1945–1990''. Band 2: ''Maassen – Zylla''. K. G. Saur, München 1997, ISBN 3-598-11177-0, S. 735f.<br />
* Ulf Sommer: ''Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands. Eine Blockpartei unter der Führung der SED''. Agenda, Münster 1996, ISBN 3-929440-88-1, S. 324.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{NaviBlock<br />
|Navigationsleiste Vorsitzende des Bezirksvorstandes Magdeburg der LDPD<br />
|Navigationsleiste Vorsitzende des Bezirksvorstandes Berlin der LDPD<br />
}}<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|LCCN=|NDL=|VIAF=|GNDfehlt=ja|GNDCheck=2022-02-26}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Rost, Erich}}<br />
[[Kategorie:Abgeordneter der Volkskammer]]<br />
[[Kategorie:LDPD-Funktionär]]<br />
[[Kategorie:Stellvertretender Minister (DDR)]]<br />
[[Kategorie:Träger des Sterns der Völkerfreundschaft]]<br />
[[Kategorie:Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold]]<br />
[[Kategorie:Träger der Verdienstmedaille der DDR]]<br />
[[Kategorie:Träger des Banners der Arbeit]]<br />
[[Kategorie:Träger der Ernst-Moritz-Arndt-Medaille]]<br />
[[Kategorie:DDR-Bürger]]<br />
[[Kategorie:Deutscher]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1919]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Rost, Erich<br />
|ALTERNATIVNAMEN=<br />
|KURZBESCHREIBUNG=deutscher LDPD-Funktionär, MdV, stellvertretender Finanzminister der DDR<br />
|GEBURTSDATUM=19. April 1919<br />
|GEBURTSORT=[[Kirchworbis]], [[Eichsfeld]]<br />
|STERBEDATUM=<br />
|STERBEORT=<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Alfred_Dreyfus&diff=246541976Alfred Dreyfus2024-07-07T12:29:49Z<p>Udo.bellack: /* Entwicklung */ Link auf "L'Aurore" hinzu</p>
<hr />
<div>[[Datei:AlfredDreyfus.jpg|miniatur|Alfred Dreyfus]]<br />
'''Alfred Dreyfus''' [{{IPA|alˈfʀɛd dʀɛˈfys}}] (* [[9. Oktober]] [[1859]] in [[Mülhausen]]; † [[12. Juli]] [[1935]] in [[Paris]]) war ein französischer Offizier. Seine ungerechtfertigte Verurteilung wegen Landesverrats löste 1894 die [[Dreyfus-Affäre]] aus, die Frankreich innenpolitisch erschütterte.<br />
<br />
== Familie und Kindheit ==<br />
Alfred Dreyfus war der neunte und jüngste Sohn eines jüdischen Mülhausener Textilunternehmers, der seine Karriere als Hausierer begonnen hatte. Als das [[Elsass]] 1871 nach dem [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]] zum neu gegründeten [[Deutsches Kaiserreich|Deutschen Kaiserreich]] kam, optierten seine Eltern (wie auch andere Angehörige der städtischen Eliten) für die Beibehaltung ihrer [[Französische Staatsbürgerschaft|französischen Staatsangehörigkeit]] und siedelten 1872 mit einem Teil der Familie zuerst nach [[Basel]] in die [[Schweiz]], wo er das [[Gymnasium am Münsterplatz|Humanistische Gymnasium]] besuchte, und schließlich nach Paris über. Um das Vermögen zu retten, blieb ein anderer Teil der Familie im Elsass. Ausschließlich Alfred und sein Bruder erhielten eine völlig französische Ausbildung.<ref name="In Our Time">Melvyn Bragg: [https://www.bbc.co.uk/programmes/b006qykl ''In Our Time''.] BBC Radio 4, 8. Oktober 2009. Robert Gildea, Professor moderner Geschichte bei Oxford University; Ruth Harris, Dozent (Moderne Geschichte) bei Oxford University; Robert Tombs, Professor von Französischer Geschichte bei Cambridge University.</ref> Die Erstsprache der meisten Brüder und Schwestern von Alfred war Deutsch bzw. [[Elsässisch]].<br />
<br />
In Paris legte Dreyfus die Reifeprüfung ([[Baccalauréat]]) ab und bestand 1878 die Aufnahmeprüfung zur traditionsreichen [[École polytechnique]], die damals hauptsächlich technische Offiziere, z.&nbsp;B. für die [[Artillerie]], ausbildete. Er wurde Berufsoffizier als Artillerist und auf Grund seiner akademischen Leistungen in die [[École supérieure de guerre]] aufgenommen. Die École supérieure de guerre war erst gegen Ende der 1870er Jahre gegründet worden. Absolventen der École polytechnique und der [[Militärschule Saint-Cyr]] erhielten hier eine abschließende Ausbildung vor ihrer Ernennung zum Stabsoffizier. Zu den Neuerungen, die der Kriegsminister [[Charles de Freycinet]] und der General [[Marie François Joseph de Miribel]] im Rahmen ihrer Reformen des französischen Militärs eingeführt hatten, zählte die Aufnahme der zwölf besten Absolventen dieser Militärschule in den französischen Generalstab, wo sie mehrere Bereiche durchliefen.<ref>Harris, S. 62–63</ref> Zuvor waren diese Stellen ausschließlich durch [[Kooption]] vergeben worden, was dazu führte, dass in den Generalstab vorwiegend katholische [[Französischer Adel|Adlige]] berufen wurden.<ref>Harris, S. 62</ref><br />
<br />
Am 21. April 1890 heiratete er [[Lucie Dreyfus|Lucie Hadamard]] (1869–1945), Tochter eines wohlhabenden Diamantenhändlers und Cousine des Mathematikers [[Jacques Salomon Hadamard]]. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Pierre (1891–1946) und Jeanne (1893–1981).<br />
<br />
1893 wurde Dreyfus, inzwischen zum [[Hauptmann (Offizier)|Hauptmann]] befördert, zum [[Generalstab]] versetzt.<br />
<br />
== Die Dreyfus-Affäre ==<br />
[[Datei:Musée des Horreurs 6.jpg|miniatur|Zeitgenössische Karikatur Dreyfus']]<br />
[[Datei:Degradation alfred dreyfus.jpg|miniatur|Zeitgenössische Darstellung der [[Kassation (Militär)|Kassation]]]]<br />
[[Datei:Hutte von Dreyfus.jpg|miniatur|Die Hütte von Alfred Dreyfus auf der [[Teufelsinsel (Französisch-Guayana)|Teufelsinsel]]; hier lebte er ab dem 13. April 1895]]<br />
{{Hauptartikel|Dreyfus-Affäre|Chronologie der Dreyfus-Affäre}}<br />
<br />
=== Entwicklung ===<br />
Im September 1894 gelangte der französische Auslandsnachrichtendienst ([[Deuxième Bureau]]), angeblich durch eine in die deutsche Botschaft eingeschleuste [[Spionage|Spionin]], in den Besitz eines handgeschriebenen Schriftstücks, in dem ein offenbar gut informierter anonymer Insider dem deutschen [[Militärattaché]] [[Maximilian von Schwartzkoppen]] geheime militärische Informationen auflistete und zu liefern versprach, insbesondere über die französische Artillerie wie beispielsweise die [[Obusier de 120 mm C modèle 1890|Haubitze M 1890]]. Der Verdacht fiel auf den Artilleristen Alfred Dreyfus, den seine Herkunft als elsässischer Jude zum Verräter zu prädestinieren schien, zumal er im Vorjahr zur Beerdigung seines Vaters nach Mülhausen gereist war, das damals zum Deutschen Reich gehörte.<br />
<br />
Am 15. Oktober wurde er in das Dienstzimmer des Generalstabschefs bestellt. Er wurde aufgefordert, nach Diktat einzelne Worte und Satzfetzen zu schreiben, und anschließend verhaftet.<br />
<br />
Am 31. Oktober waren die Voruntersuchungen abgeschlossen, einen Tag später wurde Dreyfus in der Presse als Verräter genannt. Am 3. November wurde er vor einem [[Militärgericht|Kriegsgericht]] in [[Rennes]] wegen [[Landesverrat]]s angeklagt. Bei dem nachfolgenden Prozess diente als Hauptbeweismittel seiner Schuld ein [[Graphologie|graphologisches Gutachten]] des bekannten Anthropologen und Kriminologen [[Alphonse Bertillon]], dem die Richter folgten, trotz dreier anderslautender Gutachten und trotz der Tatsache, dass Bertillon nachweislich über keine Erfahrung auf dem Gebiet der [[Schriftvergleichung]] verfügte.<ref>Feix, Gerhard: ''Das große Ohr von Paris – Fälle der Sûrete''. Verlag Das Neue Berlin, Berlin, 1975, S. 167–178, {{DNB|200717472}}.</ref><br />
<br />
Dreyfus, der vergeblich seine Unschuld beteuert hatte, wurde am 22. Dezember 1894 mit einstimmigem Richtervotum für schuldig befunden und zu [[Lebenslange Freiheitsstrafe|lebenslanger]] [[Verbannung]] und Haft verurteilt. Die Hafterleichterungen, die man ihm in Aussicht stellte, sollte er seine Spionage gestehen, lehnte er ab. Am 5. Januar 1895 wurde er in erniedrigender Form im Hof der [[École militaire (Frankreich)|École Militaire]] [[Degradierung (Rang)|degradiert]].<br />
<br />
Am 31. Januar 1895 beschloss die französische [[Abgeordnetenkammer (Frankreich)|Abgeordnetenkammer]] Dreyfus’ Verbannung auf die [[Teufelsinsel (Französisch-Guayana)|Teufelsinsel]] in [[Französisch-Guayana]]. Da die dortigen Haftbedingungen so schwer waren, wurden Verurteilte nur sehr selten auf die Teufelsinsel verschickt. Dreyfus sollte zukünftig dort leben, was nicht nur ein Entkommen unmöglich machen würde, sondern ihn auch vollständig von anderen Gefangenen isolieren sollte. Auch Lucie Dreyfus’ ursprüngliche Pläne, ihrem Ehemann in die Verbannung zu folgen, wurden durch diesen Beschluss unmöglich gemacht.<ref>Harris, S. 36</ref><br />
<br />
Ohne die Familie im Vorfeld zu informieren, begann die Reise von Alfred Dreyfus in die Verbannung am frühen Morgen des 17.&nbsp;Januar 1895. Er wurde zunächst mit dem Zug nach [[La Rochelle]] gebracht. Als bekannt wurde, dass Dreyfus sich im Zug befand, versammelte sich eine so große aufgebrachte Menge, dass die zuständigen Behörden es für sicherer hielten, ihn im Zug bis in die Nacht warten zu lassen, bevor sie ihn in die nahegelegene Festung von Saint-Martin auf der [[Île de Ré]] brachten. Trotzdem kam es dabei zu Übergriffen. Am 13. Februar konnte er ein letztes Mal vor seiner Rückkehr 1899 seine Frau Lucie sehen. Ihr war es verboten, ihrem Mann mitzuteilen, wohin er deportiert werden würde, und auch eine Umarmung wurde den Ehepartnern untersagt, da man befürchtete, dass sie ihm eine Nachricht zustecken werde.<ref name="Harris37">Harris, S. 37</ref><br />
<br />
Dreyfus verließ die Île de Ré am 21. Februar und kam am 13. April auf der Teufelsinsel an.<ref name="Harris37" /> Er war damals der einzige Inhaftierte auf der Insel. Seine Haftbedingungen waren zunächst verhältnismäßig glimpflich. Zum Beispiel durfte er täglich ein paar hundert Meter spazieren gehen. Nachts wurde er in einer 16 Quadratmeter (4 × 4 m) großen Hütte eingesperrt.<ref>Robert Rapley: Witch Hunts: From Salem to Guantanamo Bay, McGill-Queen's University Press, 2007, S. 105 [https://www.google.de/books/edition/Witch_Hunts/BS42QVsL0ssC?hl=de&gbpv=1&dq=alfred+dreyfus+stone+hut+devil%27s+island&pg=PA105&printsec=frontcover]: „He existed in his stone hut, four metres square, on the barren rock of Devil's Island, its windows barred, its lamp lit day and night.“</ref> Bewacht wurde er von fünf Wächtern, die allerdings nicht mit ihm sprechen durften.<ref>Harris, S. 37–39</ref> Auf Grund der klimatischen Bedingungen erkrankte Dreyfus jedoch wiederholt an tropischen Fiebern. Die hohe Luftfeuchtigkeit ließ seine Kleidung nicht trocken werden und er verlor durch die mangelhafte Nahrung stark an Gewicht.<ref name="Harris39">Harris, S. 39</ref> Die Haftbedingungen änderten sich am 6. September 1896, als in Paris Gerüchte über einen Fluchtplan kursierten. Um die Hütte wurde ein Palisadenzaun gebaut, der Dreyfus jegliche Sicht auf seine Umwelt versperrte. Nachts wurde er an sein Bett gefesselt.<ref>Harris, S. 41</ref><br />
<br />
[[Datei:Alfred Dreyfus in captivity on Devil's Island 1898.jpg|mini|links|Alfred Dreyfus 1898 auf der [[Teufelsinsel (Französisch-Guayana)|Teufelsinsel]],<br /><br />
<small>Vertrieb durch ''F. Hamel'', [[Bezirk Altona|Altona]]-[[Hamburg]]... ; aus einer [[Stereoskopie]] der [[Sammlung Lachmund]]</small>]]<br />
<br />
Dreyfus erhielt Briefe seiner Familie und durfte ihr auch schreiben. Die Korrespondenz mit der Familie unterlag jedoch strenger Zensur. Die Briefe seiner Frau erhielt Dreyfus nur in Abschrift, damit sie ihm keine geheimen Botschaften übermitteln konnte. Nicht angesprochen werden durfte in den Briefen das Aufsehen, das sein Fall in Frankreich zunehmend erregte, so dass Dreyfus bis zu seiner Rückkehr 1899 zum zweiten Prozess darüber in Unkenntnis blieb.<ref>Harris, S. 39–41</ref> Ruth Harris beschreibt in ihrer [[Monographie]] über den Fall Dreyfus seine Briefe an seine Familie als erstaunlich frei von Bitternis.<ref name="Harris39" /> Dreyfus erwähnte weder seine Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben noch deutete er an, dass er das Opfer einer [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945|antisemitischen]] Verschwörung sein könnte. Seine Briefe drücken ein tiefes Verlangen nach seiner Familie aus, und wiederholt bat er seine Frau Lucie und seinen Bruder [[Mathieu Dreyfus|Mathieu]], seine Ehre wiederherzustellen.<ref name="Harris39" /><br />
<br />
Dank der Hartnäckigkeit von Angehörigen, vor allem seines älteren Bruders Mathieu, der von der Unschuld Dreyfus’ überzeugt war und diverse Persönlichkeiten aus Politik und Presse für den Fall interessierte, verschwand dieser nicht in der Versenkung. Im Sommer 1896 stieß der neue Geheimdienstchef, Oberst [[Marie-Georges Picquart]], auf Indizien, die den Schluss nahelegten, ein anderer Generalstabsoffizier, Major [[Ferdinand Walsin-Esterházy|Walsin-Esterházy]], müsse der Verräter gewesen sein. Er wurde jedoch vom Generalstab zum Schweigen genötigt und zur Jahreswende nach [[Tunesien]] versetzt. Von dort richtete er allerdings ein [[Memorandum]] an Staatspräsident [[Félix Faure]], das in die Hände eines [[Senat (Frankreich)|Senators]] gelangte. Dessen eher diskrete Versuche, eine Revision des Prozesses zu erreichen, scheiterten am Widerstand der Generäle und der Regierung. Im Herbst 1897 bekam auch Mathieu Dreyfus Kenntnis vom Inhalt des Memorandums und beschuldigte Walsin-Esterházy öffentlich, der Verräter zu sein. Das Disziplinarverfahren, das dieser daraufhin gegen sich beantragte, endete ergebnislos. Ähnlich verhielt es sich mit einem Prozess, der Anfang 1898 pro forma gegen ihn eröffnet wurde. Die Generäle, die gegen Dreyfus als Zeugen aufgetreten waren, zeigten sich nicht bereit, ihre Aussagen zu widerrufen. Vielmehr hatten sie nachträglich sogar Indizien zu seinen Ungunsten fälschen lassen.<br />
<br />
Als Walsin-Esterházy am 11. Januar 1898 freigesprochen wurde, reagierten viele mit Empörung. Einen wahren innenpolitischen Sturm entfachte dann der offene Brief ''[[J’accuse|J’accuse …!]]'' (''Ich klage an …!''), den der Autor [[Émile Zola]] am 13. Januar 1898 in der Zeitung ''[[L’Aurore_(1897)|L’Aurore]]'' an den Staatspräsidenten Félix Faure richtete, um auf das Unrecht gegenüber Dreyfus hinzuweisen.<br />
<br />
Die französische Gesellschaft wurde von der ''[[Dreyfus-Affäre]]'', wie sie nun hieß, bis in die Familien hinein polarisiert und spaltete sich in „Dreyfusards“ und „Anti-Dreyfusards“.<br />
<br />
=== Revision und Begnadigung ===<br />
Nachdem der Justizminister zwei Gesuche von Dreyfus’ Ehefrau Lucie im Juli und im September 1898 noch abgelehnt bzw. an eine Kommission überwiesen hatte, beschloss die Regierung schließlich doch zu handeln. Ende September wurde der französische [[Kassationshof (Frankreich)|Kassationsgerichtshof]] mit einer Revision des Verfahrens von 1894 beauftragt. Er hob das Urteil gegen Dreyfus im Juni 1899 auf und verwies den Fall zurück an das Kriegsgericht in Rennes. Am 9. Juni 1899 durfte Dreyfus die Teufelsinsel verlassen und kam am 30. Juni 1899 wieder nach Frankreich. Bei dem neuerlichen Prozess im August wurde er zwar nach wie vor für schuldig befunden, erhielt aber mildernde Umstände zugebilligt. Seine Strafe wurde in zehn Jahre [[Festungshaft]] umgewandelt, doch bot ihm der neue französische Staatspräsident [[Émile Loubet]] eine sofortige [[Gnadenrecht|Begnadigung]] an, wenn er darauf verzichtete, Berufung einzulegen. Dreyfus akzeptierte am 15. September, was viele seiner Sympathisanten enttäuschte.<br />
<br />
Er zog sich zu seiner Familie zurück und brachte seine Erinnerungen zu Papier, die er 1901 unter dem Titel ''Cinq années de ma vie 1894–1899'' („Fünf Jahre meines Lebens“) publizierte.<br />
<br />
=== Rehabilitierung ===<br />
Nach dem Wahlsieg der Linken 1902 begann unter den veränderten politischen Umständen eine neuerliche Diskussion um seinen Fall. Schließlich kam es zu einer Revision auch des letzten Prozesses durch das Kassationsgericht. Das Urteil wurde aufgehoben und Dreyfus am 12. Juli 1906 freigesprochen und rehabilitiert. Unmittelbar darauf wurde er mit einem feierlichen Akt wieder in die Armee aufgenommen, zum [[Major]] befördert und darüber hinaus zum Ritter der [[Ehrenlegion]] ernannt. Eine Fortführung seiner Karriere als Generalstabsoffizier blieb ihm allerdings versagt. Er fand nur kurz Verwendung als Kommandant zweier Artillerie-Depots im Pariser Umland, in [[Vincennes]] und [[Saint-Denis (Seine-Saint-Denis)|Saint-Denis]]. Im Oktober 1907 ließ er sich aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzen.<br />
<br />
Als 1908 die sterblichen Überreste des 1902 verstorbenen Zola mit einem Ehrengeleit, dem Dreyfus angehörte, in den französischen Ruhmestempel, das Pariser [[Panthéon (Paris)|Panthéon]], überführt wurde, verübte ein Anti-Dreyfusard aus der Menge ein [[Attentat|Pistolenattentat]] auf ihn, bei dem er verletzt wurde.<br />
<br />
Nach Beginn des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] ließ Dreyfus sich reaktivieren, stand an der Front und wurde zum [[Oberstleutnant]] befördert. Mit diesem Rang schied er bei Kriegsende aus der [[Geschichte des französischen Heeres|Armee]].<br />
<br />
== Tod und Nachleben ==<br />
[[Datei:Dreyfus-annee-de-sa-mort.jpg|miniatur|Dreyfus kurz vor seinem Tod]]<br />
Dreyfus starb 1935 in Paris an einem [[Herzinfarkt]]. Er wurde auf dem Friedhof [[Friedhof Montparnasse|Montparnasse]] in Paris beigesetzt.<br />
<br />
Seine Enkelin [[Madeleine Levy]] wurde während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] als Jüdin nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Seine Ehefrau Lucie überlebte den Holocaust und starb kurz nach der Befreiung in Paris.<br />
<br />
[[Theodor Herzl]], der 1895 als Korrespondent der ''[[Die Presse#Die „Neue Freie Presse“ (1864–1939)|Neuen Freien Presse]]'' Dreyfus’ Degradierung miterlebt hatte, schrieb unter dem Eindruck des Prozesses sein Buch ''[[Der Judenstaat]]''.<ref>Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Insel, Berlin 2014<sup>3</sup>, S. 127ff.</ref> Das Werk erschien am 14. Februar 1896, bevor vom 29. bis 31. August 1896 der [[Zionistenkongress|erste Zionistenkongress]] in [[Basel]] stattfand.<br />
<br />
Im Zusammenhang mit der Liabeuf-Affäre um den [[Anarchismus|anarchistischen]] Arbeiter [[Jean-Jacques Liabeuf]],<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Frédéric Lavignette |Titel=Histoires d'une vengeance – L'Affaire Liabeuf |Verlag=Fage éditions |Ort=Lyon |Datum=2011 |ISBN=978-2-84975-205-0 |Seiten=Monografie}}</ref> der 1910, nach seiner Entlassung aus einem Gefängnis, wo er unschuldig eingesessen hatte, einen Polizisten tötete und dafür [[Guillotine|guillotiniert]] wurde, entstand eine hitzige öffentliche Debatte, die als „Dreyfus-Affäre der Arbeiter“<ref name=":0" /> bezeichnet wurde: Einerseits forderten rechte Kommentatoren eine stärkere militärische und polizeiliche Unterdrückung streikender Arbeiter und härtere Gerichtsurteile, andererseits wurde Liabeuf von der Arbeiterpresse als Märtyrer und Symbolfigur des [[Klassenkampf]]es dargestellt.<br />
<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Dreyfus nach und nach zu einer Art Ikone der Republik stilisiert. Seit 1988 hat er ein Denkmal im [[Jardin des Tuileries]]. An seinem Wohnhaus ist eine Gedenkplakette angebracht. Auch in Berlin befindet sich eine [[Denkmäler in Spandau#Gedenktafel Alfred Dreyfus (ca. 2006)|Gedenktafel]] in der [[Blücher-Kaserne (Berlin)|Blücher-Kaserne]] in [[Berlin-Kladow|Kladow]].<br />
<br />
Am 12. Juli 2006, dem 100. Jahrestag seiner [[Wiedergutmachung|Rehabilitierung]], fand eine Gedenkzeremonie in der Pariser Militärschule statt, bei der [[Staatspräsident]] [[Jacques Chirac]] als Hauptredner auftrat und in Begleitung des Premierministers und vierer weiterer Minister Dreyfus „die feierliche Huldigung der Nation“ (frz. ''l’hommage solennel de la Nation'') darbrachte.<br />
<br />
Zu der verschiedentlich vorgeschlagenen Überführung von Dreyfus’ sterblichen Überresten in das Panthéon kam es bisher nicht.<br />
<br />
== Dreyfus in Literatur und Film ==<br />
Bereits 1913 griff [[Roger Martin du Gard]], der spätere Literaturnobelpreisträger von 1937, die Dreyfus-Affäre auf. In seinem Roman ''Jean Barois'' beschreibt er u.&nbsp;a., wie Dreyfus seine Sympathisanten während des zweiten Prozesses durch seine „unheroische“ Apathie enttäuschte. 1929 verfassten [[Wilhelm Herzog]] und [[Hans José Rehfisch]] das Drama ''Die Affäre Dreyfus''. 1933 folgte Herzogs ''Die Dreyfus-Affäre''. In Deutschland verarbeitete [[Rolf Schneider (Schriftsteller)|Rolf Schneider]] den Fall in seinem Roman ''Süß und Dreyfus'' von 1991. Der israelische Dichter [[Jehoschua Sobol|Joshua Sobol]] schrieb 2008 das Theaterstück „I Am Not Dreyfus, Or Am I“ [Ani Lo Dreyfus]<!-- nirgendwo erwähnt - Beleg? -->. Der britische Schriftsteller [[Robert Harris]] schilderte die Affäre in seinem 2013 erschienenen Roman ''An Officer and Spy'' (deutscher Titel: ''Intrige'') aus der Sicht des Geheimdienstoffiziers Picquart.<br />
<br />
Die Dreyfus-Affäre lieferte auch die Vorlage für zahlreiche Verfilmungen, u.&nbsp;a.:<br />
* 1930: [[Dreyfus (1930)|Dreyfus]] – Regie: [[Richard Oswald]]<br />
* 1958: [[I Accuse!]] – Regie: [[José Ferrer]]<br />
* 1991: Der Gefangene der Teufelsinsel ''(Prisoners of Honor)'' – Regie: [[Ken Russell]]<br />
* 1994: Affäre Dreyfus ''(L’affaire Dreyfus)'' – Regie: [[Yves Boisset]] – zweiteilige Fernseh-Dramatisierung<br />
* 1998: J’accuse – Ich klage an ''(J’accuse)'' – Regie: [[Robert Bober]], Pierre Dumayet<br />
* 2019: [[Intrige (Film)|Intrige]] ''(J'accuse)'' – Regie: [[Roman Polański|Roman Polanski]], nach dem Roman von Robert Harris<br />
<br />
Im Jahr 1937 entstand unter der Regie von [[Wilhelm Dieterle]] zudem die Filmbiografie ''The Life of Emile Zola'' mit [[Paul Muni]] in der Titelrolle. In ihr nimmt die Affäre breiten Raum ein, allerdings klammert der Film deren antisemitische Aspekte weitgehend aus. [[Joseph Schildkraut]] erhielt für seine Darstellung von Alfred Dreyfus einen Oscar als Bester Nebendarsteller.<br />
<br />
== Autobiografie ==<br />
* ''Cinq années de ma vie 1894–1899.'' Eugène Fasquelle, Paris 1901 (häufige Neuauflagen; dt.: ''Fünf Jahre meines Lebens 1894–1899'', John Edelheim, Berlin 1901, Neuauflage, Comino, Berlin 2019, ISBN 978-3-945831-17-5).<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* [[Hannah Arendt]]: ''Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft.'' 7. Auflage. Piper, München/Zürich 2000, ISBN 3-492-21032-5, darin Kapitel I, Abschnitt 4: ''Die Dreyfus-Affäre'', S. 212–272; erste deutsche Ausgabe: 1986, englische Originalausgabe: ''The Origins of Totalitarism.'' Harcourt Brace Jovanovich, New York 1951.<br />
* [[Louis Begley]]: ''Der Fall Dreyfus Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte.'' Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-42062-1.<br />
* [[Jean-Denis Bredin]]: ''L’Affaire.'' Paris, 1983, auch englische Version erhältlich: ''L’affaire Dreyfus'', 1998 (Jurist, Wissensstand der 1980er Jahre).<br />
* Yvonne Domhardt: ''Alfred Dreyfus – Degradiert – Deportiert – Rehabilitiert.'' Hentrich und Hentrich Verlag, Teetz 2005, ISBN 3-933471-86-9.<br />
* Vincent Duclert: ''Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß.'' Übersetzt von Aus dem Französischen von Ulla Biesenkamp, Wagenbach, Berlin 1994, ISBN 3-8031-2239-2 (ergeht sich oft in Spekulationen).<br />
* Vincent Duclert: ''L’honneur d’un patriote.'' Fayard, Paris 2006 (frz., bisher umfangreichste Biographie, aber keine neuen Erkenntnisse).<br />
* Ruth Harris: ''The Man on Devil’s Island. Alfred Dreyfus and the Affair that divided France.'' Penguin Books, London 2011, ISBN 978-0-14-101477-7.<br />
* [[Elke-Vera Kotowski]], [[Julius H. Schoeps]] (Hrsg.): ''J’accuse…! – … ich klage an! Zur Affäre Dreyfus. Begleitkatalog zur Wanderausstellung in Deutschland Mai bis November 2005. Eine Dokumentation.'' Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2005, ISBN 3-935035-76-4.<br />
* [[Siegfried Thalheimer]]: ''Die Affäre Dreyfus.'' dtv, München 1963.<br />
* [[George R. Whyte]]: ''Die Dreyfus-Affäre. Die Macht des Vorurteils.'' Lang, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-631-60218-8.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat}}<br />
* {{DNB-Portal|118527460}}<br />
* {{Pressemappe|FID=pe/004250}}<br />
* {{DHM-HdG|Bio=alfred-dreyfus|Titel=Alfred Dreyfus|Autor=Gabriel Eikenberg}}<br />
* [https://www.cairn.info/revue-cahiers-sens-public-2009-3-page-93.htm# Alfred Dreyfus, Cahiers de l'île du Diable]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=118527460|LCCN=n/80/57218|NDL=00438243|VIAF=19676856}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Dreyfus, Alfred}}<br />
[[Kategorie:Alfred Dreyfus| ]]<br />
[[Kategorie:Person (Dreyfus-Affäre)]]<br />
[[Kategorie:Opfer eines Justizirrtums]]<br />
[[Kategorie:Oberstleutnant (Frankreich)]]<br />
[[Kategorie:Generalstabsoffizier]]<br />
[[Kategorie:Person im Ersten Weltkrieg (Frankreich)]]<br />
[[Kategorie:Mitglied der Ehrenlegion (Ritter)]]<br />
[[Kategorie:Person als Namensgeber für einen Asteroiden]]<br />
[[Kategorie:Person des Judentums (Elsass)]]<br />
[[Kategorie:Franzose]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1859]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 1935]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
[[Kategorie:Artillerist (Frankreich)]]<br />
[[Kategorie:Opfer von Antisemitismus]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Dreyfus, Alfred<br />
|ALTERNATIVNAMEN=<br />
|KURZBESCHREIBUNG=französischer Offizier<br />
|GEBURTSDATUM=9. Oktober 1859<br />
|GEBURTSORT=[[Mülhausen]]<br />
|STERBEDATUM=12. Juli 1935<br />
|STERBEORT=[[Paris]]<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Attika_(Landschaft)&diff=244808256Attika (Landschaft)2024-05-09T09:32:52Z<p>Udo.bellack: /* Festungen */ fix + link: Mine</p>
<hr />
<div>{{Coordinate|article=/|NS=38.0027|EW=23.8100|type=landmark|dim=100000|region=GR}}<br />
[[Datei:Map of Boeotia, Attica, and Phocis.jpg|mini|Attika in der Antike]]<br />
[[Datei:Athen-1959 07 hg.jpg|mini|Attische Landschaft (1959)]]<br />
'''Attika''' ({{grcS|Ἀττική|''Attikē''}} {{F.Sg.}}) ist eine Halbinsel und historische Landschaft in [[Mittelgriechenland]] mit dem Hauptort [[Athen]]. Sie entsprach in etwa der heutigen Verwaltungseinheit [[Attika (griechische Region)|Attika]].<br />
<br />
== Name ==<br />
Nach dem römischen Geographen [[Pausanias]] hieß die Landschaft zunächst Actaea. Später wurde sie zu Ehren der Tochter Atthis von König [[Kranaos]] von Athen in Attika umbenannt.<ref>[[Pausanias]], Beschreibung Griechenlands, 1.2.7.</ref><br />
<br />
== Geographie ==<br />
Attika ist eine dreieckig geformte Halbinsel, die in das Ägäische Meer ragt. Die natürliche Grenze zu [[Boiotien|Böotien]] im Westen bilden die [[Parnitha|Parnes]] und der [[Kithairon]], insgesamt 16 km lang. Im Süden wird die [[Halbinsel]] durch das [[Kap Sounion]] begrenzt. Wichtige Orte waren der Hafen von [[Piräus]] bei Athen, [[Marathon (Griechenland)|Marathon]] im Nordosten, [[Eleusis]] im Westen und [[Thorikos]] im Osten.<br />
<br />
Zum Westen von [[Eleusis]] hin verschmälert sich das griechische Festland in Megaris und verbindet es mit der Peloponnes und dem Isthmus von Korinth. Die Westküste von Attika, auch bekannt als Athenische Riviera, formt die östliche Küstenlinie des [[Saronischer Golf|Saronischen Golfs]]. Berge teilen die Halbinsel in die Ebenen von Pedias, Mesogeia und die Thriasianische Ebene. Die Gebirge und Berge Attikas sind der [[Hymettos]], der östliche Teil der Bergkette [[Gerania]], der [[Parnitha]] (der höchste Berg Attikas), der [[Egaleo (Berg)|Egaleo]] und der [[Pendeli]]. Das Mesogeia liegt östlich des Hymettos und ist begrenzt durch den Fuß des Pendeli, im Osten durch den [[Golf von Euböa]] und den [[Myrrhinous|Merenda]], im Süden durch die Berge von [[Lavrio|Laurion]].<br />
<br />
Die besonderen Lichtverhältnisse von Attika werden als [[attisches Licht]] bezeichnet.<br />
<br />
== Bevölkerung ==<br />
Die Gesamtbevölkerung betrug am Ende des 4.&nbsp;Jahrhunderts etwa 169.000 Einwohner. Dabei handelte es sich um 84.000 Bürger, 35.000 [[Metöke]]n und 50.000 Sklaven.<ref>{{Literatur |Autor=[[Ernst Kluwe]] |Titel=Bemerkungen zu den Diskussionen über die drei „Parteien“ in Attika zur Zeit der Machtergreifung des Peisistratos |Sammelwerk=Klio |Band=54 |Verlag= |Ort=|Datum=1972 |ISSN=0075-6334 |Seiten=151}}</ref><br />
<br />
== Gesellschaft ==<br />
Während der mykenischen Zeit lebten die Einwohner Attikas in autonomen, landwirtschaftlichen Gesellschaften. Die Hauptplätze, an denen prähistorische Relikte gefunden wurden, findet man unter anderem in Athen und Marathon. All diese Siedlungen florierten in der [[Mykenische Kultur|mykenischen Zeit]].<ref name=":0">"[http://diocles.civil.duth.gr/links/home/database/periferiaprotevousis/pr05hi.pdf History]" (PDF). ''Prefecture of Attica''. Democritus University of Thrace. Abgerufen am 13. Januar 2013.</ref> Bis zum [[6. Jahrhundert v. Chr.]] lebten aristokratische Familien in den Vororten Athens etwa auf dem Hügel [[Kolonos]].<br />
<br />
In der Region wurde das [[Attisches Talent|Attische Talent]] als Zahlungsmittel verwendet. Zudem wurde [[Attisches Griechisch]] gesprochen, was später in der Bewegung des [[Attizismus]] verklärt wurde. Nach der Landschaft sind zudem die zehn [[Attische Redner|Attischen Redner]] benannt.<br />
<br />
== Verwaltungseinheiten ==<br />
{{Belege}}<br />
[[Datei:Map of the tribes.png|mini|Stämme in Attika]]<br />
Nach der [[Peisistratiden-Tyrannis in Athen|Peisistratiden-Tyrannis]] und den von [[Kleisthenes von Athen|Kleisthenes]] durchgeführten Reformen verloren die lokalen Gemeinschaften ihre Unabhängigkeit und unterlagen der Zentralregierung Athens. Als ein Ergebnis dieser Reformen wurde Attika in etwa 100 Gemeinden, die [[Demos|Demen]], und zusätzlich in drei größere Sektoren unterteilt:<br />
<br />
# Die Stadt, die die Gebiete um die Innenstadt Athens, den Hymettos, die Gemeinde Egaleo und den Fuß der Parnes umfasste.<br />
# Die Küste, die die Gebiete zwischen Eleusis und Kap Sounion beherbergte.<br />
# Das Gebiet um Athen herum, das von den Menschen nördlich des Berges Parnitha und Pendeli und das Gebiet östlich des Hymettusgebirges in der Ebene Mesogeia bewohnt wurde.<br />
<br />
Hauptsächlich lebten in jeder bürgerlichen Einheit zu gleichen Teilen Städter, Fischer und Bauern. Ein Drittel jedes Sektors bildete einen Stamm. Folglich zählte Attika 10 Stämme.<br />
<br />
Während des [[Peloponnesischer Krieg|Peloponnesischen Krieges]] wurde Attika besetzt und einige Male von den [[Lakedaimonier]]n überfallen.<br />
<br />
== Festungen ==<br />
[[Datei:Dema wall on W slope of tower hill detail.jpg|mini|Wallanlage bei Dema zum Schutz von Eleusis]]<br />
Während der klassischen Periode wurde Athen durch die Festung von [[Eleutherai]] geschützt, die gut erhalten ist. Andere Festungen waren die von Oenoe, [[Dekeleia]] und [[Aphidnai]]. In der dritten Phase des Peloponnesischen Krieges wurde die Festung von Dekeleia von den Lakedaimoniern erobert und verstärkt. Um die (Silber-)[[Bergwerk|Mine]]n Laurions an der Küste zu schützen, wurde Athen von den Mauern in Rhamnus, Thorikos, Sounion, Anavyssos, Piräus und Eleusis geschützt.<ref name=":0" /><br />
<br />
Auch wenn diese Festungen und Mauern gebaut wurden, etablierte Attika bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. kein Befestigungssystem.<ref>Osborne, Robin (December 2015). "[https://oxfordre.com/classics Oxford Classical Dictionary]". ''Attica''. Abgerufen am 29. September 2017.</ref><br />
<br />
== Kultstätten ==<br />
[[Datei:Greece Cape Sounion BW 2017-10-09 10-12-43.jpg|mini|Poseidontempel bei Kap Sounion]]<br />
Bereits für die [[Jungsteinzeit]] sind durch den [[Spätneolithischer Grabfund aus Attika|Grabfund aus Attika]] Siedlungen und Rituale nachgewiesen.<ref>[[Jürgen Thimme]]: ''Exkurs 1: Grabfund aus Attika, Spätneolithisch''. In: Ders. (Hrsg.): ''Kunst und Kultur der Kykladeninseln im 3. Jahrtausend v. Chr. Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Ausstellung im Karlsruher Schloß vom 25. Juni – 10. Oktober 1976''. C. F. Müller, Karlsruhe 1976, ISBN 3-7880-9568-7, S. 568–569.</ref><br />
<br />
Obwohl man im gesamten attischen Raum archäologische Überreste von religiöser Relevanz finden kann, befinden sich die wichtigsten dieser Funde in Eleusis. Die Verehrung der Gottheiten [[Demeter]] und [[Persephone]] (auch Kora) begann in der [[Mykenische Zeit|mykenischen Zeit]] und setzte sich bis in die letzten Jahre der Antike fort.<br />
<br />
Viele andere Arten der Verehrung lassen sich in die [[Urgeschichte|Vorgeschichte]] datieren. Zum Beispiel war die Verehrung des Gottes [[Pan (Mythologie)|Pan]] und der [[Nymphe]]n in vielen Gebieten Attikas üblich. Dazu zählten Marathon, der Hymittos und die Parnitha. Der Gott des Weines [[Dionysos]] wurde vor allem in der Gegend um [[Ikaria (Demos)|Ikaria]] verehrt. Die [[Iphigenie]] wurde in [[Brauron]] verehrt, die [[Artemis]] in [[Rafina]], die [[Athene]] am Sounion, die [[Aphrodite]] an der „Heiligen Straße“ [[Hiera Hodos]], [[Apollon|Apoll]] in Daphne.<ref name=":0" /> Weitere Heiligtümer waren das der Athene auf der Akropolis und der [[Kap Sounion|Poseidontempel]].<br />
<br />
== Landwirtschaft und Flora ==<br />
Aufgrund der Geographie Attikas war die Landwirtschaft in dieser Region kleinstrukturiert, das heißt viele Grundbesitzer besaßen mehrere, nicht zusammenhängende Flächen, was wiederum darauf schließen lässt, dass viele Grundstücke an Kleinbetriebe verpachtet wurden. Aufgrund dieser Einschränkung war es schwer möglich Sklaven einzusetzen, da sich deren Beaufsichtigung bei den nötigen Transportarbeiten als sehr aufwendig erwies.<br />
<br />
Neben wenigen großen Fruchtlandebenen dominierten kleine Täler das Landschaftsbild. Weiter erschwert wurde die Bewirtschaftung der Flächen durch den trockenen, steinigen Boden. Gerade die erosionsgefährdeten Hangflächen und die Notwendigkeit von Terrassen verhinderten die rentable Bewirtschaftung durch landwirtschaftliche Großbetriebe.<br />
<br />
Der Fokus der Produktionsweise in der bäuerlichen Landwirtschaft lag auf der Selbstversorgung. Zudem waren als Arbeitskräfte meist nur Familienmitglieder verfügbar. Diese zwei Faktoren führten dazu, dass die Wirtschaftsleistung in diesem Bereich stagnierte. Die Bauern schränkten ihre Ansprüche so weit wie möglich ein, um ihre freie Existenz zu sichern. Denn hätten sie ihr Land nicht mehr halten können, wären sie vermutlich zum Lohnarbeiter bzw. Söldner geworden.<ref>{{Literatur |Autor=Gert Audring |Titel=Grenzen der Konzentration von Grundeigentum in Attika während des 4. Jh. v. u. Z. |Sammelwerk=Klio |Band=56 |Nummer=2 |Verlag=Akademie-Verlag |Ort=Berlin |Datum=1974 |ISSN=0075-6334 |Seiten=445–448}}</ref><br />
<br />
Die Entstehung der Pflanzenart [[Crocus sativus]], aus dem [[Safran]], das teuerste Gewürz der Welt gewonnen wird, kann durch pflanzengenetische Untersuchungen in Attika lokalisiert werden.<ref>Zahra Nematia, Dörte Harpkea, Almila Gemicioglu, Helmut Kerndorff, Frank R.Blattner: ''Saffron (Crocus sativus) is an autotriploid that evolved in Attica (Greece) from wild Crocus cartwrightianus.'' In: ''Molecular Phylogenetics and Evolution.'' Band 136, 2019, S. 14–20, [[doi:10.1016/j.ympev.2019.03.022]].</ref><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Geschichte Athens]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Ancient Attica}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=g|GND=4003455-0}}<br />
[[Kategorie:Historische Landschaft oder Region in Europa]]<br />
[[Kategorie:Landschaft in Griechenland]]<br />
[[Kategorie:Halbinsel (Griechenland)]]<br />
[[Kategorie:Halbinsel (Europa)]]<br />
[[Kategorie:Halbinsel (Mittelmeer)]]<br />
[[Kategorie:Attika]]<br />
[[Kategorie:Territorium (Antikes Griechenland)]]<br />
[[Kategorie:Geographisches Objekt als Namensgeber für einen Asteroiden]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%B3zsef_K%C3%BCrsch%C3%A1k&diff=214940135József Kürschák2021-08-21T14:36:12Z<p>Udo.bellack: /* Leben und Wirken */ Einheitskreis statt -sphäre</p>
<hr />
<div>'''József Kürschák''' (* [[14. März]] [[1864]] in [[Budapest]]; † [[26. März]] [[1933]] ebenda) war ein ungarischer [[Mathematiker]].<br />
<br />
== Leben und Wirken ==<br />
József Kürschák studierte 1881 bis 1886 an der [[Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest|Technischen Hochschule Budapest]] und wurde Lehrer für Mathematik und Physik. Zwei Jahre unterrichtete er in einem Ort in der Slowakei. Danach ging er wieder an die Technische Hochschule, wo er 1890 promoviert wurde und ab 1891 dem Lehrkörper angehörte. 1900 wurde er dort Professor. Er war einer der Begründer des speziellen, an Problemen orientierten und auf Wettkampf unter den Studenten und Schülern Wert legenden ungarischen Unterrichtsstils.<br />
<br />
Er begründete 1912 auf dem [[Internationaler Mathematikerkongress|Internationalen Mathematikerkongress]] in Cambridge mit seinem Vortrag (und seinem Aufsatz im [[Journal für die reine und angewandte Mathematik]] 1913) die [[Bewertungstheorie]] der [[Körper (Algebra)|Körper]], wobei das Wort „Bewertung“ auch von Kürschák eingeführt wurde. Kürschák bewies darin, dass jeder bewertete Körper <math>K</math> eine Erweiterung <math>L</math> besitzt, die algebraisch abgeschlossen und vollständig ist. Seine Motivation kam von [[Kurt Hensel]] und seinen [[p-adische Zahlen|<math>p</math>-adischen Zahlen]], die Kürschák auf eine gesicherte Grundlage stellen wollte.<br />
<br />
1898 gab er einen rein geometrischen Beweis, dass die Fläche eines in den Einheitskreis eingeschriebenen [[Zwölfeck]]s gleich drei ist<ref>Alexanderson, Seydel: ''Kürschak's Tile.'' Mathematical Gazette Bd. 62, 1978, S. 192.</ref><ref>https://mathworld.wolfram.com/KurschaksTile.html</ref>. Kürschák untersuchte auch die partiellen Differentialgleichungen der [[Variationsrechnung]].<br />
<br />
Zu seinen Studenten zählen [[John von Neumann]], [[Rózsa Péter]] und [[Dénes König]].<br />
<br />
1897 wurde er in die [[Ungarische Akademie der Wissenschaften]] aufgenommen.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
*{{MacTutor Biography|id=Kurschak}}<br />
*Kürschák: [http://gdz.sub.uni-goettingen.de/no_cache/dms/load/img/?IDDOC=255730 ''Über Limesbildung und allgemeine Körpertheorie.''] Journal für Reine und Angewandte Mathematik, Bd. 142, 1913.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=1017766142|LCCN=n/84/805405|VIAF=54226375}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Kurschak, Jozsef}}<br />
[[Kategorie:Mathematiker (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Ungar]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1864]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 1933]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Kürschák, József<br />
|ALTERNATIVNAMEN=Kürschak, Josef<br />
|KURZBESCHREIBUNG=ungarischer Mathematiker<br />
|GEBURTSDATUM=14. März 1864<br />
|GEBURTSORT=[[Budapest]]<br />
|STERBEDATUM=26. März 1933<br />
|STERBEORT=[[Budapest]]<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%B3zsef_K%C3%BCrsch%C3%A1k&diff=214940115József Kürschák2021-08-21T14:35:08Z<p>Udo.bellack: /* Leben und Wirken */ Zwölfeck statt Dodekaeder, d.h. Dimension 2 statt 3</p>
<hr />
<div>'''József Kürschák''' (* [[14. März]] [[1864]] in [[Budapest]]; † [[26. März]] [[1933]] ebenda) war ein ungarischer [[Mathematiker]].<br />
<br />
== Leben und Wirken ==<br />
József Kürschák studierte 1881 bis 1886 an der [[Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest|Technischen Hochschule Budapest]] und wurde Lehrer für Mathematik und Physik. Zwei Jahre unterrichtete er in einem Ort in der Slowakei. Danach ging er wieder an die Technische Hochschule, wo er 1890 promoviert wurde und ab 1891 dem Lehrkörper angehörte. 1900 wurde er dort Professor. Er war einer der Begründer des speziellen, an Problemen orientierten und auf Wettkampf unter den Studenten und Schülern Wert legenden ungarischen Unterrichtsstils.<br />
<br />
Er begründete 1912 auf dem [[Internationaler Mathematikerkongress|Internationalen Mathematikerkongress]] in Cambridge mit seinem Vortrag (und seinem Aufsatz im [[Journal für die reine und angewandte Mathematik]] 1913) die [[Bewertungstheorie]] der [[Körper (Algebra)|Körper]], wobei das Wort „Bewertung“ auch von Kürschák eingeführt wurde. Kürschák bewies darin, dass jeder bewertete Körper <math>K</math> eine Erweiterung <math>L</math> besitzt, die algebraisch abgeschlossen und vollständig ist. Seine Motivation kam von [[Kurt Hensel]] und seinen [[p-adische Zahlen|<math>p</math>-adischen Zahlen]], die Kürschák auf eine gesicherte Grundlage stellen wollte.<br />
<br />
1898 gab er einen rein geometrischen Beweis, dass die Fläche eines in eine Einheitssphäre eingeschriebenen [[Zwölfeck]]s gleich drei ist<ref>Alexanderson, Seydel: ''Kürschak's Tile.'' Mathematical Gazette Bd. 62, 1978, S. 192.</ref><ref>https://mathworld.wolfram.com/KurschaksTile.html</ref>. Kürschák untersuchte auch die partiellen Differentialgleichungen der [[Variationsrechnung]].<br />
<br />
Zu seinen Studenten zählen [[John von Neumann]], [[Rózsa Péter]] und [[Dénes König]].<br />
<br />
1897 wurde er in die [[Ungarische Akademie der Wissenschaften]] aufgenommen.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
*{{MacTutor Biography|id=Kurschak}}<br />
*Kürschák: [http://gdz.sub.uni-goettingen.de/no_cache/dms/load/img/?IDDOC=255730 ''Über Limesbildung und allgemeine Körpertheorie.''] Journal für Reine und Angewandte Mathematik, Bd. 142, 1913.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=1017766142|LCCN=n/84/805405|VIAF=54226375}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Kurschak, Jozsef}}<br />
[[Kategorie:Mathematiker (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Ungar]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1864]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 1933]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Kürschák, József<br />
|ALTERNATIVNAMEN=Kürschak, Josef<br />
|KURZBESCHREIBUNG=ungarischer Mathematiker<br />
|GEBURTSDATUM=14. März 1864<br />
|GEBURTSORT=[[Budapest]]<br />
|STERBEDATUM=26. März 1933<br />
|STERBEORT=[[Budapest]]<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Trygve_Nagell&diff=214938522Trygve Nagell2021-08-21T13:13:35Z<p>Udo.bellack: /* Biografie */ fixed typo: Punkte</p>
<hr />
<div>[[Datei:TrygveNagellOB.F06294c.jpg|mini|hochkant|Trygve in dem 1930er Jahren]]<br />
'''Trygve Nagell''' (zuerst hieß er Nagel) (* [[13. Juli]] [[1895]] in [[Oslo]]; † [[24. Januar]] [[1988]] in [[Uppsala]]) war ein norwegischer Mathematiker, der sich mit Zahlentheorie beschäftigte.<br />
==Biografie==<br />
Nagell studierte an der Universität Oslo bei [[Axel Thue]]. Danach besuchte er zahlreiche europäische Universitäten (u.&nbsp;a. Hamburg, Göttingen, Berlin, Straßburg, Paris, Bologna, St. Petersburg). 1931 wurde er Professor an der [[Universität Uppsala]], wo er bis zu seiner Emeritierung 1962 blieb. Auch danach wohnte er in Uppsala.<br />
<br />
Während des Zweiten Weltkriegs betreute er das norwegische Gymnasium in Uppsala. 1951 erhielt er den norwegischen [[Sankt-Olav-Orden|St. Olafs-Orden]] (Komtur) und 1939 wurde er Ritter des schwedischen [[Nordstern-Orden]]s. 1947 erhielt er das [[Freiheitskreuz Haakon VII.]] Er war seit 1925 Mitglied der [[Norwegische Akademie der Wissenschaften|Norwegischen Akademie der Wissenschaften]], seit 1952 der [[Kongelige Norske Videnskabers Selskab]] und seit 1943 der [[Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften|Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften]]. Die Universität Uppsala zeichnete ihn 1956 mit der [[Ehrendoktor]]würde aus.<br />
<br />
Nagell beschäftigte sich mit [[Diophantische Gleichung|diophantische Gleichungen]] (Lösungen von Polynomen in ganzen Zahlen). Speziell befasste er sich mit [[Elliptische Kurve|elliptischen Kurven]] über den [[Rationale Zahl|rationalen Zahlen]] ([[Algebraische Kurve|Kurven]] vom [[Geschlecht (Fläche)|Geschlecht]] 1). Bekannt ist er für den [[Satz von Nagell-Lutz|Satz von Lutz und Nagell]], der eine Berechnung der [[Torsion (Algebra)|Torsionspunkte]]<ref>den Punkten endlicher Ordnung bezüglich der besonderen Addition rationaler Punkte auf diesen Kurven, siehe [[Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer]]</ref> elliptischer Kurven über den rationalen Zahlen erlaubt<ref>Nagell: ''Solutions de quelques problèmes dans la théorie arithmétique des cubiques planes du premier genre.'' Wissenschaftliche Schriften der Osloer Akademie 1935, Nr. 1. Unabhängig von der Französin [[Élisabeth Lutz]] bewiesen in Crelles Journal 1937.</ref>. Er untersuchte auch die möglichen Torsionsgruppen. Hier wurde er allerdings durch die Resultate von [[Barry Mazur]] 1977 überholt. <br />
<br />
Er war zweimal verheiratet und hatte zwei Kinder aus erster Ehe.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Ramanujan-Nagell-Gleichung]]<br />
<br />
== Schriften ==<br />
*''Introduction to Number Theory'', Wiley 1951, 2. Auflage Chelsea 1981.<br />
*''L'analyse indéterminée de degré supérieur'', Gauthier-Villars, Paris 1929<br />
*''Collected Papers.'', Queen´s University, Queen's papers in pure and applied mathematics, 4 Bände, 2002 (Herausgeber [[Paulo Ribenboim]]).<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
*[http://www.numbertheory.org/obituaries/AA/nagell/ Nachruf in den Acta Arithmetica von J. W. S. Cassels]<br />
*[https://planetmath.org/nagelllutztheorem Satz von Lutz und Nagell]<br />
* [http://nbl.snl.no/Trygve_Nagell/utdypning Artikel] im [[Norsk biografisk leksikon]]<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=117716596|LCCN=n/84/804381|VIAF=59868704}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Nagell, Trygve}}<br />
[[Kategorie:Mathematiker (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Hochschullehrer (Universität Uppsala)]]<br />
[[Kategorie:Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften]]<br />
[[Kategorie:Mitglied der Kongelige Norske Videnskabers Selskab]]<br />
[[Kategorie:Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften]]<br />
[[Kategorie:Ehrendoktor der Universität Uppsala]]<br />
[[Kategorie:Träger des Sankt-Olav-Ordens (Komtur)]]<br />
[[Kategorie:Träger des Nordstern-Ordens (Ritter)]]<br />
[[Kategorie:Norweger]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1895]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 1988]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Nagell, Trygve<br />
|ALTERNATIVNAMEN=<br />
|KURZBESCHREIBUNG=norwegischer Mathematiker<br />
|GEBURTSDATUM=13. Juli 1895<br />
|GEBURTSORT=[[Oslo]]<br />
|STERBEDATUM=24. Januar 1988<br />
|STERBEORT=[[Uppsala]]<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Magdalenenhochwasser_1342&diff=213992895Magdalenenhochwasser 13422021-07-18T16:02:26Z<p>Udo.bellack: /* Verlauf */ link to Abflussganglinie</p>
<hr />
<div>[[Datei:Münden Hochwasserstände Packhof.jpg|mini|Hochwassermarken am [[Packhof (Münden)|Packhof]] zu den [[Hochwasser in Hann. Münden|Hochwassern in Hann. Münden]] am Zusammenfluss von [[Werra]] und [[Fulda (Fluss)|Fulda]] zur [[Weser]]. Die oberste Markierung zum 24. Juli 1342 ist der Pegelstand des Magdalenenhochwassers.]]<br />
Das '''Magdalenenhochwasser''' von '''1342''' war eine verheerende [[Überschwemmung]]skatastrophe, die im Juli [[1342]] das Umland zahlreicher Flüsse [[Mitteleuropa]]s heimsuchte. Die Bezeichnung geht auf die damals übliche Benennung der Tage nach dem [[Heiligenkalender]] zurück, hier auf den [[Maria Magdalena#Verehrung|St.-Magdalenentag]] am [[Heiligenkalender#Juli|22.&nbsp;Juli]]. Bei diesem Ereignis wurden an vielen Flüssen die höchsten jemals registrierten Wasserstände erreicht. Möglicherweise handelte es sich um das schlimmste Hochwasser des gesamten 2. Jahrtausends im mitteleuropäischen Binnenland.<ref>{{Internetquelle | url=http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2013-06/hochwasser-magdalenenflut/komplettansicht | titel=Mittelalter: Deutschlands Jahrtausendflut | autor=Daniel Lingenhöhl | hrsg=[[Die Zeit]] | datum=2013-06-17| zugriff=2015-02-21}}<br />{{Literatur | Autor = [[Hans-Rudolf Bork]] u.&nbsp;a. | Hrsg = Hans-Rudolf Bork | Titel = Spuren des tausendjährigen Niederschlags von 1342 – Landschaften der Erde unter dem Einfluss des Menschen | Verlag = Wissenschaftliche Buchgesellschaft | Ort =Darmstadt|Datum=2006| Seiten = 115–120 | ISBN = 978-3-534-17514-7}}</ref><br />
<br />
== Ursachen ==<br />
Wie bei anderen extremen [[Hochwasser]]ereignissen, beispielsweise dem [[Oderhochwasser 1997]], dem [[Elbehochwasser 2002]] oder dem [[Hochwasser in Mitteleuropa 2013]], wurde die Flut vermutlich durch eine [[Mittelmeertief|Vb-Wetterlage]] ausgelöst.<ref name="Brock, Piorr">{{Literatur | Autor = Hans-Rudolf Bork, Hans-Peter Piorr | Hrsg = Karl-Heinz Erdmann, Thomas J. Mager | Titel = Integrierte Konzepte zum Schutz und zur dauerhaft-naturverträglichen Entwicklung mitteleuropäischer Landschaften – Chancen und Risiken, dargestellt am Beispiel des Boden- und Gewässerschutzes | Sammelwerk = Innovative Ansätze zum Schutz der Natur: Visionen für die Zukunft | Verlag = Springer |Datum=2000| Seiten= 69–74, hier 71+72 | ISBN = 978-3-540-66667-7| Online = {{Google Buch |BuchID=BHnmKbedEWAC |Seite=71 }} | Abruf =2011-02-15}}</ref> Nach einem kalten, schneereichen Winter hatte die Schneeschmelze im Februar bereits ein erstes Hochwasser bewirkt, das in [[Prag]] unter anderem die [[Judithbrücke]], die Vorläuferin der [[Karlsbrücke]], zerstört hatte. Nach einem feuchten Frühsommer, der für konstant hohe Pegelstände der Flüsse sorgte, ließ dann eine Hitzewelle im Juli die Böden [[Bodenfeuchte|austrocknen]], so dass sie kaum Wasser [[Infiltration (Hydrogeologie)|aufnehmen]] konnten. Dann zog etwa vom 19. bis zum 22. Juli ein Regengebiet vom Südosten kommend in nordwestlicher Richtung über Deutschland hinweg, das weiten Gebieten große Niederschlagsmengen brachte. Im Einzugsgebiet des [[Main]]s traten hierbei [[Niederschlagsmenge]]n von durchschnittlich mindestens 175&nbsp;mm, verteilt über vier Tage, auf.<br />
<br />
== Verlauf ==<br />
Für das [[Rhein-Main-Gebiet]] ist der Verlauf des Hochwassers aus zeitgenössischen Quellen sowie aus heutigen Modellrechnungen erschließbar.<ref>{{Literatur |Autor=Gerd Tetzlaff, Michael Börngen, Manfred Mudelsee |Titel=Das Jahrtausendhochwasser von 1342 am Main aus meteorologisch-hydrologischer Sicht. |Sammelwerk=Wasser und Boden. |Datum=2002 |Seiten=0043–0951 |Online=https://www.worldcat.org/title/jahrtausendhochwasser-von-1342-am-main-aus-meteorologisch-hydrologischer-sicht/oclc/1075390088&referer=brief_results |Abruf=2019-09-01}}</ref> Aus dem für [[Frankfurt am Main|Frankfurt]] überlieferten Pegelstand von 7,85 Meter<ref>Laut der Markierung am alten [[Fahrtor]] betrug der Wasserstand „25 Fuß rheinisch“. Eine entsprechende [[Hochwassermarke]] ist heute am [[Eiserner Steg (Frankfurt am Main)|Eisernen Steg]] zu sehen. Nach einer lateinischen Inschrift in der im Zweiten Weltkrieg zerstörten [[Weißfrauenkirche]] stand das Wasser dort „sieben Schuh“ hoch, das entspricht etwa zwei Metern.</ref> lässt sich beispielsweise für den Main ein Höchstabfluss von 3700&nbsp;m³/s bis 4000&nbsp;m³/s errechnen. Das ist fast doppelt so viel wie beim Hochwasser vom Januar 1995. Der [[Abflussganglinie|Hochwasserscheitel]] dauerte in Frankfurt etwa drei bis vier Tage. Modellrechnungen zufolge erreichte der Abfluss erst nach etwa vier Wochen wieder normale Werte.<br />
<br />
Für [[Würzburg]] wurde ein Abfluss von 3000 bis 3600&nbsp;m³/s errechnet, wobei die Auswirkungen des Einstaus durch die eingestürzte Brücke schwer abzuschätzen sind.<ref name="UmweltamtWZ" /><ref>{{Literatur | Autor = Wilhelm Handke, Johann Kendziora, Jürgen Beckmann | Titel= 175 Jahre Pegel Würzburg | Verlag = Wasser und Schifffahrtsdirektion Süd | Ort = Würzburg|Datum=1999| Online = [http://stabikat.de//DB=1/LNG=DU/CLK?IKT=12&TRM=320350622 Nachweis]}}</ref> Die Höhe der Flut wurde mangels Hochwassermarken durch historische Beschreibungen ({{"|In der Stadt Würzburg trat der Strom bis an die erste steinerne Säule an den Domgreden}}) ermittelt.<br />
<br />
Fast alle großen Hochwasser an den Flüssen Rhein, Main und Donau treten im Winterhalbjahr zwischen 1.&nbsp;November und 30.&nbsp;April auf, wenn durch Schneeschmelze und Bodenversiegelung durch Frost die zu bewältigenden Abflussmengen noch verschärft werden. Das Magdalenenhochwasser ist auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme, die Häufigkeit eines derartigen Ereignisses kann man mit statistischen Methoden nicht mehr erfassen. Die Abflussmaxima entsprechen etwa einem statistischen [[Jährlichkeit|Wiederkehrwert]] von 10.000 Jahren (HQ<sub>10&thinsp;000</sub>).<br />
<br />
== Auswirkungen ==<br />
Betroffen waren unter anderem [[Rhein]], Main, [[Donau]], [[Mosel]], [[Moldau (Fluss)|Moldau]], [[Elbe]], [[Weser]], [[Werra]] und [[Unstrut]]. Allein in der Donauregion starben über 6000 Menschen.<ref name="nzz">[https://www.nzz.ch/articleD31CG-1.165721 ''Das verflixte „Genua-Tief“''.] [[Neue Zürcher Zeitung]], 25. August 2005</ref> Das Hochwasser wird in den [[Chronik]]en zahlreicher Städte erwähnt, so in Würzburg, Frankfurt am Main, [[Mainz]], [[Köln]], [[Regensburg]], [[Passau]] und [[Wien]]. Fast alle Brücken wurden damals zerstört, Flussläufe änderten sich. In [[Bamberg]] riss die [[Regnitz]] eine „Brücke mit Turm“ ein. Im [[Solling]] wurde das Dorf [[Wüstung Winnefeld|Winnefeld]] zerstört. Die Stadt [[Duisburg]] entwickelte sich aufgrund der durch das Hochwasser hervorgerufenen Verlandung des [[Altrheinarm]]s von einer blühenden Handelsstadt zu einer unscheinbaren [[Ackerbürgerstadt]]. Die topographischen Konsequenzen des Hochwassers können heute noch nachgewiesen werden. Die Masse des erodierten Bodenmaterials betrug ca. 13 Milliarden Tonnen.<ref name="Brock, Piorr" /> Das entspricht etwa der Menge, die bei normalen Wetterbedingungen in 2000 Jahren verloren geht.<ref name="nzz" /><br />
<br />
In den Jahren nach dem Magdalenenhochwasser folgten kalte und nasse Sommer, die in Verbindung mit dem erodierten Boden zu [[Ernte]]einbußen führten. In deren Folge kam es zu massiven [[Hungersnot|Hungersnöten]], welche die Auswirkungen der in den Jahren 1346 bis 1353 grassierenden großen europäischen [[Schwarzer Tod|Pestepidemie]] zusätzlich verschlimmerten.<ref>{{Literatur | Autor = Jürg Luterbacher | Hrsg = Armine Wehdorn | Titel = Flutkatastrophen in Zentraleuropa – erlebte Geschichte und Szenarien für die Zukunft | Sammelwerk = Bedrohte Museen: Naturkatastrophen – Diebstahl – Terror: Bodenseesymposium in Bregenz, 19. – 21.5.2003, internationales Symposium der ICOM-Nationalkomitees von Österreich, Deutschland, Schweiz | Verlag = ICOM-Österreich | Ort = Wien | Datum = 2004 | Seiten = 10–15, insbesondere 13–14 | ISBN = 978-3-9501882-0-2 | Online = {{Webarchiv | url=http://www.giub.unibe.ch/klimet/docs/climdyn_2004_luterbacher.pdf | wayback=20121214233057 | text=PDF, 425 kB}} | Abruf = 2011-02-15 }} {{Webarchiv|url=http://www.giub.unibe.ch/klimet/docs/climdyn_2004_luterbacher.pdf |wayback=20110304154718 |text=Flutkatastrophen in Zentraleuropa – erlebte Geschichte und Szenarien für die Zukunft |archiv-bot=2019-04-29 02:02:51 InternetArchiveBot }}</ref> Auch außerhalb der Regionen, in denen Hochwasser nachweisbar ist, ergeben sich Hinweise auf Starkregen und [[Bodenerosion]], so am mittleren [[Neckar]].<ref>Rainer Schreg: [http://www.archaeologik.blogspot.de/2013/01/bodenerosion-1342-ein-rechtsstreit-in.html ''Bodenerosion 1342 – ein Rechtsstreit in Esslingen''.] Archaeologik, 19. Januar 2013, abgerufen am 22. Juli 2017.</ref><br />
<br />
=== Aus den Chroniken ===<br />
{{Zitat|Am dritten Tag vor Maria Magdalena biß auf ihren tag ist der Meyn so groß gewesen, daß das waßer ganz und gar umb Sachsenhausen ist gangen und zu Frankfurt in alle kirchen und gaßen|Frankfurt am Main}}<br />
<br />
{{Zitat|[wo im Dom] das Wasser einem Mann bis zum Gürtel stand|Mainz}}<br />
<br />
{{Zitat|In diesem Sommer war eine so große Überschwemmung der Gewässer durch den ganzen Erdkreis unserer Zone, die nicht durch Regengüsse entstand, sondern es schien, als ob das Wasser von überall her hervorsprudelte, sogar aus den Gipfeln der Berge […], und über die Mauern der Stadt Köln fuhr man mit Kähnen […], Donau, Rhein und Main trugen Türme, sehr feste Stadtmauern, Brücken, Häuser und die Bollwerke der Städte davon, und die Schleusen des Himmels waren offen, und es fiel Regen auf die Erde wie im 600. Jahre von Noahs Leben […], ereignete es sich in Würzburg, daß dort der Main mit Gewalt die Brücke zertrümmerte und viele Menschen zwang, ihre Behausungen zu verlassen.|[[Curt Weikinn]]}}<br />
<br />
{{Zitat|Am Maria Magdalenatag und am folgenden Tag fiel ein außerordentlicher Wolkenbruch, welcher den Mainstrom so sehr anschwellte, daß der selbe allenthalben weit aus seinem Bette trat, Äcker und Weingärten zerstörte und viele Häuser samt Bewohner fortriß. Auch die Brücke in Würzburg sowie die Brücken anderer Mainstädte wurden durch die Wuth des Gewässers zertrümmert. In der Stadt Würzburg trat der Strom bis an die erste steinerne Säule an den Domgreden.|zitiert für Würzburg<ref name="UmweltamtWZ">{{Internetquelle| url=http://www.wuerzburg.de/storage/med/umweltamt/263_1342_A3G.pdf | titel=Das Hochwasser von 1342 | hrsg=Umweltamt Würzburg | datum=2004-05-17 | zugriff=2017-07-22 | archiv-url=https://web.archive.org/web/20060114102044/http://www.wuerzburg.de/storage/med/umweltamt/263_1342_A3G.pdf | archiv-datum=2006-01-14 | format=PDF, 147 kB}}</ref>}}<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Liste von Wetterereignissen in Europa]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* {{Literatur | Autor = Maike Gauger | Hrsg = Bernd Herrmann, Ulrike Kruse | Titel = Hochwasser und ihre Folgen am Beispiel der Magdalenenflut 1342 in Hann. Münden | Sammelwerk = Schauplätze und Themen der Umweltgeschichte: Umwelthistorische Miszellen aus dem Graduiertenkolleg Werkstattbericht | Verlag = Universitätsverlag | Ort =Göttingen|Datum=2010| Seiten = 95–106 | ISBN = 978-3-941875-63-0 | Online = [http://webdoc.sub.gwdg.de/univerlag/2010/schauplaetze4.pdf PDF, 7,9 MB] | Abruf =2011-02-15}}<br />
* {{Literatur | Autor = [[Hans-Rudolf Bork]] u.&nbsp;a. | Titel = Spuren des tausendjährigen Niederschlags von 1342 | Sammelwerk = Landschaften der Erde unter dem Einfluss des Menschen | Verlag = Primus | Ort =Darmstadt|Datum=2006| Seiten = 115–120 | ISBN = 978-3-89678-584-8 | Kommentar = Archäologische Nachweise zu den Auswirkungen des Magdalenenhochwassers}}<br />
* {{Literatur | Autor = [[Curt Weikinn]] | Titel = Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahr 1850. Hydrographie Teil 1 (Zeitwende-1500) | Verlag = Akademie Verlag | Ort =Berlin|Datum=1958}}<br />
* {{Literatur | Autor = [[Rüdiger Glaser]] | Titel = Klimageschichte Mitteleuropas: 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen | Verlag = Primus |Datum=2001| ISBN = 3-89678-405-6}}<br />
* {{Literatur | Autor = Hans-Rudolf Bork, Hans-Peter Piorr | Hrsg = Karl-Heinz Erdmann, Thomas J. Mager | Titel = Integrierte Konzepte zum Schutz und zur dauerhaft-naturverträglichen Entwicklung mitteleuropäischer Landschaften – Chancen und Risiken, dargestellt am Beispiel des Boden- und Gewässerschutzes | Sammelwerk = Innovative Ansätze zum Schutz der Natur: Visionen für die Zukunft | Verlag = Springer |Datum=2000| Seiten=69–74 | ISBN = 978-3-540-66667-7 | Online = {{Google Buch |BuchID=BHnmKbedEWAC |Seite=69}} | Abruf =2011-02-15}}<br />
* Martin Bauch: ''Die Magdalenenflut 1342 – ein unterschätztes Jahrtausendereignis?'' In: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 4. Februar 2014, [https://mittelalter.hypotheses.org/ online] (ISSN 2197-6120).<br />
* Peter Schneider: ''Das Magdalenenhochwasser von 1342''. In: ''Die wackere Gemeinde Schameder'', Erndtebrück-Schameder 2020, ISBN 978-3.948496-88-1, S. 20–23.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* {{Internetquelle| url=http://www.wuerzburg.de/storage/med/umweltamt/263_1342_A3G.pdf | titel=Das Hochwasser von 1342 | hrsg=Umweltamt Würzburg | datum=2004-05-17 | zugriff=2017-07-22 | archiv-url=https://web.archive.org/web/20060114102044/http://www.wuerzburg.de/storage/med/umweltamt/263_1342_A3G.pdf | archiv-datum=2006-01-14 | format=PDF, 147 kB}}<br />
* {{Internetquelle | url=http://www.webcitation.org/6fdK67NK6 | titel=Historische Hochwasserereignisse | hrsg=[[Bayerisches Landesamt für Umwelt]] | datum=2016 | zugriff=2017-07-22 | archiv-url=http://www.webcitation.org/6fdK67NK6?url=http://www.webcitation.org/6fdK67NK6 | archiv-datum=2016-02-28}}<br />
* {{Internetquelle | url=http://undine.bafg.de/servlet/is/20704/ | titel=Das Magdalenenhochwasser im Sommer 1342 im Rheingebiet | hrsg=Informationsplattform Undine | datum=2015 | zugriff=2017-07-22 | archiv-url=https://web.archive.org/web/20150708072633/http://undine.bafg.de/servlet/is/20704/ | archiv-datum=2015-07-08}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Hochwasserereignis]]<br />
[[Kategorie:Mittelalter]]<br />
[[Kategorie:Naturkatastrophe 1342]]<br />
[[Kategorie:Hochwasserereignis (Rhein)]]<br />
[[Kategorie:Hochwasserereignis (Elbe)]]<br />
[[Kategorie:Hochwasserereignis (Donau)]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Andy_Hug&diff=213407061Andy Hug2021-06-29T13:46:28Z<p>Udo.bellack: /* Leben */ link auf Seido hinzugefügt</p>
<hr />
<div><!--schweizbezogen--><br />
{{Infobox Boxer<br />
|name= Andreas Hug<br />
|bild= RIP Andy Hug ..jpg|150px<br />
|realname= Andreas Hug<br />
|ringname= Iron Man (Tetsujin)<br />
|gewicht= Schwergewicht<br />
|größe= 1,80 m<br />
|nationalität= [[Schweiz]]er<br />
|geburtstag= [[7. September]] [[1964]]<br />
|geburtsort= [[Zürich]], [[Schweiz]]<br />
|todestag= [[24. August]] [[2000]]<br />
|todesort= [[Tokio]], [[Japan]]<br />
|stil= [[Karate]]<br />
|kämpfe= 47<br />
|siege= 37<br />
|KO= 22<br />
|niederlagen= 9<br />
|unentschieden= 1<br />
}}<br />
<br />
'''Andreas «Andy» Hug''' (* [[7. September]] [[1964]] in [[Zürich]]<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n46-sD.html |wayback=20150709022710 |text=aus der offiziellen Website }}</ref>; † [[24. August]] [[2000]] in [[Tokio]]) war ein [[Schweiz]]er [[Kampfsport]]ler und Gewinner mehrerer Europa- und Weltmeisterschaften im [[Kickboxen]], [[Muay Thai|Thaiboxen]], [[Kyokushinkai]] und [[K-1]].<br />
<br />
Das K-1 in Zürich gewann Hug mehrmals, ausserdem gewann er 1996 das grosse „K-1 World Grand Prix Finale“ in Tokio.<br />
<br />
== Leben ==<br />
Andy Hug wurde in Zürich geboren und wuchs zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester bei seinen Grosseltern in [[Wohlen]] auf. Seinen Vater, einen [[Légion étrangère|Fremdenlegionär]] im Dienste [[Frankreich]]s, hat er nie gesehen, er starb unter mysteriösen Umständen in [[Thailand]]. Hugs Mutter musste arbeiten und gab die Kinder bei ihren Eltern im [[Aargau]] ab, wo Andy in einfachen Verhältnissen aufwuchs.<ref name="Tages-Anzeiger">[https://web.archive.org/web/20100824062914/http://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Der-Tag-an-dem-der-Aargauer-Samurai-starb/story/17580995 ''Der Tag, an dem der Aargauer Samurai starb.''] Tages-Anzeiger, 21. August 2010 (Archiv)</ref> Andys Grossvater war Maurer und starb noch während der Schulzeit des Jungen.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n46-sD.html |wayback=20150709022710 |text=Biografie – Kindheit }}</ref><br />
<br />
Als Sechsjähriger fing er mit Fussballspielen an und wurde später sogar in die Schweizer U-16-Auswahl aufgenommen. Mit elf Jahren entdeckte er Karate als Kampfsport. 1978 war er bereits Schweizermeister seiner Kategorie und hatte zahlreiche Turniere gewonnen. Aus finanziellen Gründen musste er sich zwischen Fussball und Karate entscheiden und kam mit 16 Jahren in die Nationalmannschaft des Vollkontakt-Karate. 1981 gründete er einen eigenen Karate-Club in [[Bremgarten AG|Bremgarten]].<ref name="Tages-Anzeiger" /> <br />
<br />
Gegen Ende seiner Schulzeit trieb sich Andy regelmässig mit Jugendbanden herum, konzentrierte sich jedoch gleichzeitig auf den Kampfsport.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n47-sD.html |wayback=20160301084029 |text=Biografie – Jugend }}</ref> Er machte eine Lehre als [[Fleischer|Metzger]] und arbeitete in einer Schlächterei in Wohlen. Nach zwei Jahren erhielt er die Kündigung, weil seine Arbeit mit seinen intensiven sportlichen Verpflichtungen und den damit verbundenen gelegentlichen Verletzungen nicht mehr vereinbar war.<ref name="Karate">{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n48-sD.html |wayback=20150709022526 |text=Biografie – Karate }}</ref><br />
<br />
Seinen ersten internationalen Erfolg verbuchte Andy 1981 an der niederländischen Meisterschaft in [[Alkmaar]] im [[Kyokushin Kaikan]]. 1983 belegte er am Europacup im ungarischen [[Budapest]] den ersten Rang.<ref name="Karate" /> 1984 nahm er erstmals an der Weltmeisterschaft in Tokio teil und gelangte bis zur vierten Runde, worauf er von Shokei Matsui geschlagen wurde. 1985 gewann er die dritte Europameisterschaft in [[Barcelona]], bestritt 1987 seine zweite Weltmeisterschaft in Tokio und schaffte es zur allgemeinen Überraschung als erster Nichtjapaner bis ins Finale, worauf er wiederum gegen Shokei Matsui verlor. Nachdem er 1989 nochmals eine Europameisterschaft gewonnen hatte, nahm er 1991 zum dritten und letzten Mal an der Weltmeisterschaft teil und verlor in der dritten Runde nach einem umstrittenen Entscheid gegen den Brasilianer Francisco Filho.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n50-sD.html |wayback=20150709022537 |text=Biografie – Niederlage }}</ref><br />
<br />
Mit seiner überragenden Beweglichkeit, seiner überraschenden Taktik, seiner körperlichen Stärke und seinem professionellen Auftreten gewann Hug in [[Japan]] eine zahlreiche Anhängerschaft. Mit seinem Wechsel von Kyokushin Kaikan zu [[Seido Karate|Seido Kaikan]] im Jahre 1992 vollendete Hug die Entwicklung zum professionellen Kämpfer und wurde in Japan zu einem Star.<br />
[[File:Andy hug.jpg|thumb|Andy Hug „K-1 World Grand Prix Finale 1996“ in Tokio]]<br />
Nach einem Sieg am Seido Kaikan-Weltcup 1992 und einer Silbermedaille im Folgejahr wechselte Hug zu [[K-1]], gewann im November 1993 in der ersten Runde durch [[Knockout (Sport)|Knockout]] und besiegte [[Branko Cikatić]], den Gewinner des ''K-1 Grand Prix '93'', im März 1994. Einen Monat später begann Hug den ''K-1 Grand Prix '94'' als Favorit, verlor jedoch gegen den Amerikaner Patrick Smith in der ersten Runde des Viertelfinales. Im Dezember 1994 siegte er jedoch an der Weltmeisterschaft der ''Universal Kickboxing Federation'' gegen Rob von Esdonk. In der Qualifikationsrunde für den ''K-1 Grand Prix '95'' unterlag er gegen den Südafrikaner Mike Bernardo, konnte sich aber im nächsten Jahr am ''K-1 Grand Prix '96'' revanchieren und errang im Finale gegen Bernardo einen spektakulären Sieg.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n54-sD.html |wayback=20150709022715 |text=Biografie – Champion }}</ref> Noch zweimal, 1997 und 1998, erreichte er das Finale der K-1-Weltmeisterschaft und wurde dreimal Weltmeister im [[Thaiboxen]] des Verbandes [[World Karate and Kickboxing Association|WKA]].<br />
<br />
Überraschend kam am 17. August 2000 die Nachricht, dass Andy Hug an [[Leukämie]] erkrankt sei. Nachdem er von seiner schweren Krankheit erfahren hatte, schrieb er seinen Fans den folgenden Brief:<br />
<br />
{{Zitat |Text= Ich glaube, ihr werdet schockiert sein, wenn ihr erfahrt, in welchem Gesundheitszustand ich mich befinde. Als der Arzt mich aufklärte, war es selbst für mich ein riesiger Schock. Doch will ich euch über meinen Gesundheitszustand informieren, damit ich zusammen mit euch gegen diese Krankheit kämpfen kann. Diese Krankheit ist der schwerste Gegner aller meiner Kämpfe. Aber ich werde siegen. Und wie im Ring werde ich Kraft schöpfen aus euren Anfeuerungsrufen und diesen starken Gegner besiegen. Leider werde ich am Turnier im Oktober nicht mitmachen können. Ich werde gegen diese Krankheit in Japan kämpfen und eines Tages wieder vor euch stehen. Halten wir durch!<br />
<br />
Gruss Andy Hug|ref=<ref>[http://www.cyranos.ch/hug-d.htm Andy Hug (1964–2000) Kickbox-Legende]</ref>}}<br />
<br />
Am 23. August fiel er ins [[Koma]] und verstarb am darauf folgenden Tag im Alter von 35 Jahren. An seinem Begräbnis in [[Kyōto]] am 27. August nahmen Hunderte von Personen teil, darunter weltberühmte japanische und ausländische K-1-Kämpfer sowie der Schweizer [[Bundespräsident (Schweiz)|Bundespräsident]] [[Adolf Ogi]].<br />
<br />
In Wohlen, wo er aufgewachsen war, wurde vier Jahre nach seinem Tod eine Gedenkstätte eingeweiht, die von seiner Frau Ilona gestaltet wurde. Ilona und Andy begegneten sich erstmals im Sommer 1987 und heirateten im August 1993 in [[Inwil]].<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n51-sD.html |wayback=20160215000823 |text=Biografie – Perspektiven }}</ref> Im November 1994 wurde der Sohn Seya in [[Luzern]] geboren.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.andyhug.com/content_detail-n53-sD.html |wayback=20160215080804 |text=Biografie – Familie }}</ref> Andy Hugs Leben wurde 1995 im Dokumentarfilm ''Andy Hug – Vom Rocky zum Samurai'' dokumentiert.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Ilona Hug, Erik Golowin: ''Andy Hug: Der Taifun und die Weisheit der Kampfkunst.'' Zytglogge, Bern 2002, ISBN 3-7296-0646-8.<br />
<br />
== Videos ==<br />
* [[Fritz Muri]]: ''[https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/andy-hug---vom-rocky-zum-samurai?id=5e45f044-be02-4a77-a05c-bc51b0899455 Andy Hug – Vom Rocky zum Samurai.]'' In: [[SRF 1]], 1995 (2020), 39 min.<br />
* [https://www.srf.ch/play/tv/sportlounge/video/andy-hug-vom-rocky-zum-samurai?id=508ac782-c8a2-4880-9848-3bfff3578d1b ''Zum 10. Todestag. Andy Hug: vom Rocky zum Samurai.]'' In: [[SRF 1]], 2010, 10 min.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Andy Hug|3=S}}<br />
* [http://www.andyhug.com Andy Hug – Offizielle Website]<br />
* [http://www.k-1sport.de/de/database/show_fighter.php?id=230 K-1sport.de – Komplettes Kämpferprofil von Andy Hug]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=124321380|VIAF=52619646}}<br />
<br />
{{DEFAULTSORT:Hug, Andy}}<br />
[[Kategorie:Thaiboxer (Japan)]]<br />
[[Kategorie:Thaiboxer (Schweiz)]]<br />
[[Kategorie:Kickboxer (Schweiz)]]<br />
[[Kategorie:Karateka (Schweiz)]]<br />
[[Kategorie:K-1-Kämpfer]]<br />
[[Kategorie:Weltmeister]]<br />
[[Kategorie:Europameister]]<br />
[[Kategorie:Weltmeister (Kickboxen)]]<br />
[[Kategorie:Schweizer]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1964]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 2000]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Hug, Andy<br />
|ALTERNATIVNAMEN=Hug, Andreas (wirklicher Name)<br />
|KURZBESCHREIBUNG=Schweizer Kampfsportler, Europa- und Weltmeister im Kickboxen, Thaiboxen und K-1<br />
|GEBURTSDATUM=7. September 1964<br />
|GEBURTSORT=[[Zürich]], Schweiz<br />
|STERBEDATUM=24. August 2000<br />
|STERBEORT=[[Tokio]], Japan<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Peter_Aerts&diff=213406879Peter Aerts2021-06-29T13:38:22Z<p>Udo.bellack: /* K-1-Karriere */ link auf Andy Hug hinzugefügt</p>
<hr />
<div>{{Infobox Boxer<br />
|name=Peter Aerts<br />
|bild=Peter-Aerts.jpg<br />
|bildunterschrift=<br />
|realname=Peter Aerts<br />
|ringname=The Dutch Lumberjack <!--Ist sein Spitzname gleich seinem Ringnamen? Wenn nicht, bitte löschen--><br />
|gewicht=[[Schwergewicht]]<br />
|nationalität=[[Niederlande|Niederländisch]]<br />
|geburtstag=[[25. Oktober]] [[1970]]<br />
|geburtsort=[[Eindhoven]]<br />
|todestag=<br />
|todesort=<br />
|stil=<br />
|größe=1,92 m<br />
|kämpfe=85<br />
|siege=62<br />
|KO=43<br />
|niederlagen=22<br />
|unentschieden=1<br />
|keine_wertung=<br />
|1=}}<br />
<br />
'''Peter Aerts''' (* [[25. Oktober]] [[1970]] in [[Eindhoven]]) ist ein ehemaliger [[Niederlande|niederländischer]] [[Kampfsport]]ler. Er ist 192&nbsp;cm groß und sein Wettkampfgewicht betrug 108&nbsp;kg. Sein Ringname lautete „The Dutch Lumberjack“ („der niederländische Holzfäller“). Dieser Spitzname wurde ihm aufgrund seiner sehr starken High-Kicks verliehen.<br />
<br />
== K-1-Karriere ==<br />
Peter Aerts gab sein [[K-1]]-Debüt am 3. April 1993 im Viertelfinale des ersten K-1 World Grand Prix Finalturniers gegen seinen niederländischen Landsmann und die heutige K-1-Legende [[Ernesto Hoost]], das er nach Punkten verlor. Dennoch konnte Aerts bereits ein Jahr später auf sich aufmerksam machen, als er das zweite Finalturnier der K-1-Historie gewinnen konnte. So schaltete er im Viertelfinale Rob Van Esdonk, im Halbfinale Patrick Smith und im Finale dann Masaaki Satake aus; die ersten beiden Kämpfe beendete er sogar vorzeitig durch [[Knockout (Sport)|Knockout]] (KO).<br />
<br />
Den Grundstein für eine erfolgreiche Karriere hatte Aerts gelegt und bestätigte das bereits im darauf folgenden Jahr, als er seinen K-1-Titel sogar verteidigen konnte:<br />
Im Viertelfinale knockte er Toshiyuki Atokawa bereits nach nur 62 Sekunden aus, im Halbfinale konnte er seinen Landsmann Hoost nach Punkten in der Extra-Runde bezwingen und im Finale gab es dann wieder einen frühen K.&nbsp;o., diesmal gegen den zu diesem Zeitpunkt jungen und aufstrebenden, aber ungestümen [[Jérôme Le Banner]], der bereits nach nur 97 Sekunden von einem harten Punch getroffen wurde; es war bereits Aerts neunter Sieg in Folge.<br />
<br />
Ohnehin konnte Aerts nach seiner K-1-Debüt-Niederlage 13 Kämpfe in Folge gewinnen, 10 davon sogar vorzeitig.<br />
Erst im Viertelfinale des K-1 World Grand Prix Finalturniers von 1996 verlor er wieder einen Kampf, als er das erste Mal in seiner Karriere selber ausgeknockt wurde:<br />
Mike Bernardo konnte ihm am 6. Mai 1996 einen K.&nbsp;o. in der dritten Runde zufügen.<br />
<br />
Gegen Bernardo hatte er auch seine zwei nächsten Kämpfe, verlor aber auch diese Auseinandersetzungen, wenngleich Aerts im K-1 Revenge Turnier von 1996 in der ersten Runde wegen eines Low-Kicks in die Leistengegend von Bernardo disqualifiziert worden war, weil Bernardo nicht weiterkämpfen konnte.<br />
Den dritten Kampf in Folge gegen Bernardo verlor er am 18. Oktober 1996 wieder durch einen K.&nbsp;o. in der dritten Runde; die dritte Niederlage binnen fünf Monaten.<br />
<br />
Aerts konnte sich dennoch sehr gut erholen, denn die nächsten fünf Kämpfe gewann er allesamt durch K.&nbsp;o., darunter gewann er gegen die starken Kämpfer [[Andy Hug]] und Le Banner sowie am 9. November 1997 im K-1-Viertelfinale dann wieder gegen Mike Bernardo, der in der ersten Runde nach nur 77 Sekunden von Aerts ausgeknockt werden konnte. Im Halbfinale wurde Aerts jedoch von Hug, den er acht Monate zuvor noch ausknocken konnte, nach Punkten besiegt.<br />
<br />
1998 gewann Aerts – überlegen – seinen dritten K-1 World Grand Prix Titel, seine Gegner schlug er diesmal alle in der ersten Runde k.o.:<br />
Im Viertelfinale Masaaki Satake, im Halbfinale traf er wieder auf Bernardo und im Finale schließlich auf [[Andy Hug]], der bereits nach 70 Sekunden von Aerts ausgeknockt werden konnte.<br />
1999 war hingegen bereits im Viertelfinale wieder Schluss, als Le Banner ihn nach nur 71 Sekunden ausknocken konnte; dem Franzosen gelang so die Revanche für die bittere Finalniederlage von 1995.<br />
<br />
Aerts konnte vom 27. September 1998 bis zum 5. Oktober 1999 wieder eine starke Siegesserie von 10 Siegen (9 K.o.s) in Folge aufstellen, bis ihn schließlich Le Banner im Viertelfinale stoppte.<br />
<br />
An diese [[Konstante (Logik)|Konstanz]] konnte Aerts aber nie wieder anknüpfen und so gewann er danach auch nie mehr als fünf Kämpfe in Folge.<br />
Dennoch gilt festzuhalten, dass Aerts der einzige Kämpfer war, der sich bis 2008 für alle Finalturniere qualifizieren konnte; diese Serie endete am 29. Juni 2009, als er seinen Elimination-Kampf – mit inzwischen 38 Jahren – gegen Alistair Overeem nach Punkten verlor.<br />
2006 und 2007 schaffte er es – auch auf Grund seiner immensen Kampf-Erfahrung – jedoch dennoch wieder ins K-1-Finale, verlor dort beide Male aber gegen seinen niederländischen Landsmann Semmy Schilt, der auf Grund seiner Größe von 2,12 Meter auch als „Hightower“ bekannt ist und auch der Erste war, der dieses wichtige Turnier drei Mal in Folge gewinnen konnte und so mit Aerts gleichzog:<br />
2005–2007.<br />
<br />
2007 verlief zudem sehr unglücklich für Aerts, weil er sich nach nur 109 Sekunden das Knie verdrehte und nicht weiterkämpfen konnte; 2006 verlor er einstimmig nach Punkten.<br />
<br />
Am 27. September 2008 trafen die beiden Kämpfer dann sogar schon in den Final-Elimination aufeinander und diesen Kampf konnte Aerts überraschend nach Punkten gewinnen; er beendete Schilts Siegesserie von 13 gewonnenen K-1-Kämpfen in Folge und konnte somit noch einmal ein Ausrufezeichen setzen, als er dem K-1-Hattrick-Gewinner Schilt das Tor zum Finalturnier versperrte.<br />
<br />
Beim World Grand Prix 2008 verlor er den ersten Kampf des Turnieres deutlich gegen den starken Marokkaner [[Badr Hari]] durch TKO in der zweiten Runde.<br />
<br />
Für den World Grand Prix 2009 konnte sich Peter Aerts nicht qualifizieren. Er unterlag in den Final-Elimination [[Alistair Overeem]] nach Punkten. Allerdings konnte er den Reservekampf gegen [[Gökhan Saki]] für sich entscheiden.<br />
<br />
Für den World Grand Prix 2010 konnte sich Peter Aerts wieder qualifizieren, nachdem er [[Ewerton Teixeira]] knapp nach der Extra-Runde nach Punkten besiegen konnte.<br />
<br />
Bei dem World Grand Prix 2010 konnte Peter Aerts noch einmal überraschen. In der ersten Runde des Turniers schlug er [[Mighty Mo]] in der ersten Runde K.O. Im zweiten Kampf des Turniers traf er wieder auf den Champion [[Semmy Schilt]]. Peter Aerts konnte Schilt besiegen und ist damit der Erste, dem es gelang Schilt aus einem Turnier zu werfen. Damit stand Aerts mit einem Alter von 40 Jahren wieder in einem Finale. Der Kampf gegen Schilt hatte Aerts jedoch so geschwächt, dass er im Finale [[Alistair Overeem]] nichts mehr entgegensetzen konnte. Er wurde nach knapp einer Minute von Overeem ausgeknockt. Damit gewann Overeem seinen ersten Titel. Aerts sagte später in einem Interview<!--in welchem Interview?--> aus, dass ein Turnier mittlerweile sehr anstrengend für ihn ist und einzelne Kämpfe für ihn besser wären.<br />
<br />
2015 gab Aerts schließlich seinen Rücktritt bekannt.<ref>{{Literatur |Titel=Mr. K-1 Peter Aerts officially retires |Sammelwerk=Bloody Elbow |Online=https://www.bloodyelbow.com/2015/6/10/8761753/peter-aerts-retirement-retires-kickboxing-legend-k-1-k1-glory |Abruf=2018-04-22}}</ref><br />
<br />
== Kampfbilanz ==<br />
91 K-1-Kämpfe; 66 Siegen (49 (T)KOs) stehen 25 Niederlagen gegenüber (11 (T)KOs), bei nur einem Unentschieden. 2 MMA-Kämpfe; einem TKO steht eine Niederlage nach Aufgabe gegenüber.<br />
<br />
== Verschiedenes ==<br />
Peter Aerts ist der Cousin von Profi-Fußballtorwart [[Maikel Aerts]] (2010–2012 bei Hertha BSC).<ref>[http://www.berliner-zeitung.de/archiv/maikel-aerts--herthas-neue-nummer-eins-im-tor--hat-gelernt--auf-welche-weise-man-bestaetigung-erfaehrt-crashkurs-im-kloster,10810590,10729888.html ''Crashkurs im Kloster''.] In: ''[[Berliner Zeitung]]'', 14. Juli 2010</ref><br />
<br />
Aerts war 2010 im Film ''[[New Kids#Kinofilme|New Kids Turbo]]'' zu sehen, in dem er sich selbst spielt.<br />
<br />
== Titel ==<br />
* IKBF Schwergewichts Weltmeister<br />
* WMTA Muay Thai Schwergewichts Weltmeister<br />
* K-1 GRAND PRIX '97 3rd Place<br />
* K-1 World Grand Prix '2000 3rd Place<br />
* K-1 World Grand Prix '2003 3rd Place<br />
* K-1 World Grand Prix 1994 Champion<br />
* K-1 World Grand Prix 1995 Champion<br />
* K-1 World Grand Prix 1998 Champion<br />
* K-1 World Grand Prix 2001 in Las Vegas Finalist<br />
* K-1 World Grand Prix 2006 Finalist<br />
* K-1 World Grand Prix 2007 Finalist<br />
* K-1 World Grand Prix 2010 Finalist<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [http://www.peteraerts.com/ Offizielle Homepage]<br />
* [http://www.k-1sport.de/de/database/show_fighter.php?id=24 Kämpferprofil auf K-1sport.de]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{SORTIERUNG:Aerts, Peter}}<br />
[[Kategorie:Kickboxer (Niederlande)]]<br />
[[Kategorie:K-1-Kämpfer]]<br />
[[Kategorie:Niederländer]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1970]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Aerts, Peter<br />
|ALTERNATIVNAMEN=<br />
|KURZBESCHREIBUNG=niederländischer Kampfsportler<br />
|GEBURTSDATUM=25. Oktober 1970<br />
|GEBURTSORT=<br />
|STERBEDATUM=<br />
|STERBEORT=<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Parenchym&diff=212832659Parenchym2021-06-10T09:06:46Z<p>Udo.bellack: add/fix link auf Julien Offray de La Mettrie</p>
<hr />
<div>'''Parenchym''' (von {{grcS|''parénchyma''|de=das seitlich/daneben Hineingegossene}},<ref>[[Jutta Kollesch]], [[Diethard Nickel]]: ''Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer.'' (= ''Reclams Universal-Bibliothek.'' Band 771). Philipp Reclam jun., Leipzig 1979; 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 91 und 190, Anm. 3 (zu ''[[Galenos|Galen]], Über die Verfahrensweisen beim Sezieren, Buch VI, Kap. 11.'')</ref> von {{grcS|παρά|para|de=neben}}, {{grcS|ἐγχεῖν|enchein}} ‚hineingießen‘) bezeichnet in der [[Biologie]] und in der modernen Medizin ein [[Gewebe (Biologie)|Zellgewebe]] (eines Organs), das eine bestimmte (spezifische) Funktion ausübt. Der Begriff wurde vor allem durch [[Rudolf Virchow]] (1821–1902) bekannt, der ihn im Rahmen seiner [[Zellularpathologie]] auf tierische und pflanzliche Gewebe anwendete. Frühere Belege für die Verwendung des seit [[Erasistratos]] (3. Jahrhundert v. Chr.) in der [[Nomenklatur (Anatomie)|anatomischen Terminologie]] benutzten Wortes finden sich bei [[Galenos]]<ref>Galen: ''Über die Verfahrensweise beim Sezieren.'' Buch VI, Kap. 11: „[…] ist der ganze Raum zwischen den Gefäßen mit dem Fleisch des Organs angefüllt. Dieses Fleisch bezeichneten Erasistratos und seine Anhänger als Parenchym. Diese Substanz […] in allen Zwischenräumen zwischen den sich aufspaltenden Gefäßen […].“ Zitiert aus Jutta Kollesch, Diethard Nickel: ''Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer.'' 1989, S. 90 f., hier: S. 91.</ref> (2. Jahrhundert n. Chr.) und 1747 in [[Julien Offray de La Mettrie|La Mettries]] Text ''L’Homme Machine'' („Stoff, den die Alten Parenchym genannt haben“)<ref>[[Julien Offray de La Mettrie]]: ''L’Homme Machine / Der Mensch eine Maschine.'' Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke mit einem Nachwort von Holm Tetens. 2001, ISBN 3-15-018146-1, S. 70.</ref> sowie 1821 in den Schriften von [[Henrich Steffens]]<ref>[http://books.google.de/books?id=P1tbAAAAQAAJ&pg=PA47&dq=steffens+wasserstoff&hl=de&ei=AJE8TNLqOMyQjAf40Pm-AQ&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=7&ved=0CEgQ6AEwBg#v=onepage&q&f=true Zweiter Band, Breslau 1821], S.&nbsp;73.</ref> in der Form ''Parenchyma''.<br />
<br />
Das Parenchymgewebe wird von den mehr oder weniger differenzierten oder spezifischen '''Parenchymzellen''' gebildet. Im Gegensatz dazu stehen bei Wirbeltieren jene Zellen, die das Stützgewebe bzw. Träger- oder Gerüstgewebe bilden (''mesodermales Bindegewebe''). Man spricht auch vom [[Interstitium (Anatomie)|Interstitium]] (oder ''Stroma''), in welches das Parenchym „eingegossen“ ist.<ref>[[Willibald Pschyrembel]]: ''Klinisches Wörterbuch.'' 184. Auflage. Walter de Gruyter & Co, Berlin 1964, S.&nbsp;658.</ref><ref name="RLX">[[Dagmar Reiche]]: ''Roche Lexikon Medizin.'' 5. Auflage. Elsevier, München 2003, S.&nbsp;1414.</ref><ref>F. A. Brockhaus: ''Das große Fremdwörterbuch.'' Brockhaus Enzyklopädie, Leipzig 2001, ISBN 3-7653-1270-3, S.&nbsp;991.</ref><br />
<br />
== Bei Wirbeltieren ==<br />
Parenchym bezeichnet das durch die spezifischen Funktionszellen eines [[Organ (Biologie)|Organs]] gebildete Gewebe (z. B. die [[Nephron]]e der [[Niere]], die Alveolen der [[Lunge]], die weiße und rote Pulpa der [[Milz]]). Dazu im Gegensatz steht das [[Interstitium (Anatomie)|Interstitium]] (auch ''Stroma'' genannt), das untergliedernde Bindegewebe, das keine eigentliche Organfunktion übernimmt, sondern die zu- und abführenden Gefäße und Nerven enthält und welches das Organ gegen seine Umgebung abgrenzt und in seiner Form hält und stützt. Das Parenchym leitet sich meist vom [[Ektoderm]] oder vom [[Endoderm]] ab. So stammen z.&nbsp;B. die [[Nervenzelle]]n vom Ektoderm (Neuralrinne).<ref name="RLX" /><br />
<br />
Parenchymgewebe wird meist vom ''mesodermalen Bindegewebe'' unterschieden. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich dieses vom [[Mesoderm]] ableitet und auf einem weniger hohen Grad der [[Differenzierung (Biologie)|Differenzierung]] befindet. Aber auch aus dem Mesoderm entwickeln sich spezifische Organstrukturen wie z.&nbsp;B. glatte und quergestreifte [[Muskulatur]].<ref>[[Otto Grosser]] u.&nbsp;a.: ''Grundriss der Entwicklungsgeschichte des Menschen.'' Springer, Berlin 1966, S.&nbsp;183.</ref> Die entwicklungsgeschichtliche Herkunft aus einem bestimmten [[Keimblatt]] sagt also nicht zwingend etwas über Unterschiede der Differenzierung aus.<br />
<br />
== Bei Würmern ==<br />
Bei verschiedenen Würmern wie z.&nbsp;B. [[Plattwürmer]]n bezeichnet Parenchym „ein das Körperinnere ausfüllendes Gewebe, in das die Organe eingebettet sind“.<ref>F. A. Brockhaus: ''Der Große Brockhaus.'' Kompaktausgabe in 26 Bänden. 18.&nbsp;Auflage. Band 16, F. A. Brockhaus, Wiesbaden 1983, S.&nbsp;254.</ref><br />
<br />
== Bei Pflanzen ==<br />
[[Datei:Strahlparenchym Picea abies.jpg|mini|Parenchymzellen im [[Holzstrahl]] von ''[[Picea&nbsp;abies]]'']]<br />
<br />
Meistens weisen die das Gewebe bildenden Zellen keine besondere anatomische Differenzierung auf. Parenchymzellen sind dünnwandige Zellen des Grundgewebes, die den Großteil von nichtholzartigen (krautigen) Pflanzenstrukturen ausmachen (obwohl in manchen Fällen ihre Zellwände verholzt sein können) und beispielsweise der Speicherung von [[Nährstoff (Pflanze)|Nährstoffen]] dienen. Es werden dabei mehrere Typen unterschieden.<br />
<br />
=== Palisadenparenchym ===<br />
Das '''Palisadenparenchym''' oder '''Palisadengewebe''' ist ein pflanzliches Gewebe, das man in den [[Blatt (Pflanze)|Blättern]] der höheren Pflanzen unterhalb der oberen Epidermis findet. Es besteht aus langgestreckten, zylindrischen Zellen und dient größtenteils der [[Photosynthese]]. Nebeneinanderliegende Zellen ähneln daher Palisaden, wenn man einen Blattquerschnitt mit dem [[Lichtmikroskop]] betrachtet. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass die Zellen des Palisadenparenchyms nicht nur in einer Reihe, sondern auch zu einer Fläche angeordnet sind. [[Interzellulare]]n sind in diesem Gewebe selten. Palisadenparenchymzellen enthalten im Vergleich zu Schwammparenchymzellen etwa drei- bis fünfmal so viele [[Chloroplast]]en.<br />
<br />
Blätter, die häufig dem Sonnenlicht ausgesetzt sind (so genannte Sonnenblätter) haben ein mehrschichtiges Palisadenparenchym, während die Palisadenzellen bei Schattenblättern meist nur eine Schicht bilden, damit die Zellen des Schwammparenchyms ebenfalls noch die geringe Lichtintensität nutzen können.<br />
<br />
=== Schwammparenchym ===<br />
[[Datei:Laubblatt-Aufbau.svg|mini|400px|Aufbau eines Laubblattes mit Palisadengewebe und Schwammgewebe]]<br />
Das '''Schwammparenchym''' oder '''Schwammgewebe''' ist ein pflanzliches [[Gewebe (Biologie)|Gewebe]] des Laubblattes, welches im Blattinneren unten an die untere [[Epidermis (Pflanze)|Epidermis]] und oben an das Palisadenparenchym grenzt, beziehungsweise bei [[Blatt (Pflanze)#Einteilung nach anatomischen Gesichtspunkten|äquifazialen]] Blättern von zwei Palisadengeweben umgeben ist. Es besteht aus meist unregelmäßig geformten, oft sternförmigen Zellen (wird dann als ''Sternparenchym'' bezeichnet), zwischen denen größere [[Interzellulare|Interzellularräume]] liegen. Im Vergleich zum Palisadenparenchym enthält das Schwammparenchym weniger Chloroplasten. Es dient vor allem dem [[Photosynthese|Gasaustausch bei der Photosynthese]], welcher durch das Interzellularsystem begünstigt wird, da dies die Ausbildung großer innerer Oberflächen im Blatt zur Folge hat. Beim Trompetenbaum beispielsweise wurden 5100 m² Innenfläche gemessen bei nur 390 m² äußerer Blattoberfläche.<br />
<br />
Allgemein bezeichnet man ein Schwammparenchym nur dann als solches, wenn parallel ein Palisadenparenchym vorhanden ist.<br />
<br />
=== Chlorenchym (Assimilationsparenchym) ===<br />
Das '''Chlorenchym''', auch '''Assimilationsparenchym''', ist das auf Photosynthese spezialisierte Parenchym. Es ist ein chloroplastenreiches Blattgewebe (Mesophyll), das aus der Palisadenschicht und dem Schwammparenchym besteht. Das Schwammparenchym ist zugleich Chlorenchym und auch Aerenchym.<br />
<gallery class="float-right"><br />
Sternparenchym.jpg|Aerenchym (Sternparenchym) einer Sumpfpflanze<br />
Parenchima amilifero.JPG|Speicherparenchym<br />in der Wurzel des [[Scharbockskraut]]s<br />
</gallery><br />
<br />
=== Aerenchym ===<br />
Unter '''Aerenchym''' versteht man eine Form des pflanzlichen Grundgewebes, bei der die Interzellularräume so weit sind, dass ein regelrechtes „Durchlüftungsgewebe“ entsteht. Es tritt besonders bei Sumpf- und [[Wasserpflanzen]] auf und dient dem Gaswechsel der untergetauchten [[Pflanzenorgan]]e.<br />
<br />
=== Hydrenchym ===<br />
'''Hydrenchym''' kann auch als „Wasserspeicherparenchym“ bezeichnet werden. Es dient vor allem [[Sukkulenz|sukkulenten]] Pflanzen zur Speicherung von Wasser und weist Zellen mit sehr großen [[Vakuole]]n auf.<br />
<br />
=== Speicherparenchym ===<br />
'''Speicherparenchym''' dient der Speicherung von [[Nährstoff]]en wie Stärke, Fetten, Proteinen sowie Wasser.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Strasburger: ''Lehrbuch der Botanik.'' 35. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, 2002, ISBN 3-8274-1388-5.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary|Parenchym}}<br />
* [http://www.wissenschaft-online.de/abo/lexikon/biok/8674 Parenchym.] Wissenschaft-Online.de<br />
* [http://www1.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d05/r21.htm Querschnitt eines Bohnenblattes im Rasterelektronenmikroskop.] Fachbereich Biologie, [[Universität Hamburg]]<br />
* [http://www1.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d05/05e.htm Assimilationsgewebe / Mesophyll] Fachbereich Biologie, Universität Hamburg<br />
* [http://www.biologie-schule.de/blatt.php Blatt im Querschnitt.] Biologie-Schule.de<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4304366-5}}<br />
<br />
[[Kategorie:Anatomie]]<br />
[[Kategorie:Histologie]]<br />
[[Kategorie:Pflanzengewebe]]<br />
<br />
[[fr:Parenchyme#Biologie végétale]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Southern_Blot&diff=211358116Southern Blot2021-04-27T07:58:50Z<p>Udo.bellack: /* Gelelektrophorese */ link auf Agarose-Gelelektrophorese hinzu</p>
<hr />
<div>[[Datei:Southern-Blot-Autoradiogramm.jpg|mini|hochkant|Autoradiogramm eines Southern Blots]]<br />
Beim '''Southern Blot''', auch ''Southern-Blot-Hybridisierungsverfahren'' genannt, handelt es sich um eine 1975 von [[Edwin Southern|Edwin M. Southern]] entwickelte [[Molekularbiologie|molekularbiologische]] Untersuchungsmethode für die [[Desoxyribonukleinsäure|DNA]].<ref>E. M. Southern: ''Detection of specific sequences among DNA fragments separated by gel electrophoresis.'' In: ''[[Journal of Molecular Biology]].'' Bd. 98, Nr. 3, 1975, S. 503–517, PMID 1195397, [[doi:10.1016/S0022-2836(75)80083-0]].</ref> Sie ermöglicht den Nachweis einer Gensequenz in einem komplexen DNA-Gemisch (z.&nbsp;B. dem gesamten [[Genom]] eines Organismus) innerhalb kurzer Zeit, ohne dass sämtliche [[DNA-Sequenz|Sequenzen]] des Gemisches entschlüsselt werden müssen.<br />
<br />
== Funktionsweise ==<br />
Die zu untersuchende DNA wird mit einem oder mehreren [[Restriktionsenzym]]en behandelt und anschließend durch [[Agarose-Gelelektrophorese|Gelelektrophorese]] der Größe nach aufgetrennt. Die DNA-Fragmente werden durch [[Alkalien]] in Einzelstränge gespalten und das im Gel entstandene Trennmuster auf eine [[Membran (Trennschicht)|Membran]] (meist [[Polyamide#Nylon|Nylon]] oder [[Nitrocellulose]]) übertragen ([[Blotten]]) und dort dauerhaft fixiert.<br />
<br />
Anschließend wird die Membran mit einer chemisch oder [[Radioaktivität|radioaktiv]] markierten [[Gensonde]] behandelt. Diese Sonde besteht aus einzelsträngiger RNA (RNA-DNA-Hybride sind stabiler als DNA-DNA-Hybride), welche zur gesuchten Sequenz komplementär ist oder aus doppelsträngiger DNA, die vor der Hybridisierung durch Erhitzen denaturiert wird. Befindet sich diese Sequenz irgendwo auf der Membran, so bildet die Sonde [[Basenpaar]]ungen mit dieser aus und bindet dauerhaft in diesem Bereich (Hybridisierungsvorgang).<br />
<br />
Alle unspezifischen Bindungen werden anschließend abgewaschen. Je nach [[Molekülmarkierung|Markierung]] der Sonde erfolgt die Detektion z.&nbsp;B. durch Auflegen eines [[Röntgenfilm]]s und von Verstärkerfolien oder von [[Phospho-Imager]]-Platten (als [[Autoradiographie]] bei radioaktiven Markierungen) in einer lichtgeschützten Kassette. Ist die Sonde an ein Enzym gekoppelt, so kann die enzymatische Reaktion auf der Membran detektiert werden.<br />
<br />
== Versuchsablauf ==<br />
=== Vorbehandlung der DNA ===<br />
Bei der zu untersuchenden DNA handelt es sich meist um genomische DNA. Sie wird aus den [[Zelle (Biologie)|Zellen]] isoliert und mit einem oder mehreren Restriktionsenzymen behandelt. Je nachdem, wie oft die gewählten [[Enzym]]e in der gesuchten Sequenz schneiden, entstehen unterschiedlich viele detektierbare Fragmente. Liegt zum Beispiel keine Schnittstelle in der Sequenz, so entsteht eine Bande, schneiden die Enzyme einmal entstehen zwei Banden. (Ausnahmen bilden hier natürlich [[Plasmid]]e, bei denen sich zwei Banden erst bei zwei Schnittstellen ergeben, da sie zunächst als Ring vorliegen.)<br />
<br />
Das gilt, wenn sich die gesuchte Sequenz nur an einer Stelle in der genomischen DNA befindet oder sich die Sequenzen, wie es im Falle eines diploiden Organismus fast immer der Fall ist, nicht in ihrer Fragmentlänge unterscheiden. Bei einer quantitativen Analyse erlaubt die Signalstärke Hinweise auf die Kopienzahl. Daher sollten [[Gentechnisch veränderter Organismus|transgene Organismen]] durch Southern-Blot untersucht werden, da die Zahl der Signale Hinweise auf die Zahl der Integrationsorte und die Intensität Rückschlüsse auf die Zahl der Integrate erlaubt.<br />
<br />
[[Datei:Southern-Blot-Agarosegel.jpg|mini|130px|Agarosegel unter UV-Licht]]<br />
<br />
=== Gelelektrophorese ===<br />
Nach dieser Vorbehandlung trennt man zwischen 5&nbsp;µg und 30&nbsp;µg der DNA zusammen mit einem [[DNA-Leiter|Marker]] in einem [[Agarose-Gelelektrophorese|Agarosegel]] der Größe nach auf. Da die Restriktionsenzyme statistisch verteilt in der DNA schneiden, gibt es Fragmente jeder Größe. In dem Gel entstehen so keine Banden, sondern eine gleichmäßige Verteilung der DNA, ein Schmier.<br />
<br />
Nach der [[Elektrophorese]] wird ein fluoreszierendes Lineal neben den Marker auf das zuvor mit [[Ethidiumbromid]] angefärbte Gel gelegt und unter [[Ultraviolettstrahlung|UV-Licht]] fotografiert. Man weiß nun, welche Fragmente auf Grund ihrer Größe wie weit im Gel gelaufen sind. Das ist notwendig, da der Marker nach der Detektion mit der Sonde nicht mehr sichtbar ist. Man kann später durch einfaches Ausmessen mit einem Lineal die [[Molekülmasse]] der sichtbar gewordenen Fragmente bestimmen.<br />
<br />
Das Gel wird anschließend nacheinander mit stark verdünnter [[Salzsäure]], einer [[Denaturierung (Biochemie)|Denaturierungslösung]] und einer Neutralisierungslösung behandelt, um es auf den DNA-Transfer vorzubereiten.<br />
<br />
=== Blotting ===<br />
Als [[Blotting]] wird der Transfer der DNA aus dem Gel auf eine Membran bezeichnet. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten:<br />
<br />
[[Datei:Kapillarblot.svg|mini|Schematischer Aufbau des Kapillar-Blottings]]<br />
; Kapillar-Blot: Die treibende Kraft ist ein Flüssigkeitsstrom, der von einem Reservoir ausgehend von unten durch das Gel, weiter durch die Membran zu einem Stapel saugfähigen Materials läuft. Die Flüssigkeit ist meistens eine alkalische Pufferlösung, welche die DNA wieder in Einzelstränge zerlegt. Dieser Strom zieht die DNA aus dem Gel mit, die anschließend in den Maschen der Membran hängen bleibt. Das Verfahren läuft meist 10 bis 12 Stunden (über Nacht). In dieser Zeit können durch ein Gel von 15 mal 15 Zentimeter bis zu 2 Liter Salzlösung laufen. Wichtig ist, dass sich nirgendwo im Aufbau Luftblasen befinden, da sie den Flüssigkeitsstrom unterbrechen und an dieser Stelle die DNA nicht übertragen wird.<br />
<br />
; Vakuum-Blot: Er funktioniert prinzipiell wie der Kapillar-Blot. Statt des saugfähigen Materials zieht hier allerdings ein Unterdruck die Flüssigkeit durch Gel und Membran. Der Vakuum-Blot ist schneller und sparsamer, was die Salzlösung angeht.<br />
<br />
; Elektro-Blot: Beim Elektroblot wird die negative Ladung der DNA genutzt. Das Gel liegt auf einer [[Kathode]]nplatte. Auf dem Gel liegt die Membran und darüber die [[Anode]]nplatte. Eine Salzlösung gewährleistet, dass ein elektrischer Strom fließen kann und die DNA sich in Richtung der Anode bewegt. Sie wandert aus dem Gel und bleibt auf der Membran hängen.<br />
<br />
Nach dem Blotting schwenkt man die Membran in niedrig konzentriertem „Salzpuffer“. Anschließend kann durch [[DNA-Vernetzung|Vernetzung]] mit UV-Licht die DNA in der Membran dauerhaft fixiert werden – das ''crosslinking''. Will man nicht gleich mit der Analyse fortfahren, wird sie in Folie eingeschweißt und im Kühlschrank gelagert oder zwischen Blotting-Filterpapier bei Raumtemperatur gelagert. Man kann auch an Stelle des crosslinkings die Membran 2–3 Stunden bei 80&nbsp;°C „backen“.<br />
<br />
=== Blockierung ===<br />
Die nach dem Transfer verbliebenen freien DNA-Bindungsstellen auf der Membran werden meistens mit einer Blockierungslösung mit hitzedenaturierter DNA in zehnfach konzentrierter [[Denhardt-Lösung]] mit dem [[Tensid]] [[Natriumlaurylsulfat|SDS]] (1 % m/V) in einem [[Phosphat]]-[[Puffer (Chemie)|Puffer]] inkubiert (zu 50 Mikrogramm pro Milliliter, für fünf Stunden bei 42 °C), wodurch die DNA-bindenden Stellen auf der Membran abgesättigt werden. Dazu wird meistens eine vergleichsweise kostengünstige DNA aus Lachs- oder Heringssperma verwendet. Das Tensid mindert unspezifische Bindungen von Nicht-DNA-Molekülen an die Membran. Durch die Blockierung (synonym ''Prähybridisierung'') werden unspezifische Bindungen der Sonde über die gesamte Membran vermieden, die sonst zu einer starken Hintergrundfärbung führen würde.<br />
<br />
=== Synthese der Sonde ===<br />
Die [[Synthese]] der DNA-Sonde geschieht enzymatisch entweder durch [[Polymerase-Kettenreaktion|PCR]], [[Random Priming]] oder [[Nick translation]]. Man legt die Zielsequenz vor und kopiert sie sehr häufig (PCR), setzt sie als Matrize (Template) ein (Random Priming) oder modifiziert sie (Nick translation). Dabei werden die später zur Detektion genutzten Bausteine eingebaut. Im Falle einer RNA-Sonde erfolgt die Synthese mittels [[In-vitro-Transkription|in vitro-Transkription]] mit [[Bakteriophagen]] [[RNA-Polymerase]]n, wie der [[T7-RNA-Polymerase]]. Die zwei gängigsten Markierungen sind:<br />
<br />
; α-<sup>32</sup>P-[[Adenosintriphosphat|dATP]]-Markierung: Die DNA wird aus den vier Grundbausteinen dATP, dTTP, dGTP und dCTP aufgebaut. Das dATP trägt für diesen Versuch das radioaktive [[Phosphor#Isotope|Phosphorisotop]] <sup>32</sup>P. Bei der Synthese wird es in die Sonde eingebaut, die dadurch ständig [[Betastrahlen]] aussendet. Analog wird bei der RNA-Synthese ATP, GTP, CTP und α-<sup>32</sup>P-UTP eingesetzt. Legt man die Membran auf einen Röntgenfilm, wird dieser an den Stellen mit der Sonde geschwärzt. Eine moderne digitale Alternative ist das Auflegen auf eine [[Röntgenspeicherfolie]]. Dabei handelt es sich um eine spezielle Platte, deren Leuchtstoffschicht durch [[Strahlung]] nachhaltig angeregt wird. Diese Veränderung kann mit einem Lesegerät, einem Phosphorimager (auch Phosphoimager), durch Anregung mit Laserlicht in den Computer eingelesen und dort weiter bearbeitet werden. Die Platte kann anschließend regeneriert und erneut verwendet werden<br />
<br />
; DIG-Markierung<br />
: In die DNA wird während des Kopierens an manchen Stellen dUTP statt dTTP eingebaut. An diesem Baustein hängt das [[Glycosid]] ''Dig''oxigenin. Analog wird bei der in vitro-Transkription DIG-UTP eingesetzt. Man kann nun dieses [[Digoxigenin]] mit einem spezifischen anti-DIG-[[Antikörper]], an dem ein Enzym gekoppelt ist, binden. Dieses katalysiert eine Licht- oder Farb-[[Chemische Reaktion|Reaktion]]. Die Detektion der [[Chemolumineszenz]] erfolgt durch Auflegen der Membran auf Fotopapier. Die Stellen, an denen die Sonde liegt, werden durch das entstehende Licht geschwärzt. Diese Methode hat den Vorteil, dass nicht mit radioaktivem Material gearbeitet wird. <!-- Allerdings ist sie nicht so sensitiv wie die erste. --><br />
<br />
Parallel zur DIG-Markierung gibt es noch andere chemische Markierungssysteme, wie etwa das [[Biotin]]/[[Streptavidin]]-System, bei dem ein sichtbarer Farbstoff gebildet wird. Allen chemischen Markern ist gemein, dass sie im Vergleich zur radioaktiven Markierung weniger sensitiv sind. Trotzdem finden sie im Laboralltag Anwendung, wenn etwa kein Isotopenlabor zur Verfügung steht.<br />
<br />
=== Hybridisierung ===<br />
{{Siehe auch|Hybridisierung (Molekularbiologie)}}Die Sonde, in der Regel 50&nbsp;µl DNA-Lösung, wird direkt vor der Verwendung auf 94&nbsp;°C erhitzt. Die Hitze führt zur Trennung der doppelsträngigen DNA. Nur so kann sie mit der DNA auf der Membran Basenpaarungen eingehen. Die Sondenlösung wird dann sofort mit 5 bis 10&nbsp;ml einer Hybridisierungslösung gemischt und zusammen mit der Membran in eine Glasröhre gegeben. In einem Ofen wird diese Röhre bei 40 bis 60&nbsp;°C für mehrere Stunden automatisch gewendet. Die hohe Temperatur garantiert, dass sich die Sonde nur an die gesuchte Zielsequenz bindet und keine unspezifischen Wechselwirkungen mit anderen Sequenzen oder Membranteilen eingeht.<br />
Die genaue zu wählende Temperatur ist allerdings abhängig von der Länge und dem [[Guanin|G]]/[[Cytosin|C]]-Gehalt der Sonde; außerdem von der Salzkonzentration der Lösung. Eine Formel zum Berechnen lautet wie folgt: Tm = 81,5&nbsp;°C + 0,41 × (%G/C) + 16,6 log [Na+] − 500/n − 0,61 * (%Formamid); wobei n = Anzahl der Sondenbasen; [[Formamid]] ist ein häufiger Bestandteil von Hybridisierungslösungen.<ref>Judy Meinkoth, Geoffrey Wahl: ''Hybridization of nucleic acids immobilized on solid supports.'' In: ''[[Analytical Biochemistry]].'' Bd. 138, Nr. 2, May 1984, S. 267–284, [[doi:10.1016/0003-2697(84)90808-X]].</ref><br />
<br />
Anschließend wird die Membran mehrmals mit Salzlösungen niedriger [[Konzentration (Chemie)|Konzentration]] und bei Temperaturen bis 65 °C gewaschen, um den ungebundenen Anteil der Sonde restlos zu entfernen. Es folgt die Detektion je nach Markierung.<br />
<br />
=== Stripping ===<br />
Stripping nennt man das Entfernen der spezifisch gebundenen Sonde. Nach der Detektion ist es möglich, die Membran in eine Stripping-Lösung zu tauchen und mehrere Minuten auf 94&nbsp;°C zu erhitzen. Die Basenpaarungen zwischen Sonde und Zielsequenz werden durch die Hitze aufgebrochen und die Sonde löst sich ab. Die Membran kann jetzt erneut vorhybridisiert und anschließend mit einer anderen Sonde behandelt werden. Dieser Kreislauf kann je nach der Menge der übertragenen DNA auf der Membran, der Qualität der Membran und der Lösungen bis zu 20 Mal wiederholt werden.<br />
<br />
== Ähnliche Methoden ==<br />
Analog zum Southern Blot gibt es auch einen [[Northern Blot]]. Hier wird [[RNA]] durch Gelelektrophorese aufgetrennt und auf eine Membran übertragen. Mit dem Northern-Blot kann der Expressionsstatus eines Gens überprüft werden.<br />
<br />
Beim [[Western Blot]] werden [[Proteine]] durch eine etwas andere Elektrophorese (PAGE – [[Polyacrylamid-Gelelektrophorese|Polyacrylamid-Gel-Elektrophorese]]) aufgetrennt und auf die Membran übertragen. Als Sonde dienen hier spezifische Antikörper.<br />
Hier kann man jedoch auch Protein-Interaktionen untersuchen, wobei dann der jeweilige Ligand per Antikörper detektiert wird (Far-Western-Blotting). Die Kombination aus Western und Southern Blot wird als [[Southwestern Blot]] bezeichnet.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Weitere Literatur ===<br />
* [[Thomas Maniatis]], Edward F. Fritsch, [[Joseph Sambrook]]: ''Molecular cloning. A laboratory manual.'' Cold Spring Harbor Laboratory, Cold Spring Harbour NY 1982, ISBN 0-87969-136-0.<br />
<br />
=== Quellenangaben ===<br />
<references /><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Northern Blot]]<br />
* [[Western Blot]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [http://highered.mcgraw-hill.com/olc/dl/120078/bio_g.swf Southern Blot Animation] (engl.; SWF-Datei; 511&nbsp;kB)<br />
* {{Webarchiv |url=http://www.zoo.utoronto.ca/able/volumes/vol-12/1-karche/1-karche.htm |wayback=20080430051642 |text=detaillierte Durchführung eines Southern Blots}} (engl.)<br />
* {{Webarchiv |url=http://www.uni-koblenz.de/~odsgroe/dnasblot.htm |wayback=20080410001553 |text=Schema eines Southern Blots}}<br />
<br />
[[Kategorie:Elektrophorese]]<br />
[[Kategorie:Gentechnik]]<br />
[[Kategorie:Molekularbiologie]]<br />
[[Kategorie:Biochemisches Nachweisverfahren]]<br />
[[Kategorie:Nukleinsäure-Methode]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Legion_(D%C3%A4mon)&diff=210066205Legion (Dämon)2021-03-21T22:02:01Z<p>Udo.bellack: /* Deutungen */ Link auf Vexillation hinzu</p>
<hr />
<div>[[Datei:Der liebende Jesus jagt Dämonen in unschuldige Schweine.jpg|mini|Illustration von [[Julius Schnorr von Carolsfeld]], 1860]]<br />
[[Datei:Straßburger Münster, Glasmalerei, II-12.jpg|mini|Straßburger Münster, Glasmalerei (14. Jahrhundert)]]<br />
'''Legion''', auch der '''Dämon von Gadara''', oder (übersetzt) '''Viele''', bezeichnet eine im [[Neues Testament|Neuen Testament]] der [[Bibel]] erwähnte [[dämon]]ische Erscheinung, die auch als „Schweineepisode“ bezeichnet wird. In den Evangelien nach [[Evangelium nach Markus|Markus]] und [[Evangelium nach Lukas|Lukas]] wird ein Mann beschrieben, [[Besessenheit|besessen]] von vielen Dämonen. Im Gegensatz dazu berichtet das [[Evangelium nach Matthäus]] von zwei Besessenen, außerdem wird nicht der Name „Legion“ verwendet.<br />
<br />
== Die Geschichte ==<br />
Nach der [[Biblische Erzählung|biblischen Erzählung]] bereiste [[Jesus von Nazaret|Jesus]] „das Gebiet von [[Gadara (Umm Qais)|Gadara]]“ (lt. Matthäus, in Markus und Lukas „das Gebiet von [[Gerasa]]“, allerdings liegt nur Gadara nahe beim [[See Genezareth]]), traf dort den/die Besessenen und sprach mit den Dämonen.<br />
<br />
Im Evangelium nach Markus ist zu lesen:<br />
:Und er fragte ihn: Was ist dein Name? Und er spricht zu ihm: Legion ist mein Name, denn wir sind viele. {{Bibel|Mk|5|9|ELB}}<br />
<br />
Ähnlich im Evangelium nach Lukas:<br />
:Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Legion. Denn er war von vielen Dämonen besessen. {{Bibel|Lk|8|30|ELB}}<br />
<br />
Die Dämonen identifizieren Jesus als „Sohn Gottes“ und bitten ihn, sie nicht in die [[Hölle]] {{Bibel|Lk|8|31|EU}} zu schicken. Tatsächlich aber steht in den griechischen Urtexten kein Wort für das Jenseits, wie zum Beispiel ''[[Scheol|sheol]]'', ''[[Gehinnom|Gehenna]]'', ''[[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]]'' oder ''[[Tartaros]]''. In Markus 5,10 wird das griechische Wort ''[[chora]]'' verwendet, das mit ‚Gegend‘ übersetzt wird, aber auch einen leeren Raum beschreiben konnte. In Lukas 8,31 steht hingegen ''[[abyssos]]'', eine bodenlose Tiefe.<br />
<br />
Jesus trieb die Dämonen aus ([[Apopompe]]) und kam gleichzeitig ihrer Bitte nach: Er erlaubte ihnen, in eine Schweineherde einzufahren. Die 2000 [[Hausschwein|Schweine]] stürmten daraufhin in den [[See Genezareth]], wo sie ertranken. Die Schweinehirten flohen und erzählten das Vorkommnis in der Stadt, woraufhin die Bürger den Geheilten und Jesus aufsuchten, „sich fürchteten“ und Jesus baten, ihr Gebiet der [[Dekapolis]] zu verlassen. Der Geheilte wollte sich Jesus anschließen, aber Jesus schickte ihn aus, diese Geschichte bekannt zu machen.<br />
<br />
== Parallelen zur Odyssee ==<br />
Der Theologe [[Dennis MacDonald]] erklärt einige erzählerische Elemente des Markusevangeliums damit, dass Homers [[Odyssee]] und [[Ilias]] zu Grunde liegen.<ref>{{Literatur |Autor=Macdonald, Dennis R. |Titel=Homeric epics and the gospel of mark. |Verlag=Yale University Press |Datum=2010 |ISBN=0-300-17261-3}}</ref> Für die Geschichte mit Jesus und dem Besessenen können Parallelen mit Odysseus und dem Zyklop [[Polyphem]] gezogen werden:<br />
{| class="wikitable"<br />
|+Parallelen zwischen Homers Odyssee und der Geschichte vom besessenen Gerasener<ref>{{Internetquelle |url=http://www.sapereaudepls.de/2016/11/14/markus-evangelium/ |titel=Markus-Evangelium |datum=2016-11-14 |abruf=2019-03-31}}</ref><br />
!Homers Odyssee<br />
!Markus-Evangelium<br />
|-<br />
|Odysseus erreicht mit mehreren Schiffen und seinen 12 Gefolgsleuten das Land der Zyklopen<br />
|Jesus erreicht mit mehreren Schiffen und den 12 Jüngern die Gegend der Gerasener<br />
|-<br />
|Odysseus geht mit 12 Gefährten an Land. Seine anderen Männer sollen im Schiff auf seine Rückkehr warten<br />
|Jesus geht an Land, seine Gefährten sollen im Schiff auf seine Rückkehr warten<br />
|-<br />
|Er trifft auf einen übernatürlichen Gegner, den Zyklop Polyphemos<br />
|er trifft auf einen übernatürlichen Gegner, die Dämonen, die einen Mann besetzt haben<br />
|-<br />
|der in einer Höhle lebt<br />
|der in „Gräbern“ lebt<br />
|-<br />
|Der Zyklop fragt Odysseus nach seinem Namen.<br />
|Jesus fragt den Mann nach seinem Namen<br />
|-<br />
|Odysseus antwortet mit einem Wortspiel, eine Mengenangabe: „Niemand“<br />
|Der Mann antwortet mit einem Wortspiel, eine Mengenangabe: „Legion heiße ich; denn wir sind unser viele.“<br />
|-<br />
|Odysseus besiegt den Zyklopen<br />
|Jesus besiegt die Dämonen<br />
|-<br />
|Odysseus Männer entkommen über eine Viehherde (klammern sich an die Bäuche von Schafen)<br />
|Die Dämonen entkommen über eine Viehherde. „Und die Teufel baten ihn alle und sprachen: Laß uns in die Säue fahren!“<br />
|-<br />
|Odysseus kehrt auf sein Schiff zurück und ruft dem Zyklopen zu, wer er wirklich sei, Odysseus, König von Ithaka<br />
|Jesus kehrt auf sein Schiff zurück und ruft dem Mann zu, diese Wohltat Gottes zu loben.<br />
|}<br />
<br />
== Deutungen ==<br />
<br />
[[John Dominic Crossan]] glaubt, die Geschichte könne eine [[Parabel (Sprache)|Parabel]] für den Widerstand gegen die [[Römisches Reich|römische]] Herrschaft sein. Das wäre eine Erklärung, warum in den Evangelien jeweils [[Gadara (Umm Qais)|Gadara]], [[Gerasa]] und [[Gergesa]] als Ort der Handlung angegeben werden: Alle drei stünden synonym für [[Caesarea Maritima|Caesarea]], den Sitz des römischen Procurators und Ort des tatsächlichen Geschehens. Diese Deutung entbehrt nicht einer gewissen Originalität, aber sie ist alles andere als plausibel: Alle drei [[Synoptiker]] lokalisieren das Ereignis am See Genezareth, dem „Galiläischen Meer“ – Caesarea Maritima liegt aber an der Küste des Mittelmeers, und zwar in Samarien. Auch dürfte keinem griechisch Sprechenden der Fehler unterlaufen, Caesarea zu meinen und Gerasa (so bei Mk und Lk) bzw. Gadara (so bei Mt) zu schreiben.<br />
<br />
In seinem Buch ''[[Das Messias-Rätsel]]'' entwickelt Joseph Atwill eine andere Deutung. Die Geschichte könne demnach eine Darstellung von [[Vespasian|Titus Flavius Vespasianus]] (als der [[Messias]]) sein, seinen römischen Legionen im Kampf gegen die [[Zelot]]en und deren Aufstand in Caesarea Maritima (siehe auch [[Jüdischer Krieg]]). Die Schweine könnten auch eine Anspielung auf die [[Legio X Fretensis]] sein, die ab dem Jahr&nbsp;66 an vielfältigen Kampfhandlungen im Rahmen des Jüdischen Krieges beteiligt war und unter anderem einen Eber als Heeressymbol verwendete.<ref>M. Klinghardt, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk. 5,1-20, ZNW 98 (2007), 28-48.</ref> Auch die in Mk 5,13 angegebene Zahl der Schweine ("ungefähr 2000"), lässt sich als Indiz für die Plausibilität dieser These werten, da die Legio X Fretensis in der Anfangsphase des jüdischen Krieges nicht in Vollstärke involviert war, sondern nur mit einer 2000 Legionäre starken [[Vexillation]].<ref>M. Lau, Die Legio X Fretensis und der Besessene von Gerasa. Anmerkungen zur Zahlenangabe »ungefähr Zweitausend« (Mk 5,13), Bib. 88 (2007), 351-364</ref><br />
<br />
== Erwähnungen in der Popkultur (Auswahl) ==<br />
* [[William Peter Blatty]]s Romanvorlage zu ''[[Der Exorzist III]]'' trägt den Namen Legion.<br />
* Seit 1997 tritt Legion häufig als Antagonist in der Videospielreihe ''[[Castlevania]]'' auf<ref>https://castlevania.fandom.com/wiki/Legion</ref>, zumeist als starker/später/hochrangiger Bossgegner. Dabei hat Legion in der Regel die Gestalt einer schwebenden Masse aus kaum voneinander unterscheidbaren humanoiden Körpern, die an Untote erinnern<ref>https://villains.fandom.com/wiki/Legion_%28Castlevania%29</ref>.<br />
* In der Comicverfilmung ''[[Ghost Rider (Film)|Ghost Rider]]'' nennt sich der Charakter [[Figuren aus dem Marvel-Universum#Blackheart|Blackheart]] selbst Legion, nachdem er am Ende des Films 1000 Seelen absorbiert hat. Er verwendet auch die Worte „… denn wir sind viele.“<br />
* Der Endboss des Videospiels ''[[Shadow Man (Computerspiel)|Shadow Man]]'' aus dem Jahr 1999 heißt Legion. Er benutzt häufig die Phrase „Denn unser sind viele“; es wird innerhalb des Spiels auch auf die Bibelstelle Mk 5,9 verwiesen.<br />
* Eine Textzeile des Songs ''I'' vom [[Black Sabbath|Black-Sabbath]]-Album ''[[Dehumanizer]]'' lautet „I am wicked/I am Legion“.<br />
* Die deutsche Band [[Tocotronic]] veröffentlichte 2007 auf ihrem Album ''[[Kapitulation (Album)|Kapitulation]]'' den Song ''Wir sind viele'' mit der Textzeile „Wir sind viele / Unser Name ist Legion“.<br />
* Der Song ''Ich bin viele'' der deutschen Metal-Band [[Eisregen (Band)|Eisregen]] enthält die Zeile „Denn ich bin viele, mein Name ist Legion“.<br />
* Das zweite Studioalbum der antichristlichen Death-Metal-Band [[Deicide]] trägt den Titel ''[[Legion (Album)|Legion]]''.<br />
* Der Refrain des Songs „United in Hate“ vom Album [[Phantom Antichrist]] der deutschen Thrash-Metal-Band [[Kreator]] lautet „We are legion/ We are legion united in Hate“.<br />
* Der Song ''Fürst der Finsternis'' des deutschen Musikprojekts [[E Nomine]] beinhaltet die Textzeile „Mein Name ist Legion, denn wir sind viele“.<br />
* Ein Charakter in der Videospielreihe ''[[Mass Effect]]'' nennt sich selbst Legion. Er zitiert aus der Bibel: „I am Legion, for we are many“ und findet den Namen passend, da er die repräsentierende Gestalt eines Kollektivs aus tausenden [[Künstliche Intelligenz|KIs]] ist.<br />
* Das Motto des [[Anonymous (Kollektiv)|Internetphänomens Anonymous]] beginnt mit: „Wir sind Anonymous. Wir sind Legion/viele.“<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Joseph Atwill: ''Caesar’s Messiah: The Roman Conspiracy to Invent Jesus''. Ulysses Press, 2005, ISBN 1-56975-457-8.<br />
* Joseph Atwill: ''Das Messias Rätsel''. Allegria, Ullstein Buchverlage GmbH, 2008, ISBN 978-3-7934-2091-0.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* Liste griechischer Phrasen: [[Liste griechischer Phrasen/Lambda#Λεγεὼν ὄνομά μοι.|{{lang|grc|Λεγεὼν ὄνομά μοι.}}]] – „Mein Name ist ''Legion''.“<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Biblisches Thema]]<br />
[[Kategorie:Stoffe und Motive (Neues Testament)]]<br />
[[Kategorie:Teufel (Christentum)]]<br />
[[Kategorie:Wunder Jesu]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_gefesselte_Prometheus_(Aischylos)&diff=209598480Der gefesselte Prometheus (Aischylos)2021-03-08T22:35:27Z<p>Udo.bellack: /* Hermes */ Kommasetzung</p>
<hr />
<div>[[Datei:Prometheus Adam Louvre MR1745 edit.jpg|mini|Prométhée enchaîné. Skulptur von [[Nicolas Sébastien Adam]] (1762, [[Louvre]], Paris).]]<br />
'''''Der gefesselte Prometheus''''' ([[Altgriechische Sprache|griechisch]] {{lang|grc|Προμηθεὺς Δεσμώτης}} ''Promētheús desmṓtēs'') ist der Titel einer griechischen Tragödie, die bereits in der Antike dem [[Aischylos]] zugeschrieben wurde.<br />
<br />
== Autorschaft ==<br />
[[Datei:Prometheus Bound, Vienna, Cod. phil. gr. 197.jpg|mini|Der Anfang der Tragödie in der Handschrift Wien, [[Österreichische Nationalbibliothek]], Cod. Phil. gr. 197, fol. 145r (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts)]]<br />
Konventionell wurde das Werk als Teil einer [[Prometheia]], einer [[Trilogie]] mit [[Satyrspiel]], angesehen und dem Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben. Man folgte hierin antiker Tradition, die bereits von Gelehrten der [[Bibliothek von Alexandria|Bibliothek]] von [[Alexandria]] vertreten wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Autorschaft jedoch immer wieder angezweifelt. Das Problem ist nicht behoben.<ref>A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.</ref> Die Authentizität wird vor allem aus sprachlichen (Wortgebrauch und Stil), bühnentechnischen und gedanklichen (die Gestalt des Zeus als [[Tyrannis|Tyrannen]]) Gründen bestritten.<ref>Bremer 1988, S. 114–117</ref><br />
<br />
== Inhalt ==<br />
Der wegen des angeblichen Feuerraubs auf immer in skythische Eisenketten gelegte Titan [[Prometheus]] will dem olympischen Herrscher [[Zeus]] ein geheimes Wissen nicht verraten, das zu besitzen er behauptet. Nachdem Hermes schließlich den Prometheus ein letztes Mal aufgefordert hat, endlich den Namen der Hetäre zu nennen, welche Zeus und seine Gefolgsleute die ewige Herrschaft kosten würde, und Prometheus sich weigert, wird er unter Blitz und Donnerschlägen durch ein Erdbeben ins Schattenreich des [[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]] gesandt.<br />
<br />
=== Handelnde Personen ===<br />
[[Kratos]] & [[Bia (Mythologie)|Bia]], [[Hephaistos]], [[Prometheus]], [[Okeanide]]n, [[Okeanos]], [[Io (Mythologie)|Io]], [[Hermes]].<br />
<br />
==== Kratos & Bia ====<br />
Kratos (griechisch „Macht“) und Bia (griechisch „Gewalt“), die Knechte des [[Zeus]], schleppen Prometheus in den [[Kaukasus]], wo sie auf Zeus’ Befehl hin den widerstrebenden Hephaistos (''Ich aber bin voller Zagen, den verwandten Gott gewaltsam anzuketten diesem Winterfels'') zwingen, Prometheus an einen Felsen nahe dem Kaukasus zu ketten. Hephaistos hat zwar Mitleid mit Prometheus, jedoch auch Angst vor Zeus und fügt sich. „Bia (die Gewalt) schweigt, nur Kratos (die Macht) redet.“<br />
<br />
==== Chor ====<br />
Nachdem Hephaistos, Kratos und Bia abgegangen sind, erscheint der Chor aus den Töchtern des Okeanos, der ihm Freundschaft versichert und sich nach dem Grund dieser Strafe erkundigt, wobei die Chorführerin größtenteils den Dialog führt. Prometheus berichtet von dem Kampf gegen [[Kronos]], wobei er Zeus half, durch List und Klugheit dessen Vater zu stürzen. Zeus teilte sodann die Ämter aus, gedachte des Menschen jedoch nicht, so dass einzig Prometheus ihnen beisteht, ihnen das Feuer, Hoffnung und die Kunst der Weissagung verschafft. Der Chor mahnt ihn ob seiner Kühnheit, worauf Prometheus erklärt, dass er es im Wissen seiner Fesselung um des Menschen willen getan habe.<br />
<br />
==== Okeanos ====<br />
Der Chor fliegt davon, woraufhin Okeanos auf seinem Greif geritten kommt. Er bezeichnet sich als größten Freund des Prometheus und behauptet, er sei so schnell wie möglich hergeeilt. Doch Prometheus fragt ihn, ob er sich auch an seinem Leid ergötzen wolle, und empört sich erneut über Zeus. Okeanos mahnt ihn ebenfalls wegen der mangelnden Unterwürfigkeit gegenüber dem neuen Herrscher. Prometheus solle sich unterwerfen und um Gnade bitten, so dass er erlöst werde. Doch dieser reagiert mit Ironie auf diesen Rat des Okeanos, der nicht mit ihm die Menschen unterstützt hatte (''Mit Neid gewahr ich, dass du frei von Vorwurf bist, der kühnlich doch an allem mit mir teilgehabt.''). Okeanos bietet an, bei Zeus guten Einspruch einzulegen, doch Prometheus rät ihm davon ab, verweist auf seinen Bruder [[Atlas (Mythologie)|Atlas]] und [[Typhon (Mythologie)|Typhon]], wie es ihnen ergangen sei, und dass es Okeanos nicht genauso ergehen solle. Okeanos lässt sich überreden und fliegt davon.<br />
<br />
==== Chorführerin ====<br />
Der Chor kehrt zurück und beklagt Prometheus’ trauriges Schicksal.<br />
Daraufhin erzählt Prometheus, welches Wissen er den Menschen brachte, unter anderem die Heilkunde, Seefahrt, Meteorologie, Weissagung. Auch prophezeit er, dass Zeus einst abdanken und Prometheus erlöst werde. (''So ist vor ihnen also Zeus der Schwächere? - Dem, was bestimmt ist, wird er keinesfalls entgehn.'') Nur, so sagt er, dürfe er nicht die Zukunft Zeus’ berichten, so dass seine Prophezeiung in Erfüllung gehe. Der Chor singt vom Leiden Prometheus’ und der nicht kommenden Hilfe der unterstützten Menschen.<br />
<br />
==== Io ====<br />
Die gehörnte Io kommt hinzu. Prometheus verkündet ihr das Ende Zeus’ durch einen Sohn der Hera. Als Io erfährt, dass Prometheus die Weissagekunst beherrscht, möchte sie ihr eigenes Schicksal erfahren. Doch vorher berichtet sie, wie sie von der Liebe des Zeus träumte. Deshalb erhielt Inachos, der Vater der Io, das [[Orakel]], seine Tochter des Landes zu verweisen. Um die Liebe zu Io zu verschleiern, verwandelte er sie in eine Kuh. Doch Hera blieb dies nicht verborgen, schickte [[Argos (Riese)|Argos]] als Wächter und ließ die Kuh von einer [[Bremsen|Bremse]] jagen. Nun verkündet Prometheus den weiteren Weg der Io, dass sie den [[Bosporus]] (der nach ihr erst so benannt werden wird) überquert und schließlich über [[Äthiopien]] flussabwärts ins Nildelta nach [[Kanopus (Ägypten)|Kanopus]] gelangen werde, um dort den [[Epaphos]] zu gebären. Und dass ein Nachkomme der Io in 13. Generation, ein ''Held des Bogens'' (gemeint ist [[Herakles]]) Prometheus retten werde. Da Io die Stiche der Bremse nicht weiter ertragen kann, macht sie sich fort.<br />
<br />
==== Hermes ====<br />
Prometheus offenbart den Okeaniden, dass Zeus durch den Fluch des Kronos sein Ende finden werde. Hermes kommt hinzu und fordert, dass Prometheus dem Zeus eröffnet, wer ihn stürzen wird. Er droht mit Blitz und Sturm, die ihm arg zusetzen würden und dass ein Adler kommen werde, um seine Leber zu fressen. Da Prometheus sich weigert, dieses Wissen preiszugeben, ereilt ihn diese Strafe.<br />
<br />
== Rezeption ==<br />
[[Johann Gottfried Herder]] schrieb um 1800 das dramatische Gedicht ''Der entfesselte Prometheus'', das als Fortsetzung der griechischen Tragödie gedacht war und als Vorlage von [[Franz Liszt]]s sinfonischer Dichtung [[Prometheus (Liszt)|Prometheus]] diente.<br />
<br />
[[Carl Orff]] vertonte den originalen Text des Aischylos: [[Prometheus (Orff)|Diese Oper]], in [[Altgriechisch|altgriechischer Sprache]] gesungen, wurde am 24. März 1968 im [[Staatstheater Stuttgart]] unter der Leitung von [[Ferdinand Leitner]] in einer Inszenierung von [[Gustav Rudolf Sellner]] uraufgeführt.<br />
<br />
[[André Gide|Gide]] schrieb 1899 die Satire [[Der schlechtgefesselte Prometheus]].<br />
<br />
== Übersetzungen ==<br />
* [[Karl Philipp Conz]]. Laupp, Tübingen 1819.<br />
* [[Johannes Minckwitz]]. Metzler, Stuttgart 1839.<br />
* A. Zeising. Krais & Hoffmann, Stuttgart 1864.<br />
* [[Karl Wilhelm Osterwald]]. Halle 1873.<br />
* A. Oldenberg. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig um 1880.<br />
* Robert Joachim. J. Ewich, Duisburg 1907.<br />
* [[Carlo Philips]]. Insel-Verlag, Leipzig 1913.<br />
* [[Werner Meyer (Pädagoge)|Werner Meyer]]: ''Der gefesselte Prometheus''. Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, Heppenheim 1931<br />
* [[Hans Bogner]]. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1949.<br />
* Walter Kraus. Reclam, Stuttgart 1965.<br />
* [[Oskar Werner (Philologe)|Oskar Werner]]: ''Aischylos. Tragödien und Fragmente''. Reihe Tusculum München 2005. Griechisch-Deutsch.<br />
* [[Peter Handke]]. Prometheus, gefesselt. Suhrkamp, Frankfurt 1986.<br />
* [[Dieter Bremer]]. Prometheus in Fesseln. Zweisprachige Ausgabe. Mit dem griechischen Text herausgegeben und übersetzt von D.B. (Manuskript-Abschluss vor dem Erscheinen des Prometheus von Peter Handke, vgl. S. 175) Insel, Frankfurt 1988.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Rose Unterberger: ''Der Gefesselte Prometheus des Aischylos''. [[Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft]], Heft 45. Kohlhammer, Stuttgart 1968.<br />
* Mark Griffith: ''The Authenticity of the Prometheus Bound''. Cambridge 1977.<br />
* Bettina Vaupel: ''Göttergleich – Gottverlassen. Prometheus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts''. Weimar 2005.<br />
* A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.<br />
* Fabio Turato: ''Prometeo in Germania. Storia della fortuna e dell'interpretazione del Prometeo di Eschilo nella cultura tedesca (1771–1871).'' Olschki, Firenze 1988, ISBN 88-222-3560-6<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wikisource|Prometheus in Fesseln}}<br />
* Johann Gustav Droysen, Berlin 1832 [https://archive.org/details/desaischyloswer00droygoog Aischylos Werke (archive.org), ab S. 409]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Aischylos}}<br />
{{SORTIERUNG:Gefesselte Prometheus #Der}}<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk]]<br />
[[Kategorie:Antike Tragödie]]<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk der Antike]]<br />
[[Kategorie:Literatur (Altgriechisch)]]<br />
[[Kategorie:Prometheus]]<br />
[[Kategorie:Werk von Aischylos]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_gefesselte_Prometheus_(Aischylos)&diff=209598470Der gefesselte Prometheus (Aischylos)2021-03-08T22:34:45Z<p>Udo.bellack: /* Io */ Kommasetzung</p>
<hr />
<div>[[Datei:Prometheus Adam Louvre MR1745 edit.jpg|mini|Prométhée enchaîné. Skulptur von [[Nicolas Sébastien Adam]] (1762, [[Louvre]], Paris).]]<br />
'''''Der gefesselte Prometheus''''' ([[Altgriechische Sprache|griechisch]] {{lang|grc|Προμηθεὺς Δεσμώτης}} ''Promētheús desmṓtēs'') ist der Titel einer griechischen Tragödie, die bereits in der Antike dem [[Aischylos]] zugeschrieben wurde.<br />
<br />
== Autorschaft ==<br />
[[Datei:Prometheus Bound, Vienna, Cod. phil. gr. 197.jpg|mini|Der Anfang der Tragödie in der Handschrift Wien, [[Österreichische Nationalbibliothek]], Cod. Phil. gr. 197, fol. 145r (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts)]]<br />
Konventionell wurde das Werk als Teil einer [[Prometheia]], einer [[Trilogie]] mit [[Satyrspiel]], angesehen und dem Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben. Man folgte hierin antiker Tradition, die bereits von Gelehrten der [[Bibliothek von Alexandria|Bibliothek]] von [[Alexandria]] vertreten wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Autorschaft jedoch immer wieder angezweifelt. Das Problem ist nicht behoben.<ref>A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.</ref> Die Authentizität wird vor allem aus sprachlichen (Wortgebrauch und Stil), bühnentechnischen und gedanklichen (die Gestalt des Zeus als [[Tyrannis|Tyrannen]]) Gründen bestritten.<ref>Bremer 1988, S. 114–117</ref><br />
<br />
== Inhalt ==<br />
Der wegen des angeblichen Feuerraubs auf immer in skythische Eisenketten gelegte Titan [[Prometheus]] will dem olympischen Herrscher [[Zeus]] ein geheimes Wissen nicht verraten, das zu besitzen er behauptet. Nachdem Hermes schließlich den Prometheus ein letztes Mal aufgefordert hat, endlich den Namen der Hetäre zu nennen, welche Zeus und seine Gefolgsleute die ewige Herrschaft kosten würde, und Prometheus sich weigert, wird er unter Blitz und Donnerschlägen durch ein Erdbeben ins Schattenreich des [[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]] gesandt.<br />
<br />
=== Handelnde Personen ===<br />
[[Kratos]] & [[Bia (Mythologie)|Bia]], [[Hephaistos]], [[Prometheus]], [[Okeanide]]n, [[Okeanos]], [[Io (Mythologie)|Io]], [[Hermes]].<br />
<br />
==== Kratos & Bia ====<br />
Kratos (griechisch „Macht“) und Bia (griechisch „Gewalt“), die Knechte des [[Zeus]], schleppen Prometheus in den [[Kaukasus]], wo sie auf Zeus’ Befehl hin den widerstrebenden Hephaistos (''Ich aber bin voller Zagen, den verwandten Gott gewaltsam anzuketten diesem Winterfels'') zwingen, Prometheus an einen Felsen nahe dem Kaukasus zu ketten. Hephaistos hat zwar Mitleid mit Prometheus, jedoch auch Angst vor Zeus und fügt sich. „Bia (die Gewalt) schweigt, nur Kratos (die Macht) redet.“<br />
<br />
==== Chor ====<br />
Nachdem Hephaistos, Kratos und Bia abgegangen sind, erscheint der Chor aus den Töchtern des Okeanos, der ihm Freundschaft versichert und sich nach dem Grund dieser Strafe erkundigt, wobei die Chorführerin größtenteils den Dialog führt. Prometheus berichtet von dem Kampf gegen [[Kronos]], wobei er Zeus half, durch List und Klugheit dessen Vater zu stürzen. Zeus teilte sodann die Ämter aus, gedachte des Menschen jedoch nicht, so dass einzig Prometheus ihnen beisteht, ihnen das Feuer, Hoffnung und die Kunst der Weissagung verschafft. Der Chor mahnt ihn ob seiner Kühnheit, worauf Prometheus erklärt, dass er es im Wissen seiner Fesselung um des Menschen willen getan habe.<br />
<br />
==== Okeanos ====<br />
Der Chor fliegt davon, woraufhin Okeanos auf seinem Greif geritten kommt. Er bezeichnet sich als größten Freund des Prometheus und behauptet, er sei so schnell wie möglich hergeeilt. Doch Prometheus fragt ihn, ob er sich auch an seinem Leid ergötzen wolle, und empört sich erneut über Zeus. Okeanos mahnt ihn ebenfalls wegen der mangelnden Unterwürfigkeit gegenüber dem neuen Herrscher. Prometheus solle sich unterwerfen und um Gnade bitten, so dass er erlöst werde. Doch dieser reagiert mit Ironie auf diesen Rat des Okeanos, der nicht mit ihm die Menschen unterstützt hatte (''Mit Neid gewahr ich, dass du frei von Vorwurf bist, der kühnlich doch an allem mit mir teilgehabt.''). Okeanos bietet an, bei Zeus guten Einspruch einzulegen, doch Prometheus rät ihm davon ab, verweist auf seinen Bruder [[Atlas (Mythologie)|Atlas]] und [[Typhon (Mythologie)|Typhon]], wie es ihnen ergangen sei, und dass es Okeanos nicht genauso ergehen solle. Okeanos lässt sich überreden und fliegt davon.<br />
<br />
==== Chorführerin ====<br />
Der Chor kehrt zurück und beklagt Prometheus’ trauriges Schicksal.<br />
Daraufhin erzählt Prometheus, welches Wissen er den Menschen brachte, unter anderem die Heilkunde, Seefahrt, Meteorologie, Weissagung. Auch prophezeit er, dass Zeus einst abdanken und Prometheus erlöst werde. (''So ist vor ihnen also Zeus der Schwächere? - Dem, was bestimmt ist, wird er keinesfalls entgehn.'') Nur, so sagt er, dürfe er nicht die Zukunft Zeus’ berichten, so dass seine Prophezeiung in Erfüllung gehe. Der Chor singt vom Leiden Prometheus’ und der nicht kommenden Hilfe der unterstützten Menschen.<br />
<br />
==== Io ====<br />
Die gehörnte Io kommt hinzu. Prometheus verkündet ihr das Ende Zeus’ durch einen Sohn der Hera. Als Io erfährt, dass Prometheus die Weissagekunst beherrscht, möchte sie ihr eigenes Schicksal erfahren. Doch vorher berichtet sie, wie sie von der Liebe des Zeus träumte. Deshalb erhielt Inachos, der Vater der Io, das [[Orakel]], seine Tochter des Landes zu verweisen. Um die Liebe zu Io zu verschleiern, verwandelte er sie in eine Kuh. Doch Hera blieb dies nicht verborgen, schickte [[Argos (Riese)|Argos]] als Wächter und ließ die Kuh von einer [[Bremsen|Bremse]] jagen. Nun verkündet Prometheus den weiteren Weg der Io, dass sie den [[Bosporus]] (der nach ihr erst so benannt werden wird) überquert und schließlich über [[Äthiopien]] flussabwärts ins Nildelta nach [[Kanopus (Ägypten)|Kanopus]] gelangen werde, um dort den [[Epaphos]] zu gebären. Und dass ein Nachkomme der Io in 13. Generation, ein ''Held des Bogens'' (gemeint ist [[Herakles]]) Prometheus retten werde. Da Io die Stiche der Bremse nicht weiter ertragen kann, macht sie sich fort.<br />
<br />
==== Hermes ====<br />
Prometheus offenbart den Okeaniden, dass Zeus durch den Fluch des Kronos sein Ende finden werde. Hermes kommt hinzu und fordert, dass Prometheus dem Zeus eröffnet, wer ihn stürzen wird. Er droht mit Blitz und Sturm, die ihm arg zusetzen würden und dass ein Adler kommen werde, um seine Leber zu fressen. Da Prometheus sich weigert dieses Wissen preiszugeben, ereilt ihn diese Strafe.<br />
<br />
== Rezeption ==<br />
[[Johann Gottfried Herder]] schrieb um 1800 das dramatische Gedicht ''Der entfesselte Prometheus'', das als Fortsetzung der griechischen Tragödie gedacht war und als Vorlage von [[Franz Liszt]]s sinfonischer Dichtung [[Prometheus (Liszt)|Prometheus]] diente.<br />
<br />
[[Carl Orff]] vertonte den originalen Text des Aischylos: [[Prometheus (Orff)|Diese Oper]], in [[Altgriechisch|altgriechischer Sprache]] gesungen, wurde am 24. März 1968 im [[Staatstheater Stuttgart]] unter der Leitung von [[Ferdinand Leitner]] in einer Inszenierung von [[Gustav Rudolf Sellner]] uraufgeführt.<br />
<br />
[[André Gide|Gide]] schrieb 1899 die Satire [[Der schlechtgefesselte Prometheus]].<br />
<br />
== Übersetzungen ==<br />
* [[Karl Philipp Conz]]. Laupp, Tübingen 1819.<br />
* [[Johannes Minckwitz]]. Metzler, Stuttgart 1839.<br />
* A. Zeising. Krais & Hoffmann, Stuttgart 1864.<br />
* [[Karl Wilhelm Osterwald]]. Halle 1873.<br />
* A. Oldenberg. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig um 1880.<br />
* Robert Joachim. J. Ewich, Duisburg 1907.<br />
* [[Carlo Philips]]. Insel-Verlag, Leipzig 1913.<br />
* [[Werner Meyer (Pädagoge)|Werner Meyer]]: ''Der gefesselte Prometheus''. Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, Heppenheim 1931<br />
* [[Hans Bogner]]. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1949.<br />
* Walter Kraus. Reclam, Stuttgart 1965.<br />
* [[Oskar Werner (Philologe)|Oskar Werner]]: ''Aischylos. Tragödien und Fragmente''. Reihe Tusculum München 2005. Griechisch-Deutsch.<br />
* [[Peter Handke]]. Prometheus, gefesselt. Suhrkamp, Frankfurt 1986.<br />
* [[Dieter Bremer]]. Prometheus in Fesseln. Zweisprachige Ausgabe. Mit dem griechischen Text herausgegeben und übersetzt von D.B. (Manuskript-Abschluss vor dem Erscheinen des Prometheus von Peter Handke, vgl. S. 175) Insel, Frankfurt 1988.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Rose Unterberger: ''Der Gefesselte Prometheus des Aischylos''. [[Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft]], Heft 45. Kohlhammer, Stuttgart 1968.<br />
* Mark Griffith: ''The Authenticity of the Prometheus Bound''. Cambridge 1977.<br />
* Bettina Vaupel: ''Göttergleich – Gottverlassen. Prometheus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts''. Weimar 2005.<br />
* A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.<br />
* Fabio Turato: ''Prometeo in Germania. Storia della fortuna e dell'interpretazione del Prometeo di Eschilo nella cultura tedesca (1771–1871).'' Olschki, Firenze 1988, ISBN 88-222-3560-6<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wikisource|Prometheus in Fesseln}}<br />
* Johann Gustav Droysen, Berlin 1832 [https://archive.org/details/desaischyloswer00droygoog Aischylos Werke (archive.org), ab S. 409]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Aischylos}}<br />
{{SORTIERUNG:Gefesselte Prometheus #Der}}<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk]]<br />
[[Kategorie:Antike Tragödie]]<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk der Antike]]<br />
[[Kategorie:Literatur (Altgriechisch)]]<br />
[[Kategorie:Prometheus]]<br />
[[Kategorie:Werk von Aischylos]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_gefesselte_Prometheus_(Aischylos)&diff=209598436Der gefesselte Prometheus (Aischylos)2021-03-08T22:32:24Z<p>Udo.bellack: /* Okeanos */ Kommasetzung</p>
<hr />
<div>[[Datei:Prometheus Adam Louvre MR1745 edit.jpg|mini|Prométhée enchaîné. Skulptur von [[Nicolas Sébastien Adam]] (1762, [[Louvre]], Paris).]]<br />
'''''Der gefesselte Prometheus''''' ([[Altgriechische Sprache|griechisch]] {{lang|grc|Προμηθεὺς Δεσμώτης}} ''Promētheús desmṓtēs'') ist der Titel einer griechischen Tragödie, die bereits in der Antike dem [[Aischylos]] zugeschrieben wurde.<br />
<br />
== Autorschaft ==<br />
[[Datei:Prometheus Bound, Vienna, Cod. phil. gr. 197.jpg|mini|Der Anfang der Tragödie in der Handschrift Wien, [[Österreichische Nationalbibliothek]], Cod. Phil. gr. 197, fol. 145r (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts)]]<br />
Konventionell wurde das Werk als Teil einer [[Prometheia]], einer [[Trilogie]] mit [[Satyrspiel]], angesehen und dem Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben. Man folgte hierin antiker Tradition, die bereits von Gelehrten der [[Bibliothek von Alexandria|Bibliothek]] von [[Alexandria]] vertreten wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Autorschaft jedoch immer wieder angezweifelt. Das Problem ist nicht behoben.<ref>A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.</ref> Die Authentizität wird vor allem aus sprachlichen (Wortgebrauch und Stil), bühnentechnischen und gedanklichen (die Gestalt des Zeus als [[Tyrannis|Tyrannen]]) Gründen bestritten.<ref>Bremer 1988, S. 114–117</ref><br />
<br />
== Inhalt ==<br />
Der wegen des angeblichen Feuerraubs auf immer in skythische Eisenketten gelegte Titan [[Prometheus]] will dem olympischen Herrscher [[Zeus]] ein geheimes Wissen nicht verraten, das zu besitzen er behauptet. Nachdem Hermes schließlich den Prometheus ein letztes Mal aufgefordert hat, endlich den Namen der Hetäre zu nennen, welche Zeus und seine Gefolgsleute die ewige Herrschaft kosten würde, und Prometheus sich weigert, wird er unter Blitz und Donnerschlägen durch ein Erdbeben ins Schattenreich des [[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]] gesandt.<br />
<br />
=== Handelnde Personen ===<br />
[[Kratos]] & [[Bia (Mythologie)|Bia]], [[Hephaistos]], [[Prometheus]], [[Okeanide]]n, [[Okeanos]], [[Io (Mythologie)|Io]], [[Hermes]].<br />
<br />
==== Kratos & Bia ====<br />
Kratos (griechisch „Macht“) und Bia (griechisch „Gewalt“), die Knechte des [[Zeus]], schleppen Prometheus in den [[Kaukasus]], wo sie auf Zeus’ Befehl hin den widerstrebenden Hephaistos (''Ich aber bin voller Zagen, den verwandten Gott gewaltsam anzuketten diesem Winterfels'') zwingen, Prometheus an einen Felsen nahe dem Kaukasus zu ketten. Hephaistos hat zwar Mitleid mit Prometheus, jedoch auch Angst vor Zeus und fügt sich. „Bia (die Gewalt) schweigt, nur Kratos (die Macht) redet.“<br />
<br />
==== Chor ====<br />
Nachdem Hephaistos, Kratos und Bia abgegangen sind, erscheint der Chor aus den Töchtern des Okeanos, der ihm Freundschaft versichert und sich nach dem Grund dieser Strafe erkundigt, wobei die Chorführerin größtenteils den Dialog führt. Prometheus berichtet von dem Kampf gegen [[Kronos]], wobei er Zeus half, durch List und Klugheit dessen Vater zu stürzen. Zeus teilte sodann die Ämter aus, gedachte des Menschen jedoch nicht, so dass einzig Prometheus ihnen beisteht, ihnen das Feuer, Hoffnung und die Kunst der Weissagung verschafft. Der Chor mahnt ihn ob seiner Kühnheit, worauf Prometheus erklärt, dass er es im Wissen seiner Fesselung um des Menschen willen getan habe.<br />
<br />
==== Okeanos ====<br />
Der Chor fliegt davon, woraufhin Okeanos auf seinem Greif geritten kommt. Er bezeichnet sich als größten Freund des Prometheus und behauptet, er sei so schnell wie möglich hergeeilt. Doch Prometheus fragt ihn, ob er sich auch an seinem Leid ergötzen wolle, und empört sich erneut über Zeus. Okeanos mahnt ihn ebenfalls wegen der mangelnden Unterwürfigkeit gegenüber dem neuen Herrscher. Prometheus solle sich unterwerfen und um Gnade bitten, so dass er erlöst werde. Doch dieser reagiert mit Ironie auf diesen Rat des Okeanos, der nicht mit ihm die Menschen unterstützt hatte (''Mit Neid gewahr ich, dass du frei von Vorwurf bist, der kühnlich doch an allem mit mir teilgehabt.''). Okeanos bietet an, bei Zeus guten Einspruch einzulegen, doch Prometheus rät ihm davon ab, verweist auf seinen Bruder [[Atlas (Mythologie)|Atlas]] und [[Typhon (Mythologie)|Typhon]], wie es ihnen ergangen sei, und dass es Okeanos nicht genauso ergehen solle. Okeanos lässt sich überreden und fliegt davon.<br />
<br />
==== Chorführerin ====<br />
Der Chor kehrt zurück und beklagt Prometheus’ trauriges Schicksal.<br />
Daraufhin erzählt Prometheus, welches Wissen er den Menschen brachte, unter anderem die Heilkunde, Seefahrt, Meteorologie, Weissagung. Auch prophezeit er, dass Zeus einst abdanken und Prometheus erlöst werde. (''So ist vor ihnen also Zeus der Schwächere? - Dem, was bestimmt ist, wird er keinesfalls entgehn.'') Nur, so sagt er, dürfe er nicht die Zukunft Zeus’ berichten, so dass seine Prophezeiung in Erfüllung gehe. Der Chor singt vom Leiden Prometheus’ und der nicht kommenden Hilfe der unterstützten Menschen.<br />
<br />
==== Io ====<br />
Die gehörnte Io kommt hinzu. Prometheus verkündet ihr das Ende Zeus’ durch einen Sohn der Hera. Als Io erfährt, dass Prometheus die Weissagekunst beherrscht, möchte sie ihr eigenes Schicksal erfahren. Doch vorher berichtet sie, wie sie von der Liebe des Zeus träumte. Deshalb erhielt Inachos, der Vater der Io, das [[Orakel]] seine Tochter des Landes zu verweisen. Um die Liebe zu Io zu verschleiern, verwandelte er sie in eine Kuh. Doch Hera blieb dies nicht verborgen, schickte [[Argos (Riese)|Argos]] als Wächter und ließ die Kuh von einer [[Bremsen|Bremse]] jagen. Nun verkündet Prometheus den weiteren Weg der Io, dass sie den [[Bosporus]] (der nach ihr erst so benannt werden wird) überquert und schließlich über [[Äthiopien]] flussabwärts ins Nildelta nach [[Kanopus (Ägypten)|Kanopus]] gelangen werde, um dort den [[Epaphos]] zu gebären. Und dass ein Nachkomme der Io in 13. Generation, ein ''Held des Bogens'' (gemeint ist [[Herakles]]) Prometheus retten werde. Da Io die Stiche der Bremse nicht weiter ertragen kann, macht sie sich fort.<br />
<br />
==== Hermes ====<br />
Prometheus offenbart den Okeaniden, dass Zeus durch den Fluch des Kronos sein Ende finden werde. Hermes kommt hinzu und fordert, dass Prometheus dem Zeus eröffnet, wer ihn stürzen wird. Er droht mit Blitz und Sturm, die ihm arg zusetzen würden und dass ein Adler kommen werde, um seine Leber zu fressen. Da Prometheus sich weigert dieses Wissen preiszugeben, ereilt ihn diese Strafe.<br />
<br />
== Rezeption ==<br />
[[Johann Gottfried Herder]] schrieb um 1800 das dramatische Gedicht ''Der entfesselte Prometheus'', das als Fortsetzung der griechischen Tragödie gedacht war und als Vorlage von [[Franz Liszt]]s sinfonischer Dichtung [[Prometheus (Liszt)|Prometheus]] diente.<br />
<br />
[[Carl Orff]] vertonte den originalen Text des Aischylos: [[Prometheus (Orff)|Diese Oper]], in [[Altgriechisch|altgriechischer Sprache]] gesungen, wurde am 24. März 1968 im [[Staatstheater Stuttgart]] unter der Leitung von [[Ferdinand Leitner]] in einer Inszenierung von [[Gustav Rudolf Sellner]] uraufgeführt.<br />
<br />
[[André Gide|Gide]] schrieb 1899 die Satire [[Der schlechtgefesselte Prometheus]].<br />
<br />
== Übersetzungen ==<br />
* [[Karl Philipp Conz]]. Laupp, Tübingen 1819.<br />
* [[Johannes Minckwitz]]. Metzler, Stuttgart 1839.<br />
* A. Zeising. Krais & Hoffmann, Stuttgart 1864.<br />
* [[Karl Wilhelm Osterwald]]. Halle 1873.<br />
* A. Oldenberg. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig um 1880.<br />
* Robert Joachim. J. Ewich, Duisburg 1907.<br />
* [[Carlo Philips]]. Insel-Verlag, Leipzig 1913.<br />
* [[Werner Meyer (Pädagoge)|Werner Meyer]]: ''Der gefesselte Prometheus''. Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, Heppenheim 1931<br />
* [[Hans Bogner]]. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1949.<br />
* Walter Kraus. Reclam, Stuttgart 1965.<br />
* [[Oskar Werner (Philologe)|Oskar Werner]]: ''Aischylos. Tragödien und Fragmente''. Reihe Tusculum München 2005. Griechisch-Deutsch.<br />
* [[Peter Handke]]. Prometheus, gefesselt. Suhrkamp, Frankfurt 1986.<br />
* [[Dieter Bremer]]. Prometheus in Fesseln. Zweisprachige Ausgabe. Mit dem griechischen Text herausgegeben und übersetzt von D.B. (Manuskript-Abschluss vor dem Erscheinen des Prometheus von Peter Handke, vgl. S. 175) Insel, Frankfurt 1988.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Rose Unterberger: ''Der Gefesselte Prometheus des Aischylos''. [[Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft]], Heft 45. Kohlhammer, Stuttgart 1968.<br />
* Mark Griffith: ''The Authenticity of the Prometheus Bound''. Cambridge 1977.<br />
* Bettina Vaupel: ''Göttergleich – Gottverlassen. Prometheus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts''. Weimar 2005.<br />
* A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.<br />
* Fabio Turato: ''Prometeo in Germania. Storia della fortuna e dell'interpretazione del Prometeo di Eschilo nella cultura tedesca (1771–1871).'' Olschki, Firenze 1988, ISBN 88-222-3560-6<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wikisource|Prometheus in Fesseln}}<br />
* Johann Gustav Droysen, Berlin 1832 [https://archive.org/details/desaischyloswer00droygoog Aischylos Werke (archive.org), ab S. 409]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Aischylos}}<br />
{{SORTIERUNG:Gefesselte Prometheus #Der}}<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk]]<br />
[[Kategorie:Antike Tragödie]]<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk der Antike]]<br />
[[Kategorie:Literatur (Altgriechisch)]]<br />
[[Kategorie:Prometheus]]<br />
[[Kategorie:Werk von Aischylos]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_gefesselte_Prometheus_(Aischylos)&diff=209598414Der gefesselte Prometheus (Aischylos)2021-03-08T22:31:00Z<p>Udo.bellack: /* Chor */ Kommasetzung</p>
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<div>[[Datei:Prometheus Adam Louvre MR1745 edit.jpg|mini|Prométhée enchaîné. Skulptur von [[Nicolas Sébastien Adam]] (1762, [[Louvre]], Paris).]]<br />
'''''Der gefesselte Prometheus''''' ([[Altgriechische Sprache|griechisch]] {{lang|grc|Προμηθεὺς Δεσμώτης}} ''Promētheús desmṓtēs'') ist der Titel einer griechischen Tragödie, die bereits in der Antike dem [[Aischylos]] zugeschrieben wurde.<br />
<br />
== Autorschaft ==<br />
[[Datei:Prometheus Bound, Vienna, Cod. phil. gr. 197.jpg|mini|Der Anfang der Tragödie in der Handschrift Wien, [[Österreichische Nationalbibliothek]], Cod. Phil. gr. 197, fol. 145r (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts)]]<br />
Konventionell wurde das Werk als Teil einer [[Prometheia]], einer [[Trilogie]] mit [[Satyrspiel]], angesehen und dem Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben. Man folgte hierin antiker Tradition, die bereits von Gelehrten der [[Bibliothek von Alexandria|Bibliothek]] von [[Alexandria]] vertreten wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Autorschaft jedoch immer wieder angezweifelt. Das Problem ist nicht behoben.<ref>A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.</ref> Die Authentizität wird vor allem aus sprachlichen (Wortgebrauch und Stil), bühnentechnischen und gedanklichen (die Gestalt des Zeus als [[Tyrannis|Tyrannen]]) Gründen bestritten.<ref>Bremer 1988, S. 114–117</ref><br />
<br />
== Inhalt ==<br />
Der wegen des angeblichen Feuerraubs auf immer in skythische Eisenketten gelegte Titan [[Prometheus]] will dem olympischen Herrscher [[Zeus]] ein geheimes Wissen nicht verraten, das zu besitzen er behauptet. Nachdem Hermes schließlich den Prometheus ein letztes Mal aufgefordert hat, endlich den Namen der Hetäre zu nennen, welche Zeus und seine Gefolgsleute die ewige Herrschaft kosten würde, und Prometheus sich weigert, wird er unter Blitz und Donnerschlägen durch ein Erdbeben ins Schattenreich des [[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]] gesandt.<br />
<br />
=== Handelnde Personen ===<br />
[[Kratos]] & [[Bia (Mythologie)|Bia]], [[Hephaistos]], [[Prometheus]], [[Okeanide]]n, [[Okeanos]], [[Io (Mythologie)|Io]], [[Hermes]].<br />
<br />
==== Kratos & Bia ====<br />
Kratos (griechisch „Macht“) und Bia (griechisch „Gewalt“), die Knechte des [[Zeus]], schleppen Prometheus in den [[Kaukasus]], wo sie auf Zeus’ Befehl hin den widerstrebenden Hephaistos (''Ich aber bin voller Zagen, den verwandten Gott gewaltsam anzuketten diesem Winterfels'') zwingen, Prometheus an einen Felsen nahe dem Kaukasus zu ketten. Hephaistos hat zwar Mitleid mit Prometheus, jedoch auch Angst vor Zeus und fügt sich. „Bia (die Gewalt) schweigt, nur Kratos (die Macht) redet.“<br />
<br />
==== Chor ====<br />
Nachdem Hephaistos, Kratos und Bia abgegangen sind, erscheint der Chor aus den Töchtern des Okeanos, der ihm Freundschaft versichert und sich nach dem Grund dieser Strafe erkundigt, wobei die Chorführerin größtenteils den Dialog führt. Prometheus berichtet von dem Kampf gegen [[Kronos]], wobei er Zeus half, durch List und Klugheit dessen Vater zu stürzen. Zeus teilte sodann die Ämter aus, gedachte des Menschen jedoch nicht, so dass einzig Prometheus ihnen beisteht, ihnen das Feuer, Hoffnung und die Kunst der Weissagung verschafft. Der Chor mahnt ihn ob seiner Kühnheit, worauf Prometheus erklärt, dass er es im Wissen seiner Fesselung um des Menschen willen getan habe.<br />
<br />
==== Okeanos ====<br />
Der Chor fliegt davon, woraufhin Okeanos auf seinem Greif geritten kommt. Er bezeichnet sich als größten Freund des Prometheus und behauptet, er sei so schnell wie möglich hergeeilt. Doch Prometheus fragt ihn, ob er sich auch an seinem Leid ergötzen wolle und empört sich erneut über Zeus. Okeanos mahnt ihn ebenfalls wegen der mangelnden Unterwürfigkeit gegenüber dem neuen Herrscher. Prometheus solle sich unterwerfen und um Gnade bitten, so dass er erlöst werde. Doch dieser reagiert mit Ironie auf diesen Rat des Okeanos, der nicht mit ihm die Menschen unterstützt hatte (''Mit Neid gewahr ich, dass du frei von Vorwurf bist, der kühnlich doch an allem mit mir teilgehabt.''). Okeanos bietet an, bei Zeus guten Einspruch einzulegen, doch Prometheus rät ihm davon ab, verweist auf seinen Bruder [[Atlas (Mythologie)|Atlas]] und [[Typhon (Mythologie)|Typhon]], wie es ihnen ergangen sei, und dass es Okeanos nicht genauso ergehen solle. Okeanos lässt sich überreden und fliegt davon.<br />
<br />
==== Chorführerin ====<br />
Der Chor kehrt zurück und beklagt Prometheus’ trauriges Schicksal.<br />
Daraufhin erzählt Prometheus, welches Wissen er den Menschen brachte, unter anderem die Heilkunde, Seefahrt, Meteorologie, Weissagung. Auch prophezeit er, dass Zeus einst abdanken und Prometheus erlöst werde. (''So ist vor ihnen also Zeus der Schwächere? - Dem, was bestimmt ist, wird er keinesfalls entgehn.'') Nur, so sagt er, dürfe er nicht die Zukunft Zeus’ berichten, so dass seine Prophezeiung in Erfüllung gehe. Der Chor singt vom Leiden Prometheus’ und der nicht kommenden Hilfe der unterstützten Menschen.<br />
<br />
==== Io ====<br />
Die gehörnte Io kommt hinzu. Prometheus verkündet ihr das Ende Zeus’ durch einen Sohn der Hera. Als Io erfährt, dass Prometheus die Weissagekunst beherrscht, möchte sie ihr eigenes Schicksal erfahren. Doch vorher berichtet sie, wie sie von der Liebe des Zeus träumte. Deshalb erhielt Inachos, der Vater der Io, das [[Orakel]] seine Tochter des Landes zu verweisen. Um die Liebe zu Io zu verschleiern, verwandelte er sie in eine Kuh. Doch Hera blieb dies nicht verborgen, schickte [[Argos (Riese)|Argos]] als Wächter und ließ die Kuh von einer [[Bremsen|Bremse]] jagen. Nun verkündet Prometheus den weiteren Weg der Io, dass sie den [[Bosporus]] (der nach ihr erst so benannt werden wird) überquert und schließlich über [[Äthiopien]] flussabwärts ins Nildelta nach [[Kanopus (Ägypten)|Kanopus]] gelangen werde, um dort den [[Epaphos]] zu gebären. Und dass ein Nachkomme der Io in 13. Generation, ein ''Held des Bogens'' (gemeint ist [[Herakles]]) Prometheus retten werde. Da Io die Stiche der Bremse nicht weiter ertragen kann, macht sie sich fort.<br />
<br />
==== Hermes ====<br />
Prometheus offenbart den Okeaniden, dass Zeus durch den Fluch des Kronos sein Ende finden werde. Hermes kommt hinzu und fordert, dass Prometheus dem Zeus eröffnet, wer ihn stürzen wird. Er droht mit Blitz und Sturm, die ihm arg zusetzen würden und dass ein Adler kommen werde, um seine Leber zu fressen. Da Prometheus sich weigert dieses Wissen preiszugeben, ereilt ihn diese Strafe.<br />
<br />
== Rezeption ==<br />
[[Johann Gottfried Herder]] schrieb um 1800 das dramatische Gedicht ''Der entfesselte Prometheus'', das als Fortsetzung der griechischen Tragödie gedacht war und als Vorlage von [[Franz Liszt]]s sinfonischer Dichtung [[Prometheus (Liszt)|Prometheus]] diente.<br />
<br />
[[Carl Orff]] vertonte den originalen Text des Aischylos: [[Prometheus (Orff)|Diese Oper]], in [[Altgriechisch|altgriechischer Sprache]] gesungen, wurde am 24. März 1968 im [[Staatstheater Stuttgart]] unter der Leitung von [[Ferdinand Leitner]] in einer Inszenierung von [[Gustav Rudolf Sellner]] uraufgeführt.<br />
<br />
[[André Gide|Gide]] schrieb 1899 die Satire [[Der schlechtgefesselte Prometheus]].<br />
<br />
== Übersetzungen ==<br />
* [[Karl Philipp Conz]]. Laupp, Tübingen 1819.<br />
* [[Johannes Minckwitz]]. Metzler, Stuttgart 1839.<br />
* A. Zeising. Krais & Hoffmann, Stuttgart 1864.<br />
* [[Karl Wilhelm Osterwald]]. Halle 1873.<br />
* A. Oldenberg. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig um 1880.<br />
* Robert Joachim. J. Ewich, Duisburg 1907.<br />
* [[Carlo Philips]]. Insel-Verlag, Leipzig 1913.<br />
* [[Werner Meyer (Pädagoge)|Werner Meyer]]: ''Der gefesselte Prometheus''. Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, Heppenheim 1931<br />
* [[Hans Bogner]]. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1949.<br />
* Walter Kraus. Reclam, Stuttgart 1965.<br />
* [[Oskar Werner (Philologe)|Oskar Werner]]: ''Aischylos. Tragödien und Fragmente''. Reihe Tusculum München 2005. Griechisch-Deutsch.<br />
* [[Peter Handke]]. Prometheus, gefesselt. Suhrkamp, Frankfurt 1986.<br />
* [[Dieter Bremer]]. Prometheus in Fesseln. Zweisprachige Ausgabe. Mit dem griechischen Text herausgegeben und übersetzt von D.B. (Manuskript-Abschluss vor dem Erscheinen des Prometheus von Peter Handke, vgl. S. 175) Insel, Frankfurt 1988.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Rose Unterberger: ''Der Gefesselte Prometheus des Aischylos''. [[Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft]], Heft 45. Kohlhammer, Stuttgart 1968.<br />
* Mark Griffith: ''The Authenticity of the Prometheus Bound''. Cambridge 1977.<br />
* Bettina Vaupel: ''Göttergleich – Gottverlassen. Prometheus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts''. Weimar 2005.<br />
* A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.<br />
* Fabio Turato: ''Prometeo in Germania. Storia della fortuna e dell'interpretazione del Prometeo di Eschilo nella cultura tedesca (1771–1871).'' Olschki, Firenze 1988, ISBN 88-222-3560-6<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wikisource|Prometheus in Fesseln}}<br />
* Johann Gustav Droysen, Berlin 1832 [https://archive.org/details/desaischyloswer00droygoog Aischylos Werke (archive.org), ab S. 409]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Aischylos}}<br />
{{SORTIERUNG:Gefesselte Prometheus #Der}}<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk]]<br />
[[Kategorie:Antike Tragödie]]<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk der Antike]]<br />
[[Kategorie:Literatur (Altgriechisch)]]<br />
[[Kategorie:Prometheus]]<br />
[[Kategorie:Werk von Aischylos]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Der_gefesselte_Prometheus_(Aischylos)&diff=209598383Der gefesselte Prometheus (Aischylos)2021-03-08T22:29:06Z<p>Udo.bellack: /* Autorschaft */ Kommasetzung</p>
<hr />
<div>[[Datei:Prometheus Adam Louvre MR1745 edit.jpg|mini|Prométhée enchaîné. Skulptur von [[Nicolas Sébastien Adam]] (1762, [[Louvre]], Paris).]]<br />
'''''Der gefesselte Prometheus''''' ([[Altgriechische Sprache|griechisch]] {{lang|grc|Προμηθεὺς Δεσμώτης}} ''Promētheús desmṓtēs'') ist der Titel einer griechischen Tragödie, die bereits in der Antike dem [[Aischylos]] zugeschrieben wurde.<br />
<br />
== Autorschaft ==<br />
[[Datei:Prometheus Bound, Vienna, Cod. phil. gr. 197.jpg|mini|Der Anfang der Tragödie in der Handschrift Wien, [[Österreichische Nationalbibliothek]], Cod. Phil. gr. 197, fol. 145r (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts)]]<br />
Konventionell wurde das Werk als Teil einer [[Prometheia]], einer [[Trilogie]] mit [[Satyrspiel]], angesehen und dem Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben. Man folgte hierin antiker Tradition, die bereits von Gelehrten der [[Bibliothek von Alexandria|Bibliothek]] von [[Alexandria]] vertreten wurde. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese Autorschaft jedoch immer wieder angezweifelt. Das Problem ist nicht behoben.<ref>A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.</ref> Die Authentizität wird vor allem aus sprachlichen (Wortgebrauch und Stil), bühnentechnischen und gedanklichen (die Gestalt des Zeus als [[Tyrannis|Tyrannen]]) Gründen bestritten.<ref>Bremer 1988, S. 114–117</ref><br />
<br />
== Inhalt ==<br />
Der wegen des angeblichen Feuerraubs auf immer in skythische Eisenketten gelegte Titan [[Prometheus]] will dem olympischen Herrscher [[Zeus]] ein geheimes Wissen nicht verraten, das zu besitzen er behauptet. Nachdem Hermes schließlich den Prometheus ein letztes Mal aufgefordert hat, endlich den Namen der Hetäre zu nennen, welche Zeus und seine Gefolgsleute die ewige Herrschaft kosten würde, und Prometheus sich weigert, wird er unter Blitz und Donnerschlägen durch ein Erdbeben ins Schattenreich des [[Unterwelt der griechischen Mythologie|Hades]] gesandt.<br />
<br />
=== Handelnde Personen ===<br />
[[Kratos]] & [[Bia (Mythologie)|Bia]], [[Hephaistos]], [[Prometheus]], [[Okeanide]]n, [[Okeanos]], [[Io (Mythologie)|Io]], [[Hermes]].<br />
<br />
==== Kratos & Bia ====<br />
Kratos (griechisch „Macht“) und Bia (griechisch „Gewalt“), die Knechte des [[Zeus]], schleppen Prometheus in den [[Kaukasus]], wo sie auf Zeus’ Befehl hin den widerstrebenden Hephaistos (''Ich aber bin voller Zagen, den verwandten Gott gewaltsam anzuketten diesem Winterfels'') zwingen, Prometheus an einen Felsen nahe dem Kaukasus zu ketten. Hephaistos hat zwar Mitleid mit Prometheus, jedoch auch Angst vor Zeus und fügt sich. „Bia (die Gewalt) schweigt, nur Kratos (die Macht) redet.“<br />
<br />
==== Chor ====<br />
Nachdem Hephaistos, Kratos und Bia abgegangen sind, erscheint der Chor aus den Töchtern des Okeanos, der ihm Freundschaft versichert und sich nach dem Grund dieser Strafe erkundigt, wobei die Chorführerin größtenteils den Dialog führt. Prometheus berichtet von dem Kampf gegen [[Kronos]], wobei er Zeus half durch List und Klugheit dessen Vater zu stürzen. Zeus teilte sodann die Ämter aus, gedachte des Menschen jedoch nicht, so dass einzig Prometheus ihnen beisteht, ihnen das Feuer, Hoffnung und die Kunst der Weissagung verschafft. Der Chor mahnt ihn ob seiner Kühnheit, worauf Prometheus erklärt, dass er es im Wissen seiner Fesselung um des Menschen willen getan habe.<br />
<br />
==== Okeanos ====<br />
Der Chor fliegt davon, woraufhin Okeanos auf seinem Greif geritten kommt. Er bezeichnet sich als größten Freund des Prometheus und behauptet, er sei so schnell wie möglich hergeeilt. Doch Prometheus fragt ihn, ob er sich auch an seinem Leid ergötzen wolle und empört sich erneut über Zeus. Okeanos mahnt ihn ebenfalls wegen der mangelnden Unterwürfigkeit gegenüber dem neuen Herrscher. Prometheus solle sich unterwerfen und um Gnade bitten, so dass er erlöst werde. Doch dieser reagiert mit Ironie auf diesen Rat des Okeanos, der nicht mit ihm die Menschen unterstützt hatte (''Mit Neid gewahr ich, dass du frei von Vorwurf bist, der kühnlich doch an allem mit mir teilgehabt.''). Okeanos bietet an, bei Zeus guten Einspruch einzulegen, doch Prometheus rät ihm davon ab, verweist auf seinen Bruder [[Atlas (Mythologie)|Atlas]] und [[Typhon (Mythologie)|Typhon]], wie es ihnen ergangen sei, und dass es Okeanos nicht genauso ergehen solle. Okeanos lässt sich überreden und fliegt davon.<br />
<br />
==== Chorführerin ====<br />
Der Chor kehrt zurück und beklagt Prometheus’ trauriges Schicksal.<br />
Daraufhin erzählt Prometheus, welches Wissen er den Menschen brachte, unter anderem die Heilkunde, Seefahrt, Meteorologie, Weissagung. Auch prophezeit er, dass Zeus einst abdanken und Prometheus erlöst werde. (''So ist vor ihnen also Zeus der Schwächere? - Dem, was bestimmt ist, wird er keinesfalls entgehn.'') Nur, so sagt er, dürfe er nicht die Zukunft Zeus’ berichten, so dass seine Prophezeiung in Erfüllung gehe. Der Chor singt vom Leiden Prometheus’ und der nicht kommenden Hilfe der unterstützten Menschen.<br />
<br />
==== Io ====<br />
Die gehörnte Io kommt hinzu. Prometheus verkündet ihr das Ende Zeus’ durch einen Sohn der Hera. Als Io erfährt, dass Prometheus die Weissagekunst beherrscht, möchte sie ihr eigenes Schicksal erfahren. Doch vorher berichtet sie, wie sie von der Liebe des Zeus träumte. Deshalb erhielt Inachos, der Vater der Io, das [[Orakel]] seine Tochter des Landes zu verweisen. Um die Liebe zu Io zu verschleiern, verwandelte er sie in eine Kuh. Doch Hera blieb dies nicht verborgen, schickte [[Argos (Riese)|Argos]] als Wächter und ließ die Kuh von einer [[Bremsen|Bremse]] jagen. Nun verkündet Prometheus den weiteren Weg der Io, dass sie den [[Bosporus]] (der nach ihr erst so benannt werden wird) überquert und schließlich über [[Äthiopien]] flussabwärts ins Nildelta nach [[Kanopus (Ägypten)|Kanopus]] gelangen werde, um dort den [[Epaphos]] zu gebären. Und dass ein Nachkomme der Io in 13. Generation, ein ''Held des Bogens'' (gemeint ist [[Herakles]]) Prometheus retten werde. Da Io die Stiche der Bremse nicht weiter ertragen kann, macht sie sich fort.<br />
<br />
==== Hermes ====<br />
Prometheus offenbart den Okeaniden, dass Zeus durch den Fluch des Kronos sein Ende finden werde. Hermes kommt hinzu und fordert, dass Prometheus dem Zeus eröffnet, wer ihn stürzen wird. Er droht mit Blitz und Sturm, die ihm arg zusetzen würden und dass ein Adler kommen werde, um seine Leber zu fressen. Da Prometheus sich weigert dieses Wissen preiszugeben, ereilt ihn diese Strafe.<br />
<br />
== Rezeption ==<br />
[[Johann Gottfried Herder]] schrieb um 1800 das dramatische Gedicht ''Der entfesselte Prometheus'', das als Fortsetzung der griechischen Tragödie gedacht war und als Vorlage von [[Franz Liszt]]s sinfonischer Dichtung [[Prometheus (Liszt)|Prometheus]] diente.<br />
<br />
[[Carl Orff]] vertonte den originalen Text des Aischylos: [[Prometheus (Orff)|Diese Oper]], in [[Altgriechisch|altgriechischer Sprache]] gesungen, wurde am 24. März 1968 im [[Staatstheater Stuttgart]] unter der Leitung von [[Ferdinand Leitner]] in einer Inszenierung von [[Gustav Rudolf Sellner]] uraufgeführt.<br />
<br />
[[André Gide|Gide]] schrieb 1899 die Satire [[Der schlechtgefesselte Prometheus]].<br />
<br />
== Übersetzungen ==<br />
* [[Karl Philipp Conz]]. Laupp, Tübingen 1819.<br />
* [[Johannes Minckwitz]]. Metzler, Stuttgart 1839.<br />
* A. Zeising. Krais & Hoffmann, Stuttgart 1864.<br />
* [[Karl Wilhelm Osterwald]]. Halle 1873.<br />
* A. Oldenberg. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig um 1880.<br />
* Robert Joachim. J. Ewich, Duisburg 1907.<br />
* [[Carlo Philips]]. Insel-Verlag, Leipzig 1913.<br />
* [[Werner Meyer (Pädagoge)|Werner Meyer]]: ''Der gefesselte Prometheus''. Waldkauzdruckerei der Odenwaldschule, Heppenheim 1931<br />
* [[Hans Bogner]]. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1949.<br />
* Walter Kraus. Reclam, Stuttgart 1965.<br />
* [[Oskar Werner (Philologe)|Oskar Werner]]: ''Aischylos. Tragödien und Fragmente''. Reihe Tusculum München 2005. Griechisch-Deutsch.<br />
* [[Peter Handke]]. Prometheus, gefesselt. Suhrkamp, Frankfurt 1986.<br />
* [[Dieter Bremer]]. Prometheus in Fesseln. Zweisprachige Ausgabe. Mit dem griechischen Text herausgegeben und übersetzt von D.B. (Manuskript-Abschluss vor dem Erscheinen des Prometheus von Peter Handke, vgl. S. 175) Insel, Frankfurt 1988.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Rose Unterberger: ''Der Gefesselte Prometheus des Aischylos''. [[Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft]], Heft 45. Kohlhammer, Stuttgart 1968.<br />
* Mark Griffith: ''The Authenticity of the Prometheus Bound''. Cambridge 1977.<br />
* Bettina Vaupel: ''Göttergleich – Gottverlassen. Prometheus in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts''. Weimar 2005.<br />
* A. J. Podlecki: ''Echoes of the Prometheia in Euripides' Andromeda?''. In: ''Annual Meeting of the American Philological Association''. Montreal 2006.<br />
* Fabio Turato: ''Prometeo in Germania. Storia della fortuna e dell'interpretazione del Prometeo di Eschilo nella cultura tedesca (1771–1871).'' Olschki, Firenze 1988, ISBN 88-222-3560-6<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wikisource|Prometheus in Fesseln}}<br />
* Johann Gustav Droysen, Berlin 1832 [https://archive.org/details/desaischyloswer00droygoog Aischylos Werke (archive.org), ab S. 409]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Aischylos}}<br />
{{SORTIERUNG:Gefesselte Prometheus #Der}}<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk]]<br />
[[Kategorie:Antike Tragödie]]<br />
[[Kategorie:Literarisches Werk der Antike]]<br />
[[Kategorie:Literatur (Altgriechisch)]]<br />
[[Kategorie:Prometheus]]<br />
[[Kategorie:Werk von Aischylos]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Lunge&diff=208801450Lunge2021-02-14T13:57:14Z<p>Udo.bellack: /* Ontogenetische Entwicklung */ fix link auf Entoderm</p>
<hr />
<div>{{Begriffsklärungshinweis}}<br />
[[Datei:Illu bronchi lungs numerical labels.jpg|mini|400px|Schema der menschlichen Lungen. 1:&nbsp;[[Luftröhre]], 2:&nbsp;[[Lungenvene]], 3:&nbsp;[[Arteria pulmonalis|Lungenarterie]], 4:&nbsp;Alveolargang, 5:&nbsp;[[Lungenbläschen]], 6:&nbsp;Herzeinschnitt, 7:&nbsp;kleine Bronchien, 8:&nbsp;Tertiärbronchus, 9:&nbsp;Sekundärbronchus, 10:&nbsp;Hauptbronchus, 11:&nbsp;[[Zungenbein]]]]<br />
<br />
Die '''Lunge''' ({{laS|'''Pulmo'''}}) ist ein paariges [[Organ (Biologie)|Organ]]<ref>T. H. Schiebler, W. Schmidt (Hrsg.): ''Lehrbuch der gesamten Anatomie des Menschen. Cytologie, Histologie, Entwicklungsgeschichte, Makroskopische und Mikroskopische Anatomie.'' 1983, S. 424 (''Lungen des Erwachsenen'').</ref> der [[Atmung]]; sie erfüllt den Zweck, eine große Oberfläche für den Gasaustausch zwischen [[Luft]] und [[Blut]] herzustellen. Echte Lungen kommen bei vielen luftatmenden [[Wirbeltiere]]n vor, so bei den meisten landlebenden Wirbeltieren und manchen [[Luftatmung bei Knochenfischen|Fischen]] wie z.&nbsp;B. den [[Lungenfische]]n. Der Mensch hat zwei Lungen (''Pulmo dexter'' für die rechte Lunge und ''Pulmo sinister'' für die linke), die im Deutschen auch als Lungenflügel oder Lungenhälften bezeichnet werden. Die linke ist in zwei und die rechte in drei Lungenlappen unterteilt. Der Gasaustausch geschieht auf Ebene der [[Lungenbläschen]], die als Endstrukturen verästelter Luftwege mit der [[Luftröhre]] verbunden sind.<br />
<br />
Durch [[Lungenventilation|Ein- und Ausatmen]] wird frische Luft an die [[Blut-Luft-Schranke]] herangeführt; dies ist keine Leistung der Lunge selbst (die Säugetierlunge besitzt keine Muskulatur), sondern des [[Zwerchfell]]s und der [[Musculi intercostales|Zwischenrippenmuskulatur]]. Der [[Pleurahöhle|Pleuraspalt]], dessen Flüssigkeitsfilm Kräfte über [[Adhäsion|Ad-]] und [[Kohäsion (Chemie)|Kohäsion]] überträgt, vermittelt die verschiebliche Lagerung der Lungen im Brustkorb; da sie bei dessen Ausdehnung die Tendenz haben, sich zusammenzuziehen, herrscht im Pleuraspalt ein Unterdruck.<br />
<br />
Die Lungen entstehen [[embryo]]nal als Ausstülpungen des [[Vorderdarm]]s (siehe [[Kiemendarm]]) und gleichen zunächst Drüsen. Die [[Amphibien]] besitzen einfache Lungen; sie sind sackförmig und glattwandig oder nur schwach gekammert. Viel stärker gekammert sind sie bei den [[Reptilien]]. Bei [[Vögel]]n sind sie relativ klein, aber wegen der zusätzlich vorhandenen [[Luftsack (Vogel)|Luftsäcke]] auch viel komplizierter gebaut. Die Lungen der [[Säugetiere]] ähneln denen der Reptilien.<br />
<br />
== Etymologie ==<br />
Das deutsche Wort Lunge stammt über seine [[Althochdeutsche Sprache|althochdeutsche]] Form ''{{lang|goh|lunguna}}'' letztlich von der indogermanischen Wurzel ''*lengu̯h'' „leicht (in Bewegung und Gewicht)“ ab, sodass von der ursprünglichen Bedeutung als „die Leichte“ ausgegangen werden kann. Sprachwissenschaftler erklären die Benennung mit dem bereits vor langer Zeit festgestellten Phänomen, dass die Lunge eines geschlachteten Tieres als einziges Organ auf dem Wasser oben schwimmt.<ref>{{Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache |Stichwort=Lunge |Abruf=2019-07-29}}</ref><ref>[https://www.duden.de/rechtschreibung/Lunge ''Lunge, die.''] In: ''[[Duden]],'' abgerufen am 29. Juli 2019.</ref> Der medizinisch-lateinische Fachbegriff ''pulmo'' geht auf eine alternative Schreibweise des griechischen Wortes für Lunge zurück: {{grcS|πλεύμων|(pleumon)}}, dessen standardsprachliche Schreibweise {{lang|grc|πνεύμων|(pneumon)}} u.&nbsp;a. dem Wort „Pneumonie“ (= Lungenentzündung) zugrunde liegt.<br />
<br />
== Die Lunge der Säugetiere ==<br />
Beide Lungen der Säugetiere, auch als Lungenflügel bezeichnet, sind beweglich im Brustraum ([[Thorax]]) eingebettet. Mehr oder weniger tiefe Einschnitte teilen die Lunge in '''Lungenlappen''' (''Lobi''). Die Oberfläche der Lungen ist von einer glatten Auskleidung ([[Tunica serosa]]) überzogen, die in der Brusthöhle als Brustfell ([[Pleura]]) bezeichnet wird und unterteilt wird in Lungenfell (Lungenpleura) und Rippenfell (Thoraxpleura). Zwischen dem Brustfellüberzug der Lunge und der Brustfellauskleidung der Brusthöhle liegt der Pleuraspalt, ein mit wenig Flüssigkeit ausgefüllter Spaltraum, in dem ein Unterdruck herrscht.<br />
<br />
=== Aufbau der menschlichen Lunge ===<br />
[[Datei:2312 Gross Anatomy of the Lungs.jpg|mini|Menschliche Lungen]]<br />
[[Datei:Thorax Lung 3d from ct scans.jpg|mini|300px|3D-Rekonstruktion menschlicher Lunge aus CT-Bildern]]<br />
<br />
Die menschlichen Lungen, als typische Säugetierlungen, bestehen aus einer rechten Lunge (rechtem Lungenflügel) und einer linken Lunge (linkem Lungenflügel). Jeder Lungenflügel wird durch Furchen in so genannte ''Lungenlappen'' unterteilt. Der rechte Lungenflügel teilt sich dabei in drei (Oberlappen oder Lobus ventrocranialis, Mittellappen oder Lobus medius und Unterlappen oder Lobus dorsocaudalis), der linke Lungenflügel in lediglich zwei Lappen (Oberlappen und Unterlappen) auf.<ref>Klaus Holldack, Klaus Gahl: ''Auskultation und Perkussion. Inspektion und Palpation.'' Thieme, Stuttgart 1955; 10., neubearbeitete Auflage ebenda 1986, ISBN 3-13-352410-0, S. 71 f.</ref> Die Lungenlappen wiederum werden in Lungensegmente unterteilt. Die Bezeichnung erfolgt hier entsprechend der Zuordnung zum versorgenden Bronchialast. 10 Segmente finden sich in der rechten Lunge (Pulmo dexter). Im linken Flügel (Pulmo sinister) gibt es nur 9 Segmente, da das 7. Segment fehlt. Der linke Lungenflügel ist etwas kleiner als der rechte, da auf der linken Seite das Herz einigen Raum einnimmt. Dabei bestehen der rechte Lungenoberlappen aus dem apikalen, dem posterioren und dem anterioren Oberlappensegment sowie der Mittellappen (nur rechts) aus dem lateralen und dem medialen Mittellappensegment (Segmente 4 und 5). Es folgen das apikale Unterlappensegment (6er Segment) sowie die vier basalen Unterlappensegmente rechts (mediobasal, anterobasal, laterobasal, posterobasal). Auf der linken Seite besteht der Oberlappen aus den Segmenten 1 bis&nbsp;3, Namensgebung wie im rechten Oberlappen, sowie aus den beiden Lingulasegmenten (4, 5) (superiores und inferiores Lingulasegment). Es folgen das apikale Unterlappensegment (6er Segment) sowie die drei basalen Unterlappensegmente: anterobasal, laterobasal und posterobasal (Segmente 8 bis 10). Das mediobasale Segment fehlt.<br />
<br />
Dass die funktionelle Lungeneinheit nicht der Lungenlappen, sondern das Lungensegment ist, hatte der amerikanische Chirurg [[Richard H. Overholt]] in Boston erkannt.<ref>[[Ernst Kern (Mediziner)|Ernst Kern]]: ''Sehen – Denken – Handeln eines Chirurgen im 20. Jahrhundert.'' ecomed, Landsberg am Lech 2000, ISBN 3-609-20149-5, S. 164.</ref><br />
<br />
Die Lungenflügel liegen in der [[Brusthöhle]]. Oben überragt die Lungenspitze um etwa 1–2&nbsp;cm das [[Schlüsselbein]], unten liegt die Lunge dem [[Zwerchfell]] auf, dessen Lage sehr variabel ist und vorrangig von der Atemstellung und der Körperlage (im Liegen höher als im Sitzen) abhängt. Grob kann man sagen, dass in der Atemruhestellung die Lungenränder auf der Bauchseite in Höhe der 6. Rippe, seitlich in Höhe der 8. Rippe und auf der Rückenseite in Höhe der 10. Rippe zu liegen kommen. Dieser Unterschied ergibt sich aus der schrägen Zwerchfellansatzlinie.<br />
<br />
Die linke Lunge ist allgemein kleiner, weil ihr das Herz zum größten Teil aufliegt. Dadurch und bedingt durch die Aufspaltung der [[Luftröhre]] in die Hauptbronchien, sodass der linke Luftröhren-Bronchien-Winkel kleiner ist als der rechte, wird die rechte Lunge in der Regel besser belüftet. Der Winkel, der von der Trachea und dem rechten Hauptbronchus eingeschlossen wird, ist größer als jener zwischen Trachea und linkem Hauptbronchus. Dies hat Konsequenzen bei der Aspiration von Fremdkörpern: Diese gelangen meistens in den rechten Hauptbronchus. Das [[Lungenvolumen]] eines erwachsenen Menschen beträgt durchschnittlich 5 bis 6 Liter.<br />
<br />
=== Feinbau ===<br />
[[Datei:Bronchial anatomy.jpg|300px|mini|Struktur eines terminalen Bronchiolus (letzte alveolentragende Bronchialaufzweigung).]]<br />
<br />
Das Gewebe der Lungen kann in einen luftführenden Teil und einen Teil, in dem der tatsächliche Gasaustausch stattfindet, unterteilt werden. Die luftführenden Bronchien enden in blind endenden Säckchen, den [[Lungenbläschen]] (Alveolen). In diesen findet der Gasaustausch statt.<br />
<br />
Die Gesamtheit des luftleitenden Systems wird als [[Bronchialsystem]] (Bronchialbaum) bezeichnet. Von innen nach außen finden sich verschiedene Schichten. Das [[Epithel]] (Deckgewebe) besteht zu Beginn noch, wie in der Luftröhre, aus mehrreihigem, hochprismatischem [[Flimmerepithel]], doch näher an den Alveolen vereinfacht sich die Struktur, und in den Bronchiolen überwiegt einschichtiges iso- oder hochprismatisches Flimmerepithel. In der darunter liegenden ''Lamina propria'' findet sich [[glatte Muskulatur]], deren Anteil zu den Alveolen hin zunimmt. Weiterhin enthält sie eine Vielzahl [[Elastische Faser|elastischer Fasern]] sowie muköse und seröse Drüsen, deren Ausgänge in den Bronchus öffnen und die die Schleimhautoberfläche mit einem Schutzfilm überziehen. Ganz außen findet sich in den großen Bronchien [[hyalin]]er [[Knorpel]], der gewährleistet, dass die Luftwege offen bleiben. Je kleiner der Durchmesser der Bronchien wird, umso geringer wird der Anteil der Knorpelmasse, bis sich nur noch kleine Inseln finden.<br />
<br />
Zusammen mit den Bronchien verlaufen auch die Arterien und Venen des [[Lungenkreislauf]]s sowie die Nervenfasern des [[Plexus pulmonalis]].<br />
<br />
=== Gasaustausch ===<br />
{{Siehe auch|Lungenkreislauf}}<br />
<br />
Die Oxygenierung des Blutes und die [[Säure-Basen-Haushalt#Stoffwechselvorgänge|CO<sub>2</sub>-Abgabe]] erfolgt in den Alveolen. Diese etwa 300 Millionen sackartigen Erweiterungen (beim erwachsenen Menschen) haben einen Durchmesser von ca. 200&nbsp;μm. Die von ihnen gebildete Fläche wird als ''Respiratorische Fläche'' bezeichnet. Die Alveolen bestehen aus den ''kleinen Alveolarzellen'' oder ''[[Pneumozyt#Pneumozyt Typ I|Pneumozyten Typ I]],'' die weniger als 0,1 Mikrometer dick sein können und das Epithel der Alveolen bilden, und den ''großen Alveolarzellen'' oder ''[[Pneumozyt#Pneumozyt Typ II|Pneumozyten Typ II]],'' die [[Surfactant]] produzieren. Der Anti-[[Atelektase]]-Faktor reduziert die Oberflächenspannung gegen ein in sich Zusammenfallen. Weiterhin finden sich noch [[Makrophage|Alveolarmakrophagen]] (Fresszellen), die aus dem Blut stammen und Staub [[Phagozytose|phagozytieren]] (Staubzellen) oder nach Blutungen [[Hämosiderin]], ein Abbauprodukt des Blutfarbstoffes [[Hämoglobin]], aufnehmen ([[Herzfehlerzellen]]).<br />
<br />
Zwischen Luft und Blut befindet sich eine dreischichtige Trennwand, die [[Blut-Luft-Schranke]]. Sie wird vom Epithel der Alveolen, der epithelialen und der endothelialen [[Basalmembran]] sowie dem Endothel der Kapillaren gebildet und ist zwischen 0,1 und 1,5&nbsp;μm dick.<br />
<br />
Da die [[Interzellularkontakt]]e des [[Endothel|Kapillarendothels]] für Flüssigkeit durchlässiger sind als die der Alveolarzellen, kann bei [[Herzschwäche]] Flüssigkeit in das [[Bindegewebe]] austreten und zu einem interstitiellen Ödem ([[Lungenödem]]) führen.<br />
<br />
Das [[Bindegewebe]] zwischen den Bronchien und Alveolen enthält die Aufzweigungen der [[Arteria pulmonalis|Lungenarterien]] und [[Vena pulmonalis|-venen]]. Die Aufzweigungen der Lungenarterie führen das Blut zu den Alveolen. Der [[Lymphe|Lymphabfluss]] erfolgt über die Lungenlymphknoten (''Nll. pulmonales'') und dann in die [[Tracheobronchiallymphknoten]] (''Nll. tracheobronchiales'').<br />
<br />
=== Blutgefäße ===<br />
Die Durchblutung der Wand der Lungenbläschen erfolgt über die Kapillaren des Lungenkreislaufes (''Vasa publica,'' ‚öffentliche Gefäße‘). Das übrige Gewebe, also die Umgebung der Bronchien und die Bindegewebssepten, versorgen Bronchialgefäße (''Rami bronchiales,'' ''Vasa privata,'' ‚Eigengefäße‘) aus dem [[Blutkreislauf|Körperkreislauf]]. Die Rami bronchiales für die linke Lunge (meist zwei) entspringen direkt aus der Brustaorta. Die Bronchialäste der rechten Lunge entspringen aus einem Stamm der dritten oder vierten [[Arteria intercostalis posterior|hinteren Zwischenrippenarterie]]. Beide Gefäßsysteme bilden in der Peripherie häufig [[Anastomose]]n.<ref name="Frick">Hans Frick, [[Helmut Leonhardt]], [[Dietrich Starck]]: ''Spezielle Anatomie'' (= ''Taschenlehrbuch der gesamten Anatomie.'' Band 2). 4., überarb. Auflage. Band 2. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-13-356904-X, S. 68.</ref><br />
<br />
Die meisten Bronchialvenen münden in die [[Vena pulmonalis|Lungenvenen]], die [[hilum]]nahen ''Venae bronchiales'' dagegen rechts in die [[Vena azygos]], links in die [[Vena hemiazygos]].<ref name="Frick" /> Blut, das aus den Bronchialarterien in die Pulmonalvenen gelangt, bewirkt zusammen mit Blut aus [[Koronargefäß]]en, die ins linke Herz münden ''(Vv. cardiacae minimae),'' einen kleinen, physiologischen Rechts-links-[[Shunt (Medizin)|Shunt]]. Zusammen mit funktionellen Kurzschlüssen im Lungenkreislauf (Durchblutung nicht belüfteter Lungenanteile) erklärt dies den gegenüber den Alveolen kleineren Sauerstoffpartialdruck in den Arterien des Körperkreislaufs.<br />
<br />
=== Ontogenetische Entwicklung ===<br />
{{Siehe auch|Blutkreislauf#Der Blutkreislauf der Säugetiere vor der Geburt}}<br />
Die Lunge ist das einzige Organ, dessen Funktionsfähigkeit, solange der [[Fötus]] noch in der [[Gebärmutter]] ist, nicht überlebensnotwendig ist. Erst nach der Geburt (dann allerdings innerhalb von Sekunden) übernimmt sie ihre hauptsächliche Funktion. Trotzdem kommt ihr vor der Geburt eine wichtige Rolle zu: Die Lunge produziert täglich bis zu 15&nbsp;ml [[Amnionflüssigkeit]] je kg Körpergewicht.<br />
<br />
Die Entwicklung der Lunge beginnt etwa am 30. Tag mit der Ausbildung der ''Lungenknospe'' aus dem ventralen (bauchseitigen) Teil des [[Vorderdarm]]s. Wie bei diesem ist das [[Epithel]], das die Lunge und ihren luftleitenden Apparat ([[Kehlkopf]], [[Luftröhre]], [[Bronchialsystem|Bronchien]]) auskleidet, [[entoderm]]alen Ursprungs. Im Gegensatz dazu entstammt das Muskel- und Knorpelgewebe dem Mesoderm, das das Darmrohr umgibt.<br />
<br />
Die Lungenknospe teilt sich dann weiter in eine rechte und eine linke Aufzweigung (die späteren Hauptbronchien). Weiter teilt sich die rechte Aufzweigung in drei weitere Aufzweigungen, die linke in zwei. Jede dieser fünf weiteren Aufzweigungen bildet später einen Lungenlappen (''Lobus pulmonis''). Von der 5. bis zur etwa 17. Woche wird der gesamte später luftleitende Teil der Lungen angelegt, also die weiteren Verzweigungen der Bronchien bis hin zu den ''Bronchioli terminales''. Vorerst ist dieser nur von hochprismatischem [[Epithel]] ausgekleidet, ab der 13. Schwangerschaftswoche finden sich jedoch erste [[Flimmerepithel]]zellen. Zellen des Epithels beginnen Amnionflüssigkeit zu produzieren.<br />
<br />
In der 16. bis zur 26. Woche bilden sich aus den Enden der Bronchioli terminales die ''Canaliculi'', aus denen das ''Lungen[[parenchym]]'' hervorgeht. Letzteres ist das Funktionsgewebe der Lunge, in dem nach der Geburt der Gasaustausch vonstattengeht. Eine für das Lungenparenchym typische Zellsorte sind [[Pneumozyt|Pneumozyten Typ II]], die [[Surfactant]] ausscheiden. Einige Pneumozyten Typ II [[Differenzierung (Biologie)|differenzieren]] sich zu [[Pneumozyt|Pneumozyten Typ I]], und [[Kapillare (Anatomie)|Kapillaren]] dringen in das entstehende Lungenparenchym ein. Die Wand der Kapillaren und die [[Zellmembran|Membran]] der Pneumozyten Typ I bilden später die Blut-Luft-Schranke, wenn ab der 28. SSW Surfactant (→ [[Lungenreifung]]) gebildet wird.<br />
<br />
[[Schwangerschaft#Drittes Trimenon|Im letzten Trimester der Schwangerschaft]] bilden sich die Canaliculi zu weiteren Aufzweigungen um, die letztlich als ''Sacculi'' blind enden. Alle diese Aufzweigungen des Lungenparenchyms sind mit Pneumozyten vom Typ I und Typ II ausgekleidet. Die Wände der Sacculi und teilweise der vorgeschalteten Aufzweigungen stülpen sich zu halbkugeligen ''Alveoli'' aus. Wie die vorherigen Vorgänge vergrößert dies die von Parenchym bedeckte Oberfläche erheblich. Störungen dieser Entwicklung können zu einer [[Lungenfehlbildung]] führen. Ein [[Neugeborenes]] hat weit weniger Alveoli als ein Erwachsener. Die Bildung der Alveoli wird erst im Kindesalter abgeschlossen.<br />
<br />
Bis kurz nach der Geburt enthalten die Lungen Fruchtwasser; dann vergrößert der Muskelapparat an den Rippen und des Zwerchfells das Volumens des Brustkorbs und infolge des größeren Luftdrucks außen strömt Luft in die Bronchien und dringt in die Lungenbläschen ein. Das Surfactant reduziert die Oberflächenspannung des Wassers und verhindert so das [[Atemnotsyndrom des Neugeborenen]]. Die vorhandene Flüssigkeit wird eher absorbiert und via Blut abtransportiert als ausgestoßen oder abgehustet. Ein erster [[Apgar-Score#Bestimmung|Schrei]] bestätigt die Luftfüllung der Lunge des Neugeborenen.<!--schreit jedes überlebende Neugeborene? Helium4 STRESS--> Die [[Foramen ovale (Herz)|Umgehungskreisläufe]] schließen sich.<br />
<br />
{{Siehe auch|Atemantrieb}}<br />
<br />
=== Physiologie der Ein- und Ausatmung ===<br />
[[Datei:Thoracic landmarks anterior view.svg|mini|Ausdehnung der Lunge bei Ein- (blau) und Ausatmung (rosa)]]<br />
{{Hauptartikel|Lungenventilation}}<br />
<br />
Das Atmen beginnt beim ''Einatmen'' (''[[Inspiration (Medizin)|Inspiration]]'') in der Regel mit der [[Atemmuskulatur|Interkostalmuskulatur]] bzw. dem [[Zwerchfell]]. Das Zwerchfell ist der stärkste Inspirationsmuskel, bei seiner Kontraktion flacht es sich ab und drückt die Bauch- und Beckeneingeweide nach kaudal (steißbeinwärts), wodurch sich das Thoraxvolumen vergrößert. Bei der [[Brustatmung]] kontrahieren sich die ''[[Intercostalis externus|Musculi intercostales externi]]'' (äußere Zwischenrippenmuskeln). Dabei wird der [[Brustkorb]] angehoben und erweitert, wodurch die Lunge, die, selbst von der ''Pleura visceralis'' (oder ''pulmonalis'') überzogen, über den [[Pleuraspalt]] (''Cavitas pleuralis'') mit der ''Pleura parietalis'' des Brustkorbs in Verbindung steht, mitgedehnt wird. Dadurch sinkt der Druck in der Lunge. Nach größeren Anstrengungen können zur erleichterten Atmung weitere Atem''hilfs''muskeln beigezogen werden, z.&nbsp;B. der [[Musculus pectoralis minor|kleine]] und [[Musculus pectoralis major|große Brustmuskel]]. Dies machen sich Sportler nach einem intensiven Rennen zu Nutze, indem sie sich mit den Armen zum Beispiel an einer Mauer aufstützen: ihre Arme sind dann fixiert (Punctum fixum), und somit ziehen die Brustmuskeln nicht die Arme zum Brustkorb, sondern umgekehrt den Brustkorb zu den Armen, die Rippen werden angehoben, und die Lunge füllt sich mit Luft. Nach der Druck-Volumen-Beziehung ([[Boyle-Mariottesches Gesetz]]) muss aber nun bei Änderungen des Drucks – sofern die Nasenlöcher bzw. der Mund offen sind und mit der Außenwelt in Verbindung stehen – das Volumen isobar (d.&nbsp;h. bei gleichem Druck) zunehmen. Die Lunge füllt sich, die ''Inspiration'' ist beendet.<br />
<br />
Bei der ''[[Zwerchfellatmung]]'' senkt sich das Zwerchfell lediglich durch Kontraktion (das Zwerchfell besteht aus Muskulatur) und bewirkt somit eine Dehnung der Lungenflügel nach unten.<br />
<br />
Die ''Ausatmung'' (''[[Exspiration]]'') geht zumeist ''passiv'' vonstatten, denn nach der Inspiration ist die Lunge samt Brustkorb so weit gedehnt, dass darin elastische Verformungsarbeit gespeichert ist (ähnlich einer Feder, die zunächst gespannt und dann losgelassen wird), die der Lunge die „verbrauchte“ Luft austreibt. Erfolgt die Exspiration mit Beteiligung der exspiratorischen Atemhilfsmuskulatur, so spricht man von ''forcierter Exspiration''. Dabei kontrahieren sich zunächst die ''Mm. intercostales interni,'' es können aber auch diverse andere [[Atemmuskulatur|Atemhilfsmuskeln]] zum Zuge kommen. Eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der forcierten Exspiration spielt vor allem der [[Musculus latissimus dorsi]] („Hustenmuskel“).<br />
<br />
{{Siehe auch|Lungenvolumen|Lungenfunktion}}<br />
<br />
=== Erkrankungen ===<br />
{{Siehe auch|Pneumologie|Liste der Krankheiten des Atmungssystems nach ICD-10}}<br />
<br />
'''Lungenembolie'''. Bei der [[Lungenembolie]] verstopft ein Embolus eines der zuführenden Blutgefäße (Vene) und bewirkt dadurch, dass ein Lungenabschnitt nicht mehr durchblutet wird. Diese Erkrankung ist mit einem Herzinfarkt zu vergleichen.<br />
<br />
'''Obstruktive Lungenerkrankungen'''. Bei den [[Chronisch obstruktive Lungenerkrankung|chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen]] (von {{enS|Chronic obstructive pulmonary disease}}, COPD) behindert eine Einengung der Atemwege den Luftstrom. Dies führt häufig zu Atemnot (''[[Dyspnoe]]''). Wichtigster Risikofaktor ist das Rauchen, aber auch Umweltverschmutzung, ein geringes Geburtsgewicht und genetische Faktoren werden dafür verantwortlich gemacht. Zu den COPD gehören die [[Chronische Bronchitis]] und das [[Lungenemphysem]]. Ein Lungenemphysem kann sich auch aus einer erblich bedingten Stoffwechselstörung, dem [[Alpha-1-Antitrypsin-Mangel]], entwickeln.<br />
<br />
'''Restriktive Lungenerkrankung'''. Im Gegensatz dazu ist bei den [[Restriktive Lungenerkrankung|restriktiven Lungenerkrankungen]] die Flexibilität der Lunge eingeschränkt (im Sinne von: Einschränkung der Lungenbeweglichkeit). Dadurch verringern sich das Lungenvolumen und die [[Compliance (Physiologie)|Compliance]], also die Dehnbarkeit relativ zum Druck. Hierzu gehören [[Sarkoidose]], [[Pneumokoniose]] (Staublunge) und andere Erkrankungen, die eine [[Lungenfibrose|Fibrose]] des Lungengewebes zur Folge haben, aber auch äußere Einflüsse wie Missbildungen des Brustkorbs ([[Kyphose]], [[Skoliose]]).<br />
<br />
'''Lungenödem'''. [[Lungenödem]] bezeichnet die Ansammlung von Flüssigkeit im Lungengewebe. Dabei wird zwischen Permeabilitätsödemen ([[ARDS]], toxisches Lungenödem), bei denen die Durchlässigkeit der Kapillaren erhöht ist, und hydrostatischen Lungenödemen (kardiales Ödem, Höhenödem), bei dem der Druck in den Kapillaren den Druck in den Alveoli so sehr übersteigt, dass die Flüssigkeit aus den Kapillaren hinaus „gepresst“ wird, unterschieden.<br />
<br />
'''Atelektase'''. Bei der [[Atelektase]] ist ein Lungenabschnitt kollabiert, und die Alveoli enthalten keine oder nur noch sehr wenig Luft.<br />
<br />
'''Pneumothorax'''. Gewinnt der Pleuraspalt von innen oder außen Anschluss an die Luft, bricht der Unterdruck im Pleuraspalt zusammen und der entsprechende Lungenflügel kollabiert. Anders als ein gänzlich fehlender Lungenflügel bedeutet ein [[Pneumothorax]] einen funktionellen Rechts-links-Shunt, da über den betroffenen Lungenflügel Blut aus dem Körperkreislauf ohne wesentliche Oxygenierung wieder in den Körperkreislauf gelangt, sodass die volle Sättigung nicht erreicht werden kann.<br />
<br />
'''Tuberkulose'''. [[Tuberkulose]], eine Infektionskrankheit, deren Erreger ''[[Mycobacterium tuberculosis]]'' ist, wird durch Tröpfcheninfektion übertragen und manifestiert sich zuerst in der Lunge. Auf dem [[Röntgen]]bild zeigen sich charakteristische mottenfraßartige Läsionen, welche der Erkrankung auch den Beinamen „die Motten“ einbrachten.<br />
<br />
'''Entzündungen'''. [[Entzündung]]en in der Lunge werden unterschieden in Pneumonien ([[Lungenentzündung]]en), bei denen das Lungengewebe betroffen ist, Bronchitis als Entzündung der [[Bronchialsystem|Bronchien]] und [[Bronchiolitis]], die Entzündung der kleinen Bronchien.<br />
<br />
'''Neubildungen'''. [[Krebs (Medizin)|Krebserkrankungen]] der Lunge werden als [[Bronchialkarzinom]] bezeichnet, da sie als bösartige Neubildungen entarteter Zellen der Bronchien oder Bronchiolen entstehen. Es ist eine der häufigsten bösartigen Erkrankungen des Menschen. Laut [[Weltgesundheitsorganisation]] werden anhand der [[Histologie]] verschiedene Subtypen unterschieden: [[Plattenepithelkarzinom]]e, [[Adenokarzinom]]e, klein- und großzellige Karzinome und weitere, selten auftretende Typen. Außerdem finden sich in der Lunge durch ihre Filterfunktion häufig [[Metastase]]n anderer Tumore.<br />
<br />
Bei [[Atemstillstand]] kann die Lunge – pulsierend – durch Füllen mittels gering dosiertem Luftüberdruck via Bronchien beatmet werden, was im Notfall oder bei Narkose der Lebenserhaltung dient.<!--Die Lunge lässt sich nur eng beschränkt aufblasen. Schon bei im Vergleich zum Atmosphärendruck geringem Innenüberdruck, ob durch Einpressen von außen in die Bronchien oder „Luftanhalten“ beim [[Tauchen|Tauchaufstieg]] platzt die Lunge durch Aufreißen ihrer Rinde, was die Funktion zumindest eines Lungenflügels plötzlich zum großen Teil zerstört, was akute Lebensgefahr durch Ersticken bedeutet.--><br />
<br />
== Vogellunge ==<br />
{{Hauptartikel|Luftsack (Vogel)}}<br />
<br />
Im Gegensatz zur Säugetierlunge sind die Lungen der [[Vögel]] unbeweglich im [[Thorax|Brustraum]]. Sie liegen [[Anatomische Lage- und Richtungsbezeichnungen|dorsal]] einer Bindegewebsmembran (''Septum horizontale''). Das [[Pleura|Brustfell]] wird zwar [[embryo]]nal angelegt, bildet sich aber wieder zurück. Die Vogellunge ist nicht gelappt und vollzieht während der [[Atmung]] keine Volumenänderungen, sondern wird durch Luftsäcke belüftet.<br />
<br />
An der Gabelung der [[Luftröhre]] (''Trachea'') teilt sich das luftleitende System in die beiden ''Stammbronchien''. Hier liegt auch das Stimmorgan der Vögel, die [[Stimmkopf|Syrinx]]. Von den Stammbronchien gehen vier Gruppen von ''Sekundärbronchien'' (medioventrale, mediodorsale, lateroventrale und laterodorsale). Die weiteren Aufzweigungen der laterodorsalen Bronchien bezeichnet man als ''Neopulmo''.<br />
<br />
Von den Sekundärbronchien gehen ''Parabronchien'' (Lungenpfeifen) aus. Sie sind 0,5–2&nbsp;mm dick. In ihrer Wand gibt es kleine trichterförmige Öffnungen, die in die ''Luftkapillaren'' (''Pneumocapillares'') führen. Die Luftkapillaren bilden ein Netzwerk meist untereinander kommunizierender Röhren und sind das eigentliche Austauschgewebe, um das dichte Blutkapillarnetze ausgebildet sind. Im Gegensatz zu den [[Säugetiere]]n handelt es sich nicht um ein blind endendes System, sondern um ein offenes Röhrensystem. Nach Durchströmen der Lunge gelangt die Luft in die Luftsäcke, die wie Blasebälge für die Ventilation (den Luftstrom) sorgen.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Buchlunge]] (Spinnen)<br />
* [[Herz-Lungen-Maschine]]<br />
* [[Kieme]]<br />
* [[Lunge (Lebensmittel)]]<br />
* [[Lungensimulator]]<br />
* [[Pneumologie]]<br />
* [[Pneumokoniose]] – Staublunge, eine (meldepflichtige) Berufskrankheit<br />
{{Index}}<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Gerhard Thews: ''Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie des Menschen.'' Wissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-8047-2342-9.<br />
* Franz-Viktor Salomon: ''Atmungsapparat.'' In: Salomon u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Anatomie für die Tiermedizin.'' 2., erw. Auflage. Enke, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-1075-1, S. 324–367.<br />
* [[Theodor Heinrich Schiebler]], W. Schmidt (Hrsg.): ''Lehrbuch der gesamten Anatomie des Menschen. Cytologie, Histologie, Entwicklungsgeschichte, Makroskopische und Mikroskopische Anatomie.'' 3. Auflage. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo 1983, ISBN 3-540-12400-4, S. 423–429.<br />
* G. M. Hughes, E. R. Weibel: ''Morphometry of fish lungs.'' In: ''Respiration of Amphibious Vertebrates.'' Academic Press, London 1976, ISBN 0-12-360750-7.<br />
* ''[[Handbuch der inneren Medizin]].'' 5. Auflage, Springer-Verlag, 4. Band: ''Erkrankungen der Atmungsorgane.''<br />
** Teil 1: ''Pneumokoniosen'' (Hrsg. [[Wolfgang T. Ulmer]], G. Reichel), 1976<br />
** Teil 2: ''Bronchitis, Asthma, Emphysem'' (Hrsg. Wolfgang T. Ulmer), 1979<br />
** Teil 3: ''Lungentuberkulos''e ([[Heinrich Jentgens]]), 1981<br />
** Teil 4: ''Tumore der Atmungsorgane und des Mediastinums'' ([[Friedrich Trendelenburg (Mediziner, 1916)|Friedrich Trendelenburg]] u.&nbsp;a.), 1985: A: ''Allgemeiner Teil'', XVI, 429 Seiten, ISBN 978-3-540-15018-3; B: ''Spezieller Teil'', XVIII, 678 Seiten, ISBN 978-3-540-15099-2.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Lungs|Lunge}}<br />
{{Wiktionary}}<br />
{{Wikibooks}}<br />
* [http://www.drjastrow.de/WAI/EM/EMLunge.html Elektronenmikroskopische Originalabbildungen]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4036651-0}}<br />
<br />
[[Kategorie:Atmungsapparat]]<br />
[[Kategorie:Lunge| ]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Statistische_Signifikanz&diff=207614977Statistische Signifikanz2021-01-13T20:21:45Z<p>Udo.bellack: /* Irrtumswahrscheinlichkeit und Signifikanzniveau */ doppelte Negation aufgelöst</p>
<hr />
<div>'''Statistisch signifikant''' wird das Ergebnis eines statistischen Tests genannt, wenn Stichprobendaten so stark von einer vorher festgelegten Annahme (der [[Nullhypothese]]) abweichen, dass diese Annahme nach einer vorher festgelegten Regel verworfen wird.<br />
<br />
Hierfür wird nach gängiger Praxis <!----dem "Null Hypothesis Significane Testing"; auch im vorliegenden Artikel herrscht das Kuddelmuddel aus Fisher und Neyman-Pearsn---->zuvor ein Signifikanzniveau festgelegt, auch [[Irrtumswahrscheinlichkeit]] genannt. Es gibt an, wie wahrscheinlich es ist, dass eine exakt zutreffende statistische Nullhypothese (''Hypothesis to be nullified'' – „Hypothese, die [anhand der Studiendaten] verworfen werden soll“<ref>Gigerenzer G. (2004). ''Mindless statistics.'' J. Soc. Econ. 33, 587–606. {{doi|10.1016/j.socec.2004.09.033}}, zitiert nach ''Fisher, Neyman-Pearson or NHST? A tutorial for teaching data testing''. Frontiers in Psychology 2015; 6: 223. {{PMC|4347431}}</ref>) irrtümlich verworfen werden könnte ([[Fehler 1. und 2. Art#Fehler 1. Art|Fehler 1. Art]]). Je niedriger das festgelegte Signifikanzniveau, desto höher ist im Gegenzug die Wahrscheinlichkeit, eine etwaig unzutreffende Nullhypothese beizubehalten ([[Fehler 1. und 2. Art#Fehler 2. Art|Fehler 2. Art]]).<br />
<br />
Zu Fragen nach der Stärke von Effekten, der Relevanz von Ergebnissen oder deren Übertragbarkeit auf andere Umstände gibt das Ergebnis eines Signifikanztests keine Auskunft. Der [[p-Wert]], welcher die statistische Signifikanz induziert, wird sehr [[p-Wert#Typische Fehlinterpretationen|häufig fehlinterpretiert]] und falsch verwendet, weswegen sich die [[American Statistical Association]] im Jahr 2016 genötigt sah, eine Mitteilung über den Umgang mit statistischer Signifikanz zu veröffentlichen.<ref>R. Wasserstein, N. Lazar: ''The ASA’s Statement on p-Values: Context, Process, and Purpose.'' In: ''The American Statistician.'' Band 70, Nr. 2, 2016, S.&nbsp;129–133, {{DOI|10.1080/00031305.2016.1154108}}.</ref> Einer kleinen kanadischen Feldstudie von 2019 zufolge wird in etlichen Lehrbüchern der Begriff nicht korrekt vermittelt.<ref>S. Cassidy, R. Dimova, B. Giguère, J. Spence, D. Stanley: ''Failing Grade: 89% of Introduction-to-Psychology Textbooks That Define or Explain Statistical Significance Do So Incorrectly.'' In: ''Advances in Methods and Practices in Psychological Science.'' Juni 2019, [[doi:10.1177/2515245919858072]].</ref><br />
<br />
== Grundlagen ==<br />
Überprüft wird statistische Signifikanz durch [[Statistischer Test|statistische Tests]], die so gewählt werden müssen, dass sie dem Datenmaterial und den zu testenden [[Parameter (Statistik)|Parametern]] bezüglich der [[Wahrscheinlichkeitsfunktion]] entsprechen. Nur dann ist es möglich, aus der Wahrscheinlichkeitsverteilung für [[Zufallsvariable]]n mathematisch korrekt den jeweiligen [[p-Wert]] zu errechnen als die Wahrscheinlichkeit, ein Stichprobenergebnis wie das beobachtete oder ein extremeres zufallsbedingt zu erhalten. Wie hoch deren Anteil bei unendlich oft wiederholten Zufallsstichproben aus derselben Gesamtheit zu erwarten ist, kann als Wert zwischen 0 und 1 angegeben werden. Dieser p-Wert wird somit berechnet unter der Annahme, dass die sogenannte [[Nullhypothese]] zutrifft.<br />
<br />
Anhand des p-Werts wird das Überschreiten einer bestimmten Irrtumswahrscheinlichkeit abgeschätzt. Dies ist nun jene vorab bestimmbare Wahrscheinlichkeit, die Hypothese: „Die festgestellten Unterschiede sind zufällig zustande gekommen“ – als die Nullhypothese – zu verwerfen, obwohl sie richtig ist. Man nennt einen solchen Irrtum auch [[Fehler 1. und 2. Art#Fehler 1. Art|Fehler 1. Art]] oder ''α-Fehler''.<br />
<br />
Sinnvollerweise wird bei der Festlegung dieser kritischen Schwelle bedacht, welche Konsequenzen der Fall hätte, dass irrtümlich angenommen wird, ein beobachteter Unterschied sei nur zufällig. Hält man diese Folgen eher für gravierend, so wird man hier eher ein niedriges Niveau als ein höheres wählen, beispielsweise lieber 1 % als 5 %, oder aber 0,1 % für die ''maximal zulässige Irrtumswahrscheinlichkeit'' festlegen. Diese Wahrscheinlichkeit wird als ''Signifikanzniveau'' <math>\alpha</math> bezeichnet.<br />
<br />
So bedeutet <math>\alpha=0{,}05</math>: Falls die Nullhypothese richtig ist, darf die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie fälschlich abgelehnt wird (Fehler 1. Art), nicht mehr als 5 % betragen. Entsprechend beträgt dann die Wahrscheinlichkeit, eine richtige Nullhypothese aufgrund des statistischen Tests nicht abzulehnen, <math>1-\alpha=0{,}95</math>, sprich mindestens 95 %.<br />
<br />
Das Signifikanzniveau bzw. die [[Irrtumswahrscheinlichkeit]] sagt also nur, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Fehler 1. Art auftritt, dass die Nullhypothese abgelehnt wird, obwohl sie richtig ist. Das Signifikanzniveau besagt nicht, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Hypothese richtig ist. Soll eine Hypothese als richtig erwiesen werden, so ist die Wahrscheinlichkeit des Fehlers 2. Art, dass die Hypothese als richtig befunden wird, obwohl sie falsch ist, umso größer, je kleiner das Signifikanzniveau ist. Beispiel: Es liegt ein Versuch zugrunde, der als Grundlage die Wahrscheinlichkeit p = ¼ hat. Bewiesen werden soll aber die Hypothese p = 1/5. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hypothese für richtig befunden wird, obwohl sie falsch ist, beträgt bei 25 Versuchsdurchführungen 93 % bei einem Signifikanzniveau von 5 % und 99 % bei einem Signifikanzniveau von 1 %. Bei 1000 Versuchsdurchführungen sind es immer noch 3,6 % bei einem Signifikanzniveau von 5 % und 11,4 % bei einem Signifikanzniveau von 1 %. Es ist also besser, etwas dadurch zu beweisen, dass die Nullhypothese abgelehnt wird. Beispiel: 25 % der Schüler einer Schule nutzen ein schulinternes Netzwerk. Nach einer Werbeaktion stellt eine Umfrage unter 50 befragten Schülern fest, dass 38 % von ihnen das Netzwerk nutzen. Nun kann man auf p = 0,25 testen und bei einem Signifikanzniveau von 5 % mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % oder bei einem Signifikanzniveau von 1 % mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 % sagen, dass sich die Zahl der Schüler, die das Netzwerk nutzen, durch die Werbeaktion tatsächlich erhöht hat, wenn die Nullhypothese p = 0,25 abgelehnt wird. Allerdings kann man nicht sagen, dass sich die Quote auf 38 % erhöht hat.<br />
<br />
Ergibt die Anwendung des statistischen Verfahrens, dass der geprüfte beobachtete Unterschied statistisch nicht signifikant ist, kann man daraus keine definitiven Schlüsse ziehen. Auch ist in diesem Fall meist noch nicht einmal die Wahrscheinlichkeit eines [[Fehler 1. und 2. Art#Fehler 2. Art|Fehlers 2. Art]] (<math>\operatorname{Pr}(H_0|\overline H_0 )=\beta</math>) bekannt, eine falsche Nullhypothese für richtig zu halten.<br />
<br />
Allgemeiner verstanden beschreibt die statistische Signifikanz also den möglichen [[Informationsgehalt]] eines Ereignisses bzw. einer Messung vor dem Hintergrund zufälliger Verteilungen als Wahrscheinlichkeit. Je kleiner <math>\alpha</math> ist, desto höher ist dann die [[Informationsqualität]] eines signifikanten Ergebnisses.<br />
<br />
Entscheidend für die qualitative Bewertung ist die Frage: „Wovon hängt die statistische Signifikanz ab?“<br />
<br />
In erster Linie sind hier die Größe einer Stichprobe, deren Repräsentativität und ihre Varianz zu nennen. Die statistische Signifikanz wird wesentlich durch die Stichprobengröße beeinflusst. Wird statt einer größeren nur eine kleine Stichprobe untersucht, dann ist es wahrscheinlicher, dass deren Zusammensetzung nicht die Grundgesamtheit repräsentiert. Die infolge zufällig getroffener Auswahl auftretenden Unterschiede fallen so stärker ins Gewicht. Bildet die gewählte Stichprobe die Grundgesamtheit in ihren wesentlichen Merkmalen ab, spricht man von einer repräsentativen Stichprobe. Wichtig für die Informationsqualität ist ebenfalls die Varianz, also die Streuung der Werte innerhalb der untersuchten Gruppe.<br />
<br />
== Beispielhafte Fragestellungen ==<br />
* Bei einer Umfrage wird festgestellt, dass 55 % der Frauen zu Partei ''A'' tendieren, während von 53 % der Männer Partei ''B'' bevorzugt wird. Gibt es tatsächlich einen Unterschied bei der politischen Überzeugung von Männern und Frauen oder sind nur ''zufällig'' bei den Frauen viele Anhängerinnen von Partei ''A'' und bei den Männern von Partei ''B'' befragt worden?<br />
* Mit einem neuen Medikament ist die Heilungsrate höher als ohne Medikament. Ist das neue Medikament wirklich [[Therapeutische Wirksamkeit|wirksam]] oder sind nur ''zufällig'' besonders viele Patienten ausgewählt worden, die auch von alleine wieder gesund geworden wären?<br />
* In der Umgebung einer Chemiefabrik tritt eine bestimmte Krankheit besonders häufig auf. Ist das ''Zufall'' oder gibt es einen Zusammenhang?<br />
<br />
== Irrtumswahrscheinlichkeit und Signifikanzniveau ==<br />
<br />
In den oben genannten Beispielen muß man annehmen, dass der Zufall die Ergebnisse beeinflusst hat. Man kann jedoch abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass die gemessenen Ergebnisse auftreten, wenn ''nur'' der Zufall wirkt. Dieser zufällige Fehler wird allgemein als [[Fehler 1. Art]] ([[Synonymie|Synonym]]: <math>\alpha</math>-Fehler) bezeichnet und die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens – unter der Voraussetzung, dass die Nullhypothese richtig ist – als ''[[Irrtumswahrscheinlichkeit]]''.<br />
<br />
Bei einem parametrischen Modell hängen die Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Fehlschlüsse vom unbekannten Verteilungsparameter <math>\vartheta</math> ab und können mit Hilfe der [[Gütefunktion]] des Tests angegeben werden.<br />
<br />
Die ''obere Grenze für die Irrtumswahrscheinlichkeit'', also jener Wert, den man für die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers 1.&nbsp;Art noch eben zu akzeptieren bereit ist, heißt ''Signifikanzniveau''. Grundsätzlich ist dies frei wählbar; häufig wird ein Signifikanzniveau von 5 % verwendet. Die Etablierung dieses Wertes wird verschiedentlich [[Ronald Aylmer Fisher|R. A. Fisher]] zugeschrieben.<ref>Stephen Stigler: ''Fisher and the 5% level.'' In: ''Chance.'' Bd. 21, Nr. 4, 2008, S. 12, {{doi|10.1080/09332480.2008.10722926}}.</ref> In der Praxis bedeutet dieses Kriterium, dass im Schnitt eine von 20 Untersuchungen, bei denen die Nullhypothese richtig ist (z.&nbsp;B. ein Medikament tatsächlich wirkungslos ist), zu dem Schluss kommt, sie sei falsch (z.&nbsp;B. behauptet, das Medikament erhöhe die Heilungschancen).<br />
<br />
Eine [[Heuristik|heuristische]] Motivation des Wertes 5 % ist wie folgt: Eine [[Normalverteilung|normalverteilte]] [[Zufallsgröße]] nimmt nur mit einer Wahrscheinlichkeit von kleiner oder gleich (≤) 5 % einen Wert an, der sich vom Erwartungswert um mehr als die 1,96-fache [[Standardabweichung (Wahrscheinlichkeitstheorie)|Standardabweichung]] unterscheidet:<br />
* Bei einem [[p-Wert]] von ≤ 5 % spricht z.&nbsp;B. [[Jürgen Bortz]] von einem ''signifikanten'',<br />
* bei einem Wert von ≤&nbsp;1 % (2,3 Standardabweichungen) spricht man von einem ''sehr signifikanten'' und<br />
* bei einem Wert von ≤&nbsp;0,1 % (3,1 Standardabweichungen) spricht man von einem ''hoch signifikanten'' Ergebnis.<ref name="BortzDöring2006">Jürgen Bortz, Nicola Döring: ''Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler.'' 4., überarbeitete Auflage. Springer Medizin, Heidelberg 2006, ISBN 3-540-33305-3, S. 740.</ref><br />
<br />
Wichtig ist hierbei, dass diese Einteilung rein willkürlich ist, an die jeweilige Anwendung angepasst werden muss und durch Wiederholungen bestätigt werden sollte. Weiterhin ist diese Einteilung problematisch in Bezug auf [[Publikationsbias]] und [[p-Hacking]]. Da bei einem [[p-Wert]] von kleiner oder gleich 5 %, falls die Nullhypothese korrekt ist, im Schnitt 5 % aller Untersuchungen die Nullhypothese dennoch verwerfen, ist dieses Kriterium im Allgemeinen nicht ausreichend, um neue Entdeckungen zu belegen. So wurde zum Beispiel für den Nachweis der Existenz des [[Higgs-Boson]]s ein sehr viel strengeres Kriterium von 5 Standardabweichungen (entsprechend einem p-Wert von 1 in 3.5 Millionen) angewendet.<ref name="HiggsBoson">ATLAS Collaboration: ''Observation of a new particle in the search for the Standard Model Higgs Boson with the ATLAS detector at the LHC.'' In: ''Physics Letters B'' Bd. 716, Nr. 1, S. 1–29, {{doi|10.1016/j.physletb.2012.08.020}}.</ref><br />
<br />
Die ''Höhe'' der Signifikanz eines Ergebnisses verhält sich also entgegengesetzt zum Zahlenwert des Signifikanz''niveaus'' – ein niedriges Signifikanzniveau entspricht einer hohen Signifikanz und umgekehrt.<br />
<br />
Im Gegensatz zur Fisherschen Auffassung von Signifikanz als Gradmesser für den Wahrheitsgehalt einer Hypothese ist im Kontext einer klassischen strikten Neyman-Pearson-Testtheorie eine nachträgliche Einstufung des Testergebnisses in unterschiedliche Grade der Signifikanz nicht vorgesehen. Aus dieser Sicht sind auch keine „hochsignifikanten“ oder „höchstsignifikanten“ Ergebnisse möglich – zusätzliche Informationen (beispielsweise der p-Wert) müssten anders angegeben werden.<br />
<br />
Auch bei statistisch signifikanten Aussagen ist stets eine kritische Überprüfung der Versuchsanordnung und -durchführung notwendig. Nur selten genügen wissenschaftliche Untersuchungen z.&nbsp;B. den mathematischen Anforderungen an einen aussagefähigen [[Statistische Tests|statistischen Test]]. Bei vielen Studien steht der Wunsch des oder der Studiendurchführenden (z.&nbsp;B. im Rahmen einer [[Doktorarbeit]]) nach einem „signifikanten“ Ergebnis bei der Studiendurchführung zu sehr im Vordergrund. Untersuchungen, bei denen die Nullhypothese bestätigt wird, werden nämlich gemeinhin (aber aus statistischer Sicht fälschlicherweise) als uninteressant und überflüssig angesehen. Weiterhin ist das [[Klinische Studie#Studiendesign|Studiendesign]] entscheidend. Als Hinweise auf die Qualität einer Studie können (z.&nbsp;B. im medizinischen Umfeld) die Eigenschaften „[[Randomisierung|randomisiert]]“, „kontrolliert“ und „[[doppelblind]]“ gelten. Ohne diese sind Aussagen etwa zur Wirksamkeit von Therapien mit äußerster Vorsicht zu behandeln.<br />
<br />
Bei häufig durchgeführten, weniger aufwändigen Studien besteht weiterhin die Gefahr, dass zum Beispiel von zwanzig vergleichbaren Studien nur eine einzige – eben die mit positivem Ergebnis – veröffentlicht wird, wobei allerdings deren Signifikanz tatsächlich nur zufällig erreicht wurde. Dieses Problem ist die wesentliche Ursache des [[Publikationsbias]] (s.&nbsp;u.). Problematisch ist insbesondere auch die Interpretation signifikanter [[Korrelation]]en in [[Retrospektive Studie|retrospektiven Studien]]. Zu bedenken ist darüber hinaus stets, dass aus statistisch signifikanten Korrelationen oft fälschlich auf eine vermeintliche [[Kausalität]] geschlossen wird (sog. [[Scheinkorrelation]]).<br />
<br />
== Probleme bei der Interpretation ==<br />
=== Aussagewert und Trennschärfe ===<br />
Auch bei Studien, die statistisch signifikant sind, kann der praktische Aussagewert gering sein.<br />
<br />
Studien mit großer Fallzahl führen aufgrund der hohen [[Trennschärfe eines Tests]] (auch Teststärke genannt) oft zu hoch signifikanten Ergebnissen. Solche Studien können trotzdem einen geringen Aussagewert haben, wenn die [[Effektstärke|Größe des beobachteten Effekts]] oder der gemessene Parameter nicht relevant sind. Statistische Signifikanz ist also ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für eine praktisch auch relevante Aussage. Für die Beurteilung der Relevanz ist die [[Effektstärke]] (Effektgröße) ein wichtiges Hilfsmittel.<br />
<br />
Weitere kritische Prüfsteine vom methodologischen Gesichtspunkt aus sind:<br />
<br />
* die Korrektheit der statistischen Modellannahmen (beispielsweise die [[Wahrscheinlichkeitsverteilung|Verteilungsannahme]])<br />
* die Anzahl der durchgeführten statistischen Tests (bei mehreren Tests, von denen nicht einer eindeutig als primärer Test gekennzeichnet ist, sollte eine [[Alphafehler-Kumulierung#Adjustierung des globalen α-Niveaus|Adjustierung]] des Signifikanzniveaus durchgeführt werden)<br />
* die prospektive Definition der Analysemethoden, vor der „Entblindung“ doppelblinder Studien<br />
* die eventuellen Folgen, die durch einen Fehler 1. Art oder 2. Art entstehen können, wozu auch mögliche Gefährdungen von Gesundheit und Leben gehören.<br />
<br />
=== Irrige Annahmen ===<br />
Signifikanz ist entgegen einer weit verbreiteten Meinung nicht mit der Irrtumswahrscheinlichkeit gleichzusetzen, auch wenn im Output mancher Statistikprogramme (z. B. [[SPSS]]) die Irrtumswahrscheinlichkeit missverständlich als „Sig.“ oder „Signifikanz“ bezeichnet wird. Richtig ist es, von „signifikant“ zu sprechen, wenn die Irrtumswahrscheinlichkeit für das gewonnene Ergebnis einer bestimmten Studie nicht über dem zuvor festgelegten Signifikanzniveau liegt.<br />
<br />
Doch ist es möglich, dass eine Wiederholung dieser Studie mit demselben Design und unter sonst gleichen Bedingungen bei der erneuten Stichprobe ein Ergebnis liefern würde, für das die Irrtumswahrscheinlichkeit über dem Signifikanzniveau läge. Die Wahrscheinlichkeit für diesen Fall hängt bei zufällig verteilten Variablen vom gewählten Signifikanzniveau ab.<br />
<br />
Nicht selten wird das Wort ''signifikant'' mit der Bedeutung ‚deutlich‘ gebraucht. Eine ''statistisch signifikante'' Änderung muss allerdings nicht notwendigerweise auch deutlich sein, sondern nur eindeutig. Es kann sich also durchaus um eine geringfügige Änderung handeln, die eindeutig gemessen wurde. Bei genügend hoher Anzahl an Messungen wird jeder (existierende) Effekt statistisch signifikant gemessen werden, so klein und unbedeutend er auch sein mag.<br />
<br />
Nicht zutreffend sind ferner die Annahmen, das Signifikanzniveau beziehungsweise der beobachtete p-Wert lege fest<br />
* die [[Effektgröße]]<br />
* die Wahrscheinlichkeit, dass die Nullhypothese wahr oder falsch ist<br />
* die Wahrscheinlichkeit, dass die [[Hypothese (Statistik)#Alternativhypothese|Alternativhypothese]] wahr oder falsch ist<br />
<br />
=== Wissenschaftliches Publizieren ===<br />
Die Präsentation von statistisch signifikanten Ergebnissen hat Einfluss darauf, ob ein wissenschaftlicher Artikel veröffentlicht wird. Dies führt jedoch zum sogenannten „[[Publikationsbias]]“, da mögliche Zufallsergebnisse nicht durch Publikation der gesamten Bandbreite der durchgeführten Untersuchungen relativiert werden.<ref>Wolfgang Weihe: [http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=41130 ''Klinische Studien und Statistik. Von der Wahrscheinlichkeit des Irrtums.''] In: ''Deutsches Ärzteblatt.'' Bd. 101, Nr. 13, 26. März 2004.</ref> Darüber hinaus haben Resultate, die aufgrund von Signifikanz zur Publikation ausgewählt werden, meist überschätzte [[Effektgröße]]n. Grund dafür ist, dass vor allem bei kleineren Studien nur die größten Unterschiede oder die stärksten Zusammenhänge signifikant werden.<ref>{{cite journal|last1=Amrhein|first1=Valentin|last2=Korner-Nievergelt|first2=Fränzi|last3=Roth|first3=Tobias|title=The earth is flat (p > 0.05): significance thresholds and the crisis of unreplicable research|journal=PeerJ|date=2017|volume=5|doi=10.7717/peerj.3544|url=https://peerj.com/articles/3544}}</ref><br />
<br />
=== Signifikanz und Kausalität ===<br />
Die Signifikanz sagt nichts über die möglichen kausalen Zusammenhänge aus oder deren Art; oft wird dies übersehen.<br />
<br />
Als Beispiel: Eine Statistik hätte gezeigt, dass in der Umgebung einer Chemiefabrik eine bestimmte Krankheit besonders häufig aufgetreten ist, und zwar so, dass der Unterschied zur normalen Verteilung dieser Erkrankung in der Gesamtbevölkerung signifikant ist. Doch würde dieser statistisch signifikante Zusammenhang nicht zwingend bedeuten, dass die Chemiefabrik mit der erhöhten Erkrankungshäufigkeit ursächlich zu tun hat.<br />
<br />
(1) Denn denkbar wäre auch, dass die Umgebung jener Chemiefabrik eine unbeliebte Wohngegend ist und daher dort überwiegend finanziell schwache Familien wohnen, die sich einen Wegzug nicht leisten können. Meist ernähren sich finanziell schwache Familien eher schlechter und haben in der Regel auch eine schlechtere Gesundheitsvorsorge als der Bevölkerungsdurchschnitt; eine Reihe von Krankheiten wird dadurch begünstigt, womöglich gerade die in Rede stehende.<br />
<br />
(2) Ebenso denkbar wäre, dass die Krankheit in manchen Gebieten z.&nbsp;B. durch Überschreiten einer gewissen Bevölkerungsdichte und der damit verbundenen erhöhten Ansteckungsgefahr gehäuft auftritt; und nur zufällig steht die Chemiefabrik nun in einem solchen Gebiet mit höherem Auftreten dieser infektiösen Erkrankung.<br />
<br />
Im ersten gedachten Fall könnte also ein kausaler Zusammenhang vorliegen; es wäre jedoch ein anderer als der, welcher mit Blick auf die statistische Untersuchung angenommen werden möchte. Die Kausalität könnte auch derart sein, dass diese Chemiefabrik gerade da gebaut wurde, wo viele finanziell schwache Familien wohnen (z.&nbsp;B. weil diese sich mangels Lobby weniger gut gegen die Ansiedlung einer Fabrik wehren konnten als die wohlhabenderen Bewohner anderer Wohngegenden oder da ihre Mitglieder als mögliche Ware Arbeitskraft im Preis günstiger erschienen bei der Wahl des Standortes). Die Chemiefabrik ohne weitere Indizien als Ursache der gehäuften Krankheitsfälle anzusehen, wäre also ein logisch falsch gefolgerter Schluss der Art „''[[cum hoc ergo propter hoc]]''“.<br />
<br />
Im zweiten gedachten Fall läge keinerlei kausaler Zusammenhang vor; vielmehr würde der sogenannte [[Zielscheibenfehler]] begangen: Nachdem eine signifikante Häufung eines Ereignisses (hier: der Krankheit) festgestellt wurde, wird ein anderes einigermaßen auffälliges Ereignis (nun: die Chemiefabrik) herangezogen und als mit dem ersten kausal zusammenhängend interpretiert. Oder noch einfacher:<br />Ein irgendwo als anders aufgefallenes Etwas wird wohl etwa mit irgendwas auffällig Anderem zusammenhängen – irgendwie, am liebsten: kausal und ''[[ad hoc]]'' (hier nun – »''cum ergo propter''« – nun hier).<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[F-Test]] zur Feststellung statistischer Signifikanz des Unterschiedes zweier [[Varianz (Stochastik)|Varianzen]]<br />
* [[t-Test]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Erika Check Hayden: ''Weak statistical standards implicated in scientific irreproducibility.'' In: ''[[Nature]].'' 2013, [[doi:10.1038/nature.2013.14131]].<br />
* David Salsburg: ''The lady tasting tea. How statistics revolutionized science in the twentieth century.'' Freeman, New York NY 2001, ISBN 0-7167-4106-7 (populärwissenschaftlich).<br />
* R.L. Wasserstein, R.L. & N.A. Lazar 2016. ''The ASA’s Statement on p-Values: Context, Process, and Purpose'', The American Statistician, Vol. 70, No. 2, pp. 129–133, [[doi:10.1080/00031305.2016.1154108]].<br />
* Valentin Amrhein, Fränzi Korner-Nievergelt, Tobias Roth 2017. ''The earth is flat (p > 0.05): significance thresholds and the crisis of unreplicable research.'' PeerJ 5: e3544, [[doi:10.7717/peerj.3544]].<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary|signifikant}}<br />
* Peter Sedlmeier: [http://www.dgps.de/fachgruppen/methoden/mpr-online/issue1/art3/sedlmeier.pdf ''Jenseits des Signifikanztest-Rituals: Ergänzungen und Alternativen.''] (PDF-Datei; 427 kB)<br />
* Jan M. Hoem: [http://www.demographic-research.org/volumes/vol18/15/18-15.pdf ''The reporting of statistical significance in scientific journals.''] (PDF-Datei; 131 kB)<br />
* [http://jeff560.tripod.com/s.html ''Earliest Uses: Significance.'']<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Testtheorie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Antikoagulation&diff=207232322Antikoagulation2021-01-03T19:10:31Z<p>Udo.bellack: /* Faktor IIa-Hemmer */ Kommata hinzugefügt</p>
<hr />
<div>Die Gabe eines Medikamentes zur Hemmung der [[Blutgerinnung]] wird als '''Antikoagulation''' ({{grcS|prefix=nein|ἀντί|[[Liste griechischer Präfixe#anti|anti]]}} „gegen“ und {{laS|coagulatio}} „Zusammenballung, Gerinnung“) bezeichnet. Das eingesetzte Medikament wird ''Antikoagulans'' (''Gerinnungshemmer'', ''Antikoagulantium, Antithrombotikum''; Mehrzahl: ''Antikoagulanzien'', veraltet: ''Antikoagulantien'') genannt. Die Wirkung beruht auf einer Beeinflussung der plasmatischen Gerinnung, das heißt der Gerinnungsfaktoren im [[Blutplasma|Plasma]]. Es werden direkte Antikoagulanzien, die direkt [[Gerinnungsfaktor]]en hemmen, von indirekten Antikoagulanzien unterschieden, welche entweder einen Kofaktor zur Gerinnungshemmung benötigen oder die Synthese der Gerinnungsfaktoren hemmen. Typische Vertreter der direkten Antikoagulanzien sind [[Hirudin]] und die auch als '''direkte orale Antikoagulanzien''' (DOAK) (synonym neue orale Antikoagulanzien, NOAK) bezeichneten Wirkstoffe wie [[Apixaban]], [[Dabigatran]], [[Edoxaban]] und [[Rivaroxaban]]. Klassische Vertreter der indirekten Antikoagulanzien sind die [[Vitamin-K-Antagonist]]en [[Phenprocoumon]], [[Acenocumarol]] oder [[Warfarin]] sowie die [[Heparin]]e.<ref name="Pötzsch">B. Pötzsch: ''Antikoagulation.'' In: ''Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin.'' 108, 2013, S.&nbsp;326, [[doi:10.1007/s00063-013-0243-1]].</ref><br />
<br />
Von den Antikoagulanzien abzugrenzen sind die [[Thrombozytenaggregationshemmer]] wie [[Acetylsalicylsäure]] (ASS), [[Clopidogrel]], [[Prasugrel]] und [[Ticagrelor]], welche über eine Funktionshemmung der [[Thrombozyt|Blutplättchen]] wirken und damit die Eigenschaft der Blutplättchen, verklumpen zu können, stören.<br />
<br />
Die umgangssprachliche Bezeichnung ''Blutverdünner'' ist sowohl für die Antikoagulanzien als auch für die Thrombozytenaggregationshemmer irreführend, da diese Mittel das Blut nicht dünner im Sinne einer geringeren [[Viskosität]] machen, sondern dessen Gerinnungsfähigkeit herabsetzen. Eine tatsächliche Blutverdünnung stellt die [[Hämodilution]] dar, ein Verfahren zur gezielten Herabsetzung des [[Hämatokrit]]s, z.&nbsp;B. durch Infusion von Flüssigkeiten.<br />
<br />
== Gründe für eine Antikoagulation ==<br />
Eine Gerinnungshemmung wird bei Erkrankungen oder Zuständen nötig, bei denen eine Neigung zur Bildung von Blutgerinnseln ([[Thrombus|Thromben]]) vorliegt. Durch die Gabe von Gerinnungshemmern können [[Thrombose]]n oder [[Embolie]]n in den [[Arterie]]n oder in den [[Vene]]n vermieden werden. Der zweite Grund für eine Behandlung mit Gerinnungshemmern ist die Behandlung von bereits vorhandenen Thrombosen oder Embolien.<br />
<br />
=== Vorbeugend (''prophylaktische Indikation'') ===<br />
Vor, während und nach [[Operation (Medizin)|Operationen]] sowie bei Bettlägerigkeit aus anderer Ursache werden häufig Antikoagulanzien zur Vermeidung von [[Thrombose]]n und [[Lungenembolie]]n eingesetzt. Auch bei [[Herzkatheteruntersuchung|Herzkathetereingriffen]] und der Blutentnahme zur [[Stammzellapherese]] sowie (außerhalb des menschlichen Körpers) in Schlauchsystemen ([[Dialyse]], [[Herz-Lungen-Maschine]]) oder Bluttransportröhrchen ist oft eine Hemmung der Blutgerinnung erforderlich.<br />
<br />
=== Zur Behandlung (''therapeutische Indikation'') ===<br />
Häufigster Grund für eine therapeutische Antikoagulation ist das nicht-valvuläre [[Vorhofflimmern]] oder [[Vorhofflattern|-flattern]]. Bei dieser [[Herzrhythmusstörung]] besteht ein erhöhtes [[Schlaganfall]]- und Embolierisiko, das bei vielen Patienten durch die Gerinnungshemmung gesenkt werden kann. Zweithäufigster Grund sind Thrombosen (meist der Beinvenen). Hier soll die Antikoagulation in der Akutphase die weitere Ausdehnung der Thrombose und später ein Wiederauftreten (''[[Rezidiv]]'') verhindern. Während die Behandlung bei den meisten Patienten nach einer Thrombose nur für einige Monate erforderlich ist, kann in einzelnen Fällen (z.&nbsp;B. bei wiederholten Thrombosen oder angeborenen Störungen der Blutgerinnung wie [[APC-Resistenz]]) eine lebenslange Antikoagulation erforderlich sein. Hier können Spezialsprechstunden zum Thema Gerinnung an großen Kliniken und Zentren den Patienten wichtige Empfehlungen geben. Patienten nach Herzklappenoperation benötigen immer eine Antikoagulation, bei biologischen [[Künstliche Herzklappe|Klappenprothesen]] oft nur für einige Wochen oder Monate, bei Kunstklappen aber in der Regel lebenslang.<br />
<br />
Seltenere Gründe für eine Antikoagulation können eine fortgeschrittene [[Arteriosklerose]] (z.&nbsp;B. [[Koronare Herzkrankheit|koronare Herzerkrankung]], [[periphere arterielle Verschlusskrankheit]] oder Verengung der [[Arteria carotis communis|Halsschlagader]]), ein [[Herzwandaneurysma]] oder eine untypische [[Hämodynamik]] (z.&nbsp;B. nach [[Palliation|Palliativ]]-OP bei angeborenem [[Herzfehler]]) sein.<br />
<br />
== Gerinnungshemmung und Blutungsrisiko ==<br />
Das wesentliche Risiko einer medikamentösen Gerinnungshemmung ist die Blutungsgefahr. Patienten, die dauerhaft Gerinnungshemmer einnehmen, bluten länger. Sie neigen zu [[Hämatom]]en und haben ein höheres Risiko für Blutungen aus dem Urogenital- oder Magen-Darm-Trakt. Besonders gefürchtet ist die [[Hirnblutung]]. Blutungen unter Antikoagulantien-Therapie treten oft nach einem [[Trauma (Medizin)|Trauma]] aber auch spontan auf. Je intensiver die Gerinnungshemmung ist (hohe Antikoagulantien-Dosis oder Kombination mehrerer Gerinnungshemmer), desto größer ist die Gefahr einer Blutung. Es gibt zudem patientenseitige Faktoren, die das Blutungsrisiko erhöhen.<br />
<br />
Nach dänischen Registerdaten<ref name=":0">{{Literatur |Autor=Sørensen R., et al. |Titel=Risk of bleeding in patients with acute myocardial infarction treated with different combinations of aspirin, clopidogrel, and vitamin K antagonists in Denmark: a retrospective analysis of nationwide registry data |Sammelwerk=Lancet |Band=374 |Datum=2009 |Seiten=1967-1974 |DOI=10.1016/S0140-6736(09)61751-7}}</ref> beträgt die Häufigkeit von Blutungen, die eine Krankenhausaufnahme erforderlich machen, unter einer neu begonnenen antithrombotischen Therapie bei Patienten nach Herzinfarkt insgesamt 4,6 % über 1,3 Jahre. Dabei ist das Risiko bei den verschiedenen Antithrombotika bzw. deren Kombinationen unterschiedlich groß:<br />
{| class="wikitable"<br />
|+ Blutungen unter Gerinnungshemmern, die eine Krankenhausaufnahme erforderlich machen<ref name=":0" /><br />
|-<br />
!Art der Gerinnungshemmung<br />
!Blutungswahrscheinlichkeit (über 1,3 Jahre)<br />
|-<br />
|einfache Thrombozytenfunktionshemmung mit ASS<br />
| 2,6 %<br />
|-<br />
|doppelte Thrombozytenfunktionshemmung (ASS+Clopidogrel)<br />
| 3,7 %<br />
|-<br />
|orale Antikoagulation mit Vitamin K-Antagonist<br />
| 4,3 %<br />
|-<br />
|Kombination ASS+Vitamin K-Antagonist<br />
| 5,1 %<br />
|-<br />
|Dreifach-Therapie: ASS+Clopidogrel+Vitamin K-Antagonist<br />
| 12 %<br />
|}<br />
Rechnet man zu diesen Zahlen noch die Blutungen hinzu, die nicht im Krankenhaus behandelt werden müssen, dann muss etwa einer von fünf Patienten mit oralen Antikoagulantien jedes Jahr mit einer Blutungskomplikation rechnen. So wurden in der RE-LY-Studie<ref>{{Literatur |Autor=Stuart J. Connolly, Michael D. Ezekowitz, Salim Yusuf, John Eikelboom, Jonas Oldgren |Titel=Dabigatran versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation |Sammelwerk=New England Journal of Medicine |Band=361 |Nummer=12 |Datum=2009-09-17 |ISSN=0028-4793 |Seiten=1139–1151 |Online=http://www.nejm.org/doi/abs/10.1056/NEJMoa0905561 |Abruf=2018-07-12 |DOI=10.1056/nejmoa0905561}}</ref>, in der der Vitamin K-Antagonist Warfarin mit zwei verschiedenen Dosen des Thrombininhibitors Dabigatran bei der Indikation Vorhofflimmern verglichen wurde, jährliche Blutungsraten (major- und minor-Blutungen) von 13,6 % (2 × 110&nbsp;mg Dabigatran), 16,4 % (2 × 150&nbsp;mg Dabigatran) und 18,1 % (Warfarin) gefunden. Es besteht demnach hinsichtlich der Blutungswahrscheinlichkeit ein klarer Zusammenhang zwischen der verwendeten Dosis und bei den Vitamin K-Antagonisten der Güte der [[International Normalized Ratio|INR]]-Einstellung.<br />
<br />
Zur Abschätzung des Blutungsrisikos werden zudem verschiedene [[Scoring-Systeme|Risikoscores]] verwendet, so z.&nbsp;B. der '''HAS-BLED Score'''<ref>[http://eurheartj.oxfordjournals.org/content/31/19/2369.full.pdf ''Management of Atrial Fibrillation, ESC Clinical Practice Guidelines, European Society of Cardiology 2010''] (PDF; 3,4&nbsp;MB).</ref> oder der '''HEMORR<sub>2</sub>HAGES Score'''.<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|- class="hintergrundfarbe5"<br />
! || ||HAS-Bled-Score ''(ESC guidelines 2010)''||<br />
|-<br />
! Ziffer || Bedeutung || Klinik || Punkte<br />
|-<br />
|style="text-align:center"| H||'''H'''ypertension||[[Hypertonie]] (RR [[Systole|systolisch]] über 160&nbsp;[[Torr|mmHg]]) ||style="text-align:center"| 1<br />
|-<br />
| style="text-align:center"|A||'''A'''bnormal renal and liver function||Schwere Leber-/Nierenfunktionstörung (je 1 Punkt) || style="text-align:center"|1–2<br />
|-<br />
| style="text-align:center"|S||'''S'''troke||[[Schlaganfall]] in der Vorgeschichte ||style="text-align:center"| 1<br />
|-<br />
|style="text-align:center"| B||'''B'''leeding||stattgehabte Blutung oder Blutungsneigung ||style="text-align:center"|1<br />
|-<br />
|style="text-align:center"| L||'''L'''abile INRs||labile Einstellung (<60 % der INR-Werte im Zielbereich) || style="text-align:center"|1<br />
|-<br />
| style="text-align:center"|E||'''E'''lderly||Alter über 65 Jahre ||style="text-align:center"|1<br />
|-<br />
|style="text-align:center"| D||'''D'''rugs or alcohol||Drugs (engl.: Medikamente/Drogen) wie [[Nichtsteroidales Antirheumatikum|Nichtsteroidale Antirheumatika]] oder Alkoholmissbrauch ||style="text-align:center"|1–2<br />
|}<br />
Ab einem Score von 3 besteht eine erhöhte Blutungsgefahr, die eine besondere Vorsicht bei der Verordnung von Antikoagulanzien (Auswahl der Substanzen, ggf. Dosisreduktion) und deren Überwachung (regelmäßige Hausarztkonsultationen und Laborkontrollen) erfordert. Kritiker weisen darauf hin, dass mehr als die Hälfte der Komplikationen unter Antikoagulantien-Therapie auf Fehler im Medikationsmanagement zurückführbar sind. Die häufigsten Medikationsfehler sind eine Missachtung von [[Arzneimittelinteraktionen]], die Behandlung mit einem für den Patienten ungeeigneten Gerinnungshemmer, eine unzuverlässige Medikamenteneinnahme (Therapie-[[Adhärenz]]), unzureichende Therapieüberwachung, fehlerhafte Indikation und Dosierung und Informationsabbrüche zwischen den behandelnden Ärzten.<ref name=":2">{{Literatur |Hrsg=Ludwig WD, Schuler J |Titel=Orale Antikoagulanzien: besseres Medikationsmanagement erforderlich |Sammelwerk=Der Arzneimittelbrief |Band=52 |Nummer=6 |Datum=2018 |ISSN=1611-2733 |Seiten=41-43 |Online=https://www.der-arzneimittelbrief.de/de/index.aspx}}</ref><br />
<br />
== Nutzen/Risiko-Abwägung ==<br />
Wenn man sich zu einer Therapie mit Gerinnungshemmern entscheidet, dann muss dem Blutungsrisiko ein angemessener therapeutischer Nutzen gegenüberstehen. So führt die orale Antikoagulation bei Patienten mit [[Vorhofflimmern]] zu einer Verminderung des Schlaganfallrisikos um mehr als 60 %<ref>{{Literatur |Autor=Robert G. Hart, Lesly A. Pearce, Maria I. Aguilar |Titel=Meta-analysis: antithrombotic therapy to prevent stroke in patients who have nonvalvular atrial fibrillation |Sammelwerk=Annals of Internal Medicine |Band=146 |Nummer=12 |Datum=2007-06-19 |Seiten=857–867 |PMID=17577005}}</ref>. Wenn ein Patient ein hohes Schlaganfall-Risiko hat, z.&nbsp;B. 6 % pro Jahr (Abschätzung beispielsweise mittels [[CHA2DS2-VASc Score|CHA<sub>2</sub>DS<sub>2</sub>-VASc Score]]), dann kann das Risiko, unter einer antithrombotischen Therapie eine bedeutsame Blutung zu haben, deutlich geringer sein als der resultierende Nutzen. Patienten sollten daher den potentiellen Nutzen der Therapie ebenso kennen wie das Risiko. Die Behandlungsleitlinien der [[European Society of Cardiology|Europäischen Gesellschaft für Kardiologie]] (ESC) zum Vorhofflimmern empfehlen daher auch, alle Aspekte einer Therapie mit Gerinnungshemmern mit den Patienten zu besprechen, um dann zu einer [[Partizipative Entscheidungsfindung|partizipativen Entscheidung]] (engl.: shared decision-making) und einer [[Informierte Einwilligung|informierten Einwilligung]] (engl.: informed consent) zu kommen.<br />
<br />
== Medikamente und wesentliche Eigenschaften ==<br />
Die Medikamente lassen sich nach dem Wirkprinzip in direkte und in indirekte Antikoagulanzien einteilen. Eine weitere Einteilung kann nach der Applikationsart in oral applizierbare und nicht oral applizierbare Antikoagulanzien erfolgen.<br />
<br />
=== Indirekte Antikoagulanzien ===<br />
Indirekte Antikoagulanzien hemmen die plasmatische Gerinnung nicht direkt.<br />
<br />
==== Cumarine (Vitamin-K-Antagonisten) ====<br />
Die sogenannte ''orale Antikoagulation'' mit [[4-Hydroxycumarine|Cumarinen]] (Wirkstoffe: [[Phenprocoumon]], [[Acenocumarol]], [[Warfarin]]) wirkt durch eine Verarmung der [[Vitamin K|Vitamin-K]]-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X (Eselsbrücke ''1972''). Diese werden nicht mehr ausreichend gebildet und die Blutungszeit verlängert sich. Der Effekt lässt sich anhand der Blutungszeiten messen. Heute anhand einer Bestimmung der [[International Normalized Ratio|INR]] (früher [[Quickwert]]). Das Ausmaß der Gerinnungshemmung hängt nicht nur von der eingenommenen Dosis, sondern auch von der Ernährung und dem Stoffwechsel des Patienten ab. Vitamin-K-reiche Lebensmittel wie z.&nbsp;B. Grünkohl oder Broccoli<ref>{{Internetquelle |url=https://www.herzstiftung.de/pdf/Vitamin-K-in-Gemuese.pdf |titel=Vitamin K in Lebensmitteln |hrsg=Deutsche Herzstiftung |abruf=2018-07-16 |format=PDF}}</ref> können zu einer Abschwächung der Cumarin-Wirkung führen. Außerdem unterliegen Cumarine im Körper einer umfangreichen Verstoffwechselung. Sie werden sowohl bei der Aufnahme in als auch bei der Elimination aus dem Körper durch eine Vielzahl von Enzymen verändert. Durch eine individuell unterschiedlich starke Aktivität dieser Enzyme (slow, fast, ultrafast Metabolizer) ist der Cumarin-Bedarf eines Patienten nicht vorhersehbar. Der Therapiebeginn erfolgt daher langsam, unter ständigen INR-Kontrollen. Wenn die Ziel-INR erreicht ist, wird eine Erhaltungsdosis festgelegt, die in einem [[Gerinnungsausweis]] notiert wird. Manche Patienten benötigen nur 2 Tabletten pro Woche, andere 8. Eine weitere Störgröße sind [[Arzneimittelinteraktionen]]. Viele Komedikamente einschließlich [[Phytopharmakon|Phytopharmaka]] beeinflussen direkt und indirekt die Wirkung von Cumarinen. Die wichtigsten Interaktionen sind in den jeweiligen [[Fachinformationen]] aufgelistet.<br />
<br />
Die orale Antikoagulation mit Cumarinen erfolgt in Form einer regelmäßigen Tabletteneinnahme. Die Dosis wird durch die behandelnden Ärzte festgelegt. Je höher die INR, desto intensiver ist die Antikoagulation. Manche Indikationen benötigen eine weniger starke Gerinnungshemmung (z.&nbsp;B. INR 2–3, bei nicht valvulärem Vorhofflimmern), andere eine wesentlich stärkere (z.&nbsp;B. INR 3,5–4 bei bestimmten künstlichen Herzklappen). Je höher die INR, desto höher das Blutungsrisiko und je schwankender die INR-Einstellung, desto höher ist das Komplikationsrisiko der Therapie (Thrombosen, Embolien und Blutungen). Bei zuverlässigen Patienten sollte die INR-Überwachung daher in Form des [[Gerinnungsselbstmanagement]]s nach einer entsprechenden Schulung auf den Patienten übertragen werden. Die notwendigen Testgeräte werden unter bestimmten Voraussetzungen von den Krankenkassen bezahlt. Dies erlaubt den Patienten eine eigenverantwortliche Festlegung der richtigen Dosierung.<br />
<br />
Bei etwa einem Drittel der Patienten gibt es jedoch Probleme mit der Cumarinbehandlung. Die INR wechselt stark, die Einnahme erfolgt unzuverlässig oder die Patienten stürzen häufiger oder haben spontane Hämatome. Dies führt oft dazu, dass die Therapie aus Sicherheitsgründen abgebrochen oder erst gar nicht begonnen wird, obwohl die Patienten einen großen Nutzen hätten. Ein weiteres Problem ist, dass die Wirkung der Cumarine über mehrere Tage anhält, was bei Blutungen oder [[Operation (Medizin)|Operationen]] sehr nachteilig sein kann. In diesem Fall kann [[Vitamin K]] zugeführt werden. Es kommt dann innerhalb mehrerer Stunden zu einer Normalisierung der Gerinnung. Bei der Vitamin-K-Gabe handelt es sich jedoch nicht im klassischen Sinne um ein Cumarin-[[Antidot]]. Im Notfall können zudem die fehlenden Gerinnungsfaktoren (z.&nbsp;B. [[Prothrombinkomplex]]) infundiert werden.<br />
<br />
==== Heparine ====<br />
Bei den ausschließlich [[parenteral]] applizierbaren Heparinen handelt es sich um Glykosaminoglykane, deren gerinnungshemmende Wirkung auf eine Aktivitätssteigerung von endogenem [[Antithrombin]] zurückzuführen ist. Antithrombin führt zu Inaktivierung des gerinnungsfördernden [[Faktor Xa|Faktors Xa]]. Nach der [[Molare Masse|molaren Masse]] kann zwischen unfraktioniertem Heparin (UFH) und niedermolekularem Heparin (NMH) unterschieden werden. Während unfraktioniertes Heparin zusätzlich die Inaktivierung des ebenfalls gerinnungsfördernden [[Thrombin]]s beschleunigt, verlieren niedermolekulare Heparine unter einer Molmasse von 5400 [[Atomare Masseneinheit|u]] diese Fähigkeit.<ref name="Pötzsch327">B. Pötzsch: ''Antikoagulation.'' In: ''Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin.'' 108, 2013, S.&nbsp;327, [[doi:10.1007/s00063-013-0243-1]].</ref><br />
<br />
Die Molmasse beeinflusst die [[Pharmakokinetik]] der einzelnen Substanzen. Im Allgemeinen gilt, dass mit abnehmender Molmasse die [[Bioverfügbarkeit]] und die [[Halbwertszeit]] zunehmen. Zudem unterscheidet sich die laborchemische Überprüfbarkeit der Wirkung aufgrund der genannten Wirkmechanismen. Während die Wirkung von unfraktioniertem Heparin durch die Bestimmung der [[Partielle Thromboplastinzeit|partiellen Thromboplastinzeit]] getestet werden kann, können niedermolekulare Heparine nur über die [[Anti-Faktor-Xa-Aktivität]] überprüft werden.<ref name="Pötzsch327" /> Die Gabe von fraktioniertem Heparin wirkt sich somit nicht auf die INR aus.<br />
<br />
Unfraktioniertes Heparin wird subkutan 2–3 Mal täglich oder, dann meist als Dauer[[infusion]], intravenös appliziert. Die Halbwertszeit liegt bei 30 bis 60 Minuten. Die Wirkung von unfraktioniertem Heparin lässt schnell nach und kann durch [[Protamin]] rasch wieder aufgehoben werden.<br />
<br />
Niedermolekulare (= fraktionierte) Heparine werden aus unfraktioniertem Heparin gewonnen. Vertreter dieser Gruppe sind [[Certoparin]], [[Dalteparin]], [[Enoxaparin]], [[Nadroparin]], [[Reviparin]] und [[Tinzaparin]]. Je nach Indikation und Präparat werden Heparine 1–2 mal täglich subkutan appliziert. Die Wirkung kann je nach eingesetztem NMH-Präparat kurzfristig durch Protamin zu 50 bis 85 % aufgehoben werden.<ref>Crowther MA et al.: ''Mechanisms responsible for the failure of protamine to inactivate low-molecular-weight heparin.'' In: ''[[Br J Haematol]].'' 116, Nr. 1, Januar 2002, S. 178–186, PMID 11841415.</ref><br />
<br />
=== {{Anker|Direkte orale Antikoagulanzien (DOAK)}} Direkte orale Antikoagulanzien (DOAK oder DOAKs) ===<br />
''Direkte orale Antikoagulanzien'' wurden früher auch als '''neue orale Antikoagulanzien''' ('''NOAK''') bezeichnet. Nachdem sie mittlerweile aber routinemäßig angewendet werden, soll besser der Name ''Direkte orale Antikoagulanzien'' verwendet werden, da durch diese Nomenklatur auch der von der Gruppe der Cumarine abweichende Wirkmechanismus explizit betont wird. Diese Medikamente greifen direkt in die Gerinnungskaskade ein und hemmen auf direktem Weg einzelne Gerinnungsfaktoren. Derzeit sind direkte Hemmer des Stuart-Prower-Faktors (Gerinnungsfaktor Xa) und des Thrombins (Gerinnungsfaktor IIa) auf dem Markt.<br />
<br />
==== Faktor Xa-Hemmer ====<br />
* [[Apixaban]] – Handelsname Eliquis<br />
* [[Betrixaban]] – in Europa nicht zur Behandlung zugelassen<ref name=Betrixaban_EMA>{{Internetquelle |autor= |url=https://www.ema.europa.eu/en/documents/smop-initial/questions-answers-refusal-marketing-authorisation-dexxience-betrixaban_en.pdf |titel=Refusal of the marketing authorisation for Dexxience (betrixaban) |werk= |hrsg=[[Europäische Arzneimittel-Agentur|EMA]] |datum=2018-07-27 |abruf=2020-09-14}}</ref><br />
* [[Edoxaban]] – Handelsname Lixiana<br />
* [[Rivaroxaban]] – Handelsname Xarelto<br />
<br />
==== Faktor IIa-Hemmer ====<br />
* [[Dabigatranetexilat]] – Handelsname Pradaxa<br />
* [[Ximelagatran]] wurde im Februar 2006 wegen Leberschäden weltweit vom Markt genommen.<br />
<br />
DOAK ersetzen zunehmend die Cumarine. Sie haben den praktischen Vorteil, dass die Gerinnungswerte nicht regelmäßig kontrolliert werden müssen. Die Patienten nehmen einmal (Rivaroxaban, Edoxaban) oder zweimal täglich (Dabigatran, Apixaban) eine Fixdosis ein. Nachteile sind ihr deutlich höherer Preis (ca. 15-mal höher als bei Phenprocoumon)<ref name=":1">{{Internetquelle |url=https://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/LF/PDF/OAKVHF.pdf |titel=Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem Vorhofflimmern |hrsg=Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft |datum=2016-09 |abruf=2018-07-17 |format=PDF}}</ref> und dass durch die nicht erforderlichen INR-Kontrollen Informationen über die Intensität der antithrombotischen Therapie fehlen, die Therapie also gewissermaßen blind erfolgt. Auch fallen die regelmäßigen Hausarztbesuche zur INR-Kontrolle weg und damit verbunden die klinischen Kontrollen.<br />
<br />
In den meisten Studien zeigte sich, dass durch DOAK Schlaganfälle etwa gleich effektiv reduziert werden können wie mit Cumarinen bei insgesamt etwas weniger Blutungskomplikationen, insbesondere Hirnblutungen.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.der-arzneimittelbrief.at/at/Artikel.aspx?J=2014&S=41 |titel=Neue orale Antikoagulanzien oder Vitamin-K-Antagonisten? Eine aktuelle Metaanalyse |werk=[[Der Arzneimittelbrief]] |hrsg=Ludwig WD, Schuler J |seiten=41–43 |abruf=2018-07-17}}</ref> In diesen Studien wurde jedoch ein in Deutschland und Österreich unübliches Cumarin verwendet (Warfarin) und die Güte der INR-Einstellung war unbefriedigend (kaum Selbstmanagement). Das könnte das Ergebnis zu Gunsten der DOAK verzerrt haben. Aus Sicht der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft ([[AkdÄ]]) ergibt sich daher für Patienten mit Vorhofflimmern, die mit einem Cumarin gut zu behandeln sind, kein Vorteil aus einer Therapie mit einem DOAK. DOAK sind demnach eine wertvolle Option bei spezifischen Kontraindikationen gegen Cumarine, bei einem erhöhten Risiko für Cumarin-spezifische Arzneimittelinteraktionen, stark schwankenden INR-Werten oder wenn eine regelmäßige Kontrolle des INR-Wertes aus nachvollziehbaren Gründen schwierig ist.<ref name=":1" /><br />
<br />
Bei der Auswahl des DOAK sollten allein medizinische Aspekte wie Begleiterkrankungen, Komedikation, potentielle Interaktionen und die Nierenfunktion ausschlaggebend sein. Darüber hinaus sind die Detailergebnisse der einzelnen Substanzen in den jeweiligen Zulassungsstudien zu berücksichtigen. Auch die Verfügbarkeit eines Antidots sollte bei der Auswahl des Medikamentes berücksichtigt werden. Die DOAK dürfen also keinesfalls gleich betrachtet werden. Es kristallisiert sich zunehmend eine komplizierte [[Differentialindikation]] heraus, und es sind längst noch nicht alle Fragen beantwortet.<br />
<br />
Ein Problem mit den DOAK ist ein zu sorgloser Umgang mit diesen scheinbar leicht steuerbaren Antikoagulantien. So kritisiert ''[[Der Arzneimittelbrief]]'' einen zunehmend fehlerhaften und zu laxen Umgang mit den DOAK, der die geringen klinischen Vorteile gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten aufheben dürfte<ref name=":2" />. Häufige vermeidbare Fehler, welche zu einer schwerwiegenden Nebenwirkung führten, seien eine nicht vorhandene Indikation zur Antikoagulation ([[Übertherapie]]), die Unkenntnis oder Missachtung von [[Arzneimittelinteraktionen]], die Behandlung mit einem für den Patienten ungeeigneten Antikoagulanz oder eine falsche Dosis, eine unzuverlässige Medikamenten-Einnahme und eine unzureichende Therapieüberwachung. Weitere häufige Probleme im Zusammenhang mit den DOAK seien Schulungsdefizite bei den Patienten, Verunsicherungen durch skandalisierende Medienberichte, die [[Selbstmedikation]] mit rezeptfreien Präparaten mit Interaktionspotential, das verharmlosende Marketing der DOAK-Hersteller, welches die Vorteile über und die Risiken untertreibt, sowie der Kontaktverlust zwischen Hausärzten und Patienten durch die fehlenden INR-Kontrollen.<br />
<br />
Angelehnt an die Empfehlungen der Europäische Heart Rhythm Association (EHRA)<ref>{{Literatur |Autor=Jan Steffel, Peter Verhamme, Tatjana S Potpara, Pierre Albaladejo, Matthias Antz |Titel=The 2018 European Heart Rhythm Association Practical Guide on the use of non-vitamin K antagonist oral anticoagulants in patients with atrial fibrillation |Sammelwerk=European Heart Journal |Band=39 |Nummer=16 |Datum=2018-03-19 |Seiten=1330–1393}}</ref> wird zur Verbesserung des Therapiesicherheit mit DOAK eine strukturierte Nachsorge vorgeschlagen. Demnach soll auch bei einer Behandlung mit DOAK durch den Erstverordner ein möglichst einheitlicher [[Gerinnungshemmer-Ausweis]] bzw. Notfallpass ausgestellt werden. Die Nachsorgeintervalle und -inhalte werden wie folgt vorgegeben:<br />
<br />
* erste Kontrollvisite ein Monat nach der Erstverordnung: Abfrage von thrombotischen, embolischen oder Blutungsereignissen; von Nebenwirkungen und Einnahmentreue; Überprüfung der Komedikation auf Interaktionen; Bewertung der Eignung des gewählten DOAK und der Dosis; Festlegung des nächsten Nachsorgetermins und von den erforderlichen Laborkontrollen. Schulung der Patienten.<br />
* im Weiteren klinische Kontrollvisiten etwa alle 3 Monate (maximal 6 Monate), in Abhängigkeit von Patientenfaktoren wie Alter, Nierenfunktion und Begleiterkrankungen. Inhalte der Visiten wie bei der ersten Kontrolluntersuchung.<br />
<br />
Alle Patienten mit DOAK sollen mindestens einmal jährlich eine '''Laborkontrolle''' erhalten (Nierenfunktion, Leberfunktion, Blutbild). Patienten ≥75 Jahre (besonders, wenn sie Dabigatran erhalten) sowie gebrechliche Patienten häufiger, mindestens alle 6 Monate. Niereninsuffiziente Patienten mit [[Kreatinin-Clearance]] ≤ 60 ml/min sollen x-monatlich eine Blutkontrolle erhalten, nach der Formel: x = Kreatinin-Clearance/10 (d.&nbsp;h. bei 30 ml/min = 3-monatlich). Zudem werden Laborkontrollen empfohlen bei allen Zuständen, die die Nieren- oder Leberfunktion beeinträchtigen können. Routinemäßige Bestimmungen von DOAK-Serumspiegeln werden nicht empfohlen.<br />
<br />
Anders als bei den Cumarinen gibt es bei den DOAK spezifische [[Antidot]]s. Für das Dabigatran ist solch ein Antidot seit November 2015 unter dem Namen [[Idarucizumab]] (Handelsname Praxbind) zugelassen. Es wirkt nur gegen Dabigatran und hebt bei lebensbedrohlichen Blutungen dessen Wirkung innerhalb weniger Minuten völlig auf. Für die Faktor Xa-Antagonisten Rivaroxaban und Apixaban wurde im Mai 2018 in den USA das rekombinante [[Andexanet alfa]] (Handelsname AndexXa) als Antidot zugelassen. In Europa wurde es im April 2019 unter der Auflage weiterer klinischer Studien zugelassen.<ref>{{Internetquelle |url=https://portola.gcs-web.com/news-releases/news-release-details/european-commission-grants-conditional-marketing-authorization |titel=European Commission Grants Conditional Marketing Authorization for Portola Pharmaceuticals’ Ondexxya™ (andexanet alfa) |abruf=2019-05-10 |sprache=en}}</ref><br />
<br />
Sollte es unter der Therapie mit Dabigatran, Apixaban oder Rivaroxaban zu einer [[Hirnblutung|intrakraniellen Blutung]] gekommen sein, wurden folgende Maßnahmen empfohlen:<br />
* Absetzen (bzw. Pausieren) des DOAK<br />
* Bei Einnahme von Dabigatran oder Rivaroxaban in den letzten zwei Stunden: [[Aktivkohle#Medizinische Anwendung|Gabe von Aktivkohle]]<br />
* [[PPSB]] in einer Dosierung von 30 U/kg Körpergewicht<br />
* Bei Einnahme von Rivaroxaban kommt auch die Verabreichung von aktiviertem Prothrombin-Komplex oder [[Proconvertin#Therapeutische Verwendung|rekombinantem Faktor VIIa]] in Betracht<br />
* Den systolischen Blutdruck unter 140 mmHg halten.<ref>Manio von Maravic: ''Neurologische Notfälle.'' In: Jörg Braun, Roland Preuss (Hrsg.): ''Klinikleitfaden Intensivmedizin.'' 9. Auflage. Elsevier, München 2016, ISBN 978-3-437-23763-8, S. 311–356, hier: S. 318 (''Intrakranielle Blutung bei neuen oralen Antikoagulanzien'').</ref><br />
<br />
=== Weitere Wirkstoffe ===<br />
* [[Fondaparinux]] – Handelsname Arixtra®, Faktor Xa-Hemmer zur subkutanen Anwendung<br />
* [[Danaparoid]] – Handelsname Orgaran®<br />
* [[Hirudin]], ein [[Thrombin]]-Hemmstoff (wird von [[Blutegel]]n benutzt), 1884 als erstes gerinnungshemmendes Prinzip<ref>[[Axel W. Bauer]]: ''Antikoagulantium.'' In: [[Werner E. Gerabek]], Bernhard D. Haage, [[Gundolf Keil]], Wolfgang Wegner (Hrsg.): ''Enzyklopädie Medizingeschichte.'' De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 71 f.</ref> entdeckt.<br />
* [[Lepirudin]], rekombinantes Hirudin (nicht mehr im Handel)<br />
* [[Bivalirudin]], aus [[Medizinischer Blutegel|Blutegeln]] gewonnenes Hirudin<br />
* [[Komplexverbindung|Calcium-Komplexbildner]], zum Beispiel [[Citrat]] oder [[Ethylendiamintetraacetat|EDTA]], die durch Bindung des Calciums ([[Chelat-Komplex]]) eine Gerinnung des Bluts verhindern. Vor allem [[Citratantikoagulation]] findet vermehrt Einsatz bei kontinuierlichen Nierenersatzverfahren. Der Vorteil ist, dass der Patient selber von der Antikoagulation ausgenommen ist, eine Gerinnungshemmung findet nur im extrakorporalen Kreislauf statt. Somit können auch Patienten behandelt werden, die kein Heparin vertragen (HIT II, SHT) oder septisch sind.<br />
* [[Argatroban]] – Handelsname Argatra, Faktor IIa-Hemmer, zur intravenösen Verabreichung<br />
* [[Otamixaban]], Faktor Xa-Hemmer, zur intravenösen Verabreichung<br />
<br />
== Im Labor (''in vitro'') ==<br />
Bei der Untersuchung von Blut wird dieses mit Antikoagulanzien wie [[EDTA]], [[Citrat]], [[Heparin|Ammoniumheparinat]], [[Heparin|Lithiumheparinat]] oder [[Acid-Citrate-Dextrose]] (ACD) versetzt, um ungeronnenes Blut untersuchen zu können. Die bei der [[Blutentnahme]] eingesetzten [[Blutentnahmeröhrchen|Blutröhrchen]] sind bereits mit einem dieser Antikoagulanzien bestückt.<br />
<br />
== Blutverdünnung ==<br />
<br />
Die [[Umgangssprache|umgangssprachlich]] als Blutverdünner bezeichneten Antikoagulanzien sind von tatsächlich [[Hämodilution|blutverdünnenden]] Wirkstoffen, den [[Plasmaexpander]], zu unterscheiden, da Antikoagulanzien weder die [[Viskosität]] des Blutes noch die [[Konzentration (Chemie)|Konzentration]] von [[Blutkörperchen]] und gesamtem [[Blutplasma|Bluteiweiß]] nennenswert vermindern.<br />
* Plasmaexpander kann man nicht als [[Tablette]]n schlucken, sie werden [[Infusion|infundiert]].<br />
* Plasmaexpander vermindern auch die Gerinnungsfähigkeit des Blutes, das ist hier ein oftmals unliebsamer Nebeneffekt. Dieser Nebeneffekt ist je nach Stoffklasse unterschiedlich stark, abhängig davon,<br />
** ob er allein durch die Konzentrationsminderung von [[Gerinnungsfaktoren]] und [[Blutplättchen]] zustande kommt ([[Gelatine]]präparate)<br />
** oder auch pharmakologisch bedingt ist ([[Hydroxyethylstärke|Stärkepräparate]]).<br />
* Plasmaexpander haben zwei wesentliche Einsatzgebiete:<br />
** Ausgleich des Volumenmangels im Kreislauf bei [[Hämorrhagischer Schock|großen Blutverlusten]].<br />
** Verminderung der Viskosität bei frischen [[Schlaganfall|Schlaganfällen]].<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* B. Pötzsch: ''Antikoagulation.'' In: ''Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin.'' 108, 2013, S.&nbsp;325–336, [[doi:10.1007/s00063-013-0243-1]].<br />
* P. Schweikert-Wehner: ''Gerinnungsmanagement Antikoagulantien richtig dosieren.'' Pharmazeutische Zeitung. 159. Jahrgang, 4. Ausgabe, S. 22–24, Eschborn, 2014<br />
* P. Schweikert-Wehner: ''DOAK Update Interaktionen.'' Pharmazeutische Zeitung. 162. Jahrgang, 38. Ausgabe, S. 92, Eschborn, 2017<br />
* P. Schweikert-Wehner: ''Orale Antikoagulation bei Niereninsuffizienz'', herzmedizin, 1. Ausgabe, S. 30-31, Mediengruppe Oberfranken-Fachverlag GmbH & Co KG, Kulmbach, 2018<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [http://antikoagulation-aktuell.de/ Antikoagulation-Aktuell.de] – Informationsplattform von Prof. Dr. Jörg Braun zum Thema Antikoagulation<br />
* Perioperativer Umgang mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmer [https://www.medmedia.at/wp-content/uploads/2019/03/Tabelle-Gerinnung.jpg]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
{{Gesundheitshinweis}}<br />
<br />
[[Kategorie:Antikoagulans| ]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=BRCA1&diff=206173044BRCA12020-12-02T22:38:54Z<p>Udo.bellack: /* Auswirkungen von BRCA1-Mutationen */ Nebensatz mit Komma</p>
<hr />
<div>{{Infobox Protein<br />
| Name = BRCA1<br />
| Bild =Protein BRCA1 PDB 1jm7.png<br />
| Bild_legende = nach {{PDB2|1jm7}}<br />
| Andere Namen = RING Fingerprotein 53<br />
| PDB = {{PDB2|1JM7}}, {{PDB2|1JNX}}, {{PDB2|1N5O}}, {{PDB2|1OQA}}, {{PDB2|1T15}}, {{PDB2|1T29}}, {{PDB2|1T2U}}, {{PDB2|1T2V}}, {{PDB2|1Y98}}, {{PDB2|2ING}}, {{PDB2|3COJ}}, {{PDB2|3K0H}}, {{PDB2|3K0K}}, {{PDB2|3K15}}, {{PDB2|3K16}}, {{PDB2|3PXA}}, {{PDB2|3PXB}}, {{PDB2|3PXC}}, {{PDB2|3PXD}}, {{PDB2|3PXE}}, {{PDB2|4IFI}}, {{PDB2|4IGK}}, {{PDB2|4JLU}}, {{PDB2|4OFB}}, {{PDB2|4U4A}}, {{PDB2|4Y18}}, {{PDB2|4Y2G}}<br />
| Groesse = 7 bis 210 [[Atomare Masseneinheit|Kilodalton]] / 63 bis 1884 [[Aminosäure]]n (je nach Isoform)<br />
| Kofaktor = <br />
| Precursor = <br />
| Struktur = <br />
| Isoformen = 8<br />
| HGNCid = <br />
| Symbol = BRCA1<br />
| AltSymbols = RNF53<br />
| GeneCards = 672<br />
| OMIM =113705<br />
| UniProt = <br />
| MGIid =104537<br />
| CID = <br />
| CAS = <br />
| CASergänzend = <br />
| ATC-Code = <!-- {{ATC|X99|XX99}} --><br />
| DrugBank = <br />
| Wirkstoffklasse = <br />
| TCDB = <br />
| TranspText = <br />
| EC-Nummer = <br />
| Kategorie = <br />
| Peptidase_fam = <br />
| Inhibitor_fam = <br />
| Reaktionsart = <br />
| Substrat = <br />
| Produkte = <br />
| MoreEC1 = <br />
| MoreEC2 = <br />
| MoreEC3 = <br />
| Homolog_db = <br />
| Homolog_fam = <br />
| Taxon = <br />
| Taxon_Ausnahme = <br />
| Orthologe = <br />
}}<br />
<br />
[[Datei:BRCA1 de.png|mini|Die Lage des ''BRCA1''-Gens auf Chromosom 17]]<br />
[[Datei:BRCA1.svg|mini|Schematische Darstellung des BRCA1-Polypeptides]]<br />
<br />
'''BRCA1''' ('''''BR'''east '''CA'''ncer '''1''', [[early-onset]]''), in einigen Publikationen auch als '''Brustkrebsgen 1''' bezeichnet, ist ein menschliches [[Gen]], bzw. dessen [[Genprodukt]], also ein [[Protein]]. Es handelt sich dabei um ein [[Tumorsuppressorgen]], was heißt, dass das Gen in seiner Funktion zur Unterdrückung von Tumoren beiträgt.<br />
<br />
== Funktion von BRCA1 ==<br />
BRCA1 spielt eine wichtige Rolle in der Reparatur von Doppelstrangbrüchen. Eine [[Loss-of-function-Mutation]] oder [[Deletion]] des ''BRCA1''-Gens erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Tumorbildung, insbesondere für [[Brustkrebs]] (Mammakarzinom), [[Ovarialkarzinom|Eierstockkrebs]] (Ovarialkarzinom), [[Kolorektales Karzinom|Dickdarmkrebs]] (Kolonkarzinom) und [[Prostatakarzinom]].<br />
Das von ''BRCA1'' codierte Protein besteht aus 1863 [[Aminosäuren]] und hat eine [[molare Masse]] von 207.732 [[Dalton (Einheit)|Dalton]]. Es interagiert im [[Zellkern]] vieler normaler Körperzellentypen mit dem vom [[BRCA3]] codierten Protein (''RAD51C'') und dem von ''[[BRCA2]]'' codierten Protein. Alle drei Proteine zusammen [[DNA-Reparatur|reparieren]] Unterbrechungen in geschädigter DNA. Diese Unterbrechungen können beispielsweise durch [[ionisierende Strahlung]]en hervorgerufen werden. Aber auch bei der Zellteilung können diese Unterbrechungen natürlicherweise entstehen. Die Funktionen und Interaktionen der drei DNA-Reparaturproteine sind Gegenstand intensiver Forschungsarbeiten und noch nicht vollständig aufgeklärt bzw. verstanden.<ref>S. J. Boulton: ''Cellular functions of the BRCA tumour-suppressor proteins.'' In: ''[[Biochemical Society Transactions]]'' Band 34, November 2006, S.&nbsp;633–645, [[doi:10.1042/BST0340633]]. PMID 17052168. (Review).</ref><br />
<br />
== Die Lage von BRCA1 im Genom ==<br />
Das ''BRCA1''-Gen liegt beim Menschen auf dem langen Arm (q-Arm) von [[Chromosom 17 (Mensch)|Chromosom 17]] [[Genlocus]] q21.31 zwischen den [[Basenpaar]]en 41.196.311-41.277.500.<ref>genome.ucsc.edu: [http://genome.ucsc.edu/cgi-bin/hgTracks?db=hg19&position=chr17%3A41196312-41277500 Human chr17:41,196,312-41,277,500 - UCSC Genome Browser v307]</ref> Momentan sind 31 verschiedene Transkripte ([[Isoform]]en) bekannt.<ref>ensemble.org: [http://www.ensembl.org/Homo_sapiens/Gene/Summary?db=core;g=ENSG00000012048 ''Ensemble Browser release 54'']</ref><br />
<br />
== Auswirkungen von BRCA1-Mutationen ==<br />
Es wird angenommen, dass etwa 5 bis 10 Prozent aller Brustkrebserkrankungen einen [[Autosomal-dominanter Erbgang|autosomal dominanten Erbgang]] aufweisen. ''BRCA1'' ist dabei das mit Abstand wichtigste verursachende Gen.<ref>J. M. Hall, M. K. Lee, B. Newman, J. E. Morrow, L. A. Anderson, B. Huey, M. C. King: ''Linkage of early-onset familial breast cancer to chromosome 17q21.'' In: ''[[Science]]'' Band 250, Nummer 4988, Dezember 1990, S.&nbsp;1684–1689, PMID 2270482.</ref><ref>mit.edu: [https://web.archive.org/web/20070325062856/http://web.mit.edu/invent/iow/king.html ''MARY-CLAIRE KING - Genetic breast cancer detection.'' Abgerufen am 22. November 2007]</ref><ref>K. Hemminki, X. Li, K. Czene: ''Familial risk of cancer: data for clinical counseling and cancer genetics.'' In: ''International journal of cancer'' Band 108, Nummer 1, Januar 2004, S.&nbsp;109–114, [[doi:10.1002/ijc.11478]]. PMID 14618624.</ref><ref name="leitlinien">{{Internetquelle |url=http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/032-045OL_l_S3__Brustkrebs_Mammakarzinom_Diagnostik_Therapie_Nachsorge_2012-07.pdf |format=PDF; 4,7&nbsp;MB |kommentar=Seite 42 ff, Abschnitt 3.3.: Frauen mit erhöhtem Risiko für Brustkrebs, 3.3.1. Familiäres Mammakarzinom |titel=Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms. Langversion 3.0, Aktualisierung 2012 |hrsg=DKG/Deutsche Krebshilfe&#124;AWMF |zugriff=2013-05-14 |offline=ja |archiv-url=https://web.archive.org/web/20130512082826/http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/032-045OL_l_S3__Brustkrebs_Mammakarzinom_Diagnostik_Therapie_Nachsorge_2012-07.pdf |archiv-datum=2013-05-12 |archiv-bot=2018-03-31 06:49:09 InternetArchiveBot }}</ref><br />
Frauen mit einer vererbten, also Keimbahn-Mutation in ''BRCA1'' oder ''BRCA2'' erkranken im Durchschnitt etwa 20 Jahre früher als Frauen ohne familiär-erbliches Risiko. Das Risiko einer Frau mit ''BRCA1''- oder ''BRCA2''-Mutation, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, liegt bei etwa 50 bis 80 Prozent. Falls bei einer Mutationsträgerin in einer Brust schon Brustkrebs aufgetreten ist, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich später auch in der anderen Brust eine Krebserkrankung entwickeln wird, bei etwa 60 Prozent.<ref name="leitlinien" /><br />
Daneben stellen ''BRCA1''-Mutationen auch einen Risikofaktor für die Entstehung von [[Ovarialkarzinom|Ovarial-]], [[Kolonkarzinom|Kolon-]], [[Pankreaskarzinom|Pankreas-]] und [[Prostatakarzinom]]en dar. Das lebenslange Risiko von ''BRCA1''- oder ''BRCA2''-Mutationsträgerinnen, ein Ovarialkarzinom zu entwickeln, wird auf etwa 10 bis 40 Prozent geschätzt.<ref name="leitlinien" /><br />
<br />
Auch Mutationen in den erst vor wenigen Jahren identifizierten Genen ''RAD51C'' (BRCA3) und ''RAD51D'' (beide auf dem langen Arm von [[Chromosom 17]]) scheinen ein ähnlich hohes Risiko für Brustkrebs zu vermitteln.<ref name="leitlinien" /><br />
<br />
Das amerikanische [[National Cancer Institute|Nationale Krebsinstitut NCI]] betont, dass die meisten Untersuchungen über die Auswirkungen des BRCA1- und BRCA2-Gen an Familien durchgeführt wurden, in denen ein stark erhöhtes Auftreten von entsprechenden Krebserkrankungen vorhanden ist. Da sich die Familienmitglieder auch andere Gene teilen und sie häufig auch denselben Umwelteinflüssen unterworfen sind, gäben die Risikoeinschätzungen dieser Untersuchungen das Risiko einer Krebserkrankung durch BRCA-Genmutation der Allgemeinbevölkerung möglicherweise nicht angemessen wieder. Darüber hinaus lägen keine Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung vor, die das Krebsrisiko von Trägerinnen einer BRCA1- oder BRCA2-Mutation, mit dem von Frauen ohne diese Mutation verglichen.<ref>National Cancer Institute: ''[http://www.cancer.gov/cancertopics/factsheet/Risk/BRCA BRCA1 and BRCA2: Cancer Risk and Genetic Testing]''</ref><br />
<br />
== BRCA1-Gentest ==<br />
Es gibt einen [[DNA-Analyse|Gentest]], mit dessen Hilfe festgestellt werden kann, ob eine Patientin eine mutierte Form des BRCA1-Gens hat. Die Kosten für den Test betrugen im Jahr 2004 ca. 2500 Euro.<ref name="sz">C. Berndt: ''Brustkrebs-Gentest freigegeben – Patentamt widerruft Rechte einer US-Firma zum Krebsgen BRCA1.'' In: ''Süddeutsche Zeitung'' Ausgabe vom 19. Mai 2004, Wissen, S.&nbsp;12.</ref> Mittlerweile kostet der kombinierte BRCA1-BRCA2-Test in Europa weniger als 1500 Euro.<ref name="ab2008">{{Webarchiv|url=http://www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?id=34634 |wayback=20081207050256 |text=''Patentschutz für Krebsgen BRCA1.'' |archiv-bot=2019-08-25 16:44:02 InternetArchiveBot }} In: ''Aerzteblatt.de'' vom 3. Dezember 2008</ref><br />
<br />
Für Frauen mit familiärer Belastung für Brust- und Eierstockkrebs übernehmen die gesetzlichen [[Krankenkasse]]n die Kosten für Beratung, Gentest und Früherkennungsprogramm. Als sinnvoll wird die Durchführung des Tests angesehen, wenn eines der folgenden Kriterien zutrifft:<br />
* mindestens zwei Frauen in der Familie sind oder waren an Brustkrebs erkrankt, davon mindestens eine vor dem 51. Lebensjahr<br />
* drei Frauen mit Brustkrebs in der Familie (unabhängig vom Erkrankungsalter)<br />
* eine Erkrankung in der Familie mit einseitigem Brustkrebs und einem Erkrankungsalter vor dem 31. Lebensjahr<br />
* ein Fall von beidseitigem Brustkrebs in der Familie, wobei die erste Erkrankung im Alter von 41 Jahren oder früher aufgetreten ist<br />
* ein Fall von Eierstockkrebs in der Familie, wenn die Erkrankung vor dem 41. Lebensjahr aufgetreten ist<br />
* ein Fall in der Familie mit Brust- und Eierstockkrebs<br />
* zwei oder mehr Fälle von Eierstockkrebs in der Familie.<ref>K. Ullrich: ''BRCA1/2-Testung: Kriterien wurden modifiziert.'' In: ''[[Medical Tribune]].'' Nr. 2, April 2008, S.&nbsp;7.</ref><br />
<br />
Vor und nach Durchführung des Gentests sind intensive Gespräche mit der Patientin von großer Wichtigkeit.<ref>[http://www.zeit.de/1996/12/krebs.txt.19960315.xml H. Keßler: ''Brustkrebs: Früherkennung durch Gentest – Erlösung oder Schicksalsschlag: wie ein Gentest das Leben von Frauen verändert''.] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 12/1996</ref><ref>[http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=4808 Beckmann MW, ''Hochrisikofamilien mit Mamma- und Ovarialkarzinomen: Möglichkeiten der Beratung, genetischen Analyse und Früherkennung.''], In ''[[Deutsches Ärzteblatt]]'', 94, 1997, S.&nbsp;A161–A167</ref><br />
<br />
2008 wurden am [[University College London|University College Hospital]] in London erstmals bei einer Frau nach einer [[In-vitro-Fertilisation]] die befruchteten [[Embryo]]nen mittels [[Präimplantationsdiagnostik]] (PID) auf das BRCA1-Gen hin untersucht. Sechs der elf im „Reagenzglas“ erzeugten Embryonen trugen bei der drei Tage nach der Befruchtung durchgeführten PID das mutierte BRCA1-Gen und wurden zerstört. Zwei der verbliebenen Embryonen wurden in die [[Gebärmutter]] verpflanzt. Eines der Embryonen nistete sich erfolgreich ein. Die Mutter gebar Anfang Januar 2009 ein Mädchen.<ref>unbekannt: [http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=2043459&newsfeed=rss ''Erstes Baby ohne Brustkrebs-Gen in London geboren.''] In: ''[[Sächsische Zeitung]]'', 10. Januar 2009</ref> Der Vorgang führte zu kontroversen Diskussionen, da diese Form der genetischen Selektion von Babys äußerst umstritten ist.<ref>[http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/grossbritannien_baby_brustkrebs-gen_1.1530500.html ''Erstes Baby ohne Brustkrebs-Gen in London erwartet.''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'', 20. Dezember 2008</ref><br />
<br />
== Prävention ==<br />
Patientinnen mit einer genetischen Prädisposition von BRCA1 bieten sich derzeit mehrere primär und sekundär präventive Maßnahmen an.<ref name="jonko">H. Eggemann: ''Das hereditäre Mammakarzinom – wieviele Frauen sind bedroht und was wird zur Prophylaxe / Therapie empfohlen?'' In: ''[[Journal Onkologie]]'', Ausgabe 08/2005, Zeitschrift Online</ref><br />
<br />
=== Primäre Prävention ===<br />
Unter primärer [[Krankheitsprävention|Prävention]], auch Prophylaxe genannt, versteht man Maßnahmen zur Gesundheitsförderung beziehungsweise Gesunderhaltung des Patienten.<br />
<br />
==== Chemoprävention ====<br />
In mehreren Studien wurde die [[adjuvant]]e Therapie mit [[Tamoxifen]], im Vergleich zur [[Placebo]]gabe, bezüglich der primären Prävention einer Brustkrebserkrankung untersucht. Tamoxifen ist ein [[selektiver Estrogenrezeptormodulator]], der als Arzneistoff zur Therapie von Mammakarzinomen eingesetzt wird. Der Wirkstoff ist von der amerikanischen [[Food and Drug Administration|FDA]] auch zur Prävention von Brustkrebs bei Frauen mit erhöhtem Risiko zugelassen.<br />
<br />
Vier Jahre nach Beginn der sogenannten NASABP P-1-Studie war das Risiko für Östrogenrezeptor-positive Formen von Brustkrebs durch Tamoxifen um 49 Prozent reduziert.<ref>Fisher B et al., ''Tamoxifen for prevention of breast cancer: report of the National Surgical Adjuvant Breast and Bowel Project P-1 Study''. In: ''[[J Natl Cancer Inst]]'', 90/1998, S. 1371–88.</ref> In den zwei nachfolgenden Studien konnten diese Risikoreduktion jedoch nicht nachgewiesen werden.<ref>T. Powles, R. Eeles, S. Ashley, D. Easton, J. Chang, M. Dowsett, A. Tidy, J. Viggers, J. Davey: ''Interim analysis of the incidence of breast cancer in the Royal Marsden Hospital tamoxifen randomised chemoprevention trial.'' In: ''[[The Lancet]]'' Band 352, Nummer 9122, Juli 1998, S.&nbsp;98–101, [[doi:10.1016/S0140-6736(98)85012-5]]. PMID 9672274.</ref><ref>U. Veronesi, P. Maisonneuve, A. Costa, V. Sacchini, C. Maltoni, C. Robertson, N. Rotmensz, P. Boyle: ''Prevention of breast cancer with tamoxifen: preliminary findings from the Italian randomised trial among hysterectomised women. Italian Tamoxifen Prevention Study.'' In: ''Lancet'' Band 352, Nummer 9122, Juli 1998, S.&nbsp;93–97, PMID 9672273.</ref><br />
<br />
==== Vorbeugende Entfernung der Eierstöcke und Eileiter ====<br />
In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass eine beidseitige vorbeugende Entfernung der Eierstöcke und Eileiter (eine [[Salpingoovariektomie]]) eine Senkung des Krebsrisikos bei Trägerinnen einer BRCA1-Mutation bewirkt. Es sollten immer Eileiter und Eierstöcke bds. entfernt werden, da auch die Eileiter krebsgefährdet sind.<ref>T. R. Rebbeck, A. M. Levin, A. Eisen, C. Snyder, P. Watson, L. Cannon-Albright, C. Isaacs, O. Olopade, J. E. Garber, A. K. Godwin, M. B. Daly, S. A. Narod, S. L. Neuhausen, H. T. Lynch, B. L. Weber: ''Breast cancer risk after bilateral prophylactic oophorectomy in BRCA1 mutation carriers.'' In: ''[[Journal of the National Cancer Institute]]'' Band 91, Nummer 17, September 1999, S.&nbsp;1475–1479, PMID 10469748.</ref><br />
<br />
Die Gesamtüberlebensrate über 30 Jahre wird durch eine Salpingoovariektomie im Alter von 40 Jahren um 15 % (absolut) erhöht. Eine Salpingoovariektomie zum früheren Zeitpunkt erhöht die Überlebensrate nicht und führt zu vermehrten unerwünschten Nebenwirkungen, vor allen Dingen Wechseljahresbeschwerden und Osteoporose. Bei BRCA2 Mutationen bringt eine Ovariektomie eine bestenfalls marginale Verbesserung der Gesamtüberlebensrate.<ref name="Kurian_2010" /><br />
<br />
==== Vorbeugende Entfernung der Brüste ====<br />
{{Hauptartikel|Prophylaktische Mastektomie}}<br />
<br />
Die vorbeugende Amputation der Brüste (prophylaktische Mastektomie) ist durch Fortschritte beim Screening und in der Behandlung vom Brustkrebs weitgehend unnötig geworden. Zwar wird das Brustkrebsrisiko weitestgehend eliminiert, der daraus resultierende Überlebensvorteil ist jedoch bestenfalls marginal.<ref name="Kurian_2010">A. W. Kurian, B. M. Sigal, S. K. Plevritis: ''Survival analysis of cancer risk reduction strategies for BRCA1/2 mutation carriers.'' In: ''[[Journal of clinical oncology]]'' Band 28, Nummer 2, Januar 2010, S.&nbsp;222–231, [[doi:10.1200/JCO.2009.22.7991]]. PMID 19996031. {{PMC|2815712}}.</ref><br />
<br />
In mehreren [[randomisiert]]en Studien konnte gezeigt werden, dass das Brustkrebsrisiko bei Mutationsträgerinnen von BRCA1 und BRCA2 durch eine vorbeugende beidseitige Brustentfernung (bilaterale prophylaktische Mastektomie) um über 90 Prozent gesenkt werden kann.<ref>H. Meijers-Heijboer, B. van Geel, W. L. van Putten, S. C. Henzen-Logmans, C. Seynaeve, M. B. Menke-Pluymers, C. C. Bartels, L. C. Verhoog, A. M. van den Ouweland, M. F. Niermeijer, C. T. Brekelmans, J. G. Klijn: ''Breast cancer after prophylactic bilateral mastectomy in women with a BRCA1 or BRCA2 mutation.'' In: ''[[The New England Journal of Medicine]]'' Band 345, Nummer 3, Juli 2001, S.&nbsp;159–164, [[doi:10.1056/NEJM200107193450301]]. PMID 11463009.</ref><ref>T. R. Rebbeck, T. Friebel, H. T. Lynch, S. L. Neuhausen, L. van 't Veer, J. E. Garber, G. R. Evans, S. A. Narod, C. Isaacs, E. Matloff, M. B. Daly, O. I. Olopade, B. L. Weber: ''Bilateral prophylactic mastectomy reduces breast cancer risk in BRCA1 and BRCA2 mutation carriers: the PROSE Study Group.'' In: ''Journal of clinical oncology'' Band 22, Nummer 6, März 2004, S.&nbsp;1055–1062, [[doi:10.1200/JCO.2004.04.188]]. PMID 14981104.</ref><ref>L. C. Hartmann, D. J. Schaid, J. E. Woods, T. P. Crotty, J. L. Myers, P. G. Arnold, P. M. Petty, T. A. Sellers, J. L. Johnson, S. K. McDonnell, M. H. Frost, R. B. Jenkins: ''Efficacy of bilateral prophylactic mastectomy in women with a family history of breast cancer.'' In: ''The New England journal of medicine'' Band 340, Nummer 2, Januar 1999, S.&nbsp;77–84, [[doi:10.1056/NEJM199901143400201]]. PMID 9887158.</ref><ref>L. C. Hartmann, T. A. Sellers, D. J. Schaid, T. S. Frank, C. L. Soderberg, D. L. Sitta, M. H. Frost, C. S. Grant, J. H. Donohue, J. E. Woods, S. K. McDonnell, C. W. Vockley, A. Deffenbaugh, F. J. Couch, R. B. Jenkins: ''Efficacy of bilateral prophylactic mastectomy in BRCA1 and BRCA2 gene mutation carriers.'' In: ''Journal of the National Cancer Institute'' Band 93, Nummer 21, November 2001, S.&nbsp;1633–1637, PMID 11698567.</ref><br />
<br />
=== Sekundäre Prävention ===<br />
Das Ziel der sekundären Prävention ist es, die [[Mortalität]] durch [[Früherkennung von Krankheiten|Früherkennungsuntersuchungen]] zu reduzieren.<ref name="jonko" /><br />
<br />
==== Mammographie ====<br />
[[Datei:Mammo breast cancer.jpg|mini|Mammogramm der Brust]]<br />
[[Datei:Mammogram.jpg|mini|Mammographie]]<br />
{{Hauptartikel|Mammographie}}<br />
<br />
Mammographie-Reihenuntersuchungen ab dem 50.&nbsp;Lebensjahr können insgesamt eine Senkung der Mortalität von bis zu 30&nbsp;Prozent erzielen.<ref>G. Pichert, B. Bolliger, K. Buser, O. Pagani: ''Evidence-based management options for women at increased breast/ovarian cancer risk.'' In: ''[[Annals of Oncology]]'' Band 14, Nummer 1, Januar 2003, S.&nbsp;9–19, PMID 12488287. (Review).</ref> Der Hauptgrund für diese Erfolge liegt im frühzeitigen Erkennen von kleinen, [[Lymphknoten]]-negativen und hoch [[Tumor#Dignität (Eigenschaft)|differenzierten]] Karzinomen.<ref>I. Schreer: ''Brustkrebs-Stand des Wissens zur Früherkennung. '' In: ''Forum DKG'' 13, 1998, S.&nbsp;546–550.</ref> BRCA1 und BRCA2 basierende Brustkrebserkrankungen sind jedoch nur gering differenziert ([[Brustkrebs#Differenzierungsgrad|Differenzierungsgrad]] G3).<ref>''Pathology of familial breast cancer: differences between breast cancers in carriers of BRCA1 or BRCA2 mutations and sporadic cases. Breast Cancer Linkage Consortium.'' In: ''Lancet'' Band 349, Nummer 9064, Mai 1997, S.&nbsp;1505–1510, PMID 9167459.</ref> Zudem sind die Risikopatientinnen in der Mehrzahl jünger als die durchschnittlichen Brustkrebs-Patientinnen. Dadurch haben sie ein dichteres, mammografisch nur schwer beurteilbares Drüsengewebe.<br />
<br />
Ein weiteres potenzielles Problem der Mammographie an BRCA1- und BRCA2-Risikopatientinnen stellt die ionisierende Röntgenstrahlung der Untersuchungsmethode dar, die möglicherweise DNA-Schäden in den Zellen der Patientinnen verursacht. Diese Schäden können durch die Mutationen der ''BRCA1''- und ''BRCA2''-Gene mit den entsprechenden Proteinen möglicherweise nicht ausreichend repariert werden (siehe [[#BRCA1 und ionisierende Strahlungen|BRCA1 und ionisierende Strahlungen]]).<br />
<br />
==== Sonographie ====<br />
{{Hauptartikel|Sonografie}}<br />
<br />
Ultraschalluntersuchungen der Brust sind bei jungen Frauen mit einem erhöhten familiären Brustkrebsrisiko deutlich sensitiver als Mammographien.<ref name="warner">E. Warner, D. B. Plewes, R. S. Shumak, G. C. Catzavelos, L. S. Di Prospero, M. J. Yaffe, V. Goel, E. Ramsay, P. L. Chart, D. E. Cole, G. A. Taylor, M. Cutrara, T. H. Samuels, J. P. Murphy, J. M. Murphy, S. A. Narod: ''Comparison of breast magnetic resonance imaging, mammography, and ultrasound for surveillance of women at high risk for hereditary breast cancer.'' In: ''Journal of clinical oncology : official journal of the American Society of Clinical Oncology'' Band 19, Nummer 15, August 2001, S.&nbsp;3524–3531, PMID 11481359.</ref> Es liegen zu einer abschließenden Beurteilung allerdings noch zu wenige Daten aus Studien vor.<br />
<br />
==== Kernspintomographie ====<br />
[[Datei:Modern 3T MRI.JPG|mini|3 Tesla Kernspintomograph]]<br />
{{Hauptartikel|Magnetresonanztomographie}}<br />
<br />
Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist derzeit bei der Diagnostik der genetisch bedingten Brustkrebserkrankungen das Verfahren mit der höchsten Sensitivität. Die Spezifität hingegen ist weniger hoch, sodass mitunter falsch positive Befunde erhoben werden und die korrekte Auswertung eine hohe Erfahrung des Radiologen voraussetzt. Es sollte das Diagnoseverfahren der Wahl bei jungen Frauen mit genetisch nachgewiesenem erhöhtem Mammakarzinom-Risiko sein.<ref name="jonko" /><br />
<br />
== BRCA1 und ionisierende Strahlungen ==<br />
[[Ionisierende Strahlung]]en, wie beispielsweise [[Röntgenstrahlung]], sind in der Lage Schäden an der DNA zu verursachen. Diese Schäden an der DNA können Tumoren verursachen. Da die Zellen des Körpers über ein [[DNA-Reparatur]]system verfügen, können in den meisten Fällen die durch die ionisierende Strahlung entstandenen Schäden wieder repariert werden. Träger von Mutationen in den BRCA1- oder BRCA2-Genen verfügen jedoch in ihren Körperzellen über eine verminderte Fähigkeit zur DNA-Reparatur.<br />
<br />
In einer [[retrospektiv]]en Studie an der [[International Agency for Research on Cancer]] in [[Lyon]] wurde untersucht, ob Röntgenuntersuchungen des [[Thorax]] möglicherweise das Brustkrebsrisiko erhöhen. Nach einer einmaligen Röntgenuntersuchung des Thorax erkrankten BRCA1/2-Trägerinnen zu 54 Prozent häufiger an Brustkrebs. Das Risiko erhöhte sich deutlich bei Frauen unter 40 Jahren, und Frauen, die vor dem 20. Lebensjahr eine entsprechende Untersuchung erhalten hatten, erkrankten mehr als viermal häufiger als Frauen, deren Thorax niemals geröntgt wurde.<ref name="abstudi"> {{Webarchiv|text=''Röntgenthorax erhöht Brustkrebsrisiko bei BRCA-1/2-Genträgerinnen.'' In: ''Ärzteblatt studieren'' vom 27. Juni 2006 |url=http://www.aerzteblatt-studieren.de/doc.asp?docId=103386 |wayback=20070903192304 |archiv-bot=2018-03-31 06:49:09 InternetArchiveBot }}</ref><br />
<br />
Diese erste Studie lässt jedoch noch keine abschließende Beurteilung der Risiken von Röntgenuntersuchungen oder speziell Mammografien bei Risikopatientinnen zu. Retrospektiven Studien sind durch den sogenannten ''[[Recall Bias]]'' häufig verfälscht. So erinnerten sich beispielsweise Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind, möglicherweise häufiger an zurückliegende Röntgenuntersuchungen. Zudem fehlen in der Studie die Daten über die Dosis bei der Röntgenuntersuchung. Kausale Assoziationen sind über die Dosis-Wirkungs-Beziehung viel eindeutiger herzustellen.<ref name="abstudi" /><br />
<br />
Eine Studie über die Erhöhung des Brustkrebsrisikos durch Mammografie bei Frauen mit BRCA1- oder BRCA2-Genmutationen kommt zu dem Schluss, dass es offenbar keinen Zusammenhang zwischen Mammografie und einer deutlichen Zunahme von Krebserkrankungen in dieser Personengruppe gibt.<ref>D. Goldfrank, S. Chuai, J. L. Bernstein, T. Ramon Y Cajal, J. B. Lee, M. C. Alonso, O. Diez, M. Baiget, N. D. Kauff, K. Offit, M. Robson: [http://cebp.aacrjournals.org/cgi/content/abstract/15/11/2311 ''Effect of mammography on breast cancer risk in women with mutations in BRCA1 or BRCA2.''] In: ''[[Cancer Epidemiology, Biomarkers & Prevention]]'' Band 15, Nummer 11, November 2006, S.&nbsp;2311–2313, [[doi:10.1158/1055-9965.EPI-06-0176]]. PMID 17119064.</ref><br />
<br />
== Die Entdeckung von BRCA1 ==<br />
Eine Forschergruppe um den US-Amerikaner J.M. Hall entdeckte 1990 das später mit BRCA1 bezeichnete Gen durch [[Kopplungsanalyse]]n bei [[Mormonen]]-Familien auf Chromosom 17.<ref>J. M. Hall, M. K. Lee, B. Newman, J. E. Morrow, L. A. Anderson, B. Huey, M. C. King: ''Linkage of early-onset familial breast cancer to chromosome 17q21.'' In: ''Science'' Band 250, Nummer 4988, Dezember 1990, S.&nbsp;1684–1689, PMID 2270482, siehe auch H. Pidde: [http://www.diss.fu-berlin.de/1999/105/ ''Physikalische Kartierung und Genomische Struktur des Kariopherin Alpha 2 Gens.''] Dissertation, FU Berlin, 2000.</ref> Die Entdeckung des Brustkrebsgens war zum damaligen Zeitpunkt revolutionär und heftig umstritten. Eine genetische Prädisposition als eine Ursache für eine Krebserkrankung sprach gegen die damalige Lehrmeinung. 1994 wurde BRCA1 von Miki als erstes Brustkrebsgen [[Klonierung|kloniert]].<ref>Y. Miki, J. Swensen, D. Shattuck-Eidens, P. A. Futreal, K. Harshman, S. Tavtigian, Q. Liu, C. Cochran, L. M. Bennett, W. Ding: [http://www.sciencemag.org/content/266/5182/66.long ''A strong candidate for the breast and ovarian cancer susceptibility gene BRCA1.''] In: ''Science'' Band 266, Nummer 5182, Oktober 1994, S.&nbsp;66–71, PMID 7545954.</ref><br />
<br />
1994 wurde mit BRCA2 auf dem [[Chromosom 13 (Mensch)|Chromosom 13]] Genlocus q12-13 ein zweites Brustkrebsgen kartiert und positionell kloniert.<ref>R. Wooster, S. L. Neuhausen, J. Mangion, Y. Quirk, D. Ford, N. Collins, K. Nguyen, S. Seal, T. Tran, D. Averill: ''Localization of a breast cancer susceptibility gene, BRCA2, to chromosome 13q12-13.'' In: ''Science'' Band 265, Nummer 5181, September 1994, S.&nbsp;2088–2090, PMID 8091231.</ref><br />
<br />
Bisher sind mehr als 75 verschiedene Mutationen von BRCA1 in mehr als 100 Familien beschrieben.<ref>C. I. Szabo, M. C. King: ''Inherited breast and ovarian cancer.'' In: ''[[Human molecular genetics]]'' Band 4 Spec No, 1995, S.&nbsp;1811–1817, PMID 8541881. (Review).</ref><ref>J. Feunteun, G. M. Lenoir: ''BRCA1, a gene involved in inherited predisposition to breast and ovarian cancer.'' In: ''[[Biochimica et biophysica acta]]'' Band 1242, Nummer 3, März 1996, S.&nbsp;177–180, PMID 8603070. (Review).</ref><ref>S. L. Neuhausen, S. Mazoyer, L. Friedman, M. Stratton, K. Offit, A. Caligo, G. Tomlinson, L. Cannon-Albright, T. Bishop, D. Kelsell, E. Solomon, B. Weber, F. Couch, J. Struewing, P. Tonin, F. Durocher, S. Narod, M. H. Skolnick, G. Lenoir, O. Serova, B. Ponder, D. Stoppa-Lyonnet, D. Easton, M. C. King, D. E. Goldgar: ''Haplotype and phenotype analysis of six recurrent BRCA1 mutations in 61 families: results of an international study.'' In: ''[[American Journal of Human Genetics]]'' Band 58, Nummer 2, Februar 1996, S.&nbsp;271–280, PMID 8571953. {{PMC|1914544}}.</ref><br />
<br />
== BRCA1-Patente ==<br />
Im Januar 2001 erteilte das [[Europäisches Patentamt|Europäische Patentamt]] in [[München]] dem US-Biotech-Unternehmen Myriad Genetics ein Patent (EP 699 754) auf BRCA1.<ref>[https://www.welt.de/print-welt/article490418/Muenchen-Neues-Patent-auf-Brustkrebs-Gen-erteilt.html ''München: Neues Patent auf Brustkrebs-Gen erteilt''.] In: ''[[Die Welt|Welt Online]]'', 1. Dezember 2001</ref> Dies führte zu erheblichen internationalen Protesten.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.greenpeace.de/themen/landwirtschaft/patente/kein-umfassendes-patent-auf-das-brustkrebsgen |titel=Kein umfassendes Patent auf das Brustkrebsgen |hrsg=[[Greenpeace]] |datum=2007-09-28 |zugriff=2017-02-15}}</ref><br />
2004 widerrief dann das Europäische Patentamt die Rechte von Myriad.<ref name="sz" /> Der Grund für den Widerruf war ein Fehler in der von Myriad im Patent beschriebenen Gen-Sequenz. Im November 2004 trat Myriad die US-Patentrechte an die [[University of Utah]] ab. Es wurde dann ein neuer Antrag beim Europäischen Patentamt gestellt, dem im Dezember 2008 endgültig stattgegeben wurde. Die University of Utah kann nun für jeden auf dem Markt befindlichen BRCA1- und BRCA2-Test Lizenzgebühren verlangen. Es ist noch nicht bekannt, ob sie dies auch zukünftig tun wird. Während in Europa der kombinierte BRCA1/2-Test maximal 1500 Euro kostet, ist in den USA der BRCA1-Test –&nbsp;bedingt durch die Lizenzgebühren&nbsp;– schon mehr als doppelt so teuer. In der Länderliste der europäischen Patentanmeldung der University of Utah wurden jedoch kleinere europäische Länder nicht aufgeführt. Dies bedeutet, dass der Test in Ländern wie beispielsweise Belgien auch zukünftig ohne Lizenzgebühren möglich ist.<ref name="ab2008" /><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[BRCA-Netzwerk|Patientenorganisation ''BRCA-Netzwerk'']]<br />
<br />
== Weiterführende Literatur ==<br />
* S. V. Hodgson, P. J. Morrison, M. Irving: ''Breast cancer genetics: unsolved questions and open perspectives in an expanding clinical practice.'' In: ''American journal of medical genetics. Part C, Seminars in medical genetics'' Band 129C, Nummer 1, August 2004, S.&nbsp;56–64, [[doi:10.1002/ajmg.c.30019]]. PMID 15264273. (Review).<br />
* A. R. Venkitaraman: ''Cancer susceptibility and the functions of BRCA1 and BRCA2.'' In: ''[[Cell (Zeitschrift)|Cell]]'' Band 108, Nummer 2, Januar 2002, S.&nbsp;171–182, PMID 11832208. (Review).<br />
* S. N. Powell, L. A. Kachnic: ''Roles of BRCA1 and BRCA2 in homologous recombination, DNA replication fidelity and the cellular response to ionizing radiation.'' In: ''[[Oncogene]]'' Band 22, Nummer 37, September 2003, S.&nbsp;5784–5791, [[doi:10.1038/sj.onc.1206678]]. PMID 12947386. (Review).<br />
* A. Antoniou, P. D. Pharoah, S. Narod, H. A. Risch, J. E. Eyfjord, J. L. Hopper, N. Loman, H. Olsson, O. Johannsson, A. Borg, B. Pasini, P. Radice, S. Manoukian, D. M. Eccles, N. Tang, E. Olah, H. Anton-Culver, E. Warner, J. Lubinski, J. Gronwald, B. Gorski, H. Tulinius, S. Thorlacius, H. Eerola, H. Nevanlinna, K. Syrjäkoski, O. P. Kallioniemi, D. Thompson, C. Evans, J. Peto, F. Lalloo, D. G. Evans, D. F. Easton: ''Average risks of breast and ovarian cancer associated with BRCA1 or BRCA2 mutations detected in case Series unselected for family history: a combined analysis of 22 studies.'' In: ''[[American Journal of Human Genetics]]'' Band 72, Nummer 5, Mai 2003, S.&nbsp;1117–1130, [[doi:10.1086/375033]]. PMID 12677558. {{PMC|118026}}.<br />
* ''Gentest und prophylaktische Operation bei familiärer Häufung der BRCA1- oder BRCA2-Mutation''. In: ''Der Gynäkologe'' 33, 2000.<br />
* [http://www.medgenetik.de/sonderdruck/1995-8.PDF ''Stellungnahme zur Entdeckung des Brustkrebsgens BRCA1.''], ''Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der [[Deutsche Gesellschaft für Humangenetik|Gesellschaft für Humangenetik e.&nbsp;V.]]'', 7. Auflage Okt. 2001. (PDF; 18 kB)<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* Matthews/reactome: ''[http://www.reactome.org/content/detail/R-HSA-5693551 Phosphorylation of BRCA1 at multiple sites by ATM]''<br />
* [[Penelope Farmer]]: ''[http://penelopefarmerblog.simplesite.com/417330878 Life within Fiction.]'' Blog über den Kampf mit dem BRCA1-Krebs; ab 8. Mai 2015.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Gesundheitshinweis}}<br />
<br />
[[Kategorie:Tumorsuppressor]]<br />
[[Kategorie:Transkriptionsfaktor]]<br />
[[Kategorie:Gen]]<br />
[[Kategorie:DNA-Reparatur]]<br />
[[Kategorie:Abkürzung]]<br />
[[Kategorie:Codiert auf Chromosom 17 (Mensch)]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Epigenetik&diff=202539957Epigenetik2020-08-06T06:35:24Z<p>Udo.bellack: /* Einführung */ link auf CpG-Dinukleotid</p>
<hr />
<div>Die '''Epigenetik''' ([[Altgriechische Sprache|altgr.]] {{lang|grc|ἐπί}} ''epi'' ‚dazu‘, ‚außerdem‘ und ''[[Genetik]]'') ist das Fachgebiet der [[Biologie]], das sich mit der Frage befasst, welche Faktoren die [[Genexpression|Aktivität eines Gens]] und damit die Entwicklung der [[Zelle (Biologie)|Zelle]] zeitweilig festlegen. Sie untersucht die Änderungen der Genfunktion, die nicht auf Veränderungen der Sequenz der [[Desoxyribonukleinsäure]], etwa durch [[Mutation]] oder Rekombination, beruhen und dennoch an Tochterzellen weitergegeben werden.<br />
<br />
Grundlage sind chemische Veränderungen am Chromatin, der Proteine, die an DNA binden, oder auch Methylierung der [[DNA]] selbst, die Abschnitte oder ganze Chromosomen in ihrer Aktivität beeinflussen können. Man spricht auch von ''epigenetischer Veränderung'' bzw. ''epigenetischer Prägung''.<ref>Rudolf Hagemann: Epigenetik und Lamarckismus haben nichts gemeinsam! In: [[Laborjournal]] 4/2009; S. 12</ref> Da die [[DNA-Sequenz]] nicht verändert wird, kann man epigenetische Effekte nicht im [[Genotyp]] (DNA-Sequenz), sehr wohl aber im [[Phänotyp]] nachweisen und beobachten.<ref>Benjamin Lewin: ''Gene. Lehrbuch der molekularen Genetik'', 2. Auflage, VCH, Weinheim 1991, S. 885</ref> Typische Beispiele für epigenetische Prozesse sind die [[X-Inaktivierung]], [[Genomische Prägung]] oder das transkriptionelle Gedächtnis von Zellen.<ref>{{Literatur |Autor=Agustina D’Urso, Jason H. Brickner |Titel=Epigenetic transcriptional memory |Hrsg= |Sammelwerk=Current Genetics |Band=63 |Nummer=3 |Auflage= |Verlag= |Ort= |Datum=2017-11-02 |ISBN= |ISSN=0172-8083 |DOI=10.1007/s00294-016-0661-8 |PMC=5413435 |PMID=27807647 |Seiten=435–439 |Online=http://link.springer.com/10.1007/s00294-016-0661-8 |Abruf=2019-07-30}}</ref><br />
<br />
== Einführung ==<br />
[[Datei:Segragation.svg|550px|mini|'''Funktion epigenetischer Veränderungen'''<br />Bei der Vererbung wird Erbgut weitergegeben. Epigenetische Fixierung bewirkt, dass die totipotenten Zellen reifen und sich spezialisieren. Der Reifungsprozess ist normalerweise nicht umkehrbar. (Jeder Pfeil deutet eine Zellteilung an. Dabei wird die Zelle verändert. Diese Veränderungen werden mit dem Erbgut an die Tochterzellen weitergegeben. Es handelt sich dabei nicht um Sequenzveränderungen der DNA.)]]<br />
Nach der Befruchtung teilt sich die [[Eizelle]]. Bis zum 8-Zell-Stadium sind alle Tochterzellen gleichwertig. Man bezeichnet sie als ''[[Totipotenz|totipotent]],'' weil jede von ihnen noch ''alleine'' in der Lage ist, einen kompletten Organismus hervorzubringen. Danach finden sich Zellen mit einem unterschiedlichen inneren Programm, deren Entwicklungspotenzial von nun an eingeschränkt – d.&nbsp;h. mehr und mehr spezialisiert – wird. Wenn der Körper fertig ausgebildet ist, sind die meisten [[Zelle (Biologie)|Körperzellen]] für ihre Funktion fest programmiert (lediglich die sogenannten ''adulten [[Stammzelle]]n'' bewahren sich eine gewisse Flexibilität). Dabei bleibt die Sequenz des Erbguts unverändert (abgesehen von wenigen zufälligen, genetischen Veränderungen = [[Mutation]]en). Die funktionelle Festlegung erfolgt durch verschiedene Mechanismen, einer davon beruht auf biochemischen Modifikationen an einzelnen [[Basen (Chemie)|Basen]] der Sequenz oder der die DNA verpackenden [[Histone]] oder beiden. Solche Veränderungen führen dazu, dass bestimmte Bereiche des Erbguts „stillgelegt“, andere dafür leichter transkribiert (in [[Ribonukleinsäure|RNA]] für [[Proteine]] umgeschrieben) werden können. Diese Modifizierungen sehen in Körperzellen ganz anders aus als in Stammzellen oder in [[Keimzelle]]n (Eizellen und [[Spermium|Spermien]]; auch [[Krebs (Medizin)|Krebszellen]] haben meist abweichende [und dabei spezifische] Modifikationsmuster). Die wichtigsten Modifikationen sind die [[Methylierung]] von [[Cytidin]]-Basen an einem [[CpG-Dinukleotid]] ([[Cytosin]]-[[Guanosin]]-[[Nukleotid]]-[[Dimer]], [[DNA-Methylierung]]) sowie die Seitenketten-Methylierung und -[[Acetylierung]] von Histonen.<br />
<br />
Neben Methylierung haben [[Telomer]]e eine wichtige epigenetische Bedeutung. Telomere schützen die Enden der Chromosomen bei der Zellteilung vor dem Abbau. Das Enzym [[Telomerase]] stellt dabei sicher, dass die Chromosomen intakt bleiben. [[Psychische Belastung]] kann die Aktivität dieses Enzyms verringern, was zu einer beschleunigten Verkürzung der Telomere im Alterungsprozess führen kann (Nobelpreis für Medizin 2009 an [[Elizabeth Blackburn]]).<br />
<br />
== Begriff ==<br />
Epigenetisch sind alle Prozesse in einer Zelle, die als „zusätzlich“ zu den Inhalten und Vorgängen der Genetik gelten. [[Conrad Hal Waddington]] hat den Begriff Epigenetik erstmals benutzt. Im Jahr 1942 (als die Struktur der DNA noch unbekannt war) definierte er Epigenetik als ''the branch of biology which studies the causal interactions between genes and their products which bring the phenotype into being'' („der Zweig der Biologie, der die kausalen Wechselwirkungen zwischen Genen und ihren Produkten, die den Phänotyp hervorbringen, untersucht“). Zur Abgrenzung vom allgemeineren Konzept der [[Genregulation]] sind heutige Definitionen meist spezieller, zum Beispiel: „Der Begriff Epigenetik definiert alle [[Meiose|meiotisch]] und [[Mitose|mitotisch]] vererbbaren Veränderungen in der [[Genexpression]], die nicht in der DNA-Sequenz selbst codiert sind.“<ref>„The term ''epigenetics'' defines all meiotically and mitotically heritable changes in gene expression that are not coded in the DNA sequence itself.“ In: Gerda Egger et al.: ''Epigenetics in human disease and prospects for epigenetic therapy''. [[Nature]] 429, S. 457–463 (2004)</ref> Andere Definitionen, wie die von [[Adrian Peter Bird]], einem der Pioniere der Epigenetik, vermeiden die Einschränkung auf generationsübergreifende Weitergabe. Epigenetik beschreibe „die strukturelle Anpassung chromosomaler Regionen, um veränderte Zustände der Aktivierung zu kodieren, zu signalisieren, oder zu konservieren.“<ref name="PMID17522671">„... the structural adaptation of chromosomal regions so as to register, signal or perpetuate altered activity states.“ In: [[Adrian Peter Bird]]: ''Perceptions of epigenetics.'' In: ''Nature.'' Band 447, Nummer 7143, Mai 2007, S.&nbsp;396–398, [[doi:10.1038/nature05913]], PMID 17522671.</ref> In einer Überblicksarbeit zum Thema Epigenetik bei [[Bakterien]] wurde von Casadesús und Low vorgeschlagen, eine vorläufige Definition zu benutzen, solange es keine allgemein akzeptierte Definition der Epigenetik gibt: „Eine vorläufige Definition könnte jedoch sein, dass die Epigenetik die Untersuchung der Zelllinienbildung durch nicht-mutationale Mechanismen anspricht.“<ref name="Casadesus-J_Low-DA_2013_PMID23592777">„However, a tentative definition may be that epigenetics addresses the study of cell lineage formation by non-mutational mechanisms.“ In:<br />
Josep Casadesús and David A. Low: ''Programmed heterogeneity: epigenetic mechanisms in bacteria.'' In: ''The Journal of biological chemistry.'' Band 288, Nummer 20, Mai 2013, S.&nbsp;13929–13935, {{DOI|10.1074/jbc.R113.472274}}, PMID 23592777, {{PMC|3656251}} (Review).</ref><br />
<br />
=== Epigenese ===<br />
Mit dem Ausdruck [[Epigenese]] werden die graduellen Prozesse der embryonalen [[Morphogenese]] von [[Organ (Biologie)|Organen]] beschrieben. Diese beruhen auf Mechanismen auf der Ebene von Zellen und Zellverbänden, das sind [[Turing-Mechanismus|Turing-Mechanismen]] oder allgemein [[Musterbildung]]sprozesse in der Biologie. Beispiele hierfür findet man etwa bei der Erklärung der embryonalen [[Extremitätenentwicklung]] der Wirbeltiere.<br />
<br />
=== Zugehörige Begriffe ===<br />
Zu den epigenetischen Prozessen zählt man die [[Paramutation]], das ''Bookmarking'', das ''[[Imprinting]]'', das ''[[Gen-Silencing]]'', die [[X-Inaktivierung]], den [[Positionseffekt-Variegation|Positionseffekt]], die [[Reprogrammierung]], die ''[[Transvection]]'', maternale Effekte (paternale Effekte sind selten, da wesentlich weniger nicht-genetisches Material mit dem Spermium „vererbt“ wird), den Prozess der [[Karzinogenese]], viele Effekte von [[teratogen]]en Substanzen, die Regulation von [[Histonmodifikation]]en und [[Heterochromatin]] sowie technische Limitierungen beim [[Klonen]].<br />
<br />
== Epigenetik im Vergleich zur Genetik ==<br />
<br />
Man kann den Begriff Epigenetik verstehen, wenn man sich den Vorgang der Vererbung vor Augen führt:<br />
* Vor einer [[Zellteilung]] wird die Erbsubstanz verdoppelt. Jeweils die Hälfte des verdoppelten Genoms wird dann auf eine der beiden Tochterzellen übertragen. Bei der sexuellen Vermehrung des Menschen, der [[Fortpflanzung]], werden von der Eizelle die Hälfte des mütterlichen Erbguts und vom Spermium die Hälfte des väterlichen Erbguts miteinander vereint.<br />
* Die Molekulargenetik beschreibt die Erbsubstanz als [[Doppelhelix]] aus zwei [[Desoxyribonukleinsäure]]-Strängen, deren Rückgrat aus je einem Phosphat-Desoxyribosezucker-Polymer besteht. Die genetische Information ist durch die Reihenfolge der vier Basen [[Adenin]] (A), [[Cytosin]] (C), [[Guanin]] (G) und [[Thymin]] (T) bestimmt, die jeweils an einen der Desoxyribose-Zucker angehängt sind.<br />
* Die Basen des einen Stranges paaren sich fast immer mit einer passenden Base des zweiten Stranges. Adenin paart sich mit Thymin, und Cytosin paart sich mit Guanin.<br />
* In der Reihenfolge der Bausteine A, C, G, T (der Basensequenz) ist die genetische Information verankert.<br />
<br />
Einige Phänomene der Vererbung lassen sich nicht mit dem gerade beschriebenen DNA-Modell erklären:<br />
* Bei der [[Zelldifferenzierung]] entstehen im Verlauf von Zellteilungen Tochterzellen mit anderer Funktion, obwohl das Erbgut in allen Zellen gleich ist. Die Festlegung der funktionellen Identität einer Zelle ist ein Thema der Epigenetik.<br />
* Es gibt Eigenschaften, die ''nur'' vom Vater her (paternal) „vererbt“ werden, so wie es Eigenschaften gibt, die ''nur'' von der Mutter (maternal) stammen und die nicht mit der Basensequenz in Zusammenhang stehen. Störungen dieses Zustandes führen zu schweren Krankheiten.<br />
* Bei der Rückumwandlung von funktionell festgelegten Zellen (terminal differenzierte Zellen) in undifferenzierte Zellen, die sich wieder in verschiedene Zellen entwickeln können und die bei der Klonierung von Individuen (z.&nbsp;B. von [[Dolly (Schaf)|Dolly]]) eingesetzt werden, müssen epigenetische Fixierungen aufgehoben werden, damit eine Zelle nicht auf eine einzige Funktion festgelegt bleibt, sondern wieder alle oder viele Funktionen erwerben und vererben kann.<br />
<br />
[[Datei:Nucleosome-2PYO.png|250px|mini|'''Struktur eines Nukleosoms mit Histonen der Taufliege'''<br />Die DNA ist um den Kern aus acht Histon-Untereinheiten (je zwei H2a, H2b, H3 und H4) gewickelt und macht etwa 1,7 Umdrehungen. An das Stück DNA zwischen zwei Nukleosomen bindet Histon&nbsp;1 (H1). Die Enden der Histone sind für epigenetische Modifizierung verfügbar: Methylierung, Acetylierung oder Phosphorylierung. Dadurch wird die Verdichtung oder Ausdehnung des Chromatins beeinflusst.<ref>Abbildung von Clapier et al., [http://www.rcsb.org/pdb/cgi/explore.cgi?pdbId=2PYO Proteindatenbank 2PYO]; Clapier, CR. et al. (2007): ''Structure of the Drosophila nucleosome core particle highlights evolutionary constraints on the H2A-H2B histone dimer''. In: Proteins 71 (1); 1–7; PMID 17957772; {{PMC|2443955}}</ref>]]<br />
<br />
== Histone und ihre Rolle bei der epigenetischen Fixierung ==<br />
{{Hauptartikel|Histonmodifikation}}<br />
DNA liegt im Zellkern nicht nackt vor, sondern ist an [[Histon]]e gebunden. Acht verschiedene Histonproteine, jeweils zwei Moleküle von [[Histon H2A|Histon 2A]], [[Histon 2B]], [[Histon H3|Histon 3]] und [[Histon H4|Histon 4]] bilden den Kern eines Nukleosoms, auf das 146 Basenpaare eines DNA-Stranges aufgespult sind. Die Enden der Histonstränge ragen aus dem Nukleosom heraus und sind Ziel von Histon-modifizierenden Enzymen. Vor allem Methylierungen und Acetylierungen an Lysin, Histidin oder Arginin, außerdem Phosphorylierungen an Serinen sind die bekannten Modifizierungen. Außerdem spielt es eine Rolle, ob die Lysin-Seitenkette mit ein, zwei oder drei Methyl-Gruppen belegt ist. Durch vergleichende Analyse postuliert man eine Art von „[[Histon-Code]]“, der in direktem Zusammenhang mit der Aktivität des von den Histonen jeweils gebundenen Gens stehen soll.<br />
<br />
[[Datei:NucleosomeRegulation.png|600px|mini|'''Einfluss von Methylierung und Acetylierung auf die Konformation des Chromatins'''<br />Die Histonseitenketten in den Nukleosomen können enzymatisch verändert werden. Dadurch ändert sich das Volumen eines Gensegments. Kleinere Volumina, geschlossene Konformation, Chromosomkondensierung und Inaktivität eines Gens stehen auf der einen Seite, größere Volumina, offene Konformation und Gen-Aktivität auf der anderen. Zwischen beiden Seiten ist ein Übergang möglich, der durch Anheftung und Abspaltung von Methylgruppen an Cytidin-Basen, durch Methylierung, Demethylierung, Acetylierung oder Deacetylierung mit Hilfe von Enzymen bewirkt wird.]]<br />
<br />
Generell kann man sagen, dass die Anheftung von Acetyl-Gruppen an die Lysin-Seitenketten der Histone zur Öffnung der Nukleosomen-Konformation führt, wodurch das Gen für die Transkription durch die RNA-Polymerase verfügbar wird. Durch eine verstärkte Anheftung von Methyl-Gruppen an Lysin-Seitenketten werden Proteine angeheftet wie z.&nbsp;B. das Methyl-bindende Protein [[MeCB]], das die [[Genexpression]] unterdrückt. Diese [[Repressorprotein]]e führen dazu, dass die Histon-Konformation geschlossen wird und keine Transkription mehr möglich ist.<br />
<br />
== Methoden der epigenetischen Forschung ==<br />
=== Restriktionsendonukleasen, die nur an demethylierten CG-Dimeren schneiden ===<br />
{{Hauptartikel|Restriktionsenzym}}<br />
HpaII (Die zweite [[Restriktionsendonukleasen|Restriktionsendonuklease]] aus ''Haemophilus parainfluenza'') schneidet CCGG-[[Palindrom]]e nur, wenn die CG-Dimere nicht methyliert sind, im Vergleich zu BsiSI (aus Bacillus), die auch methylierte C<sup>me</sup>CGG-Palindrome schneidet. Tryndiak und Mitarbeiter zeigen damit, dass bei Zellen auf dem Weg zum [[Mammakarzinom]] ein fortschreitender globaler Verlust von DNA-Methylierung mit einer fehlgeleiteten Bildung der DNMT1, <sup>me</sup>CG-bindender Proteine und Veränderungen in den Histonen einhergeht.<ref>Tryndiak, VP. et al. (2006): ''Loss of DNA methylation and histone H4 lysine 20 trimethylation in human breast cancer cells is associated with aberrant expression of DNA methyltransferase 1, Suv4-20H2 histone methyltransferase and methyl-binding proteins''. In: ''[[Cancer Biol Ther]].'' 5(1), 65–70; PMID 16322686; [http://www.landesbioscience.com/journals/cbt/article/tryndyak5-1.pdf PDF] (freier Volltextzugriff, engl.)</ref><br />
<br />
=== Bisulfit-Sequenzierung ===<br />
{{Hauptartikel|Bisulfit-Sequenzierung}}<br />
Durch Behandlung von DNA mit [[Natriumhydrogensulfit]] (alter Name „Bisulfit“) wird Cytosin (C) in Uracil (U) umgewandelt. Bei einer anschließenden [[DNA-Sequenzierung|Sequenzierung]] findet man daher an den Stellen, wo vorher ein C war, nun ein U/T. Da bisulfit-behandelte DNA sehr labil ist, wird daher das Gen, das man analysieren möchte, mittels [[Polymerase-Kettenreaktion|PCR]] wieder amplifiziert. Bei der nachfolgenden Sequenzierung werden dann T bzw. TG (Thymin-Guanosin-Dimere) identifiziert, wo in der unbehandelten DNA Cytosin bzw. CG-Dimere existierten.<br />
<br />
Für die epigenetische Analyse ist wichtig, dass nur nicht-methylierte C-Basen konvertiert werden, während <sup>me</sup>C in CG-Dimeren nicht in Thymin konvertiert werden. Man kann daher mit dieser Methode exakt analysieren, welche CG-Dimere in einer bestimmten Zelle methyliert waren. Indem man das bisulfit-behandelte Genstück, das man analysieren möchte, nach der PCR-Amplifikation kloniert und verschiedene Klone sequenziert, erhält man eine Abschätzung, ob ein bestimmtes CG-Dimer gar nicht, vollständig oder nur partiell methyliert war. Bei der Methode des Pyrosequencing ist dieses Verfahren noch verfeinert und erlaubt genauere quantitative Aussagen: Man kann zum Beispiel den Schweregrad einer Tumorentartung mit dem Methylierungsgrad von CG-Inseln einzelner sogenannter Tumor-Suppressorproteine vergleichen und stellt fest, dass in bestimmten Tumoren des blutbildenden Systems (Hämatopoietisches System) bestimmte <sup>me</sup>CG-Dimere mit steigendem Schweregrad immer stärker methyliert sind.<br />
<br />
=== Chromatin-Immunpräzipitation ===<br />
{{Hauptartikel|Chromatin-Immunpräzipitation}}<br />
Bei dieser Methode kann man bestimmen, ob ein bestimmtes Protein an ein gegebenes DNA-Stück bindet: Durch Behandlung der Zellen oder biologischen Gewebes mit [[Formaldehyd]] werden die bindenden Proteine mit der DNA kovalent verknüpft. Die aus den Zellen extrahierte DNA wird anschließend durch Behandlung mit Ultraschall in Bruchstücke von 50 bis 1000 Basenpaare fragmentiert, an denen die gebundenen Proteinen verbleiben. In einem nächsten Schritt wird mit einem [[Antikörper]] das interessierende Protein zusammen mit den daran gebundenen DNA Fragmenten extrahiert, und anschließend die kovalente Bindung zwischen Protein und DNA durch Hitzebehandlung in 300 mM Kochsalzlösung wieder aufgelöst. Die damit abgetrennten DNA Fragmente können anschließend identifiziert bzw. quantifiziert werden (mittels Gen-spezifischer [[Polymerase-Kettenreaktion|PCR]] oder Genom-weiter [[DNA-Sequenzierung#Sequenzierung mit Brückensynthese|NGS]]). Aus der Häufigkeit, mit der dabei ein bestimmtes DNA Fragment identifiziert wird, lässt sich schlussfolgern, ob bzw. wie stark das Protein in der lebenden Zelle mit dem betreffenden DNA-Abschnitt assoziiert war. Je nachdem, welches Protein man mit Antikörpern versucht zu präzipitieren, kann man z.&nbsp;B. sagen:<br />
* Die [[RNA-Polymerase]] hat an das Gen gebunden, daher wurde es transkribiert, das Gen war aktiv.<br />
* Das <sup>me</sup>CG-bindende Protein (MeCP) war an das Gen gebunden, daher wurde dieses nicht transkribiert und war ruhig gestellt (engl. ''silencing'').<br />
<br />
=== Electrophoretic Mobility Shift Assay ===<br />
{{Hauptartikel|Electrophoretic Mobility Shift Assay}}<br />
Die unterschiedlichen DNA-Moleküle weisen unterschiedliche Laufverhalten in einer [[Gelelektrophorese]] auf.<br />
<br />
=== Epigenomik und Methoden der epigenetischen Forschung ===<br />
Epigenomik (engl. Epigenomics) oder Epigenomforschung ist ein Teilgebiet der Epigenetik, das auf die Untersuchung des möglichst vollständigen Satzes epigenetischer Modifikationen am genetischen Material einer Zelle zielt. Solche zusammenhängenden Sätze von epigenetischen Modifikationen werden [[Epigenom]]e genannt.<br />
<br />
Der Begriff '''Epigenomics''' wurde analog zu anderen ''[[-omik|-omics]]'', wie [[Genomik|Genomics]] und [[Proteomics]] gebildet und wurde populär, als Methoden zur Verfügung standen, epigenetische Modifikationen im größeren Stil zu untersuchen. Die Initiierung des ''Human Epigenome Project'' im Jahr 1999 hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet.<ref name="DOI10.1038/454795a">''"... The Human Epigenome Project, for example, was established in 1999, when researchers in Europe teamed up to identify, catalogue and interpret genomewide DNA methylation patterns in human genes. ..."'' In: L. Bonetta: ''Epigenomics : Detailed analysis.'' In: ''Nature.'' Band 454, 2008, S.&nbsp;796, {{DOI|10.1038/454795a}}.</ref><ref name="Laura_Bonetta_2008_NatureEducation">''"... Over time, the field of epigenetics gave rise to that of epigenomics, which is the study of epigenetic modifications across an individual's entire genome. Epigenomics has only become possible in recent years because of the advent of various sequencing tools and technologies, such as DNA microarrays, cheap whole-genome resequencing, and databases for studying entire genomes (Bonetta, 2008) ..."'' In: L. Bonetta: "Epigenomics: The new tool in studying complex diseases." Nature Education. Band 1, 2008, S.&nbsp;178, [https://www.nature.com/scitable/topicpage/epigenomics-the-new-tool-in-studying-complex-694 Weblink]. </ref><br />
<br />
Epigenomik und Epigenetik schließen sich nicht aus. Die umfassende und effiziente Erforschung der Epigenetik auf globaler Ebene wird durch Hochdurchsatz-Methoden ermöglicht. Die Verwendung des Begriffs Epigenomforschung bzw. Epigenomik kennzeichnet diese Vorgehensweise spezifischer als die Verwendung des Begriffs Epigenetik.<br />
<br />
Zwei der am meisten charakterisierten epigenetischen Markierungen sind DNA-Methylierungen und Histonmodifikationen. Eine Gesamtbestimmung von DNA-Methylierungen zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Gewebe usw. wird häufig als Methylom oder DNA-Methylierungsmuster bezeichnet, ein zusammenhängender Satz von Histonmodifikationen wird häufig [[Histon-Code]] genannt. Sowohl Methylome (bzw. DNA-Methylierungsmuster) als auch Histon-Codes sind Teil-Epigenome.<br />
<br />
Beispielhaft seien hier für die Untersuchung von Epigenomen die Bisulfit-Sequenzierung und [[ChIP-Seq]] genannt. Die Bisulfit-Sequenzierung ermöglicht eine umfassende Analyse von "Methylomen" (DNA-Methylierungsmustern) und ChIP-Seq kann für die Interaktion von Histonen mit der DNA eingesetzt werden.<br />
<br />
Es ist anzumerken, dass die Epigenomforschung zwar als Teilgebiet der Epigenetik angesehen werden kann, jedoch ein sehr interdisziplinäres Fach ist, das beispielsweise Schnittmengen mit der [[Genetik]], der [[Molekularbiologie]] allen ''-omik''-Gebieten, der [[Systembiologie]] und der [[Bioinformatik]] aufweist.<ref name="PMID28137571">K. A. Janssen, S. Sidoli, B. A. Garcia: ''Recent Achievements in Characterizing the Histone Code and Approaches to Integrating Epigenomics and Systems Biology.'' In: ''Methods in enzymology.'' Band 586, 2017, S.&nbsp;359–378, {{DOI|10.1016/bs.mie.2016.10.021}}, PMID 28137571, {{PMC|5512434}} (Review).</ref><br />
<br />
== Epigenetische Veränderungen im Lebenslauf ==<br />
Epigenetik beschränkt sich nicht auf Vererbungsfälle. Zunehmende Beachtung finden epigenetische Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit anhaltenden Veränderungen im Lebenslauf sowie im Zusammenhang mit der Ausbildung von Krankheiten. So konnte an 80 eineiigen Zwillingen nachgewiesen werden, dass sie im Alter von drei Jahren epigenetisch noch in hohem Maß übereinstimmen, nicht mehr aber im Alter von 50 Jahren, wenn sie wenig Lebenszeit miteinander verbrachten und/oder eine unterschiedliche medizinisch-gesundheitliche Geschichte hinter sich haben. So war der Methylierungsgrad bis zu zweieinhalb mal höher bei einem Zwilling, sowohl in absoluten Zahlen als auch was die Verteilung der epigenetischen Marker angeht. Ältere Zwillinge sind demnach trotz ihrer genetischen Identität epigenetisch umso verschiedener, je unterschiedlicher das Leben der Zwillinge verläuft. Der Grund liegt neben der erlebten Umwelt auch in der Ungenauigkeit bei der Übertragung von Methylgruppenmustern bei jeder Zellteilung. Schleichende Veränderungen summieren sich damit im Lauf eines Lebens immer stärker auf.<ref>Mario F. Fraga, Esteban Ballestar, Maria F. Paz, Santiago Ropero, Fernando Setien, Maria L. Ballestar, Damia Heine-Suñer, Juan C. Cigudosa, Miguel Urioste, Javier Benitez, Manuel Boix-Chornet, Abel Sanchez-Aguilera, Charlotte Ling, Emma Carlsson, Pernille Poulsen, Allan Vaag, Zarko Stephan, Tim D. Spector, Yue-Zhong Wu, Christoph Plass, and Manel Esteller. Epigenetic differences arise during the lifetime of monozygotic twins. [[Proceedings of the National Academy of Sciences]]. 2005. July 26, 2005. Vol. 102. No. 30</ref><br />
<br />
Die Umstellung der Ernährung bei Arbeiterbienen nach Ablauf der ersten Wochen des Larvenstadiums auf eine einfache Pollen- und Honigkost im Vergleich zur [[Bienenkönigin|Königin]] verursacht eine hochgradige epigenetische Umprogrammierung des Larvengenoms. Mehr als 500 Gene wurden identifiziert, die von den umweltspezifisch verursachten Methylierungsveränderungen betroffen sind. Nicht nur Aktivierung bzw. Nichtaktivierung von Genen ist die Folge des Ernährungswandels, sondern sogar [[alternatives Splicing]] und veränderte [[Genprodukt]]e.<ref>Frank Lyko, Sylvain Foret u.&nbsp;a.: ''The Honey Bee Epigenomes: Differential Methylation of Brain DNA in Queens and Workers.'' In: ''PLoS Biology.'' 8, 2010, S.&nbsp;e1000506, [[doi:10.1371/journal.pbio.1000506]].</ref><br />
<br />
== Epigenetische Veränderungen als Erklärung von Krankheiten ==<br />
Die Erklärung von [[Stressfaktor]]en bildet einen Schwerpunkt der epigenetischen Forschung. Individuen mit frühen traumatischen Lebenserfahrungen, zum Beispiel ausgelöst durch mangelnde Mutterschaftsfürsorge von Rattenmüttern, wurden dafür herangezogen. Stress setzt eine Kaskade von Hormonausschüttungen zu seiner Kontrollierung in Gang, deren Kette im [[Hypothalamus]], einem Teil des Zwischenhirns beginnt. Nachgewiesen werden konnte, dass ein [[Glucocorticoid]]-Gen bei den betreffenden Individuen auffallend unterschiedliche Methylierungen aufweist. Entsprechend ist das Gen bei Vorliegen von Stressvergangenheit gehemmt. Das Genprodukt in der [[Nebennierenrinde]] als Endstation der Hormonkette ist in der Folge unterschiedlich.<ref>{{cite book | author = Carlson NR | title = Physiology of Behavior | edition = 11th | publisher = Allyn & Bacon | location = New York | year = 2010 | pages = 605 | isbn = 978-0-205-23939-9 }}</ref><ref name="pmid11461709">{{cite journal | author = Belanoff JK, Gross K, Yager A, Schatzberg AF | title = Corticosteroids and cognition | journal = Journal of Psychiatric Research | volume = 35 | issue = 3 | pages = 127–45 | year = 2001 | pmid = 11461709 | doi = 10.1016/S0022-3956(01)00018-8 }}</ref><ref name="Sapolsky_1994">{{cite journal | author = Sapolsky RM | title = Glucocorticoids, stress and exacerbation of excitotoxic neuron death | journal = Seminars in Neuroscience |date=1994-10 | volume = 6 | issue = 5 | pages = 323–331 | doi = 10.1006/smns.1994.1041 }}</ref> Mehr als 900 Gene werden im Gehirn als Folge mütterlicher Verhaltensweisen herauf- oder herunterreguliert.<br />
<br />
Die Ergebnisse konnten bei Menschen ebenfalls bestätigt werden. Das Rezeptorgen im Hippocampus stimmt beim Mensch mit dem anderer Säugetiere weitgehend überein. Epigenetische Veränderungen sind daher ähnlich wie bei den Ratten. Eine Studie mit [[Suizid]]kandidaten teilte Betroffene in zwei Gruppen auf, solche mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und solche ohne. Nur bei den Kandidaten mit Missbrauchsvergangenheit war das Rezeptorgen mit Methylierung blockiert.<ref>Patrick O McGowan, Aya Sasaki u.&nbsp;a.: ''Epigenetic regulation of the glucocorticoid receptor in human brain associates with childhood abuse.'' In: ''Nature Neuroscience.'' 12, 2009, S.&nbsp;342, [[doi:10.1038/nn.2270]].</ref> Ein Trauma, das die Mutter in der Schwangerschaft erlebt, kann nach demselben epigenetischen Muster sogar anhaltende Folgen für das werdende Kind nach sich ziehen, die für das Kind jahrzehntelang bestehen bleiben.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/de/fachbeitrag/pm/gewalt-an-schwangeren-veraendert-genetik-der-kinder/ |titel=Gewalt an Schwangeren verändert Genetik der Kinder |werk=gesundheitsindustrie-bw.de |hrsg=BIOPRO Baden-Württemberg GmbH |datum=2011-07-25 |zugriff=2017-02-16}}</ref><br />
In einer Studie aus den Niederlanden wurde gezeigt, dass Kinder von Müttern, die sehr früh während der Schwangerschaft unter einer Hungersnot litten, im Verlaufe ihres Lebens ein deutlich erhöhtes Risiko für [[Schizophrenie]]<ref>E. Susser, R. Neugebauer, H. W. Hoek, A. S. Brown, S. Lin, D. Labovitz, J. M. Gorman: ''Schizophrenia after prenatal famine. Further evidence.'' In: ''Archives of general psychiatry.'' Band 53, Nummer 1, Januar 1996, S.&nbsp;25–31, PMID 8540774.</ref> und [[Herz-Kreislauf-Erkrankung]]en<ref>R. C. Painter, S. R. de Rooij, P. M. Bossuyt, T. A. Simmers, C. Osmond, D. J. Barker, O. P. Bleker, T. J. Roseboom: ''Early onset of coronary artery disease after prenatal exposure to the Dutch famine.'' In: ''The American Journal of Clinical Nutrition.'' Band 84, Nummer 2, August 2006, S.&nbsp;322–327, {{DOI|10.1093/ajcn/84.1.322}}, PMID 16895878.</ref> zeigten und gleichzeitig Änderungen im Methylierungsmuster des [[Insulinähnliche Wachstumsfaktoren#IGF-2 und Erforschung von Tumorwachstum|Igf2]] Genes trugen<ref>B. T. Heijmans, E. W. Tobi, A. D. Stein, H. Putter, G. J. Blauw, E. S. Susser, P. E. Slagboom, L. H. Lumey: ''Persistent epigenetic differences associated with prenatal exposure to famine in humans.'' In: ''[[Proceedings of the National Academy of Sciences]].'' Band 105, Nummer 44, November 2008, S.&nbsp;17046–17049, {{DOI|10.1073/pnas.0806560105}}, PMID 18955703, {{PMC|2579375}}.</ref>.<br />
<br />
Bei Mäusen führt regelmäßige Kokaingabe zu einem veränderten Muster epigenetischer Marker von einigen hundert Genen im Belohnungszentrum des Gehirns. Dies erhöht die Empfindlichkeit für die Drogenwirkung und steigert die Suchtgefahr.<ref>Maze, L. Nestler, E.J.: ''The Epigenetic Landscape of Addiction''. In: ''Annals of the New York Academy of Sciences'' 1216, S. 99–113, 2011.</ref><br />
<br />
Die Größenordnung epigenetischer Veränderungen ist im Lebensverlauf um ein Vielfaches höher als die genetischer Mutationen. Die Wissenschaft erwartet daher künftige weitere neue Antworten auf eine Vielzahl von Krankheiten im alternden Organismus, die genetisch heute nicht erklärbar sind, darunter [[Schizophrenie]], [[Alzheimer-Krankheit]], Krebs, [[Diabetes Typ II|Altersdiabetes]], Nervenkrankheiten und andere.<ref>Tsankova, N. et al. Epigenetic Regulation in Psychiatric Disorders. in. Nature Reviews Neuroscience 8, S. 355–367. 2007</ref><br />
<br />
== „Vererbung“ epigenetischer Prägungen? ==<br />
Von den Befunden zu epigenetischen Veränderungen werden vor allem in der Populärwissenschaft immer wieder Parallelen zum [[Lamarckismus]] gezogen und ein Widerspruch zur klassischen Genetik gesehen. Bisher existieren allerdings nur sehr wenige Hinweise, dass erlernte und erworbene Fähigkeiten von einer Generation zur anderen über die Keimzellen weitergegeben werden können.<ref>spiegel.de: [http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,605447,00.html Epigenetik: Mütter können Erfahrungen vererben], 4. Februar 2009.</ref> Auch ist eine Weitergabe an die nachfolgende Generation noch kein Beweis für eine genetische Manifestation, auch wird häufig der Begriff „Generation“ als Beginn eines Individualzyklus falsch interpretiert.<br />
<br />
Eine [[Epigenetische Vererbung|Vererbung epigenetischer Prägungen]] wurde 2003 von Randy Jirtle und Robert Waterland mittels Mäuseexperimenten vorgeschlagen.<ref>Ernährung aktuell, (Von der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung wird viermal im Jahr die Zeitschrift „Ernährung aktuell“ herausgegeben.) 1/2007 S. 1–6</ref><ref>Waterland, RA. und Jirtle, RL. (2003): ''Transposable elements: targets for early nutritional effects on epigenetic gene regulation''. In: ''Mol Cell Biol''. 23(15); 5293-5300; PMID 12861015; {{PMC|165709}}</ref> Weiblichen [[Agouti]]mäusen wurde vor der Paarung und während der Schwangerschaft eine bestimmte Zusammensetzung an Nährstoffen verabreicht. Es zeigte sich, dass ein Großteil der Nachkommen nicht den typischen [[Phänotyp]] aufweist.<br />
<br />
In einer Humanstudie untersuchten die beiden Genetiker Marcus Pembrey und Lars Olov Bygren sowie Mitarbeiter verschiedene Faktoren, die Aufschluss über die Lebensmittelverfügbarkeit und Sterbefälle der kleinen schwedischen Stadt [[Överkalix]] gaben.<ref>M. E. Pembrey, L. O. Bygren, G. Kaati, S. Edvinsson, K. Northstone, M. Sjöström, J. Golding: ''Sex-specific, male-line transgenerational responses in humans.'' In: ''European journal of human genetics : EJHG.'' Band 14, Nummer 2, Februar 2006, S.&nbsp;159–166, [[doi:10.1038/sj.ejhg.5201538]], PMID 16391557; [http://www.nature.com/ejhg/journal/v14/n2/pdf/5201538a.pdf PDF] (freier Volltextzugriff, engl.)</ref> Es zeigte sich, dass die meisten Personen, deren Großeltern in ihrer Kindheit genug zu essen hatten, mit zunehmendem Alter an [[Diabetes mellitus|Diabetes]] erkrankten.<ref>scinexx.de: [http://www.scinexx.de/dossier-detail-437-9.html Umwelt oder Gene? Die Antwort der Zwillinge], 26. Februar 2013.</ref> Die Erkrankung trat allerdings nach einem bestimmten Muster auf, was auf epigenetische Veränderungen auf den [[Geschlechtschromosom]]en schließen lässt. Zum Beispiel waren bei Familien, in denen sich der Großvater gut bzw. übermässig ernährt hatte, von allen Enkelkindern nur die männlichen Enkel betroffen.<br />
<br />
Nach einer Hypothese von William R. Rice, Urban Friberg und Sergey Gavrilets aus dem Jahr 2012 könnte die Entstehung der menschlichen [[Homosexualität]] durch epigenetische „Vererbung“ verursacht sein. So würde bei einigen Individuen die sexuelle Präferenz der Mutter an den Sohn und die Präferenz des Vaters auf die Tochter übertragen. Das passiere dann, wenn die epigenetischen DNA-Markierungen (engl. "Epi-Marks") bei Genen, die für die sexuelle Ausrichtung verantwortlich sind, in den Keimzellen erhalten blieben. Wenn beispielsweise diese epigenetischen DNA-Markierungen in der unbefruchteten Eizelle (also der mütterlichen Keimzelle) nicht vollständig zurück gesetzt wird, könnte dann ein Embryo zwar männliche Geschlechtsorgane ausbilden (wenn er den XY-Genotyp geerbt hat), die sexuelle Ausrichtung auf das männliche Geschlecht wäre aber ähnlich wie bei der Mutter. Die Homosexualität des Menschen ist nach dieser Hypothese angeboren. Die Hypothese erklärt, weshalb das Vorkommen von Homosexualität beim Menschen über die Zeit statistisch stabil bleibt. Allerdings schreiben die Autoren um Rice auch, dass es sich lediglich um eine Hypothese handele, es hingegen bislang keine empirischen Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Epigenetik gebe.<ref>William R. Rice, Urban Friberg, and Sergey Gavrilets: ''Homosexuality as a Consequence of Epigenetically Canalized Sexual Development''. The Quarterly Review of Biology, Vol. 87, Nr. 4, Dezember 2012, PMID 23397798; ... ''Die Autoren verwendeten "published data ... to develop a new model for homosexuality."''</ref><ref name="Voss" /> Eine kritische Analyse der Hypothese von Rice et al. hat [[Heinz-Jürgen Voß (Sozialwissenschaftler)|Heinz J. Voss]] vorgenommen.<ref name="Voss">[[Heinz-Jürgen Voß (Sozialwissenschaftler)|Heinz J. Voß]]: [http://heinzjuergenvoss.de/Voss_2013_Epigenetik_und_Homosexualitaet__.pdf ''Epigenetik und Homosexualität''] (PDF; 564&nbsp;kB).</ref><br />
<br />
== Epigenetik bei Bakterien ==<br />
<br />
Während die Epigenetik bei [[Eukaryoten]], insbesondere bei den vielzelligen Tieren ([[Metazoa]]), von grundlegender Bedeutung ist, spielt sie bei Bakterien eine andere Rolle. Am wichtigsten ist dabei, dass Eukaryoten epigenetische Mechanismen in erster Linie zur Regulierung der [[Genexpression]] verwenden, was die Bakterien selten tun. Allerdings ist die Nutzung der postreplikativen DNA-Methylierung für die epigenetische Kontrolle von DNA-Protein-Wechselwirkungen bei Bakterien weit verbreitet. Außerdem verwenden Bakterien DNA-[[Adenin]]-Methylierung (anstelle von DNA-[[Cytosin]]-Methylierung) als epigenetisches Signal. DNA-Adenin-Methylierung ist bei Bakterienvirulenz in Organismen wie ''[[Escherichia coli]]'', ''[[Salmonella]]'', ''[[Vibrio]]'', ''[[Yersinia]]'', ''[[Haemophilus]]'' und ''[[Brucella]]'' wichtig. In den [[Alphaproteobacteria|Alphaproteobakterien]] reguliert die Methylierung von Adenin den Zellzyklus und verbindet die Gentranskription mit der DNA-Replikation. In [[Gammaproteobacteria|Gammaproteobakterien]] liefert die Adeninmethylierung Signale für die DNA-Replikation, Chromosomensegregation, Fehlpaarungsreparatur, Verpackung von [[Bakteriophagen]], Transposaseaktivität und Regulation der Genexpression.<ref name="Tost_2008">{{cite book | author=Jörg Tost | title=Epigenetics | publisher=Caister Academic Press | location=Norfolk, England | year=2008 | pages=| isbn=1-904455-23-9 }}</ref><ref name="Casadesus_Low_2006">{{cite journal | author=Casadesús J | coauthors= Low D | title=Epigenetic gene regulation in the bacterial world | journal=Microbiol. Mol. Biol. Rev. | volume=70 | issue=3 | pages=830–56 | date=2006-09 | pmid=16959970 | pmc=1594586 | doi=10.1128/MMBR.00016-06 }}</ref><br />
Es gibt einen genetischen Schalter, der ''[[Streptococcus pneumoniae]]'' ([[Pneumokokken]]) kontrolliert und es dem Bakterium erlaubt, seine Eigenschaften zufällig so zu ändern, dass einer von sechs alternativen Zuständen eintritt. Das könnte den Weg zu verbesserten Impfstoffen ebnen. Jede Form wird zufällig durch ein phasenvariables Methylierungssystem erzeugt. Die Fähigkeit der Pneumokokken, tödliche Infektionen zu verursachen, ist in jedem dieser sechs Zustände unterschiedlich. Ähnliche Systeme existieren in anderen Bakteriengattungen.<ref name="MansoOggioni2014">{{cite journal | author= Manso AS | coauthors= Chai MH, Atack JM, Furi L, De Ste Croix M, Haigh R, Trappetti C, Ogunniyi AD, Shewell LK, Boitano M, Clark TA, Korlach J, Blades M, Mirkes E, Gorban AN, Paton JC, Jennings MP, Oggioni MR| title=A random six-phase switch regulates pneumococcal virulence via global epigenetic changes| journal=Nature Communications| volume=5| issue=|pages= 5055 | date=2014-09| pmid=25268848 | pmc=4190663 | doi=10.1038/ncomms6055}}</ref><br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Monographien ===<br />
* Jan Baedke: ''Above the Gene, Beyond Biology: Toward a Philosophy of Epigenetics.'' University of Pittsburgh Press, Pittsburgh 2018. <br />
* [[Joachim Bauer]]: ''Das Gedächtnis des Körpers: wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.'' Eichborn, Frankfurt am Main 2002; Erweiterte Taschenbuchausgabe: Piper, München 2004 (10. Aufl. 2007), ISBN 978-3-492-24179-3.<br />
* [[Bernhard Kegel]]: ''Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden''. Dumont, Köln 2009, ISBN 978-3-8321-9528-1.<br />
* [[Oscar Hertwig]]: ''Biological problem of today: preformation or epigenesis? The basis of a theory of organic development.'' Heinemann, London 1896.<br />
* [[Peter Spork]]: ''Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können.'' Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-498-06407-5.<br />
* [[Wolfgang Wieser (Zoologe)|Wolfgang Wieser]]: ''Gehirn und Genom: ein neues Drehbuch für die Evolution.'' Beck, München 2007, ISBN 3-406-55634-5.<br />
<br />
=== Aufsätze ===<br />
* Bradbury, J. (2003): ''Human Epigenome Project—Up and Running.'' In: ''[[PLoS Biol]].'' Bd. 1, S. e82 [[doi:10.1371/journal.pbio.0000082]]; [http://biology.plosjournals.org/perlserv/?request=get-pdf&file=10.1371_journal.pbio.0000082-L.pdf PDF] (freier Volltextzugriff, engl.).<br />
* Costa, FF. (2008): ''Non-coding RNAs, epigenetics and complexity''. In: ''Gene'' Bd. 410, Nr. 1, S. 9–17, PMID 18226475, [[doi:10.1016/j.gene.2007.12.008]].<br />
* Jablonka, E. und Lamb, MJ. (2002): ''The Changing Concept of Epigenetics''. In: ''[[Annals of the New York Academy of Sciences]]'' Bd. 981, S. 82–96, PMID 12547675.<br />
* Delcuve, GP. et al. (2009): ''Epigenetic control''. In: ''[[J Cell Physiol]].'' Bd. 219, Nr. 2, S. 243–250, PMID 19127539.<br />
* Marmorstein, R. und Trievel, RC. (2009): ''Histone modifying enzymes: structures, mechanisms, and specificities''. In: ''[[Biochimica et Biophysica Acta]] (BBA)'' Bd. 1789, Nr. 1, S. 58–68, PMID 1872256, [[doi:10.1016/j.bbagrm.2008.07.009]].<br />
* Morgan, HD. et al. (2005): ''Epigenetic reprogramming in mammals''. In: ''[[Human molecular genetics]]. (Hum Mol Genet.)'' Bd. 14, Nr. 1, R47–58, PMID 15809273; [http://hmg.oxfordjournals.org/cgi/reprint/14/suppl_1/R47.pdf PDF] (freier Volltextzugriff, engl.)<br />
* Peter Spork et al. (2016): 'Geerbte Angst'; 'Spuren im Stammbaum'; 'Wer trauert, kann das Leid loslassen'; bild der wissenschaft 2/2016, S. 16–25.<br />
* Jan Baedke (2019): ''Philosophische Probleme der Epigenetik.'' Bericht. In: Information Philosophie Heft 2/2019, S. 22–31. [http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=8748&n=2&y=5&c=27 Literaturangaben in Information Philosophie.]<br />
<br />
=== Presse ===<br />
* {{Der Spiegel|ID=58656897|Titel=Bruch des bösen Zaubers|Autor=|Jahr=2008|Nr=32|Seiten=}}<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
=== Portale ===<br />
<br />
* [http://www.epigenome-noe.net/ The Epigenome Network of Excellence (enthält Verweise auf aktuelle Veröffentlichungen)] (engl.)<br />
* [http://epigenetics.uni-saarland.de/de/home/ Epigenetik: Portal epigenetischer Forschung]<br />
* [http://epigenome.eu/de/ Öffentliches europäisches Epigenom-Netzwerk] (mehrsprachig)<br />
* [http://www.newsletter-epigenetik.de/ Website des ''Newsletter Epigenetik'']<br />
<br />
=== Einzelbeiträge ===<br />
* [https://funkkolleg-biologie.de/themen/04-epigenetik-wie-umwelt-und-verhalten-gene-steuern/ ''Epigenetik: wie Umwelt und Verhalten Gene steuern.''] Audio auf: ''funkkolleg-biologie.de'', 18. November 2017<br />
* [http://www.nzz.ch/nachrichten/hintergrund/wissenschaft/spuren_der_vorfahren_auf_unserem_erbgut_1.14068185.html Spuren der Vorfahren auf unserem Erbgut] (NZZ 2012)<br />
* [http://www.planet-wissen.de/natur_technik/forschungszweige/epigenetik/index.jsp „Epigenetik“ bei Planet Wissen], abgerufen am 26. Mai 2015.<br />
* [http://www.spektrum.de/alias/epigenetik/vaters-erbsuende/1258600 Warum ist das allen brillanten Genetikern in hundert Jahre nicht aufgefallen?] veröffentlicht in Spektrum 26. März 2014<br />
* {{Internetquelle<br />
|url=http://www.nzz.ch/wissenschaft/biologie/umprogrammierte-ameisen-1.18670291<br />
|titel=Gen-Verpackung beeinflusst Verhalten. Umprogrammierte Ameisen<br />
|autor=Stephanie Lahrtz<br />
|werk=<br />
|hrsg=Neue Zürcher Zeitung<br />
|datum=2016-01-02<br />
|zugriff=2016-01-02}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=7566079-9}}<br />
[[Kategorie:Epigenetik| ]]<br />
[[Kategorie:Evolution]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fadenw%C3%BCrmer&diff=198240177Fadenwürmer2020-03-29T19:29:16Z<p>Udo.bellack: /* Epidermis und Cuticula */ Beispiele für ph-Werte hinzugefügt</p>
<hr />
<div>{{Weiterleitungshinweis|Nematoden|Für gleichnamige Software gegen Schadcode siehe [[Computerwurm#Nematoden|Computerwurm: Nematoden]]}}<br />
<!-- Für Informationen zum Umgang mit dieser Vorlage siehe bitte [[Wikipedia:Taxoboxen]]. --><br />
{{Taxobox<br />
| Taxon_Name = Fadenwürmer<br />
| Taxon_WissName = Nematoda<br />
| Taxon_Rang = Stamm<br />
| Taxon_Autor = [[Karl Asmund Rudolphi|Rudolphi]], 1808<br />
| Taxon2_WissName = Nematoida<br />
| Taxon2_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon3_WissName = Cycloneuralia<br />
| Taxon3_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon4_Name = Häutungstiere<br />
| Taxon4_WissName = Ecdysozoa<br />
| Taxon4_Rang = Überstamm<br />
| Taxon5_Name = Urmünder<br />
| Taxon5_WissName = Protostomia<br />
| Taxon5_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon6_WissName = Bilateria<br />
| Taxon6_Rang = ohne Rang<br />
| Bild = Soybean cyst nematode and egg SEM.jpg<br />
| Bildbeschreibung = ''Heterodera glycines'' mit einem Ei, ein Parasit der [[Sojabohne]]<br />
| Subtaxa_Rang = Klasse<br />
| Subtaxa = * [[Adenophorea]]<br />
* [[Secernentea]]<br />
}}<br />
<br />
Die '''Fadenwürmer''' (Nematoda), auch '''Nematoden''' ({{grcS|νῆμα|''nema''|de=Faden}}) oder [[Älchen]] genannt, sind ein sehr artenreicher [[Stamm (Biologie)|Stamm]] des Tierreichs. Bislang wurden mehr als 20.000 verschiedene [[Art (Biologie)|Arten]] beschrieben. Wahrscheinlich sind sie die individuenreichste Gruppe unter den [[Vielzellige Tiere|vielzelligen Tieren]]: Einer Schätzung<ref>T. Bongers, H. Ferris: ''Nematode community structure as a bioindicator in environmental monitoring''. Trends Ecol Evol, Vol. 14, Issue 6, Juni 1999, S. 224–228, [[doi:10.1016/S0169-5347(98)01583-3]]</ref> zufolge stellen sie etwa 81 % aller tierischen Organismen. Es handelt sich zumeist um relativ kleine, weiße bis farblose, fädige Würmchen, die in feuchten Medien leben, darunter viele [[parasit]]ische Gruppen mit einigen [[humanpathogen]]en Arten.<br />
<br />
Fadenwürmer haben sich erfolgreich an nahezu jedes terrestrische und aquatische Ökosystem angepasst einschließlich extremer Lebensräume wie tieferer Bereiche der obersten [[Erdkruste]] und der Polarregionen. In vielen Lebensräumen stellen sie oft sowohl hinsichtlich der Individuenanzahl als auch der Artenvielfalt die größte Gruppe in der [[Metazoen]]fauna.<br />
<br />
== Anatomie ==<br />
[[Datei:Nematoda-Anatomy.svg|mini|150px|Fadenwurm ♂<br /> 1 Mundöffnung<br /> 2 Darm<br /> 3 Kloake<br /> 4 Exkretionsorgan<br />5 Hoden<br />6 Circumpharyngealer Ring des Nervensystems<br /> 7 Dorsaler Hauptnervenstrang<br /> 8 Ventraler Hauptnervenstrang<br /> 9 Exkretionspore]]<br />
<br />
=== Körperbau ===<br />
Nematoden sind [[triploblast]]ische [[Urmünder]] (Protostomia). Sie haben eine typisch wurmförmige Gestalt, sind lang und im Querschnitt rund. Eine Segmentierung fehlt. Die Körperhöhle ist ein enges [[Pseudocoel]], wie auch bei vielen anderen kleineren Tierstämmen.<br />
<br />
Der Kopf eines Fadenwurmes hat einige kleine Richtungsorgane (eine Art Augen) und eine große muskulöse Mundöffnung mit Pharynx (Rachen). Der Mund liegt vorne und wird häufig von Fortsätzen umgeben, die für die Nahrungsaufnahme und zum Tasten benutzt werden. Der Anus liegt kurz vor dem spitzen Hinterende.<br />
<br />
Der größte Fadenwurm ist das in der [[Pottwal]]-[[Plazenta]] lebende ''[[Placentonema gigantissima]]''. Weibchen erreichen eine Länge von bis zu 8,40&nbsp;m und einen Durchmesser von 2,5&nbsp;cm, die Männchen werden nur 4&nbsp;m lang bei einem Durchmesser von 0,9&nbsp;cm. Diese Art gehört zur Klasse der Secernentea (Unterklasse Spiruria, Familie Tetrameridae).<br />
<br />
=== Epidermis und Cuticula ===<br />
Die [[Epidermis (Wirbellose)|Epidermis]] (Hautzellschicht) eines Fadenwurmes ist bemerkenswert, weil sie nicht wie bei anderen Tieren aus einzelnen [[Zelle (Biologie)|Zellen]] besteht, sondern aus einer Masse des zellulären Materials, die nicht durch [[Zellmembran|Membranen]] in einzelne Zellen unterteilt ist und mehrere Zellkerne besitzt. Solche Bildungen werden als [[Syncytium]] bezeichnet.<br />
<br />
Die Epidermis sondert eine wesentlich dickere, mehrlagige [[Exoskelett|Cuticula]] ab, die die Nematoden vor Austrocknung oder anderen ungünstigen Umweltbedingungen schützt, bei parasitischen Arten auch vor den Verdauungssäften des Wirtes. Neben den in heißen Quellen lebenden Arten wurden auch Arten gefunden, denen ihre Cuticula ermöglicht, [[pH-Wert]]e von 2,5 (z.B. [[Zitrone]]nsaft, [[Essig]]) bis 11,5 (z.B. Haushalts-[[ammoniak]]) auszuhalten (siehe dazu auch folgende [[PH-Wert#Neutralwert_und_Einteilung|pH-Wert-Skala]]), oder solche, die mehrere Stunden in flüssigem [[Helium]] (ca. −272&nbsp;°C bis −268&nbsp;°C) am Leben bleiben. Das Vorhandensein einer „steifen“ Cuticula in Verbindung mit der Längsmuskulatur (Nematoden haben fast keine Ringmuskeln) erlaubt ihnen nur eine schlängelnde Fortbewegung.<br />
<br />
Die Cuticula besteht bei Fadenwürmern aus bis zu vier Schichten:<br />
* Die innere ''Faserschicht'' besteht aus diagonal miteinander in entgegengesetzter Richtung laufenden Fasern. Diese Schicht trägt am meisten zur Festigkeit und Elastizität der Cuticula bei.<br />
* Die ''Matrixschicht'' hat eine weniger definierte Struktur.<br />
* Die ''Kortikalschicht'' besteht aus Kollagen.<br />
* Die äußere ''Epicuticula'' ist [[Lipide|lipidhaltig]] und wird bei einigen Gattungen zusätzlich von einer Lipidschicht bedeckt.<br />
<br />
=== Muskeln ===<br />
Fadenwürmer besitzen wie die [[Rundwürmer]] zur Fortbewegung ausschließlich Längsmuskeln, die sich von Kopf bis Schwanz erstrecken. Die Muskelzellen bestehen aus drei Teilen:<br />
<br />
* Dem Monocyton: Ein nicht zusammenziehbarer Teil, der die Zellkerne, die [[Mitochondrium|Mitochondrien]] und den [[Golgi-Apparat]] enthält.<br />
* Einem zusammenziehbaren Teil, der die Actin- und Myosinfasern enthält.<br />
* Dem Prozess, einem nicht zusammenziehbaren Teil der Muskelzellen, der Verbindungen mit anderen Muskelzellen oder Nerven eingehen kann.<br />
<br />
[[Datei:CrawlingCelegans.gif|mini|Fortbewegung eines Nematoden (''[[Caenorhabditis elegans]]'')]]<br />
Die Fadenwurmmuskeln liegen wie ein Schlauch unterhalb der Haut. Diese Einheit aus verschiedenen Geweben wird als [[Hautmuskelschlauch]] bezeichnet. Die starke [[Exoskelett|Cuticula]] und der hohe Innendruck der [[Pseudocoel]]flüssigkeit, der zwischen 70 und 210 [[Millimeter Quecksilbersäule|mmHg]] liegt, stellen ein sogenanntes [[Hydroskelett]] dar. Zusammen mit den Längsmuskeln als Antagonisten kann sich der Fadenwurm schlängelnd fortbewegen oder einen Teil in die Höhe strecken.<br />
<br />
Daneben gibt es Ringmuskeln, jedoch nur an Mund und After.<br />
<br />
=== Nervensystem ===<br />
Das [[Nervensystem]] der Fadenwürmer ist sehr einfach aufgebaut. Es besteht aus einem [[circumpharyngeal]]en bzw. [[circumoesophageal]]en Ring, von dem ein dorsaler und ein ventraler Hauptstrang nach hinten ziehen. Es ist in der Lage, einfache und verschiedene Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Die Längsnerven sind direkt mit den Muskelzellen und dem Cytoplasma im Kontakt und erstrecken sich durch den ganzen Körper. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass anders als bei anderen Tieren, bei denen sich die [[Neuron|Nervenzellen]] zu den Muskeln hin ausbreiten, sich die Muskelzellen des Fadenwurms selbst zu den Nervenbahnen ausbreiten.<br />
<br />
=== Fortpflanzungsorgane ===<br />
Die Fortpflanzungsorgane bestehen bei den Weibchen aus einer [[Vulva#Vergleichende Anatomie|Vulva]] in der Körpermitte, wobei die Verlagerung vom Körperende nach vorne eine taxontypische [[Apomorphie]] darstellt.<br />
<br />
Bei den Männchen ist eine [[Kloake (Biologie)|Kloake]] am Körperende ausgebildet, die [[Samenleiter]], [[Rektum]] und den Spicularapparat umfasst. Letzterer stellt das taxontypische Begattungsorgan dar und besteht aus paarigen, verhärteten, hakenförmigen Spicula (Singular: '''Spiculum'''), die in einer Tasche der Cuticula liegen und durch eine Führungsstruktur (Gubernaculum) in der Bewegung geleitet werden. Selten ist durch Reduktion oder Fusion nur ein Spiculum vorhanden. Die Spicula dienen nicht zum Samentransport, sondern verhaken das Männchen beim Begattungsakt in der Vulva des Weibchens, so dass die Spermien direkt aus dem Samenleiter übertragen werden können.<ref>{{Literatur |Autor=Estelle V. Balian |Titel=Freshwater Animal Diversity Assessment |Verlag=Springer |Datum=2008 |ISBN=978-1-4020-8258-0 |Seiten=68–69}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Peter Ax |Titel=Multicellular Animals: Order in Nature – System Made by Man: 3 |Verlag=Springer |Ort=Berlin |Datum=2003 |ISBN=978-3-540-00146-1 |Seiten=19–20}}</ref><br />
<br />
== Physiologie ==<br />
=== Ernährung ===<br />
Die Nahrung ist unterschiedlich und reicht bei freilebenden Arten von Bakterien und Algen über Pilze, Aas und Fäkalien bis hin zu räuberisch erbeuteten Tieren. Am Mund befinden sich oft kleine Fortsätze, die zur Nahrungsaufnahme oder zum Tasten benutzt werden. Dort wird die Nahrung hineingezogen und durch starke Muskeln zerquetscht. Die Nahrung gelangt dann von dort in einen einfachen langen Darmraum, wo sie bearbeitet und verdaut wird. Nematoden besitzen kein [[Gefäßsystem]], mit dem sie die Nahrungsbestandteile im Körper verteilen könnten. Stattdessen werden die Nährstoffe im Darmraum verarbeitet und von dort direkt durch die Wände zu den Körperzellen geleitet, wo sie gebraucht werden.<br />
<br />
Im Darm können auch [[Symbiose|endosymbiotische]] [[Mikroorganismus|Mikroorganismen]] ([[Bakterien]] und [[Pilze]]) vorkommen, die bei der Aufspaltung von bestimmten Nahrungsbestandteilen benötigt werden, z.&nbsp;B. für den [[Katabolismus|Abbau]] von [[Cellulose]]. Daneben wurde bei wenigen Arten wie ''Bursaphelenchus xylophilus'' und der in Käfern lebenden ''[[Pristionchus pacificus]]'' [[endogen]]e [[Cellulase]]n nachgewiesen.<ref>{{cite web| title = Käfer-Parasit mit ungewöhnlichen Genen: Genom des Fadenwurms Pristionchus pacificus entschlüsselt| publisher = g-o.de| accessdate = 2012-07-01| date = 2008-09-22| url = http://www.g-o.de/wissen-aktuell-8854-2008-09-22.html}}</ref> Für den Ursprung ihrer Cellulasegene wurde ein [[horizontaler Gentransfer]], ausgehend von ihren Endosymbionten, verlautbart.<ref>John T. Jones, Cleber Furlanetto, Taisei Kikuchi: '' Horizontal gene transfer from bacteria and fungi as a driving force in the evolution of plant parasitism in nematodes.'' Nematology. Bd.&nbsp;7, Nr.&nbsp;5, 2005, S.&nbsp;641–646, [[doi:10.1163/156854105775142919]].</ref><ref>Werner E. Mayer, Lisa N. Schuster, Gabi Bartelmes, Christoph Dieterich, Ralf J. Sommer: ''Horizontal gene transfer of microbial cellulases into nematode genomes is associated with functional assimilation and gene turnover.'' BMC Evolutionary Biology. Bd.&nbsp;11, Nr.&nbsp;1, 2011, S. 13, [[doi:10.1186/1471-2148-11-13]].</ref><br />
<br />
=== Atmung ===<br />
Die Sauerstoffaufnahme funktioniert ähnlich der Verdauung. Da die Nematoden keine [[Atmungsorgane]] und kein Gefäßsystem besitzen, wird der [[Sauerstoff]] durch die Haut aufgenommen und diffundiert direkt zu den Körperzellen.<br />
<br />
=== Fortpflanzung ===<br />
Die [[Fortpflanzung]] erfolgt sexuell, meist mit zwei getrennten Geschlechtern. Die Männchen sind typischerweise kleiner als die Weibchen und haben oft einen charakteristisch gebogenen Schwanz. Allerdings sind auch selbstbefruchtende Hermaphroditen, wie zum Beispiel ''[[Caenorhabditis elegans]]'', keine Seltenheit.<ref>Bei ''Steinernema longicaudum'' entwickelt das Männchen erst dann einen reifen Geschlechtsapparat und Spermien, wenn ein Weibchen in der Nähe ist, vgl. L. Ebssa, I. Dix, C. Griffin in Current Biology, Bd. 18, Heft 21, Seiten R997–R998</ref> Parasitische Arten haben oft einen recht komplizierten Lebens- und Fortpflanzungszyklus mit [[Generationswechsel]], der mit Wirtswechsel oder Organwechsel im Wirt einhergehen kann.<br />
<br />
=== Häutung ===<br />
Die Nematoden häuten sich und werden deshalb, sowie aufgrund von [[Ribonukleinsäure|RNA]]-Untersuchungen innerhalb der Urmünder (Protostomia) zu den [[Häutungstiere]]n (Ecdysozoa) gerechnet. Bei freilebenden Arten erfolgt die Entwicklung meist direkt mit vier Häutungen im Verlauf des Wachstums.<br />
<br />
== Lebensräume ==<br />
Nematoden kommen fast überall vor, im [[Meer]], im [[Süßwasser]] und in terrestrischen Ökosystemen. Sie gelten allgemein als „häufig und omnipräsent“<ref>Gregor W. Yeates, Howard Ferris, Tom Moens, Wim H. Van der Putten: The Role of Nematodes in Ecosystems. S.&nbsp;1–44 in: Michale J. Wilson, Thomas Kakouli-Duarte (Hrsg.): ''Nematodes as environmental indicators.'' CAB International, 2009, ISBN 978-1-84593-385-2</ref> und sind oft mit mehr Arten und Individuen in einem Ökosystem vertreten als alle anderen Gruppen [[Vielzellige Tiere|vielzelliger Tiere]] (Metazoa). Sehr bedeutend sind sie in den [[Boden (Bodenkunde)|Böden]], wo sie mehrere der unteren [[Trophisches Niveau|trophischen Niveaus]] belegen. Des Weiteren haben Nematoden auch extreme Lebensräume besiedelt. Die Art ''[[Halicephalobus mephisto]]'' wurde in Südafrika in Kluftwässern in Tiefen von bis zu 3,6&nbsp;Kilometern gefunden und ist damit das am tiefsten in der [[Erdkruste]] lebende vielzellige Tier.<ref>G. Borgonie, A. García-Moyano, D. Litthauer, W. Bert, A. Bester, E. van Heerden, C. Möller, M. Erasmus, T. C. Onstott: ''Nematoda from the terrestrial deep subsurface of South Africa.'' In. Nature. Bd.&nbsp;474, Nr.&nbsp;7349, S.&nbsp;79–82, [[doi:10.1038/nature09974]]; siehe dazu auch Dave Mosher: [https://news.nationalgeographic.com/news/2011/06/110601-deepest-worm-earth-devil-science-animals-life/ ''New "Devil Worm" Is Deepest-Living Animal.''] In: ''National Geographic News'', 2. Juni 2011</ref> Andere bevölkern die Böden der [[Antarktische Trockentäler|McMurdo Dry Valleys]] in der [[Antarktis]], wo sie extrem widrige Bedingungen, unter denen durch das Zusammenspiel von extremer Kälte, Salinität und Trockenheit faktisch kein [[Bodenwasser]] verfügbar ist, durch Eintreten in ein Ruhestadium (Anhydrobiose) überleben können.<ref>Amy M. Treonis, Diana H. Wall, Ross A. Virginia: ''The use of anhydrobiosis by soil nematodes in the Antarctic Dry Valleys.'' In: ''Functional Ecology.'' Bd.&nbsp;14, Nr.&nbsp;4, 2000, S.&nbsp;460–467, {{DOI|10.1046/j.1365-2435.2000.00442.x}}.</ref><ref>Amy M. Treonis, Diana H. Wall: ''Soil nematodes and desiccation survival in the extreme arid environment of the Antarctic Dry Valleys.'' In: ''Integrative and Comparative Biology.'' Bd.&nbsp;45, Nr.&nbsp;5, 2005, S.&nbsp;741–750, {{DOI|10.1093/icb/45.5.741}}.</ref> Es gibt auch eine erhebliche Anzahl [[parasit]]ischer Arten, sowohl in Pflanzen (siehe etwa [[Rübenälchen]]) als auch in Tieren, einschließlich des Menschen. Zu den Nematoden, die den Menschen parasitieren und in seinem Darm leben gehören zum Beispiel der [[Spulwurm]] (''Ascaris lumbricoides''), der [[Peitschenwurm]] (''Trichuris trichiura''), der [[Medinawurm]] (''Dracunculus medinensis''), der [[Madenwurm]] (''Enterobius vermicularis'') und der [[Zwergfadenwurm]] (''Strongyloides stercoralis''), wohingegen die [[Filarien]] ''[[Wuchereria bancrofti]]'', ''[[Brugia malayi]]'' und ''[[Loa loa]]'' in den [[Lymphgefäßsystem|Lymphgefäßen]] bzw. im [[Unterhautfettgewebe]] leben.<br />
<br />
Die meisten freilebenden Nematoden sind mikroskopisch klein und gehören zur [[Meiofauna]]. Lediglich Parasiten wie der [[Pferdespulwurm]] und das oben erwähnte ''Placentonema gigantissimum'' können mehrere Meter lang werden.<br />
<br />
== Infektionswege und -strategien parasitischer Arten ==<br />
[[Datei:Hookworm LifeCycle.gif|mini|Lebenszyklus von ''Ancylostoma duodenale'']]<br />
Die [[Infektion]] bzw. [[Infestation]] von als [[Endwirt]] dienenden Säugetieren, einschließlich des Menschen, geschieht z.&nbsp;B. durch den Verzehr von rohem Fleisch, in dem sich bereits Larven (z.&nbsp;B. [[Trichine]]n) befinden, oder infolge der Aufnahme von Wurmeiern durch das Fressen von Kot (beispielsweise bei Hunden). Auch aufgrund mangelnder Hygiene fäkal (mit Wurmeiern) verunreinigte Lebensmittel (Düngung von Nahrungspflanzen mit [[Gülle]], kein Händewaschen nach Stuhlgang) können bei der Übertragung eine Rolle spielen. Bei mehreren Arten kann die Infektion aber auch durch aktives Eindringen von (filariformen) Larven durch die Haut geschehen (Hakenwürmer, z.&nbsp;B. ''[[Ancylostoma duodenale]]'' oder ''[[Necator americanus]]''). Vertreter der [[Filarien]] wie ''[[Onchocerca volvulus]]'', der Erreger der [[Flussblindheit]], verbreiten sich in der Regel durch Insektenstiche.<br />
<br />
Einige parasitische Nematodenarten sind im Hinblick auf ihren Lebens- und Fortpflanzungszyklus, wie auch parasitische Vertreter anderer Großgruppen von Wirbellosen oder Einzellern (vgl. u.&nbsp;a. →&nbsp;[[Toxoplasmose#Verhaltensänderungen / Persönlichkeitsveränderungen|Verhaltensänderungen durch Toxoplasmose]]), in der Lage, das Verhalten und teils auch das äußere Erscheinungsbild ihrer Wirte zu manipulieren. Ein besonders komplexes Beispiel bietet ''[[Myrmeconema neotropicum]]''.<ref>George. O. Poinar, Jr., Stephen P. Yanoviak: Myrmeconema neotropicum ''n. g., n. sp., a new tetradonematid nematode parasitising South American populations of ''Cephalotes atratus'' (Hymenoptera: Formicidae), with the discovery of an apparent parasite-induced host morph.'' In: ''Systematic Parasitology.'' Bd.&nbsp;69, Nr.&nbsp;2, 2008, S.&nbsp;145–153, [[doi:10.1007/s11230-007-9125-3]].</ref> Dieser Vertreter bewirkt, dass sich der mit seinen Eiern gefüllte [[Gaster (Hautflügler)|Gaster]] der als [[Zwischenwirt]] dienenden Ameisenart ''[[Cephalotus atratus]]'' von schwarz zu kräftig rot verfärbt. Die betroffenen Ameisen, die im Vergleich zu ihren nicht-infizierten Artgenossen bei Bedrängung faktisch kein aggressives Abwehrverhalten zeigen und keine Alarmpheromone produzieren, recken permanent den roten Hinterleib in die Höhe. Dies soll wahrscheinlich fruchtfressende, als Endwirt dienende Vögel anlocken und zur Aufnahme des sich leicht vom Rest des Körpers ablösbaren Gasters animieren.<ref>Stephen P. Yanoviak, Michael E. Kaspari, Robert Dudley, George O. Poinar, Jr.: ''Parasite-Induced Fruit Mimicry in a Tropical Canopy Ant.'' In: ''American Naturalist.'' Bd.&nbsp;171, Nr.&nbsp;4, 2008, S.&nbsp;536–544, [[doi:10.1086/528968]].</ref><br />
<br />
Der Kiefernholznematode ''[[Bursaphelenchus xylophilus]]'', ein in Deutschland und der Schweiz meldepflichtiger [[Quarantäneschaderreger]], nutzt für seine Verbreitung [[Bockkäfer]] der Gattung ''[[Monochamus]]'' („Handwerkerböcke“) als [[Phoresie|Transportwirt]].<ref>Ute Schönfeld: ''Der Kiefernholznematode (''Bursaphelenchus xylophilus'').'' Pflanzenschutzinformation: Pflanzengesundheitskontrolle 54/2015. Pflanzenschutzdienst des Landes Brandenburg, Landesamt für Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft und Flurneuordnung, Frankfurt (Oder) 2015 ([https://www.isip.de/isip/servlet/resource/blob/187254/4f59c0c74a7c80572e282f3dfc50ea90/2015-54-pgk-data.pdf PDF] 452&nbsp;kB)</ref><ref>Therese Plüss, Simone Prospero, Thomas Röthlisberger, Bea Schwarzwälder, Christiane Lellig (Red.): ''Leitfaden zum Umgang mit dem Kiefernholznematoden (''Bursaphelenchus xylophilus'').'' Eidgenössischer Pflanzenschutzdienst, Bundesamt für Umwelt, Bundesamt für Landwirtschaft, Bern 2015 ([https://www.bafu.admin.ch/dam/bafu/de/dokumente/wald-holz/uv-umwelt-vollzug/leitfaden_zum_umgangmitdemkiefernholznematoden.pdf.download.pdf/leitfaden_zum_umgangmitdemkiefernholznematoden.pdf PDF] 1,44&nbsp;MB)</ref><br />
<br />
== Taxonomie ==<br />
[[Datei:Wuchereria bancrofti 1 DPDX.JPG|mini|''Wuchereria bancrofti'']]<br />
Die Nematoden wurden ursprünglich von [[Nathan Cobb]] im Jahr [[1919]] als Stamm Nemata eingeführt, später als Klasse Nematoda in einem nicht mehr gültigen Stamm Aschelminthes klassifiziert. Hier werden die Fadenwürmer als eigener Stamm geführt.<br />
<br />
* Klasse [[Adenophorea]]<br />
** Unterklasse [[Enoplia]]<br />
** Unterklasse [[Chromadoria]]<br />
* Klasse [[Secernentea]]<br />
** Unterklasse [[Rhabditia]]<br />
** Unterklasse [[Spiruria]]<br />
** Unterklasse [[Diplogasteria]]<br />
<br />
== Fossile Belege ==<br />
[[Datei:Linepithema sp. with Heydenius myrmecophila.jpg|mini|''Heydenius myrmecophila'' links neben seinem Wirt, einer Ameise der Gattung ''[[Linepithema]]'', beide eingeschlossen in [[Dominikanischer Bernstein|Dominikanischem Bernstein]] (Oligozän-Frühes Miozän)]]<br />
Nematoden besitzen keine über [[Geologische Zeitskala|geologische Zeiträume]] hinweg gut erhaltungsfähigen und relativ leicht in [[Sedimente und Sedimentgesteine|Sedimentgestein]] identifizierbare Körperteile. Deshalb ist ihr [[Fossilbericht]] im Verhältnis zu ihrer weiten [[rezent]]en Verbreitung und Vielfalt sehr lückenhaft und geringumfänglich und beschränkt sich auf ganz bestimmte Erhaltungsformen oder sedimentäre [[Fazies]].<ref name="poinar_2015">George O. Poinar, jr.: ''The Geological Record of Parasitic Nematode Evolution.'' S.&nbsp;53-92 in: Kenneth De Baets, D. Timothy J. Littlewood (Hrsg.): ''Fossil Parasites.'' Advances in Parasitology, Bd.&nbsp;90, Elsevier, 2015, [[doi:10.1016/bs.apar.2015.03.002]]</ref><ref name="balinski_2013">Andrzej Baliński, Yuanlin Sun, Jerzy Dzik: ''Traces of marine nematodes from 470 million years old Early Ordovician rocks in China.'' In: ''Nematology.'' Bd.&nbsp;15, Nr.&nbsp;5, 2013, S.&nbsp;567–474, [[doi:10.1163/15685411-00002702]].</ref><br />
<br />
Die meisten und am besten erhaltenen Nematoden-Fossilien wurden in [[Bernstein]] der [[Kreide (Geologie)|Kreidezeit]] und des [[Tertiär]]s gefunden, wobei die ältesten dieser Exemplare aus der [[Unterkreide]] des [[Libanon]] kommen.<ref name="poinar_2015" /><ref>George O. Poinar, jr., Aftim Acra, Fadi Acra: ''Earlist fossil nematode (Mermithidae) in cretaceous<!-- sic! --> Lebanese amber.'' In: ''Fundamental and Applied Nematology.'' Bd.&nbsp;17, Nr.&nbsp;5, 1994, S.&nbsp;475–477.</ref><ref>für einen Überblick über die Funde speziell im [[eozän]]en baltischen Bernstein siehe Wolfgang Weitschat, Wilfried Wichard: ''Atlas der Pflanzen und Tiere im Baltischen Bernstein.'' Pfeil, München 1998, ISBN 978-3-931516-45-1, S.&nbsp;54&nbsp;ff.</ref> Die ältesten direkten Fossilbelege ([[Körperfossil]]ien) entstammen dem berühmten [[Rhynie Chert]] des [[Unterdevon]]s von Schottland und sind zugleich auch die ältesten direkten Belege für parasitische Nematoden. Sie bestehen aus Eiern, Juvenilstadien und ausgewachsenen Individuen, die im [[Stoma (Botanik)|substomatären Hohlraum („Atemhöhle“)]] der frühen Landpflanze ''[[Aglaophyton major]]'' entdeckt und 2008 unter dem Namen ''Palaeonema phyticum'' beschrieben wurden.<ref name="poinar_2015" /> Als [[Spurenfossilien]] freilebender mariner, infaunaler Nematoden gedeutete Sedimentstrukturen wurden aus [[Tonstein]]en des [[Unterordovizium]]s der [[Hubei|Hubei-Provinz]] Chinas beschrieben.<ref name="balinski_2013" /><br />
<br />
Im [[Kolyma-Tiefland]] in Sibirien wurden Nematoden gefunden, die über etwa 42.000 bzw. 32.000 Jahre hinweg im [[Permafrost]]boden konserviert waren. Trotz der Tatsache, dass sie seit dem [[Jungpleistozän]] eingefroren waren, sollen zwei Exemplare dieser Würmer, die als ''Panagrolaimus'' aff. ''detritophagus'' und ''Plectus'' aff. ''parvus'' identifiziert wurden, erfolgreich wiederbelebt worden sein.<ref>A. V. Shatilovich, A. V. Tchesunov, T. V. Neretina, I. P. Grabarnik, S. V. Gubin, T. A. Vishnivetskaya, T. C. Onstott, E. M. Rivkina: ''Viable Nematodes from Late Pleistocene Permafrost of the Kolyma River Lowland.'' In: ''Doklady Biological Sciences.'' Bd.&nbsp;480, Nr.&nbsp;1, 2018, S.&nbsp;100–102, [[doi:10.1134/S0012496618030079]].</ref><br />
<br />
== Nematodenbekämpfung ==<br />
Viele Nematodenarten sind Schädlinge in der Landwirtschaft und im Gartenbau, da sie durch ihr Eindringen in die Wurzelsysteme den Pflanzenstoffwechsel stark beeinträchtigen können. Gegen einen Nematodenbefall kommen verschiedene chemische Substanzen, die sogenannten [[Nematizid]]e, sowie alternativ auch biologische Bekämpfungsmethoden, wie die Bepflanzung der befallenen Ackerflächen mit speziellen Nutzpflanzen (zum Beispiel resistenter [[Ölrettich]], [[Tagetes]] und [[Senfe|Senf]]), sowie thermische Verfahren, wie das [[Dämpfen (Bodendesinfektion)]] mit [[Heißdampf]] zur [[Bodenentseuchung]] zum Einsatz.<br />
<br />
== Nutzung und Forschung ==<br />
Die Art ''[[Caenorhabditis elegans]]'' ist aufgrund ihrer einfachen Haltung und der [[Zellkonstanz]] (Eutelie) zu einem beliebten Versuchstier der [[Genetik]]er geworden und fungiert als [[Modellorganismus]]. <!--Das Erbgut des Fadenwurms ist zu 75 Prozent identisch mit dem des Menschen. (Hier fehlt die Angabe, welche Art gemeint ist.--><br />
Der Nematode ''[[Pristionchus pacificus]]'' wurde als [[Satellitenorganismus]] zu ''Caenorhabditis elegans'' etabliert. Durch den Vergleich dieser beiden Arten kann erforscht werden, wie sich Entwicklungsprozesse – der Übergang vom Ei zum erwachsenen Organismus – im Laufe der Evolution verändern.<br />
Außerdem werden Nematoden vermehrt als [[Nützling]]e gegen [[Schnecken]], [[Dickmaulrüssler]] und andere Pflanzenschädlinge verwendet.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Fadenwurminfektionen des Hundes]]<br />
* [[Wurminfektionen der Katze]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Richard A. Sikora, Ralf-Peter Schuster: ''Handbuch der Phytonematologie''. Berichte aus der Agrarwissenschaft. Shaker, Aachen 2000, 91 S., ISBN 3-8265-6978-4<br />
* Johannes Hallmann: ''Biologische Bekämpfung pflanzenparasitärer Nematoden mit antagonistischen Bakterien''. Mitteilungen aus der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft Berlin-Dahlem, Heft 392. Dissertation. Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Berlin und Braunschweig 2003, 128 S.<br />
* [[Asmus Dowe]]: ''Räuberische Pilze und andere pilzliche Nematodenfeinde.'' 2., neu bearbeitete Auflage. (= ''Die Neue Brehm-Bücherei.'' Band 449). A. Ziemsen Verlag, Wittenberg Lutherstadt 1987, ISBN 3-7403-0042-6, 156 S.<br />
* Susanne L. Kerstan: ''Der Befall von Fischen aus dem Wattenmeer und dem Nordatlantik 1988–1990 mit Nematodenlarven und eine Bibliographie über parasitische Nematoden in Fischen und Seesäugern.'' Berichte aus dem [[Institut für Meereskunde Kiel|Institut für Meereskunde]] an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Nr. 219. Dissertation. Institut für Meereskunde, Abteilung Fischereibiologie, Kiel 1992, 205 S., [[doi:10.3289/ifm_ber_219]]<!-- CC-BY 2.5 ! --><br />
* Andreas Overhoff: ''Einfluss von Bewirtschaftungssystem und Bodenbearbeitung auf die Populationsdichte von Nematoden. Mit besonderer Berücksichtigung antagonistischer Wirkung von Regenwürmern und nematophagen Pilzen.'' Dissertation. Wissenschaftlicher Fachverlag, Gießen 1990, ISBN 3-925834-87-7, 198 S.<br />
* Jörn Alphei: ''Die freilebenden Nematoden von Buchenwäldern mit unterschiedlicher Humusform. Struktur der Gemeinschaften und Funktion in der Rhizosphäre der Krautvegetation.'' Berichte des Forschungszentrums Waldökosysteme. Reihe A, Band 125. Dissertation. Forschungszentrum Waldökosysteme der Universität Göttingen, Göttingen 1995, 165 S.<br />
* Katrin Goralczyk: ''Küstendünen als Lebensraum für Nematoden.'' Forschen und Wissen – Umweltwissenschaft. Dissertation. GCA-Verlag, Herdecke 2002, ISBN 3-89863-095-1.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Nematoda|Fadenwürmer (Nematoda)}}<br />
* [http://nematode.net/NN3_frontpage.cgi/ Nematode.net] – Nematoden-Systematik<br />
* [http://nematode.unl.edu/ Plant and Insect Parasitic Nematodes (engl.)] – Seite der Universität Nebraska (Abgerufen am 20. Oktober 2009)<br />
* [http://www.pristionchus.org/mediawiki/ ''Pristionchus pacificus''] die Wikionchus-Seite des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie<br />
* [http://progemuese.eu/ ProGemüse] – Deutsch-Niederländisches EU-Projekt zur Nematodenproblematik im Gemüseanbau<br />
* [http://www.eb.tuebingen.mpg.de/ Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie]<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4128872-5}}<br />
<br />
[[Kategorie:Fadenwürmer| ]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=PH-Wert&diff=198240013PH-Wert2020-03-29T19:24:00Z<p>Udo.bellack: separater Abschnitt für Trinkwasser</p>
<hr />
<div>{{SEITENTITEL:pH-Wert}}<br />
[[Datei:PHscalenolang.svg|mini|hochkant=1.25|Typisches Schulbuchdiagramm für pH-Skala mit abgeschlossenen Achsen<br /><small>(rot: saurer Bereich; blau: basischer Bereich)</small>]]<br />
<br />
Der '''pH-Wert''' ist ein Maß für den [[Säuren|sauren]] oder [[Basen (Chemie)|basischen]] Charakter einer [[Wässrige Lösung|wässrigen Lösung]]. Er ist die [[Gegenzahl]] des [[Dekadischer Logarithmus|dekadischen Logarithmus]] (Zehnerlogarithmus) der [[Proton (Chemie)|Wasserstoffionen]]-[[Aktivität (Chemie)|Aktivität]]<ref name="ÖNORM M 6201">ÖNORM M 6201-2006 – pH-Messung – Begriffe</ref> und eine [[Dimensionslose Größe|dimensionslose Zahl]].<br />
<br />
Es gilt<br />
:<math>\mathrm{pH} = - \log_{10} a\left(\mathrm H^+\right)\ </math> &nbsp;beziehungsweise&nbsp; <math>a\left(\mathrm H^+\right) = 10^{-\mathrm{pH}}\ </math><br />
<br />
Bei verdünnten Lösungen entspricht der pH-Wert ''in Näherung'' der Gegenzahl des dekadischen Logarithmus des Zahlenwertes der [[Stoffmengenkonzentration]] ''c'' der [[Oxonium]]ionen (H<sub>3</sub>O<sup>+</sup>) in [[mol]] pro Liter (mit c° = 1 mol pro Liter):<br />
<br />
:<math>\mathrm{pH} = - \log_{10} \left( \frac{c\mathrm{(H_3O^+)}} {c^o} \right)</math> &nbsp;beziehungsweise&nbsp; <math>c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = 10^{-\mathrm{pH}} \cdot c^o</math><br />
<br />
== Definition ==<br />
=== Forschungsgeschichte ===<br />
Der dänische Chemiker [[Søren Sørensen]] führte im Jahr 1909 den ''Wasserstoffionenexponenten'' in der Schreibweise p<sub>H<sup>+</sup></sub> für die Konzentration von Wasserstoffionen ''C''<sub>p</sub> gleich 10<sup>−p<sub>H<sup>+</sup></sub></sup> ein.<ref name="SörD">S. P. L. Sörensen: ''Über die Messung und die Bedeutung der Wasserstoffionenkonzentration bei enzymatischen Prozessen.'' In: '' Biochem. Zeitschr.'' 21, 1909, S. 131–304.</ref> Die p<sub>H<sup>+</sup></sub>-Werte wurden über [[elektrometrisch]]e Messungen bestimmt. Die Schreibweise p<sub>H<sup>+</sup></sub> ging später in die heutige Schreibweise pH über. Der Buchstabe H wurde von Sørensen als Symbol für Wasserstoffionen verwendet, den Buchstaben p wählte er willkürlich als Index für seine zu messenden Lösungen (z.&nbsp;B. ''C''<sub>p</sub>) und q als Index für seine Referenzlösungen (z.&nbsp;B. ''C''<sub>q</sub>) aus.<ref name="Norby">Jens G. Nørby: ''The origin and the meaning of the little p in pH.'' In: ''[[Trends in Biochemical Sciences]].'' 25, 2000, S. 36–37.</ref><br />
<br />
Dem Buchstaben p in pH wurde später die Bedeutung ''Potenz''<ref name="Norby" /><ref>''Pschyrembel Klinisches Wörterbuch.'' 258. Auflage. de Gruyter, Berlin 1998.</ref> zugeordnet oder aus dem Neulateinischen von '''''p'''otentia'' '''''H'''ydrogenii''&nbsp;<ref name="DudW">''Duden – Deutsches Universalwörterbuch.'' 4. Auflage. Duden, Mannheim 2001.</ref> oder auch von '''''p'''ondus'' '''''H'''ydrogenii''&nbsp;<ref name="JanderJahr">Gerhard Schulze, Jürgen Simon: ''Jander·Jahr Maßanalyse.'' 17. Auflage. de Gruyter, Berlin 2009, S.&nbsp;77.</ref> ({{laS|''pondus''}} „Gewicht“; ''potentia'' „[[Kraft]]“; ''Hydrogenium'' „[[Wasserstoff]]“) abgeleitet.<br />
<br />
Später wurde die Wasserstoffionen-Aktivität im Zusammenhang mit einer ''konventionellen p''H''-Skala'' eingeführt. Sie basiert auf einem festgelegten Messverfahren mit festgelegten Standardlösungen, woraus eine operationelle Definition des pH-Werts festgeschrieben wurde.<ref name="GoldBook" /> Diese Definition dient der möglichst hohen Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit von pH-[[Messung]]en.<br />
<br />
Von Wasserstoffionen (H<sup>+</sup>) oder Wasserstoffionenexponent zu sprechen geht auf das [[Säure-Base-Konzepte#Definition nach Arrhenius|Säure-Base-Konzept nach Arrhenius]] zurück. Heute wird in der Regel dem [[Säure-Base-Konzepte#Definition nach Brønsted und Lowry|Säure-Base-Konzept nach Brønsted]] gefolgt und von Oxoniumionen (H<sub>3</sub>O<sup>+</sup>) gesprochen,<ref name="JanderJahr" /> einem Ion, das sich aus einem Wassermolekül durch Reaktion mit einem [[Protonendonator]] gebildet und dabei selbst als [[Protonenakzeptor]] reagiert hat.<br />
<br />
=== pH-Wert ===<br />
Der pH-Wert ist definiert als die Gegenzahl des dekadischen Logarithmus<ref name="GoldBook">{{Gold Book|pH|P04524|Version=2.3.3}}</ref><ref name="ÖNORM M 6201" /> (= ''Zehnerlogarithmus'') der Wasserstoff[[ion]]en-Aktivität.<br />
<br />
:<math>\mathrm{pH} = - \log_{10} a\left(\mathrm H^+\right)</math><br />
<br />
Die dimensionslose, [[Aktivität (Chemie)|relative Aktivität]] des Wasserstoffions a<sub>H<sup>+</sup></sub> ist das Produkt der [[Molalität]] des Wasserstoffions (m<sub>H<sup>+</sup></sub> in mol/kg) und des Aktivitätskoeffizienten des Wasserstoffions (γ<sub>H</sub>) geteilt durch die Einheit der Molalität (m<sup>0</sup> in mol/kg).<br />
<br />
Zur Vereinfachung der Formeln wird in der Regel das H<sup>+</sup> (Wasserstoffion) für die Definition des pH verwendet. In der Realität existieren diese Wasserstoffionen (freie Protonen) aber nur in assoziierter Form. Im Wasser bildet sich in erster Stufe das Oxoniumion H<sub>3</sub>O<sup>+</sup>, welches wiederum noch weitere Wassermoleküle anlagert. Das hydratisierte Oxoniumion wird als [[Hydroniumion]] (H<sub>9</sub>O<sub>4</sub><sup>+</sup>) bezeichnet.<br />
<br />
Die exakte Definition des pH-Wertes wird bei einfachen Berechnungen jedoch selten verwendet. Vielmehr begnügt man sich aus Gründen der Vereinfachung mit der Näherung, dass die Oxoniumaktivität für verdünnte Lösungen gleich der [[Physikalische Größe|Maßzahl]] der Oxoniumionen-Konzentration (in mol/dm³ bzw. mol/l) gesetzt wird:<br />
<br />
:<math>\mathrm{pH} = - \log_{10} a\left(\mathrm H^+\right) \approx - \log_{10} \left( \frac{c \left(\mathrm{ H_3O^+} \right)}{c^o}\right)</math>.<br />
<br />
Man beachte auch, dass eigentlich die Einzelionenaktivität des Wasserstoffions bekannt sein müsste, um den pH-Wert exakt nach Definition zu bestimmen. Allerdings ist es umstritten, ob Einzelionenaktivitäten bestimmt werden können<ref>{{Literatur |Autor=Alan L. Rockwood |Titel=Meaning and Measurability of Single-Ion Activities, the Thermodynamic Foundations of pH, and the Gibbs Free Energy for the Transfer of Ions between Dissimilar Materials |Sammelwerk=ChemPhysChem |Band=16 |Nummer=9 |Datum=2015 |ISSN=1439-7641 |DOI=10.1002/cphc.201500044 |PMID=25919971 |Seiten=1978–1991 |Online=https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/cphc.201500044 |Abruf=2018-12-17}}</ref>.<br />
<br />
=== pOH-Wert ===<br />
Analog zum pH-Wert wurde auch ein pOH-Wert definiert. Es ist die Gegenzahl des dekadischen Logarithmus der Maßzahl der [[Hydroxidion]]en-Aktivität (in mol/dm³ bzw. mol/l).<br />
<br />
Beide Werte hängen über das [[Autoprotolyse]]gleichgewicht zusammen:<br />
<br />
Chemische [[Reaktionsgleichung]]:<br />
:<math>\mathrm{2\ H_2O\ \rightleftharpoons\ H_3O^+\ +\ OH^-}</math><br />
<br />
Gleichgewichtskonstante der [[Chemische Reaktion|Reaktion]]:<br />
:<math>K_\mathrm w = \frac{a\left(\mathrm{H_3O^+}\right) \cdot a\left(\mathrm{OH^-}\right)}{a^2\left(\mathrm{H_2O}\right)}</math><br />
:<math>-\log_{10} K_\mathrm w = -\log_{10} a\left(\mathrm{H_3O^+}\right) - \log_{10} a\left(\mathrm{OH^-}\right) + \log_{10} a^2\left(\mathrm{H_2O}\right) = \mathrm{pH} + \mathrm{pOH}</math><br />
<br />
Die Aktivität des Wassers als Lösemittel für verdünnte Systeme ist insbesondere bei θ = 25&nbsp;°C (Standardbedingung) gleich eins. Damit ist der Logarithmus der Aktivität von Wasser gleich null. Die [[Gleichgewichtskonstante]] ist unter normalen Bedingungen K<sub>w</sub> = 10<sup>−14</sup>. Damit ist der Zusammenhang zwischen pH und pOH einer verdünnten Lösung bei Raumtemperatur in guter Näherung:<br />
:<math>\mathrm{pH} + \mathrm{pOH} = 14</math><br />
<br />
Weitere Erläuterungen finden sich im Artikel [[Oxonium]] und [[Autoprotolyse]].<br />
<br />
=== Der pH-Wert bei anderen Lösungsmitteln ===<br />
Eine Maßzahl vergleichbar dem „pH-Wert“ ist auch für andere [[Ampholyt|''amphiprotische'']] Lösungsmittel LH definiert, die [[Proton (Chemie)|Protonen]] übertragen können. Auch diese beruhen auf der Autoprotolyse des jeweiligen Lösungsmittels. Die allgemeine Reaktion lautet:<br />
<br />
: 2 LH <math>\leftrightharpoons</math> LH<sub>2</sub><sup>+</sup> + L<sup>−</sup>,<br />
<br />
mit dem Lyonium-Ion LH<sub>2</sub><sup>+</sup> und dem Lyat-Ion L<sup>−</sup>.<br />
<br />
Die [[Gleichgewichtskonstante]] K ist hier im Allgemeinen kleiner als beim Ionenprodukt des Wassers. Der pH-Wert ist dann folgendermaßen definiert:<br />
<br />
:<math>\mathrm{pH}_p = -\log_{10} c\left(\mathrm{LH_2^{\,+}}\right)</math><br />
<br />
:{| class="wikitable"<br />
|-<br />
| colspan="2" align="center" class="hintergrundfarbe6" | Einige Beispiele für amphiprotische Lösungsmittel<br />
|-<br />
| wasserfreie [[Ameisensäure]]<br />
| 2 HCOOH <math>\leftrightharpoons</math> HCOOH<sub>2</sub><sup>+</sup> + HCOO<sup>−</sup><br />
|-<br />
| wasserfreies [[Ammoniak]]<br />
| 2 NH<sub>3</sub> <math>\leftrightharpoons</math> NH<sub>2</sub><sup>−</sup> + NH<sub>4</sub><sup>+</sup><br />
|-<br />
| wasserfreie [[Essigsäure]]<br />
| 2 CH<sub>3</sub>COOH <math>\leftrightharpoons</math> CH<sub>3</sub>COO<sup>−</sup> + CH<sub>3</sub>COOH<sub>2</sub><sup>+</sup><br />
|-<br />
| wasserfreies [[Ethanol]]<br />
| 2 C<sub>2</sub>H<sub>5</sub>OH <math>\leftrightharpoons</math> C<sub>2</sub>H<sub>5</sub>OH<sub>2</sub><sup>+</sup> + C<sub>2</sub>H<sub>5</sub>O<sup>−</sup><br />
|-<br />
|}<br />
<br />
=== Neutralwert und Einteilung ===<br />
<br />
{| class="wikitable float-right"<br />
|+ Durchschnittliche pH-Werte einiger gebräuchlicher Lösungen<br />
|- class="hintergundfarbe5"<br />
! Substanz || pH-Wert || Art<br />
|-<br />
| [[Batteriesäure]]<br />
|style="background-color: #CC0000; text-align: center"| < 1<br />
|style="text-align: center" rowspan="17"| sauer<br />
|-<br />
|style="background-color: #E9E9E9" | [[Magensäure]] (nüchterner Magen)<br />
|style="background-color: #EE0000; text-align: center"| 1,0 – 1,5<br />
|-<br />
| [[Zitrone]]nsaft<br />
|style="background-color: #FF3300; text-align: center"| 2,4<br />
|-<br />
| [[Cola]]<br />
|style="background-color: #FF6600; text-align: center"| 2,0 – 3,0<br />
|-<br />
| [[Essig]]<br />
|style="background-color: #FF9900; text-align: center"| 2,5 <!-- ca. 5% Essigsäure --><br />
|-<br />
| Fruchtsaft der [[Schattenmorelle]]<br />
|style="background-color: #FF9900; text-align: center"| 2,7<br />
|-<br />
| [[Orangensaft|Orangen-]] und [[Apfelsaft]]<br />
|style="background-color: #FFCC00; text-align: center"| 3,5<br />
|-<br />
| [[Wein]]<br />
|style="background-color: #FFDD00; text-align: center"| 4,0<br />
|-<br />
| Saure [[Milch]]<br />
|style="background-color: yellow; text-align: center"| 4,5<br />
|-<br />
| [[Bier]]<br />
|style="background-color: yellow; text-align: center"| 4,5 – 5,0<br />
|-<br />
| [[Saurer Regen]] (aus verschmutzter Luft)<br />
|style="background-color: yellow; text-align: center"| &lt; 5,0<br />
|-<br />
| [[Kaffee]]<br />
|style="background-color: yellow; text-align: center"| 5,0<br />
|-<br />
| [[Tee]]<br />
|style="background-color: #DDEE00; text-align: center"| 5,5<br />
|-<br />
|style="background-color: #E9E9E9" | [[Haut]]oberfläche des Menschen<br />
|style="background-color: #DDEE00; text-align: center"| 5,5<br />
|-<br />
| [[Regen]] (Niederschlag mit gelöstem CO<sub>2</sub>)<br />
|style="background-color: #DDEE00; text-align: center"| 5,6<br />
|-<br />
| [[Mineralwasser]]<br />
|style="background-color: #88BB33; text-align: center"| 6,0<br />
|-<br />
| [[Milch]]<br />
|style="background-color: #339933; text-align: center"| 6,5<br />
|-<br />
|style="background-color: #E9E9E9" | Menschlicher [[Speichel]]<br />
|style="background-color: green; text-align: center"| 6,5 – 7,4<br />
|style="text-align: center" | sauer bis alkalisch<br />
|-<br />
| Reines [[Wasser]] (CO<sub>2</sub>-frei)<br />
|style="background-color: grey; text-align: center"| 7,0<br />
|style="text-align: center" | neutral<br />
|-<br />
|style="background-color: #E9E9E9" | [[Blut]]<br />
|style="background-color: #009988; text-align: center"| 7,4<br />
|style="text-align: center" rowspan="8"| alkalisch<br />
|-<br />
| [[Meerwasser]]<br />
|style="background-color: #006699; text-align: center; color: #FFFFFF"| 7,5 – 8,4<br />
|-<br />
|style="background-color: #E9E9E9" | [[Pankreas]]saft ([[Bauchspeicheldrüse]])<br />
|style="background-color: #0066AA; text-align: center; color: #FFFFFF"| 8,3<br />
|-<br />
| [[Seife]]<br />
|style="background-color: #0000FF; text-align: center; color: #FFFFFF"| 9,0 – 10,0<br />
|-<br />
| Haushalts-[[Ammoniak]]<br />
|style="background-color: #0000FF; text-align: center; color: #FFFFFF"| 11,5<br />
|-<br />
| [[Bleichmittel]]<br />
|style="background-color: #0000CC; text-align: center; color: #FFFFFF"| 12,5<br />
|-<br />
| [[Beton]]<br />
|style="background-color: #0000CC; text-align: center; color: #FFFFFF"| 12,6<br />
|-<br />
| [[Natronlauge]]<br />
|style="background-color: #000099; text-align: center; color: #FFFFFF"| 13,5 – 14<br />
|-<br />
! colspan="3"| Legende<br />
|-<br />
| style="background-color: #E9E9E9" | grau hinterlegt<br />
| style="text-align:left" colspan="2" | Bestandteile des menschlichen Körpers<br />
|}<br />
<br />
Durch die [[Autoprotolyse]] ergibt sich das [[Ionenprodukt]] des [[Wasser]]s bei 25&nbsp;°C zu<br />
:<math>K_\mathrm w = \frac {c\left(\mathrm{H_3O^+}\right)}{ c^o } \cdot \frac {c\left(\mathrm{OH^-}\right)}{ c^o } = 10^{-14}</math><br />
Durch diese Größe wird die Skala und der neutrale Wert des pH-Wertes bestimmt. Die pH-Werte von verdünnten wässrigen Lösungen werden wie folgt qualifiziert:<br />
<br />
* pH < 7 als ''saure'' wässrige Lösung, hier ist ''c''<sub>H<sub>3</sub>O<sup>+</sup></sub> > ''c''<sub>OH<sup>−</sup></sub><br />
* pH = 7 als ''neutrale'' wässrige Lösung, hier ist ''c''<sub>H<sub>3</sub>O<sup>+</sup></sub> = ''c''<sub>OH<sup>−</sup></sub>; auch eine Eigenschaft von reinem Wasser<br />
* pH > 7 als ''basische'' (alkalische) wässrige Lösung, hier ist ''c''<sub>H<sub>3</sub>O<sup>+</sup></sub> < ''c''<sub>OH<sup>−</sup></sub><br />
<br />
== Chemisch-physikalische Zusammenhänge ==<br />
=== pH und Säuren und Basen ===<br />
Werden Säuren in Wasser gelöst, geben diese durch die [[Dissoziation (Chemie)|Dissoziation]] Wasserstoffionen an das Wasser ab, der pH-Wert der Lösung sinkt. Werden Basen gelöst, geben diese [[Hydroxidion]]en ab, die Wasserstoffionen aus der Dissoziation des Wassers binden. Sie können auch selbst Wasserstoffionen binden, wie es für Ammoniak → Ammonium gilt. Mithin erhöhen Basen den pH-Wert. Der pH-Wert ist ein Maß der Menge an Säuren und Basen in einer Lösung. Je nach Stärke dissoziiert die Säure oder Base zu einem mehr oder weniger großen Anteil und beeinflusst somit den pH-Wert unterschiedlich stark.<br />
<br />
In den meisten wässrigen Lösungen liegen die pH-Werte zwischen 0 (stark sauer) und 14 (stark alkalisch). Dennoch können schon in einmolaren Lösungen starker Säuren und Basen diese Grenzen um jeweils eine Einheit überschritten werden, also von −1 bis 15. Die pH-Skala wird nur begrenzt durch die Löslichkeiten von Säuren oder Basen in Wasser. Bei sehr hohen oder sehr niedrigen pH-Werten und in konzentrierten Salzlösungen sind nicht die Konzentrationen für den pH-Wert entscheidend, sondern die Aktivitäten der Ionen. Aktivitäten sind von den Ionenkonzentrationen nicht linear abhängig.<br />
<br />
Die meisten pH-Elektroden verhalten sich im Messbereich zwischen 0 und 14 annähernd linear. Annähernd konstante Unterschiede im gemessenen Elektrodenpotential entsprechen also gleichen Unterschieden im pH-Wert. Nach internationaler Konvention können pH-Werte nur in diesem Bereich direkt gemessen werden.<br />
<br />
Lösungen einer schwachen Säure und eines ihrer [[Salze]] oder einer schwachen Base und eines ihrer Salze ergeben [[Pufferlösung]]en. Hier stellen sich Gleichgewichte ein, die nahe dem mit −1 multiplizierten logarithmierten Wert ihrer [[Säurekonstante]]n bzw. [[Basenkonstante]]n nahezu gleiche pH-Werte ergeben. Der pH-Wert dieser Lösungen ändert sich in diesem Bereich bei Zugabe von starken Säuren oder Basen deutlich weniger als bei Zugabe der Säuren und Basen zu reinem, salzfreiem, „ungepuffertem“ Wasser. Diese Pufferlösungen besitzen eine bestimmte [[Pufferkapazität]], der Effekt besteht so lange, wie die Zugabemenge den Vorrat der verbrauchten Pufferkomponente nicht übersteigt.<br />
<br />
Reines Wasser nimmt [[Kohlenstoffdioxid]] aus der Luft auf, je nach Temperatur etwa 0,3 bis 1 mg/l. So bildet sich [[Kohlensäure]] (H<sub>2</sub>CO<sub>3</sub>), die zu [[Hydrogencarbonat]]- und Wasserstoffionen dissoziiert:<br />
:<math>\mathrm{CO_2 + H_2O \to H_2CO_3 \to HCO_3^- + H^+}</math><br />
Wird bei „chemisch reinem Wasser“ der Zutritt von Kohlenstoffdioxid nicht verhindert, stellt sich ein pH-Wert von knapp 5 ein. Eine starke Beeinflussung des pH-Werts von reinem, destilliertem oder entionisiertem Wasser mit einem rechnerischen pH-Wert nahe 7 durch sehr geringe Spuren von [[Protonendonator]]en oder [[Protonenakzeptor]]en sagt nichts über die Wirkung auf chemische Reaktionen oder Lebewesen aus.<br />
<br />
=== Temperaturabhängigkeit ===<br />
Die ''Gleichgewichtskonstante der Wasserdissoziation'' K<sub>w</sub> ist temperaturabhängig:<br />
: Bei 0&nbsp;°C beträgt sie 0,115 · 10<sup>−14</sup> (pK<sub>w</sub> = 14,939),<br />
: bei 25&nbsp;°C: 1,009 · 10<sup>−14</sup> (pK<sub>w</sub> = 13,996),<br />
: bei 60&nbsp;°C: 9,61 · 10<sup>−14</sup> (pK<sub>w</sub> = 13,017).<ref>J. A. Campbell: ''Allgemeine Chemie - Energetik, Dynamik und Struktur chemischer Systeme.'' 2. Auflage. Verlag Chemie, Weinheim u. a. O. 1980, ISBN 3-527-25856-6.</ref><br />
Die Summe von pH + pOH verhält sich dementsprechend (14,939, 13,996 bzw. 13,017).<br />
<br />
''Die pH-Werte von Lösungen'' sind temperaturabhängig. Beispiel: Eine einmolare Phenollösung hat bei einer Temperatur der Lösung von 30&nbsp;°C einen pK<sub>s</sub>-Wert des [[Phenol]]s als Phenyl-OH von 10. Die Lösung hat einen pH-Wert von etwa 4,5. Ändert sich die Temperatur, so treten drei gekoppelte Effekte auf. Der erste ist der weitaus wichtigste.<br />
# Die [[Gleichgewichtskonstante]] K für die Dissoziation von Phenol nimmt mit steigender Temperatur zu, damit auch die Dissoziation der Säure. Vergrößert sich K sinkt also der pH-Wert, und umgekehrt: <math>\mathrm{PhOH \, \stackrel{K \gg}{\longrightarrow} \, PhO^{-} + H^{+}}</math><br />
# Bei einer Temperaturabsenkung von 30&nbsp;°C auf 20&nbsp;°C hat Phenol eine geringere Löslichkeit in Wasser. Es lösen sich nur ca. 0,9 mol/l. So steigt der pH-Wert auf rund 4,55. Dieser Effekt spielt nur eine Rolle für Lösungen nahe der Löslichkeitssättigung.<br />
# Bei einer Temperaturerhöhung vergrößert sich das Volumen der Lösung geringfügig und die molare Konzentration an Phenol verringert sich (mol pro Volumen). Somit steigt der pH-Wert differentiell. Analog sinkt der pH-Wert bei einer Temperaturerniedrigung.<br />
<br />
== Bestimmung des pH-Wertes ==<br />
=== Berechnung {{Anker|Berechnung des pH-Wertes}} ===<br />
Ein häufig vorliegendes Problem ist, dass der pH-Wert errechnet werden soll, während die Konzentration bekannt ist und der <math>\mathrm pK_\mathrm s</math>-Wert (der die Stärke der Säure bzw. Base repräsentiert) aus Tabellenwerken entnommen werden kann. Ein Beispiel aus der Praxis ist das Herstellen von Lösungen mit vorgegebenen pH-Wert.<br />
Es existieren [[b:Formelsammlung Chemie/ Berechnung des pH-Wertes|Formeln]], mit denen man den pH-Wert näherungsweise berechnen kann. Trotz Näherungen sind die Ergebnisse im Normalfall genau genug.<br />
<br />
Die Formeln leiten sich her aus dem<ref>Matthias Otto: ''Analytische Chemie.'' 3. Auflage. Wiley-VCH, 2006, ISBN 3-527-31416-4, S.&nbsp;53&nbsp;f.</ref><br />
<br />
Massenwirkungsgesetz:<br />
<math>K_\mathrm s = \frac{c\left(\mathrm{A^-}\right) \cdot c\left(\mathrm{H_3O^+}\right)}{c\left(\mathrm{HA}\right)\cdot c^o}</math><br />
<br />
Ionenprodukt des Wassers <math> K_\mathrm w = \frac{c\left(\mathrm{H_3O^+}\right)}{c^o} \cdot \frac{c\left(\mathrm{OH^-}\right)}{c^o} </math><br />
<br />
Massenerhaltungssatz <math> c_0 = c\left(\mathrm{HA}\right) + c\left(\mathrm{A^-}\right) </math><br />
<br />
Ladungserhaltungssatz <math>c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = c\left(\mathrm{A^-}\right) + c\left(\mathrm{OH^-}\right) </math><br />
<br />
==== Sehr starke Säuren ====<br />
Bei der Berechnung wird angenommen, dass starke Säuren vollständig deprotoniert vorliegen. Das gilt für Säuren mit einem pKs <1. Die Rechnung ist in dem Fall unabhängig von der jeweiligen Säurekonstante, der pKs wird zur Berechnung also nicht benötigt. Die Entkoppelung vom <math>K_\mathrm s</math> beruht auf dem [[Eigenschaften des Wassers#Nivellierender Effekt|nivellierenden Effekt]] des Wassers. Auch die Autoprotolyse des Wassers spielt erst bei sehr verdünnten, starken Säuren (ab Konzentrationen <math>\le 10^{-6} \mathrm{mol/l} </math>) eine Rolle. Somit resultiert aus der Konzentration der Säure direkt die Konzentration der Protonen in Lösung, beschrieben durch die Formel:<br />
<br />
:<math>c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = c_0 = c\left(\mathrm{A^-}\right)</math><br />
<br />
==== Starke Säuren ====<br />
Säuren mit einem 4,5 > pKs > 1 werden als vollständig deprotoniert nicht mehr genau genug beschrieben. Allerdings kann auch hier die Autoprotolyse des Wassers vernachlässigt werden. Nach den Prinzipien der Massengleichheit und der Elektroneutralität ergibt sich die Gleichung:<br />
<br />
:<math> c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = -\frac{K_\mathrm s c^o} 2 + c^o \cdot \sqrt{\frac{K_\mathrm s^2} 4 + K_\mathrm s \cdot c_0 / c^o} </math><br />
<br />
Die Formel kann auch für schwächere Säuren angewandt werden, was insbesondere für niedrig konzentrierte Lösungen zu empfehlen ist. Erst wenn der pK<sub>s</sub> 9 übersteigt oder die Konzentration unter 10<sup>−6</sup> mol/l liegt, wird die Formel ungenau, da dann die Autoprotolyse des Wassers zu berücksichtigen ist.<br />
<br />
==== Schwache Säuren ====<br />
Bei schwachen Säuren (4,5 < pKs < 9,5) ist der Anteil der dissoziierten Säuremoleküle klein gegenüber dem Anteil der undissoziierten. Als Vereinfachung kann daher angenommen werden, dass in der Lösung noch immer so viele protonierte Säuremoleküle vorliegen, wie ursprünglich zugegeben wurden. Die Gleichung für schwache Säuren vereinfacht sich dadurch zu:<br />
<br />
:<math>c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = c^o \cdot \sqrt{ K_\mathrm s \cdot c_0 / c^o}</math><br />
<br />
Der daraus resultierende Fehler sinkt mit zunehmender Konzentration und dem pK<sub>s</sub>-Wert. Im Zweifelsfall kann auch mit der Formel für starke Säuren gerechnet werden.<br />
<br />
==== Sehr schwache Säuren ====<br />
Bei sehr schwachen Säuren müssen die durch Autodissoziation des Wassers erzeugten Protonen berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich die Gleichung:<br />
<br />
:<math> c\left(\mathrm{H_3O^+}\right) = c^o \cdot \sqrt{K_\mathrm s \cdot c_0 / c^o + K_\mathrm w} </math><br />
<br />
Mit dieser Formel für sehr schwache Säuren (aber auch Basen!) muss jedes Mal dann gerechnet werden, wenn das Produkt aus <math>K_\mathrm s</math> und <math>c_0</math> ''nicht'' deutlich größer als der <math>K_\mathrm w</math> ist.<ref>Gerhard Schulze, Jürgen Simon: ''Jander·Jahr Maßanalyse.'' 17. Auflage. de Gruyter, Berlin 2009, S.&nbsp;83–89.</ref><br />
<br />
==== Basen ====<br />
Für die Berechnung des pH-Wertes einer basischen Lösung werden dieselben Formeln benutzt. Jedoch wird statt des ''K<sub>s</sub>'' der ''K<sub>b</sub>'' eingesetzt und das Ergebnis liefert nicht die Protonenkonzentration ''c''(H<sub>3</sub>O<sup>+</sup>), sondern die Hydroxidionen-Konzentration ''c''(OH<sup>−</sup>). Diese kann in den pOH umgerechnet werden und aus diesem folgt der pH.<br />
<br />
==== Sonstige Berechnungen ====<br />
Für Lösungen einer Säure und ihres entsprechenden Salzes (ein Puffer, siehe oben) lässt sich der pH-Wert über die [[Henderson-Hasselbalch-Gleichung]] berechnen.<br />
<br />
Für mehrprotonige Säuren kann man nur den Wert der ersten Protolysestufe (näherungsweise) berechnen, also für den niedrigsten pK<sub>s</sub>-Wert. Die Dissoziation der zweiten Stufe ist meist deutlich geringer. Eine exakte Berechnung ist äußerst aufwendig, da es ein System aus gekoppelten Gleichgewichten ist. Die Oxoniumionen aus der ersten Protolysestufe nehmen Einfluss auf die zweite und umgekehrt.<br />
<br />
Gleiches gilt für Gemische aus mehreren Säuren und/oder Basen. Eine exakte [[Algebra|algebraische]] Lösung ist meist nicht mehr möglich, die Gleichungen sind numerisch über [[Iteration|iterative]] Verfahren zu lösen. Bei sehr hohen Konzentrationen an Säuren oder Basen ist die Konzentration in mol/dm<sup>3</sup> durch die Aktivität der Oxoniumionen zu ersetzen.<br />
<br />
=== Messung {{Anker|Messung des pH-Wertes}} ===<br />
Der pH-Wert einer Lösung kann mit unterschiedlichen Methoden ermittelt werden:<br />
<br />
==== Bestimmung durch die Reaktion von Indikatorfarbstoffen ====<br />
Eine einfache Bestimmung des pH-Wertes erfolgt durch visuelle oder [[Farbmetrik|farbmetrische]] Bewertung der Farbumschläge von [[Indikator (Chemie)|Indikatorfarbstoffen]]. Die Auswertung erfolgt meist anhand von Farbvergleichsskalen.<br />
<br />
Innerhalb eines engen Messbereiches (zwei bis drei pH-Stufen) reicht der Farbumschlag eines einzelnen Farbstoffes aus. Für größere Messbereiche kommen Universalindikatoren zum Einsatz. Dies sind Farbstoffgemische, die über eine weite Skala von pH-Werten hinweg unterschiedliche Farben zeigen. Eine Alternative zu Universalindikatoren sind Messstreifen, die Felder mit verschiedenen nebeneinander angeordneten Farbstoffen aufweisen, von denen jeder in einem anderen Wertebereich optimal ablesbar ist. Für spezielle Zwecke kann die Farbanzeige eines Indikatorfarbstoffs mit einem [[Photometer]] gemessen und so präziser ausgewertet werden.<br />
<br />
Für die Farbgebung des Universalindikators werden verschiedene Stoffe verwendet, die sich bei jeweils unterschiedlichen pH-Werten verfärben. Solche pH-Indikatoren sind beispielsweise<br />
* [[Lackmus]]: pH < 4,5 = rot, pH > 8,3 = blau<br />
* [[Phenolphthalein]]: pH < 8,2 = farblos, pH > 10,0 = rot-violett<br />
* [[Methylorange]] pH < 3,1 = rot, pH > 4,4 = gelb<br />
* [[Bromthymolblau]]: pH < 6,0 = gelb, pH > 7,6 = blau<br />
<br />
==== Potentiometrie ====<br />
{{Hauptartikel|pH-Einstabmesskette}}<br />
Auf dem Prinzip der [[Potentiometrie]] beruhen die meisten handelsüblichen [[pH-Meter]]. Dabei wird eine mit [[Pufferlösung]] gefüllte Glasmembrankugel in die zu messende Flüssigkeit eingetaucht. Durch die Neigung der Wasserstoffionen, sich in dünner Schicht an [[Silikat]]gruppen der Glasoberfläche anzulagern, baut sich je nach pH-Differenz eine [[galvanisch]]e Spannung zwischen der Innen- und der Außenseite der Kugel auf. Diese [[elektromotorische Kraft]] wird mittels zweier [[Referenzelektrode|Bezugselektroden]] gemessen, von denen sich eine innerhalb der Glaskugel, die andere in einem Referenzelektrolyten befindet. Ausführliche Informationen siehe [[pH-Elektrode]].<br />
<br />
==== Messung durch Ionensensitive Feldeffekt-Transistoren ====<br />
Ähnlich wie an der Glaselektrode bauen Wasserstoffionen an der sensitiven Gate-Membran eines [[Ionensensitiver Feldeffekttransistor|ionensensitiven Feldeffekttransistors]] (ISFET) ein Potential auf, welches die Stromdurchlässigkeit des Transistors beeinflusst. Durch geeignete Messtechnik lässt sich dieses Signal dann als pH-Wert anzeigen.<br />
<br />
== Bedeutung des pH-Wertes ==<br />
=== Auswirkungen des pH-Wertes in der Chemie ===<br />
Manche [[Chemische Verbindung|chemische Verbindungen]] ändern ihre [[chemische Struktur]] in Abhängigkeit vom pH-Wert und damit unter Umständen auch ihre Farbe, wie es für [[Indikator (Chemie)|pH-Indikatoren]], etwa das [[Phenolphthalein#Struktur und Farbumschlag|Phenolphthalein]] von farblos zu rot erfolgt.<br />
<br />
Bei vielen Reaktionen spielen die Wasserstoffionen eine Rolle, direkt in wässriger Lösung oder als „[[Katalysator]]“. Der pH-Wert beeinflusst die [[Kinetik (Chemie)#Die Reaktionsgeschwindigkeit|Reaktionsgeschwindigkeit]], wie am Beispiel der Aushärtung von [[Aminoplast]]en.<br />
<br />
=== Auswirkungen des pH-Wertes auf das Wachstum von Pflanzen ===<br />
Der pH-Wert des Bodens beeinflusst die (biologische) Verfügbarkeit von [[Nährsalz]]en. Bei neutralem und alkalischem Boden-pH bilden sich Eisenoxidhydroxide, die nicht aufgenommen werden können, es entsteht [[Eisenmangel]]. Treten starke pH-Wert-Änderungen auf, so können die [[Pflanzenorgan]]e auch unmittelbar betroffen sein.<br />
<br />
Für den Nährstoffhaushalt der Pflanzen ist neben einigen anderen Elementen auch [[Stickstoff]] von Bedeutung. Er wird in Form der wasserlöslichen Ammoniumionen (NH<sub>4</sub><sup>+</sup>) oder häufiger als Nitration (NO<sub>3</sub><sup>−</sup>) aufgenommen. Ammonium und Nitrat stehen in Böden mit einem pH-Wert von 7 im Gleichgewicht. Bei sauren Böden überwiegen die NH<sub>4</sub><sup>+</sup> Ionen, bei alkalischen Böden die NO<sub>3</sub><sup>−</sup> Ionen. Können Pflanzen aufgrund der Durchlässigkeit der Wurzelmembranen nur NH<sub>4</sub><sup>+</sup> aufnehmen, sind sie auf saure Böden angewiesen, also acidophil (säureliebend). Beim Aufnehmen von Nitrat NO<sub>3</sub><sup>−</sup>, können sie nur auf basenreichen Böden wachsen („obligat basophil“). Die Ansprüche an den Boden-pH sind geringer, wenn die Membranen sowohl Ammonium als auch Nitrat durchlassen. In Mineraldüngern wird [[Ammoniumnitrat]] (NH<sub>4</sub>NO<sub>3</sub>) verwendet, wodurch beide, Ammonium- und Nitrat-Ionen vorhanden sind. Die Reaktionen im Boden führen dabei zu Umwandlungen.<br />
<br />
Bei hohem oder niedrigem pH-Wert sind die Nährstoffe im Boden festgelegt, sie stehen den Pflanzen nur unzureichend zur Verfügung. Bei einem niedrigen pH-Wert werden [[Aluminium]]- oder [[Mangan]]ionen löslich und für Pflanzen in schädigenden Mengen zugänglich.<br />
<br />
{{Siehe auch|Boden-pH|Kalkstet}}<br />
{{Siehe auch|Kalkhaltiger Boden|Bodenversauerung}}<br />
{{Siehe auch|Versauerung der Meere}}<br />
<br />
=== Die Bedeutung des pH-Wertes beim Menschen ===<br />
Der für den Menschen verträgliche Bereich des pH-Wertes von [[Blut]] und Zellflüssigkeit ist beschränkt. Der pH-Wert des Blutes wird durch ein komplexes Puffersystem von gelöstem Kohlenstoffdioxid, Salzen und [[Protein]]en, dem sogenannten [[Blutpuffer]], eingestellt. Normal ist ein pH-Wert von 7,35–7,45 in arteriellem Blut. Der pH-Wert des Blutes wirkt auf das [[Hämoglobin]]: Je geringer der pH-Wert ist, desto weniger Sauerstoff kann dieses binden ([[Bohr-Effekt]]). Wird im Gewebe durch die Atmungs-Kohlensäure der pH-Wert des Blutes gesenkt, gibt deshalb das Hämoglobin Sauerstoff ab. Wird umgekehrt in der Lunge Kohlendioxid abgeatmet, so steigt dort der pH-Wert des Blutes und somit die Aufnahmefähigkeit des Hämoglobins für Sauerstoff.<br />
<br />
Auch bei der menschlichen Fortpflanzung hat der pH-Wert eine entscheidende Bedeutung. Während das [[Vagina|Scheidenmilieu]] zur Abwehr von [[Krankheitserreger]]n sauer ist, ist das [[Sperma]] des Mannes basisch. Die beim Geschlechtsakt einsetzende Neutralisationsreaktion führt zu einem optimalen Milieu zur Bewegung der Spermien.<br />
<br />
Die Haut des Menschen ist leicht sauer, pH ≈ 5,5. Der [[Säureschutzmantel|Säuremantel]] ist ein Schutz vor Krankheitserregern. Seifen sind deutlich basisch und „trocknen“ die Haut aus, sie entfernen die Fettschicht und zerstören die Säureschicht. Heutige Waschlotionen, die aus einem Gemisch aus einer Trägersubstanz, bestehend aus Wasser, [[Glycerin]], Natriumchlorid, [[Natriumthiosulfat]], [[Natriumhydrogencarbonat]], Distearaten und einem geringen Anteil synthetischer [[Tenside]] bestehen, sind auf einen pH-Wert um 5 eingestellt.<br />
<br />
=== Bedeutung des pH-Wertes beim Trinkwasser ===<br />
Gemäß der [[Trinkwasserverordnung]] darf [[Leitungswasser|das Trinkwasser aus der Leitung]] einen pH-Wert zwischen 6,5 und 9,5 aufweisen. Mit sinkendem pH-Wert löst das Leitungswasser Metallionen aus der Leitung, was bei Verwendung von Blei- oder Kupferrohren zu einer toxischen Wirkung im Körper führen kann. Bei Unkenntnis des Leitungsmaterials kann man vor der Entnahme von Trinkwasser zunächst Brauchwasser (z.&nbsp;B. für die Blumen) ablaufen lassen. Das Wasser kann mit Chemikalien auf den gewünschten Wert eingestellt werden.<br />
<br />
=== Bedeutung des pH-Wertes für Aquarien ===<br />
In [[Aquarium|Aquarien]] erfordern Pflanzen und Fische bestimmte pH-Bereiche. Die Lebewesen haben einen pH-Toleranzbereich und können außerhalb dieses Bereichs nicht langfristig überleben.<br />
<br />
Richtwerte für Süßwasser-Aquarienfische:<br />
* saures Wasser (pH ≈ 6):<br />
** Südamerikaner (Neon, Skalar, Diskus, L-Welse und andere)<br />
** Asiaten (Guaramis, Fadenfische und andere)<br />
* neutrales Wasser (pH ≈ 7)<br />
** Mittelamerikaner (Feuermaulbuntbarsch und andere)<br />
* alkalisches Wasser (pH ≈ 8)<br />
** ostafrikanische Grabenseen (Buntbarsche aus dem Tanganjika- und Malawisee und andere)<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* Der [[SH-Wert]] (Säuregrad) erfasst alle sauren Bestandteile der Probe, während der pH-Wert nur die H<sub>3</sub>O<sup>+</sup>-Ionenkonzentration angibt.<br />
* Für [[Supersäure]]n verwendet man die [[Hammettsche Aciditätsfunktion]] zur Bestimmung der Säurestärke.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* R. P. Buck, S. Rondinini, A. K. Covington u. a.: ''Measurement of pH. Definition, standards, and procedures (IUPAC Recommendations 2002).'' In: ''[[Pure and Applied Chemistry]].'' Band 74(11), 2002, S. 2169–2200. [http://www.iupac.org/publications/pac/2002/pdf/7411x2169.pdf Faksimile] (PDF; 317 kB).<br />
* Gerhart Jander, Karl Friedrich Jahr: ''Maßanalyse.'' 17. Auflage. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-11-019447-0, S. 99: Indikatoren.<br />
* Willy W. Wirz: ''pH- und. pCI-Werte.'' Handbuch mit Interpretationen und einer Einführung in die pX-Messtechnik; Messwerttabellen nach elektronischen (elektrometrischen) pH- u. pCI-Messungen; mit 22 Spezialtabellen. Chemie-Verlag, Solothurn 1974, ISBN 3-85962-020-7.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|PH|pH-Wert}}<br />
{{Wiktionary|pH-Wert}}<br />
{{Wikibooks|Formelsammlung Chemie/ Berechnung des pH-Wertes}}<br />
* Rob Beynon: [http://www.liv.ac.uk/buffers ''Buffers for pH control.''] University of Liverpool<br />
* A. K. Kappenberg: [http://www.kappenberg.com/akminilabor/apps/phrechner.html pH online berechnen] Münster<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Acidität und Basizität]]<br />
[[Kategorie:Chemische Größe]]<br />
[[Kategorie:Säure-Basen-Haushalt]]<br />
[[Kategorie:Physiologische Größe]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fadenw%C3%BCrmer&diff=198239474Fadenwürmer2020-03-29T19:06:22Z<p>Udo.bellack: link to Metazoen</p>
<hr />
<div>{{Weiterleitungshinweis|Nematoden|Für gleichnamige Software gegen Schadcode siehe [[Computerwurm#Nematoden|Computerwurm: Nematoden]]}}<br />
<!-- Für Informationen zum Umgang mit dieser Vorlage siehe bitte [[Wikipedia:Taxoboxen]]. --><br />
{{Taxobox<br />
| Taxon_Name = Fadenwürmer<br />
| Taxon_WissName = Nematoda<br />
| Taxon_Rang = Stamm<br />
| Taxon_Autor = [[Karl Asmund Rudolphi|Rudolphi]], 1808<br />
| Taxon2_WissName = Nematoida<br />
| Taxon2_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon3_WissName = Cycloneuralia<br />
| Taxon3_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon4_Name = Häutungstiere<br />
| Taxon4_WissName = Ecdysozoa<br />
| Taxon4_Rang = Überstamm<br />
| Taxon5_Name = Urmünder<br />
| Taxon5_WissName = Protostomia<br />
| Taxon5_Rang = ohne Rang<br />
| Taxon6_WissName = Bilateria<br />
| Taxon6_Rang = ohne Rang<br />
| Bild = Soybean cyst nematode and egg SEM.jpg<br />
| Bildbeschreibung = ''Heterodera glycines'' mit einem Ei, ein Parasit der [[Sojabohne]]<br />
| Subtaxa_Rang = Klasse<br />
| Subtaxa = * [[Adenophorea]]<br />
* [[Secernentea]]<br />
}}<br />
<br />
Die '''Fadenwürmer''' (Nematoda), auch '''Nematoden''' ({{grcS|νῆμα|''nema''|de=Faden}}) oder [[Älchen]] genannt, sind ein sehr artenreicher [[Stamm (Biologie)|Stamm]] des Tierreichs. Bislang wurden mehr als 20.000 verschiedene [[Art (Biologie)|Arten]] beschrieben. Wahrscheinlich sind sie die individuenreichste Gruppe unter den [[Vielzellige Tiere|vielzelligen Tieren]]: Einer Schätzung<ref>T. Bongers, H. Ferris: ''Nematode community structure as a bioindicator in environmental monitoring''. Trends Ecol Evol, Vol. 14, Issue 6, Juni 1999, S. 224–228, [[doi:10.1016/S0169-5347(98)01583-3]]</ref> zufolge stellen sie etwa 81 % aller tierischen Organismen. Es handelt sich zumeist um relativ kleine, weiße bis farblose, fädige Würmchen, die in feuchten Medien leben, darunter viele [[parasit]]ische Gruppen mit einigen [[humanpathogen]]en Arten.<br />
<br />
Fadenwürmer haben sich erfolgreich an nahezu jedes terrestrische und aquatische Ökosystem angepasst einschließlich extremer Lebensräume wie tieferer Bereiche der obersten [[Erdkruste]] und der Polarregionen. In vielen Lebensräumen stellen sie oft sowohl hinsichtlich der Individuenanzahl als auch der Artenvielfalt die größte Gruppe in der [[Metazoen]]fauna.<br />
<br />
== Anatomie ==<br />
[[Datei:Nematoda-Anatomy.svg|mini|150px|Fadenwurm ♂<br /> 1 Mundöffnung<br /> 2 Darm<br /> 3 Kloake<br /> 4 Exkretionsorgan<br />5 Hoden<br />6 Circumpharyngealer Ring des Nervensystems<br /> 7 Dorsaler Hauptnervenstrang<br /> 8 Ventraler Hauptnervenstrang<br /> 9 Exkretionspore]]<br />
<br />
=== Körperbau ===<br />
Nematoden sind [[triploblast]]ische [[Urmünder]] (Protostomia). Sie haben eine typisch wurmförmige Gestalt, sind lang und im Querschnitt rund. Eine Segmentierung fehlt. Die Körperhöhle ist ein enges [[Pseudocoel]], wie auch bei vielen anderen kleineren Tierstämmen.<br />
<br />
Der Kopf eines Fadenwurmes hat einige kleine Richtungsorgane (eine Art Augen) und eine große muskulöse Mundöffnung mit Pharynx (Rachen). Der Mund liegt vorne und wird häufig von Fortsätzen umgeben, die für die Nahrungsaufnahme und zum Tasten benutzt werden. Der Anus liegt kurz vor dem spitzen Hinterende.<br />
<br />
Der größte Fadenwurm ist das in der [[Pottwal]]-[[Plazenta]] lebende ''[[Placentonema gigantissima]]''. Weibchen erreichen eine Länge von bis zu 8,40&nbsp;m und einen Durchmesser von 2,5&nbsp;cm, die Männchen werden nur 4&nbsp;m lang bei einem Durchmesser von 0,9&nbsp;cm. Diese Art gehört zur Klasse der Secernentea (Unterklasse Spiruria, Familie Tetrameridae).<br />
<br />
=== Epidermis und Cuticula ===<br />
Die [[Epidermis (Wirbellose)|Epidermis]] (Hautzellschicht) eines Fadenwurmes ist bemerkenswert, weil sie nicht wie bei anderen Tieren aus einzelnen [[Zelle (Biologie)|Zellen]] besteht, sondern aus einer Masse des zellulären Materials, die nicht durch [[Zellmembran|Membranen]] in einzelne Zellen unterteilt ist und mehrere Zellkerne besitzt. Solche Bildungen werden als [[Syncytium]] bezeichnet.<br />
<br />
Die Epidermis sondert eine wesentlich dickere, mehrlagige [[Exoskelett|Cuticula]] ab, die die Nematoden vor Austrocknung oder anderen ungünstigen Umweltbedingungen schützt, bei parasitischen Arten auch vor den Verdauungssäften des Wirtes. Neben den in heißen Quellen lebenden Arten wurden auch Arten gefunden, denen ihre Cuticula ermöglicht, [[pH-Wert]]e von 2,5 bis 11,5 auszuhalten, oder solche, die mehrere Stunden in flüssigem [[Helium]] (ca. −272&nbsp;°C bis −268&nbsp;°C) am Leben bleiben. Das Vorhandensein einer „steifen“ Cuticula in Verbindung mit der Längsmuskulatur (Nematoden haben fast keine Ringmuskeln) erlaubt ihnen nur eine schlängelnde Fortbewegung.<br />
<br />
Die Cuticula besteht bei Fadenwürmern aus bis zu vier Schichten:<br />
* Die innere ''Faserschicht'' besteht aus diagonal miteinander in entgegengesetzter Richtung laufenden Fasern. Diese Schicht trägt am meisten zur Festigkeit und Elastizität der Cuticula bei.<br />
* Die ''Matrixschicht'' hat eine weniger definierte Struktur.<br />
* Die ''Kortikalschicht'' besteht aus Kollagen.<br />
* Die äußere ''Epicuticula'' ist [[Lipide|lipidhaltig]] und wird bei einigen Gattungen zusätzlich von einer Lipidschicht bedeckt.<br />
<br />
=== Muskeln ===<br />
Fadenwürmer besitzen wie die [[Rundwürmer]] zur Fortbewegung ausschließlich Längsmuskeln, die sich von Kopf bis Schwanz erstrecken. Die Muskelzellen bestehen aus drei Teilen:<br />
<br />
* Dem Monocyton: Ein nicht zusammenziehbarer Teil, der die Zellkerne, die [[Mitochondrium|Mitochondrien]] und den [[Golgi-Apparat]] enthält.<br />
* Einem zusammenziehbaren Teil, der die Actin- und Myosinfasern enthält.<br />
* Dem Prozess, einem nicht zusammenziehbaren Teil der Muskelzellen, der Verbindungen mit anderen Muskelzellen oder Nerven eingehen kann.<br />
<br />
[[Datei:CrawlingCelegans.gif|mini|Fortbewegung eines Nematoden (''[[Caenorhabditis elegans]]'')]]<br />
Die Fadenwurmmuskeln liegen wie ein Schlauch unterhalb der Haut. Diese Einheit aus verschiedenen Geweben wird als [[Hautmuskelschlauch]] bezeichnet. Die starke [[Exoskelett|Cuticula]] und der hohe Innendruck der [[Pseudocoel]]flüssigkeit, der zwischen 70 und 210 [[Millimeter Quecksilbersäule|mmHg]] liegt, stellen ein sogenanntes [[Hydroskelett]] dar. Zusammen mit den Längsmuskeln als Antagonisten kann sich der Fadenwurm schlängelnd fortbewegen oder einen Teil in die Höhe strecken.<br />
<br />
Daneben gibt es Ringmuskeln, jedoch nur an Mund und After.<br />
<br />
=== Nervensystem ===<br />
Das [[Nervensystem]] der Fadenwürmer ist sehr einfach aufgebaut. Es besteht aus einem [[circumpharyngeal]]en bzw. [[circumoesophageal]]en Ring, von dem ein dorsaler und ein ventraler Hauptstrang nach hinten ziehen. Es ist in der Lage, einfache und verschiedene Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Die Längsnerven sind direkt mit den Muskelzellen und dem Cytoplasma im Kontakt und erstrecken sich durch den ganzen Körper. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass anders als bei anderen Tieren, bei denen sich die [[Neuron|Nervenzellen]] zu den Muskeln hin ausbreiten, sich die Muskelzellen des Fadenwurms selbst zu den Nervenbahnen ausbreiten.<br />
<br />
=== Fortpflanzungsorgane ===<br />
Die Fortpflanzungsorgane bestehen bei den Weibchen aus einer [[Vulva#Vergleichende Anatomie|Vulva]] in der Körpermitte, wobei die Verlagerung vom Körperende nach vorne eine taxontypische [[Apomorphie]] darstellt.<br />
<br />
Bei den Männchen ist eine [[Kloake (Biologie)|Kloake]] am Körperende ausgebildet, die [[Samenleiter]], [[Rektum]] und den Spicularapparat umfasst. Letzterer stellt das taxontypische Begattungsorgan dar und besteht aus paarigen, verhärteten, hakenförmigen Spicula (Singular: '''Spiculum'''), die in einer Tasche der Cuticula liegen und durch eine Führungsstruktur (Gubernaculum) in der Bewegung geleitet werden. Selten ist durch Reduktion oder Fusion nur ein Spiculum vorhanden. Die Spicula dienen nicht zum Samentransport, sondern verhaken das Männchen beim Begattungsakt in der Vulva des Weibchens, so dass die Spermien direkt aus dem Samenleiter übertragen werden können.<ref>{{Literatur |Autor=Estelle V. Balian |Titel=Freshwater Animal Diversity Assessment |Verlag=Springer |Datum=2008 |ISBN=978-1-4020-8258-0 |Seiten=68–69}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Peter Ax |Titel=Multicellular Animals: Order in Nature – System Made by Man: 3 |Verlag=Springer |Ort=Berlin |Datum=2003 |ISBN=978-3-540-00146-1 |Seiten=19–20}}</ref><br />
<br />
== Physiologie ==<br />
=== Ernährung ===<br />
Die Nahrung ist unterschiedlich und reicht bei freilebenden Arten von Bakterien und Algen über Pilze, Aas und Fäkalien bis hin zu räuberisch erbeuteten Tieren. Am Mund befinden sich oft kleine Fortsätze, die zur Nahrungsaufnahme oder zum Tasten benutzt werden. Dort wird die Nahrung hineingezogen und durch starke Muskeln zerquetscht. Die Nahrung gelangt dann von dort in einen einfachen langen Darmraum, wo sie bearbeitet und verdaut wird. Nematoden besitzen kein [[Gefäßsystem]], mit dem sie die Nahrungsbestandteile im Körper verteilen könnten. Stattdessen werden die Nährstoffe im Darmraum verarbeitet und von dort direkt durch die Wände zu den Körperzellen geleitet, wo sie gebraucht werden.<br />
<br />
Im Darm können auch [[Symbiose|endosymbiotische]] [[Mikroorganismus|Mikroorganismen]] ([[Bakterien]] und [[Pilze]]) vorkommen, die bei der Aufspaltung von bestimmten Nahrungsbestandteilen benötigt werden, z.&nbsp;B. für den [[Katabolismus|Abbau]] von [[Cellulose]]. Daneben wurde bei wenigen Arten wie ''Bursaphelenchus xylophilus'' und der in Käfern lebenden ''[[Pristionchus pacificus]]'' [[endogen]]e [[Cellulase]]n nachgewiesen.<ref>{{cite web| title = Käfer-Parasit mit ungewöhnlichen Genen: Genom des Fadenwurms Pristionchus pacificus entschlüsselt| publisher = g-o.de| accessdate = 2012-07-01| date = 2008-09-22| url = http://www.g-o.de/wissen-aktuell-8854-2008-09-22.html}}</ref> Für den Ursprung ihrer Cellulasegene wurde ein [[horizontaler Gentransfer]], ausgehend von ihren Endosymbionten, verlautbart.<ref>John T. Jones, Cleber Furlanetto, Taisei Kikuchi: '' Horizontal gene transfer from bacteria and fungi as a driving force in the evolution of plant parasitism in nematodes.'' Nematology. Bd.&nbsp;7, Nr.&nbsp;5, 2005, S.&nbsp;641–646, [[doi:10.1163/156854105775142919]].</ref><ref>Werner E. Mayer, Lisa N. Schuster, Gabi Bartelmes, Christoph Dieterich, Ralf J. Sommer: ''Horizontal gene transfer of microbial cellulases into nematode genomes is associated with functional assimilation and gene turnover.'' BMC Evolutionary Biology. Bd.&nbsp;11, Nr.&nbsp;1, 2011, S. 13, [[doi:10.1186/1471-2148-11-13]].</ref><br />
<br />
=== Atmung ===<br />
Die Sauerstoffaufnahme funktioniert ähnlich der Verdauung. Da die Nematoden keine [[Atmungsorgane]] und kein Gefäßsystem besitzen, wird der [[Sauerstoff]] durch die Haut aufgenommen und diffundiert direkt zu den Körperzellen.<br />
<br />
=== Fortpflanzung ===<br />
Die [[Fortpflanzung]] erfolgt sexuell, meist mit zwei getrennten Geschlechtern. Die Männchen sind typischerweise kleiner als die Weibchen und haben oft einen charakteristisch gebogenen Schwanz. Allerdings sind auch selbstbefruchtende Hermaphroditen, wie zum Beispiel ''[[Caenorhabditis elegans]]'', keine Seltenheit.<ref>Bei ''Steinernema longicaudum'' entwickelt das Männchen erst dann einen reifen Geschlechtsapparat und Spermien, wenn ein Weibchen in der Nähe ist, vgl. L. Ebssa, I. Dix, C. Griffin in Current Biology, Bd. 18, Heft 21, Seiten R997–R998</ref> Parasitische Arten haben oft einen recht komplizierten Lebens- und Fortpflanzungszyklus mit [[Generationswechsel]], der mit Wirtswechsel oder Organwechsel im Wirt einhergehen kann.<br />
<br />
=== Häutung ===<br />
Die Nematoden häuten sich und werden deshalb, sowie aufgrund von [[Ribonukleinsäure|RNA]]-Untersuchungen innerhalb der Urmünder (Protostomia) zu den [[Häutungstiere]]n (Ecdysozoa) gerechnet. Bei freilebenden Arten erfolgt die Entwicklung meist direkt mit vier Häutungen im Verlauf des Wachstums.<br />
<br />
== Lebensräume ==<br />
Nematoden kommen fast überall vor, im [[Meer]], im [[Süßwasser]] und in terrestrischen Ökosystemen. Sie gelten allgemein als „häufig und omnipräsent“<ref>Gregor W. Yeates, Howard Ferris, Tom Moens, Wim H. Van der Putten: The Role of Nematodes in Ecosystems. S.&nbsp;1–44 in: Michale J. Wilson, Thomas Kakouli-Duarte (Hrsg.): ''Nematodes as environmental indicators.'' CAB International, 2009, ISBN 978-1-84593-385-2</ref> und sind oft mit mehr Arten und Individuen in einem Ökosystem vertreten als alle anderen Gruppen [[Vielzellige Tiere|vielzelliger Tiere]] (Metazoa). Sehr bedeutend sind sie in den [[Boden (Bodenkunde)|Böden]], wo sie mehrere der unteren [[Trophisches Niveau|trophischen Niveaus]] belegen. Des Weiteren haben Nematoden auch extreme Lebensräume besiedelt. Die Art ''[[Halicephalobus mephisto]]'' wurde in Südafrika in Kluftwässern in Tiefen von bis zu 3,6&nbsp;Kilometern gefunden und ist damit das am tiefsten in der [[Erdkruste]] lebende vielzellige Tier.<ref>G. Borgonie, A. García-Moyano, D. Litthauer, W. Bert, A. Bester, E. van Heerden, C. Möller, M. Erasmus, T. C. Onstott: ''Nematoda from the terrestrial deep subsurface of South Africa.'' In. Nature. Bd.&nbsp;474, Nr.&nbsp;7349, S.&nbsp;79–82, [[doi:10.1038/nature09974]]; siehe dazu auch Dave Mosher: [https://news.nationalgeographic.com/news/2011/06/110601-deepest-worm-earth-devil-science-animals-life/ ''New "Devil Worm" Is Deepest-Living Animal.''] In: ''National Geographic News'', 2. Juni 2011</ref> Andere bevölkern die Böden der [[Antarktische Trockentäler|McMurdo Dry Valleys]] in der [[Antarktis]], wo sie extrem widrige Bedingungen, unter denen durch das Zusammenspiel von extremer Kälte, Salinität und Trockenheit faktisch kein [[Bodenwasser]] verfügbar ist, durch Eintreten in ein Ruhestadium (Anhydrobiose) überleben können.<ref>Amy M. Treonis, Diana H. Wall, Ross A. Virginia: ''The use of anhydrobiosis by soil nematodes in the Antarctic Dry Valleys.'' In: ''Functional Ecology.'' Bd.&nbsp;14, Nr.&nbsp;4, 2000, S.&nbsp;460–467, {{DOI|10.1046/j.1365-2435.2000.00442.x}}.</ref><ref>Amy M. Treonis, Diana H. Wall: ''Soil nematodes and desiccation survival in the extreme arid environment of the Antarctic Dry Valleys.'' In: ''Integrative and Comparative Biology.'' Bd.&nbsp;45, Nr.&nbsp;5, 2005, S.&nbsp;741–750, {{DOI|10.1093/icb/45.5.741}}.</ref> Es gibt auch eine erhebliche Anzahl [[parasit]]ischer Arten, sowohl in Pflanzen (siehe etwa [[Rübenälchen]]) als auch in Tieren, einschließlich des Menschen. Zu den Nematoden, die den Menschen parasitieren und in seinem Darm leben gehören zum Beispiel der [[Spulwurm]] (''Ascaris lumbricoides''), der [[Peitschenwurm]] (''Trichuris trichiura''), der [[Medinawurm]] (''Dracunculus medinensis''), der [[Madenwurm]] (''Enterobius vermicularis'') und der [[Zwergfadenwurm]] (''Strongyloides stercoralis''), wohingegen die [[Filarien]] ''[[Wuchereria bancrofti]]'', ''[[Brugia malayi]]'' und ''[[Loa loa]]'' in den [[Lymphgefäßsystem|Lymphgefäßen]] bzw. im [[Unterhautfettgewebe]] leben.<br />
<br />
Die meisten freilebenden Nematoden sind mikroskopisch klein und gehören zur [[Meiofauna]]. Lediglich Parasiten wie der [[Pferdespulwurm]] und das oben erwähnte ''Placentonema gigantissimum'' können mehrere Meter lang werden.<br />
<br />
== Infektionswege und -strategien parasitischer Arten ==<br />
[[Datei:Hookworm LifeCycle.gif|mini|Lebenszyklus von ''Ancylostoma duodenale'']]<br />
Die [[Infektion]] bzw. [[Infestation]] von als [[Endwirt]] dienenden Säugetieren, einschließlich des Menschen, geschieht z.&nbsp;B. durch den Verzehr von rohem Fleisch, in dem sich bereits Larven (z.&nbsp;B. [[Trichine]]n) befinden, oder infolge der Aufnahme von Wurmeiern durch das Fressen von Kot (beispielsweise bei Hunden). Auch aufgrund mangelnder Hygiene fäkal (mit Wurmeiern) verunreinigte Lebensmittel (Düngung von Nahrungspflanzen mit [[Gülle]], kein Händewaschen nach Stuhlgang) können bei der Übertragung eine Rolle spielen. Bei mehreren Arten kann die Infektion aber auch durch aktives Eindringen von (filariformen) Larven durch die Haut geschehen (Hakenwürmer, z.&nbsp;B. ''[[Ancylostoma duodenale]]'' oder ''[[Necator americanus]]''). Vertreter der [[Filarien]] wie ''[[Onchocerca volvulus]]'', der Erreger der [[Flussblindheit]], verbreiten sich in der Regel durch Insektenstiche.<br />
<br />
Einige parasitische Nematodenarten sind im Hinblick auf ihren Lebens- und Fortpflanzungszyklus, wie auch parasitische Vertreter anderer Großgruppen von Wirbellosen oder Einzellern (vgl. u.&nbsp;a. →&nbsp;[[Toxoplasmose#Verhaltensänderungen / Persönlichkeitsveränderungen|Verhaltensänderungen durch Toxoplasmose]]), in der Lage, das Verhalten und teils auch das äußere Erscheinungsbild ihrer Wirte zu manipulieren. Ein besonders komplexes Beispiel bietet ''[[Myrmeconema neotropicum]]''.<ref>George. O. Poinar, Jr., Stephen P. Yanoviak: Myrmeconema neotropicum ''n. g., n. sp., a new tetradonematid nematode parasitising South American populations of ''Cephalotes atratus'' (Hymenoptera: Formicidae), with the discovery of an apparent parasite-induced host morph.'' In: ''Systematic Parasitology.'' Bd.&nbsp;69, Nr.&nbsp;2, 2008, S.&nbsp;145–153, [[doi:10.1007/s11230-007-9125-3]].</ref> Dieser Vertreter bewirkt, dass sich der mit seinen Eiern gefüllte [[Gaster (Hautflügler)|Gaster]] der als [[Zwischenwirt]] dienenden Ameisenart ''[[Cephalotus atratus]]'' von schwarz zu kräftig rot verfärbt. Die betroffenen Ameisen, die im Vergleich zu ihren nicht-infizierten Artgenossen bei Bedrängung faktisch kein aggressives Abwehrverhalten zeigen und keine Alarmpheromone produzieren, recken permanent den roten Hinterleib in die Höhe. Dies soll wahrscheinlich fruchtfressende, als Endwirt dienende Vögel anlocken und zur Aufnahme des sich leicht vom Rest des Körpers ablösbaren Gasters animieren.<ref>Stephen P. Yanoviak, Michael E. Kaspari, Robert Dudley, George O. Poinar, Jr.: ''Parasite-Induced Fruit Mimicry in a Tropical Canopy Ant.'' In: ''American Naturalist.'' Bd.&nbsp;171, Nr.&nbsp;4, 2008, S.&nbsp;536–544, [[doi:10.1086/528968]].</ref><br />
<br />
Der Kiefernholznematode ''[[Bursaphelenchus xylophilus]]'', ein in Deutschland und der Schweiz meldepflichtiger [[Quarantäneschaderreger]], nutzt für seine Verbreitung [[Bockkäfer]] der Gattung ''[[Monochamus]]'' („Handwerkerböcke“) als [[Phoresie|Transportwirt]].<ref>Ute Schönfeld: ''Der Kiefernholznematode (''Bursaphelenchus xylophilus'').'' Pflanzenschutzinformation: Pflanzengesundheitskontrolle 54/2015. Pflanzenschutzdienst des Landes Brandenburg, Landesamt für Ländliche Entwicklung, Landwirtschaft und Flurneuordnung, Frankfurt (Oder) 2015 ([https://www.isip.de/isip/servlet/resource/blob/187254/4f59c0c74a7c80572e282f3dfc50ea90/2015-54-pgk-data.pdf PDF] 452&nbsp;kB)</ref><ref>Therese Plüss, Simone Prospero, Thomas Röthlisberger, Bea Schwarzwälder, Christiane Lellig (Red.): ''Leitfaden zum Umgang mit dem Kiefernholznematoden (''Bursaphelenchus xylophilus'').'' Eidgenössischer Pflanzenschutzdienst, Bundesamt für Umwelt, Bundesamt für Landwirtschaft, Bern 2015 ([https://www.bafu.admin.ch/dam/bafu/de/dokumente/wald-holz/uv-umwelt-vollzug/leitfaden_zum_umgangmitdemkiefernholznematoden.pdf.download.pdf/leitfaden_zum_umgangmitdemkiefernholznematoden.pdf PDF] 1,44&nbsp;MB)</ref><br />
<br />
== Taxonomie ==<br />
[[Datei:Wuchereria bancrofti 1 DPDX.JPG|mini|''Wuchereria bancrofti'']]<br />
Die Nematoden wurden ursprünglich von [[Nathan Cobb]] im Jahr [[1919]] als Stamm Nemata eingeführt, später als Klasse Nematoda in einem nicht mehr gültigen Stamm Aschelminthes klassifiziert. Hier werden die Fadenwürmer als eigener Stamm geführt.<br />
<br />
* Klasse [[Adenophorea]]<br />
** Unterklasse [[Enoplia]]<br />
** Unterklasse [[Chromadoria]]<br />
* Klasse [[Secernentea]]<br />
** Unterklasse [[Rhabditia]]<br />
** Unterklasse [[Spiruria]]<br />
** Unterklasse [[Diplogasteria]]<br />
<br />
== Fossile Belege ==<br />
[[Datei:Linepithema sp. with Heydenius myrmecophila.jpg|mini|''Heydenius myrmecophila'' links neben seinem Wirt, einer Ameise der Gattung ''[[Linepithema]]'', beide eingeschlossen in [[Dominikanischer Bernstein|Dominikanischem Bernstein]] (Oligozän-Frühes Miozän)]]<br />
Nematoden besitzen keine über [[Geologische Zeitskala|geologische Zeiträume]] hinweg gut erhaltungsfähigen und relativ leicht in [[Sedimente und Sedimentgesteine|Sedimentgestein]] identifizierbare Körperteile. Deshalb ist ihr [[Fossilbericht]] im Verhältnis zu ihrer weiten [[rezent]]en Verbreitung und Vielfalt sehr lückenhaft und geringumfänglich und beschränkt sich auf ganz bestimmte Erhaltungsformen oder sedimentäre [[Fazies]].<ref name="poinar_2015">George O. Poinar, jr.: ''The Geological Record of Parasitic Nematode Evolution.'' S.&nbsp;53-92 in: Kenneth De Baets, D. Timothy J. Littlewood (Hrsg.): ''Fossil Parasites.'' Advances in Parasitology, Bd.&nbsp;90, Elsevier, 2015, [[doi:10.1016/bs.apar.2015.03.002]]</ref><ref name="balinski_2013">Andrzej Baliński, Yuanlin Sun, Jerzy Dzik: ''Traces of marine nematodes from 470 million years old Early Ordovician rocks in China.'' In: ''Nematology.'' Bd.&nbsp;15, Nr.&nbsp;5, 2013, S.&nbsp;567–474, [[doi:10.1163/15685411-00002702]].</ref><br />
<br />
Die meisten und am besten erhaltenen Nematoden-Fossilien wurden in [[Bernstein]] der [[Kreide (Geologie)|Kreidezeit]] und des [[Tertiär]]s gefunden, wobei die ältesten dieser Exemplare aus der [[Unterkreide]] des [[Libanon]] kommen.<ref name="poinar_2015" /><ref>George O. Poinar, jr., Aftim Acra, Fadi Acra: ''Earlist fossil nematode (Mermithidae) in cretaceous<!-- sic! --> Lebanese amber.'' In: ''Fundamental and Applied Nematology.'' Bd.&nbsp;17, Nr.&nbsp;5, 1994, S.&nbsp;475–477.</ref><ref>für einen Überblick über die Funde speziell im [[eozän]]en baltischen Bernstein siehe Wolfgang Weitschat, Wilfried Wichard: ''Atlas der Pflanzen und Tiere im Baltischen Bernstein.'' Pfeil, München 1998, ISBN 978-3-931516-45-1, S.&nbsp;54&nbsp;ff.</ref> Die ältesten direkten Fossilbelege ([[Körperfossil]]ien) entstammen dem berühmten [[Rhynie Chert]] des [[Unterdevon]]s von Schottland und sind zugleich auch die ältesten direkten Belege für parasitische Nematoden. Sie bestehen aus Eiern, Juvenilstadien und ausgewachsenen Individuen, die im [[Stoma (Botanik)|substomatären Hohlraum („Atemhöhle“)]] der frühen Landpflanze ''[[Aglaophyton major]]'' entdeckt und 2008 unter dem Namen ''Palaeonema phyticum'' beschrieben wurden.<ref name="poinar_2015" /> Als [[Spurenfossilien]] freilebender mariner, infaunaler Nematoden gedeutete Sedimentstrukturen wurden aus [[Tonstein]]en des [[Unterordovizium]]s der [[Hubei|Hubei-Provinz]] Chinas beschrieben.<ref name="balinski_2013" /><br />
<br />
Im [[Kolyma-Tiefland]] in Sibirien wurden Nematoden gefunden, die über etwa 42.000 bzw. 32.000 Jahre hinweg im [[Permafrost]]boden konserviert waren. Trotz der Tatsache, dass sie seit dem [[Jungpleistozän]] eingefroren waren, sollen zwei Exemplare dieser Würmer, die als ''Panagrolaimus'' aff. ''detritophagus'' und ''Plectus'' aff. ''parvus'' identifiziert wurden, erfolgreich wiederbelebt worden sein.<ref>A. V. Shatilovich, A. V. Tchesunov, T. V. Neretina, I. P. Grabarnik, S. V. Gubin, T. A. Vishnivetskaya, T. C. Onstott, E. M. Rivkina: ''Viable Nematodes from Late Pleistocene Permafrost of the Kolyma River Lowland.'' In: ''Doklady Biological Sciences.'' Bd.&nbsp;480, Nr.&nbsp;1, 2018, S.&nbsp;100–102, [[doi:10.1134/S0012496618030079]].</ref><br />
<br />
== Nematodenbekämpfung ==<br />
Viele Nematodenarten sind Schädlinge in der Landwirtschaft und im Gartenbau, da sie durch ihr Eindringen in die Wurzelsysteme den Pflanzenstoffwechsel stark beeinträchtigen können. Gegen einen Nematodenbefall kommen verschiedene chemische Substanzen, die sogenannten [[Nematizid]]e, sowie alternativ auch biologische Bekämpfungsmethoden, wie die Bepflanzung der befallenen Ackerflächen mit speziellen Nutzpflanzen (zum Beispiel resistenter [[Ölrettich]], [[Tagetes]] und [[Senfe|Senf]]), sowie thermische Verfahren, wie das [[Dämpfen (Bodendesinfektion)]] mit [[Heißdampf]] zur [[Bodenentseuchung]] zum Einsatz.<br />
<br />
== Nutzung und Forschung ==<br />
Die Art ''[[Caenorhabditis elegans]]'' ist aufgrund ihrer einfachen Haltung und der [[Zellkonstanz]] (Eutelie) zu einem beliebten Versuchstier der [[Genetik]]er geworden und fungiert als [[Modellorganismus]]. <!--Das Erbgut des Fadenwurms ist zu 75 Prozent identisch mit dem des Menschen. (Hier fehlt die Angabe, welche Art gemeint ist.--><br />
Der Nematode ''[[Pristionchus pacificus]]'' wurde als [[Satellitenorganismus]] zu ''Caenorhabditis elegans'' etabliert. Durch den Vergleich dieser beiden Arten kann erforscht werden, wie sich Entwicklungsprozesse – der Übergang vom Ei zum erwachsenen Organismus – im Laufe der Evolution verändern.<br />
Außerdem werden Nematoden vermehrt als [[Nützling]]e gegen [[Schnecken]], [[Dickmaulrüssler]] und andere Pflanzenschädlinge verwendet.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Fadenwurminfektionen des Hundes]]<br />
* [[Wurminfektionen der Katze]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Richard A. Sikora, Ralf-Peter Schuster: ''Handbuch der Phytonematologie''. Berichte aus der Agrarwissenschaft. Shaker, Aachen 2000, 91 S., ISBN 3-8265-6978-4<br />
* Johannes Hallmann: ''Biologische Bekämpfung pflanzenparasitärer Nematoden mit antagonistischen Bakterien''. Mitteilungen aus der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft Berlin-Dahlem, Heft 392. Dissertation. Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Berlin und Braunschweig 2003, 128 S.<br />
* [[Asmus Dowe]]: ''Räuberische Pilze und andere pilzliche Nematodenfeinde.'' 2., neu bearbeitete Auflage. (= ''Die Neue Brehm-Bücherei.'' Band 449). A. Ziemsen Verlag, Wittenberg Lutherstadt 1987, ISBN 3-7403-0042-6, 156 S.<br />
* Susanne L. Kerstan: ''Der Befall von Fischen aus dem Wattenmeer und dem Nordatlantik 1988–1990 mit Nematodenlarven und eine Bibliographie über parasitische Nematoden in Fischen und Seesäugern.'' Berichte aus dem [[Institut für Meereskunde Kiel|Institut für Meereskunde]] an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Nr. 219. Dissertation. Institut für Meereskunde, Abteilung Fischereibiologie, Kiel 1992, 205 S., [[doi:10.3289/ifm_ber_219]]<!-- CC-BY 2.5 ! --><br />
* Andreas Overhoff: ''Einfluss von Bewirtschaftungssystem und Bodenbearbeitung auf die Populationsdichte von Nematoden. Mit besonderer Berücksichtigung antagonistischer Wirkung von Regenwürmern und nematophagen Pilzen.'' Dissertation. Wissenschaftlicher Fachverlag, Gießen 1990, ISBN 3-925834-87-7, 198 S.<br />
* Jörn Alphei: ''Die freilebenden Nematoden von Buchenwäldern mit unterschiedlicher Humusform. Struktur der Gemeinschaften und Funktion in der Rhizosphäre der Krautvegetation.'' Berichte des Forschungszentrums Waldökosysteme. Reihe A, Band 125. Dissertation. Forschungszentrum Waldökosysteme der Universität Göttingen, Göttingen 1995, 165 S.<br />
* Katrin Goralczyk: ''Küstendünen als Lebensraum für Nematoden.'' Forschen und Wissen – Umweltwissenschaft. Dissertation. GCA-Verlag, Herdecke 2002, ISBN 3-89863-095-1.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Nematoda|Fadenwürmer (Nematoda)}}<br />
* [http://nematode.net/NN3_frontpage.cgi/ Nematode.net] – Nematoden-Systematik<br />
* [http://nematode.unl.edu/ Plant and Insect Parasitic Nematodes (engl.)] – Seite der Universität Nebraska (Abgerufen am 20. Oktober 2009)<br />
* [http://www.pristionchus.org/mediawiki/ ''Pristionchus pacificus''] die Wikionchus-Seite des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie<br />
* [http://progemuese.eu/ ProGemüse] – Deutsch-Niederländisches EU-Projekt zur Nematodenproblematik im Gemüseanbau<br />
* [http://www.eb.tuebingen.mpg.de/ Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie]<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4128872-5}}<br />
<br />
[[Kategorie:Fadenwürmer| ]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Modified-Vaccinia-Ankara-Virus&diff=198216572Modified-Vaccinia-Ankara-Virus2020-03-29T08:27:24Z<p>Udo.bellack: /* Geschichte */ add link to Passagen</p>
<hr />
<div>Das '''Modified-Vaccinia-Ankara-Virus''' (MVA) ist ein [[Attenuierung|attenuiertes]] [[Pockenvirus]], das zu [[Impfung|Impfzwecken]] verwendet wird.<ref>J. S. Kennedy, R. N. Greenberg: ''IMVAMUNE: modified vaccinia Ankara strain as an attenuated smallpox vaccine.'' In: ''Expert review of vaccines.'' Band 8, Nummer 1, Januar 2009, S.&nbsp;13–24, {{DOI|10.1586/14760584.8.1.13}}, PMID 19093767.</ref><ref>J. Parrino, L. H. McCurdy, B. D. Larkin, I. J. Gordon, S. E. Rucker, M. E. Enama, R. A. Koup, M. Roederer, R. T. Bailer, Z. Moodie, L. Gu, L. Yan, B. S. Graham: ''Safety, immunogenicity and efficacy of modified vaccinia Ankara (MVA) against Dryvax challenge in vaccinia-naïve and vaccinia-immune individuals.'' In: ''Vaccine.'' Band 25, Nummer 8, Februar 2007, S.&nbsp;1513–1525, {{DOI|10.1016/j.vaccine.2006.10.047}}, PMID 17126963, {{PMC|1892755}}.</ref><br />
<br />
== Entstehung ==<br />
Im Zuge seiner ursprünglichen Erzeugung durch ''Passagieren'' (serielle Infektionen von [[Zellkultur]]en) in [[CEF-Zellen|''chicken embryo fibroblast''-Zellen]] (CEF, ‚Hühnerembryo-[[Fibroblast]]en‘) hat MVA über 10 % seiner Gene im Vergleich zum [[Vacciniavirus]] Kopenhagen (mit 192 [[Basenpaar|Kilobasenpaaren]]) verloren.<ref name="PMID 9601507">G. Antoine, F. Scheiflinger, F. Dorner, F. G. Falkner: ''The complete genomic sequence of the modified vaccinia Ankara strain: comparison with other orthopoxviruses.'' In: ''Virology.'' Band 244, Nummer 2, Mai 1998, S.&nbsp;365–396, {{DOI|10.1006/viro.1998.9123}}, PMID 9601507.</ref> Dazu gehörten auch [[Gen]]e, die die [[Replikation]] in Säugetierzellen ermöglichen, weshalb MVA im Menschen replikationsinkompetent ist bzw. die Säugetierzellen [[Tropismus (Virologie)|nicht-permissiv]] sind. MVA kann in CEF-Zellen repliziert werden. Eine Variante des MVA wurde entwickelt, die den Fortschritt der Rekombination durch Farbwechsel mit fluoreszenten [[Reporterprotein]]en (grün, farblos, rot) anzeigt.<ref>G. Di Lullo, E. Soprana, M. Panigada, A. Palini, Volker Erfle, C. Staib, G. Sutter, A. G. Siccardi: ''Marker gene swapping facilitates recombinant Modified Vaccinia Virus Ankara production by host-range selection.'' In: ''Journal of virological methods.'' Band 156, Nummer 1–2, März 2009, S.&nbsp;37–43, {{DOI|10.1016/j.jviromet.2008.10.026}}, PMID 19038289.</ref><ref name="PMID 21419167">E. Soprana, M. Panigada, M. Knauf, A. Radaelli, L. Vigevani, A. Palini, C. Villa, M. Malnati, G. Cassina, [[Reinhard Kurth]], S. Norley, [[Antonio Siccardi|A. G. Siccardi]]: ''Joint production of prime/boost pairs of Fowlpox Virus and Modified Vaccinia Ankara recombinants carrying the same transgene.'' In: ''Journal of virological methods.'' Band 174, Nummer 1–2, Juni 2011, S.&nbsp;22–28, {{DOI|10.1016/j.jviromet.2011.03.013}}, PMID 21419167.</ref><br />
<br />
== Genom ==<br />
Das [[DNA]]-[[Genom]] des MVA besteht aus 178 Kilobasenpaaren mit 177 [[Offenes Leseraster|offenen Leserastern]].<ref name="PMID 9601507" /> In Zellkulturen sind Gene für eine [[Immunevasion]] tendenziell weniger wichtig als in Organismen mit [[Immunsystem]], daher fehlen im Vergleich zum Vacciniavirus Kopenhagen unter anderem einige Bereiche mit Genen zur Immunevasion.<br />
<br />
== Anwendungen ==<br />
Das Modified-Vaccinia-Ankara-Virus wurde als [[Pockenimpfstoff]] entwickelt und wird experimentell als [[viraler Vektor]] zur Impfung gegen andere Krankheiten verwendet, z. B. [[HIV]]. Dazu werden [[Gen]]e von [[Antigen]]en durch [[homologe Rekombination]] in das [[Genom]] des MVA eingefügt. <br />
<br />
In Tierversuchen zeigten [[transgen]]e MVA, je nach dem jeweils enthaltenen Antigen, eine Immunreaktion gegen HIV, [[Parainfluenzavirus]], [[Influenzavirus]],<ref name="PMID 21419167" /><ref>A. F. Altenburg, J. H. Kreijtz, R. D. de Vries, F. Song, R. Fux, G. F. Rimmelzwaan, G. Sutter, A. Volz: ''Modified vaccinia virus ankara (MVA) as production platform for vaccines against influenza and other viral respiratory diseases.'' In: ''Viruses.'' Band 6, Nummer 7, Juli 2014, S.&nbsp;2735–2761, {{DOI|10.3390/v6072735}}, PMID 25036462, {{PMC|4113791}}.</ref> [[Hepatitis-C-Virus]],<ref>J. Torresi, D. Johnson, H. Wedemeyer: ''Progress in the development of preventive and therapeutic vaccines for hepatitis C virus.'' In: ''Journal of hepatology.'' Band 54, Nummer 6, Juni 2011, S.&nbsp;1273–1285, {{DOI|10.1016/j.jhep.2010.09.040}}, PMID 21236312.</ref> [[Humanes Cytomegalievirus|Cytomegalievirus]],<ref>H. Sung, M. R. Schleiss: ''Update on the current status of cytomegalovirus vaccines.'' In: ''Expert review of vaccines.'' Band 9, Nummer 11, November 2010, S.&nbsp;1303–1314, {{DOI|10.1586/erv.10.125}}, PMID 21087108, {{PMC|3595507}}.</ref> [[MERS-Coronavirus]],<ref>F. Song, R. Fux, L. B. Provacia, A. Volz, M. Eickmann, S. Becker, A. D. Osterhaus, B. L. Haagmans, G. Sutter: ''Middle East respiratory syndrome coronavirus spike protein delivered by modified vaccinia virus Ankara efficiently induces virus-neutralizing antibodies.'' In: ''Journal of virology.'' Band 87, Nummer 21, November 2013, S.&nbsp;11950–11954, {{DOI|10.1128/JVI.01672-13}}, PMID 23986586, {{PMC|3807317}}.</ref> [[Masernvirus]], [[Flavivirus|Flaviviren]], ''[[Plasmodium falciparum]]'',<ref>S. C. Gilbert, V. S. Moorthy, L. Andrews, A. A. Pathan, S. J. McConkey, J. M. Vuola, S. M. Keating, T. Berthoud, D. Webster, H. McShane, A. V. Hill: ''Synergistic DNA-MVA prime-boost vaccination regimes for malaria and tuberculosis.'' In: ''Vaccine.'' Band 24, Nummer 21, Mai 2006, S.&nbsp;4554–4561, {{DOI|10.1016/j.vaccine.2005.08.048}}, PMID 16150517.</ref> [[Tuberkulose]]<ref>P. Andersen, J. S. Woodworth: ''Tuberculosis vaccines–rethinking the current paradigm.'' In: ''Trends in immunology.'' Band 35, Nummer 8, August 2014, S.&nbsp;387–395, {{DOI|10.1016/j.it.2014.04.006}}, PMID 24875637.</ref> oder verschiedene [[Krebs (Medizin)|Krebsarten]].<ref>R. J. Amato, M. Stepankiw: ''Evaluation of MVA-5T4 as a novel immunotherapeutic vaccine in colorectal, renal and prostate cancer.'' In: ''Future oncology.'' Band 8, Nummer 3, März 2012, S.&nbsp;231–237, {{DOI|10.2217/fon.12.7}}, PMID 22409460.</ref> Dabei entstehen [[Antikörper]] und [[T-Zelle]]n gegen das Antigen. Wie alle Vektoren auf der Basis von Pockenviren kann MVA nur einmal pro Impfling angewendet werden, da die ebenfalls entstehenden Antikörper<ref name="PMID21952287">C. Larocca, J. Schlom: ''Viral vector-based therapeutic cancer vaccines.'' In: ''Cancer journal.'' Band 17, Nummer 5, 2011 Sep-Oct, S.&nbsp;359–371, {{DOI|10.1097/PPO.0b013e3182325e63}}, PMID 21952287, {{PMC|3207353}} (Review).</ref> und T-Zellen gegen MVA-[[Protein]]e bei einer weiteren Anwendung am gleichen Impfling zu einem vorzeitigen Abbau des MVA-Impfstoffs oder zu überschießenden [[Immunreaktion]]en dagegen führen kann. Daher werden transgene MVA auch nicht bei Menschen angewendet, die zuvor eine Pockenimpfung erhalten hatten. Aufgrund der einmaligen Verwendung pro Impfling wird es teilweise entweder als ''prime'' (Erstimmunisierung) oder ''boost'' (Wiederholungsimmunisierung) eingesetzt. Bei der Vakzinierung mit Vektoren auf der Basis von [[Vogelpocken|Avipoxviren]] entstehen dagegen keine gegen den Vektor gerichtete Antikörper.<ref name="PMID21952287" /><br />
<br />
Das Modified-Vaccinia-Ankara-Virus befindet sich in verschiedenen [[Klinische Studie|klinischen Studien]] der Phasen I/II.<ref>C. E. Gómez, B. Perdiguero, J. García-Arriaza, M. Esteban: ''Clinical applications of attenuated MVA poxvirus strain.'' In: ''Expert review of vaccines.'' Band 12, Nummer 12, Dezember 2013, S.&nbsp;1395–1416, {{DOI|10.1586/14760584.2013.845531}}, PMID 24168097.</ref> Es wird unter anderem mit Antigenen des HIV in verschiedenen klinischen Studien der Phase I als Impfstoff gegen HIV von der [[IAVI]] durchgeführt (MVA-B).<ref>F. García, J. C. Bernaldo de Quirós, C. E. Gómez, B. Perdiguero, J. L. Nájera, V. Jiménez, J. García-Arriaza, A. C. Guardo, I. Pérez, V. Díaz-Brito, M. S. Conde, N. González, A. Alvarez, J. Alcamí, J. L. Jiménez, J. Pich, J. A. Arnaiz, M. J. Maleno, A. León, M. A. Muñoz-Fernández, P. Liljeström, J. Weber, G. Pantaleo, J. M. Gatell, M. Plana, M. Esteban: ''Safety and immunogenicity of a modified pox vector-based HIV/AIDS vaccine candidate expressing Env, Gag, Pol and Nef proteins of HIV-1 subtype B (MVA-B) in healthy HIV-1-uninfected volunteers: A phase I clinical trial (RISVAC02).'' In: ''Vaccine.'' Band 29, Nummer 46, Oktober 2011, S.&nbsp;8309–8316, {{DOI|10.1016/j.vaccine.2011.08.098}}, PMID 21907749.</ref><br />
<br />
== Geschichte ==<br />
Das Modified-Vaccinia-Ankara-Virus wurde 1975 von [[Anton Mayr]] als Pockenimpfstoff durch über 570 [[Zellkultur#Prinzip|Passagen]] in embryonalen Hühnerzellkulturen entwickelt.<ref>A. Mayr, V. Hochstein-Mintzel, H. Stickl: ''Abstammung, Eigenschaften und Verwendung des attenuierten Vaccinia-Stammes MVA.'' In: ''Infection'' (1975), Band 3: S. 9.</ref> Das zugrundeliegende Vacciniavirus Ankara war zuvor in Kälbern und Eseln passagiert worden. MVA wurde ab 1977 im Zuge der Ausrottung der humanen Pockenviren durch [[intradermal]]e, [[subkutan]]e oder [[intramuskulär]]e Injektionen an über 120.000 Menschen<ref>L. H. McCurdy, B. D. Larkin, J. E. Martin, B. S. Graham: ''Modified vaccinia Ankara: potential as an alternative smallpox vaccine.'' In: ''[[Clinical Infectious Diseases]].'' Band 38, Nummer 12, Juni 2004, S.&nbsp;1749–1753, {{DOI|10.1086/421266}}, PMID 15227622.</ref> in [[Bayern]] angewendet. Die Verwendung als Impfvektor mit geringen Nebenwirkungen gegen andere Krankheiten wurde 1992 in der Arbeitsgruppe von [[Bernard Moss]] entwickelt.<ref>G. Sutter, B. Moss: ''Nonreplicating vaccinia vector efficiently expresses recombinant genes.'' In: ''[[Proceedings of the National Academy of Sciences]].'' Band 89, Nummer 22, November 1992, S.&nbsp;10847–10851, PMID 1438287, {{PMC|50439}}.</ref><br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Impfstoff]]<br />
[[Kategorie:Virussubtyp]]<br />
[[Kategorie:Arzneistoff]]<br />
[[Kategorie:ATC-J07]]<br />
[[Kategorie:Pockenviren]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Griffiths_Experiment&diff=198216393Griffiths Experiment2020-03-29T08:19:07Z<p>Udo.bellack: add link to "Versuch"</p>
<hr />
<div>[[Bild:Griffith experiment de.svg|thumb|Griffiths Experiment mit Mäusen]]<br />
'''Griffiths Experiment''', das 1928 von [[Frederick Griffith]] durchgeführt wurde, war der erste Nachweis der [[Transformation (Genetik)|Transformation]] bei einem Bakterium, also der Übertragung von [[Genetik|genetischer]] [[Information]] zwischen [[Bakterien]].<br />
<br />
Er experimentierte dabei mit dem Bakterium ''[[Streptococcus pneumoniae]]'', das bei Mäusen [[Lungenentzündung]]en hervorruft. Dieses Bakterium kommt in zwei Varianten vor: als "S-Zellen" (''smooth'', glatt), die Schleimkapseln bilden können und daher im [[Lichtmikroskop]] glatt erscheinen sowie [[Pathogenität|krankheitserregend]] sind. Die "R-Form" (''rough'', rau) dagegen hat die Fähigkeit zur Kapselbildung verloren, erscheint rau und ist nicht pathogen, da sie wegen der fehlenden Schutzkapsel vom Immunsystem der Maus erkannt wird.<br />
<br />
Das Griffith-Experiment besteht nun aus folgenden vier Schritten:<br />
# Mäuse, denen [[Pneumokokken]] der S-Form injiziert werden, erkranken an Lungenentzündung.<br />
# Mäuse, denen Pneumokokken der R-Form injiziert werden, bleiben gesund.<br />
# Durch Hitze abgetötete Pneumokokken der S-Form werden injiziert. Die Tiere erkranken nicht. Tote Pneumokokken sind demnach nicht pathogen.<br />
# Wird Mäusen die abgetötete S-Form zusammen mit der lebenden R-Form injiziert, erkranken sie und sterben. Im Blut der erkrankten Mäuse können lebende Bakterien der S-Form nachgewiesen werden.<br />
<br />
Damit war bewiesen, dass eine Transformation stattgefunden hatte: die pathogene Fähigkeit der Schleimkapselbildung wird von den toten S-Zellen auf die lebenden R-Zellen übertragen.<br />
<br />
1944 zeigten [[Oswald Avery]] und seine Mitarbeiter in einem [[Oswald_Avery#Der_Versuch|Versuch]], dass die Transformation auf einer Übertragung von [[Desoxyribonukleinsäure]] (DNA) beruht. Dies war ein wichtiger Schritt zu der Erkenntnis, dass DNA allgemein der Träger der Erbinformation ist.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* {{Cite journal|doi=10.1017/S0022172400031879 |title=The significance of pneumococcal types |author=Griffith F |journal=Journal of Hygiene |pmid=20474956 |pmc=2167760 |volume=27 |issue=2 |date=Januar 1928 |pages=113–59}}<br />
* ''Moderne Genetik – eine Einführung'', T. A. Brown, Spektrum Akademischer Verlag, 1993 (englisches Original: ''Genetics: A Molecular Approach, Second edition'', Chapman & Hall 1992), ISBN 978-3860251805<br />
<br />
[[Kategorie:Genetik]]<br />
[[Kategorie:Bakteriologie]]<br />
[[Kategorie:Biologisches Experiment]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Immunevasion&diff=198215217Immunevasion2020-03-29T07:17:01Z<p>Udo.bellack: /* Eigenschaften */ add link for "Segmenten"</p>
<hr />
<div>Als '''Immunevasion''' (von {{laS|evadere}} „entkommen, entrinnen“, {{enS|immune evasion}} oder ''{{lang|en|immune escape}})'' bezeichnet man einen Vorgang, bei dem [[Pathogen]]e mithilfe von [[Mutation]] oder spezifischen Mechanismen einer Erkennung oder Abwehr durch das [[Immunsystem]] entgehen. Der Begriff ist speziell in der [[Infektiologie]] üblich, um verschiedene Mechanismen von endogenen (z.&nbsp;B. [[Tumor]]en und manche [[Prion]]en) oder exogenen Pathogenen (z.&nbsp;B. [[Viren]] oder [[Bakterien]]) zum Unterlaufen der [[Immunsystem#Adaptive oder spezifische Immunabwehr|adaptiven Immunabwehr]] zusammenzufassen.<br />
<br />
== Eigenschaften ==<br />
Die Mechanismen, die eine Immunevasion ermöglichen, gehören teilweise zu den [[Virulenzfaktor]]en. Die Immunevasion erstreckt sich im Wesentlichen auf folgende Angriffspunkte:<br />
* Veränderung der Oberflächen[[antigen]]e des Erregers (Durch [[Fluchtmutation]]en entstehen Fluchtmutanten, {{enS|escape mutants}}), zum Teil unter Nachahmung körpereigener [[Epitop]]e ([[Molekulare Mimikry]]). Bei Viren mit segmentiertem [[Genom]] kann zusätzlich noch ein Austausch von [[Genom#Viren|Segmenten]] ({{enS|antigen shift}}) erfolgen.<br />
* Latenzmechanismen für einen dauerhaften Verbleib innerhalb von Zellen (siehe [[lysogener Zyklus]]).<br />
* Herunterregulation der Synthese eigener Antigene<br />
* Zerstörung von Immunzellen oder Induktion von [[Anergie (Immunologie)|Anergie]].<br />
* Beeinträchtigung der [[Antigenpräsentation]] oder des vorangehenden Antigen-Verdaus in [[Antigenpräsentierende Zelle|antigenpräsentierenden Zellen]].<br />
* Blockierung der T-Zell-vermittelnden [[Lyse (Biologie)|Zelllyse]].<br />
* Wechselwirkung mit [[Zytokine]]n oder deren [[kompetitive Hemmung]] durch [[Virokin]]e.<br />
* Vermeidung einer [[Apoptose]] der Wirtszelle<br />
* Infektion von Zelltypen, die nur eingeschränkt im Zuge einer [[Immunreaktion]] zerstört werden können (Zellen mit [[Immunprivileg]], z.&nbsp;B. [[Keratinozyten]], [[Neuron]]en oder [[Stammzelle]]n).<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* S. Modrow, [[Dietrich Falke]], U. Truyen: ''Molekulare Virologie''. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2003, ISBN 3-8274-1086-X.<br />
* D. M. Knipe, [[Peter M. Howley]] (Hrsg.): ''Fields Virology''. 5. Auflage. Philadelphia 2007, ISBN 0-7817-6060-7, Band 1, S. 316 ff.<br />
<br />
[[Kategorie:Immunologie]]<br />
[[Kategorie:Infektiologie]]<br />
[[Kategorie:Epidemiologie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Linux-Distribution&diff=198186614Linux-Distribution2020-03-28T10:22:04Z<p>Udo.bellack: /* Standardisierungsansätze */ fix typo</p>
<hr />
<div>[[Datei:Linux Distribution Timeline.svg|mini|hochkant|Zeitleiste mit der Entwicklung verschiedener Linux-Distributionen]]<br />
Eine '''Linux-Distribution''' ist eine Auswahl aufeinander abgestimmter [[Software]] um den [[Linux (Kernel)|Linux-Kernel]], bei dem es sich dabei in einigen Fällen auch um einen mehr oder minder angepassten und meist in enger Abstimmung mit [[Upstream (Softwareentwicklung)|Upstream]] selbst gepflegten ''Distributionskernel'' handelt. Üblicherweise wird der Begriff auf Zusammenstellungen begrenzt, die weitgehend linuxtypisch aufgebaut sind, was beispielsweise auf [[Android (Betriebssystem)|Android]] nicht zutrifft.<br />
<br />
Distributionen, in denen [[GNU]]-Programme eine essenzielle Rolle spielen, werden auch als „'''GNU/Linux-Distributionen'''“ bezeichnet. Die Namensgebung mit oder ohne GNU-Namenszusatz wird von den Distributoren je nach ihrer Position im [[GNU/Linux-Namensstreit]] unterschiedlich gehandhabt.<br />
<br />
Fast jede Distribution ist um eine [[Paketverwaltung]] herum zusammengestellt, d.&nbsp;h., dass sämtliche Bestandteile der Installation als Pakete vorliegen und sich über den Paketmanager installieren, deinstallieren und updaten lassen. Die Pakete werden dazu online in sogenannten [[Repository|Repositories]] vorgehalten.<br />
<br />
Zusammengestellt wird eine Linux-Distribution von seinem Distributor. Für gewöhnlich wählt dieser Programme aus, bei denen er die nötigen Rechte hat, passt sie mehr oder weniger an, paketiert sie in seiner Paketverwaltung und bietet das Ergebnis als Distribution an. Normalerweise werden lediglich wenige Programme vom Distributor selbst geschrieben, z.&nbsp;B. meist der Distributions-[[Installer]]. Der Distributor kann ein Unternehmen oder eine Gruppe von weltweit verteilten Freiwilligen sein. Er kann auch kommerziellen Support anbieten.<br />
<br />
== Konzept ==<br />
Sinn einer Distribution ist es, ein Paket aufeinander abgestimmter Software zu bilden. Den zentralen Teil bilden dabei der Linux-Kernel selbst sowie Systemprogramme und Bibliotheken. Je nach dem vorgesehenen Anwendungszweck der Distribution werden verschiedene [[Anwendungssoftware|Anwendungsprogramme]] (z.&nbsp;B. [[Webbrowser]], [[Office-Paket|Office-Anwendungen]], [[Grafiksoftware|Zeichenprogramme]], [[Mediaplayer]] etc.) hinzugefügt.<br />
<br />
Linux-Distributionen halten in der Regel eine große Anzahl an Programmen in den Repositories zur Installation bereit. Dies steht im konzeptuellen Gegensatz zu anderen Betriebssystemen wie [[Microsoft Windows|Windows]] und [[macOS]], die neben dem Betriebssystem selbst nur wenige Anwendungen enthalten, dafür auf die Integration von Programmen von externen Anbietern, sogenannten [[Independent Software Vendor|ISVs]], setzen.<br />
<br />
Weitere Aufgaben der Distributionen sind die Anpassung der Programme (durch [[Patch (Software)|Patchen]]), Hinzufügen eigener Programmentwicklungen (vor allem zur Installation und Konfiguration des Systems wie zum Beispiel [[Advanced Packaging Tool|apt]], [[Synaptic (Software)|Synaptic]], [[YaST]]) sowie (bis auf wenige Ausnahmen, z.&nbsp;B. Gentoo) Kompilierung und Paketierung ([[Debian-Paket|.deb]], [[RPM Package Manager|.rpm]]) der Programme. Die Bereitstellung von zusätzlichen Programmen und Updates erfolgt typischerweise zentral über ein [[Repository]], welches über ein [[Paketverwaltung]]s-System mit dem Betriebssystem synchronisiert wird.<br />
<br />
Auch wenn bei Linux-Betriebssystemen Distributionen die bei weitem üblichste Variante sind, ist ein Betrieb von Linux auch ohne eine vorgefertigte Distribution möglich, zum Beispiel mithilfe von [[Linux From Scratch]]. In dem für Linux wichtigen Markt der [[Embedded Linux|eingebetteten Systeme]] sind Distributionen wenig verbreitet.<br />
<br />
=== Zusammensetzung ===<br />
[[Datei:Linux-Distribution.svg|mini|Bestandteile einer Linux-Distribution]]<br />
Neben dem Linux-Kernel besteht eine Distribution meist aus der [[GNU]]-Software-Umgebung. Diese stellt große Teile des grundlegenden Basissystems mit den zahlreichen Systemdiensten (sogenannten [[Daemon]]s) sowie diverse Anwendungen bereit, die bei einem [[Unixoides System|unixoiden System]] erwartet werden. Distributionen, welche auch oder nur für Desktop-Systeme gedacht sind, verfügen normalerweise über ein [[Fenstersystem]], derzeit meistens das [[X Window System]]. Ein solches ist für das Ausführen einer [[Grafische Benutzeroberfläche|grafischen Benutzeroberfläche]] erforderlich. Darauf aufbauend steht meist eine [[Desktop-Umgebung]], wie bspw. [[Gnome]] oder die [[KDE Software Compilation]] zur Verfügung, welche neben der reinen Benutzeroberfläche noch eine Auswahl an [[Anwendungssoftware|Anwendungsprogrammen]] mitbringt.<br />
<br />
Ergänzend fügt ein Distributor normalerweise zahlreiche weitere Anwendungen bei. Dies sind beispielsweise [[Office-Paket]]e, Multimediasoftware, [[Editor (Software)|Editoren]], [[E-Mail-Programm]]e, [[Webbrowser|Browser]], aber auch [[Server]]-Dienste. Daneben finden sich meist Softwareentwicklungs-Werkzeuge wie [[Compiler]] bzw. [[Interpreter]] sowie Editoren.<br />
<br />
Viele Softwarebestandteile von Linux-Distributionen, z.&nbsp;B. der Compiler [[GNU Compiler Collection|GCC]], stammen aus dem älteren GNU-Projekt. Dieses hatte sich schon vor der Entwicklung von Linux die Aufgabe gestellt, eine Alternative zu den kommerziellen [[Unix]]-Betriebssystemen zu entwickeln. Da der eigene Kernel des GNU-Projekts, [[GNU Hurd]], noch in der Entwicklung ist, wird häufig als Ersatz der Linux-Kernel benutzt. Daher ist auch der Doppelname ''GNU/Linux'' für eine Distribution geläufig (z.&nbsp;B. bei [[Debian]]).<br />
<br />
Es gibt auch Linux-Distributionen, die auf die GNU-Softwareanteile oder ein X Window System komplett verzichten und stattdessen alternative Software nutzen. Diese Distributionen verhalten sich, wie beispielsweise [[FreeVMS]] oder [[BeOS#Cosmoe|Cosmoe]], teilweise auch nicht annähernd wie ein Unix-System.<br />
<br />
=== Vertrieb ===<br />
Während proprietäre Betriebssysteme häufig über den [[Einzelhandel]] vertrieben werden, ist dies bei Linux-Distributionen eher die Ausnahme. Die meisten Distributionen können heute kostenlos von der [[Website]] der Anbieter heruntergeladen werden. Diese finanzieren sich über Spenden, über kostenpflichtigen [[Support (Dienstleistung)|Support]] oder auch einfach nur über die Beteiligung von Freiwilligen. Nur vergleichsweise wenige Distributionen werden von gewinnorientierten Firmen entwickelt und sind teilweise über den Einzelhandel verfügbar. Zahlreiche Linux-Distributionen werden auch, von den Kunden unbemerkt, als [[Firmware]] auf einem [[Hardware|Gerät]] oder sogar in größeren [[Maschine]]n oder [[Anlage (Technik)|Anlagen]] erworben. Dabei kann es sich z.&nbsp;B. um [[Werkzeugmaschine]]n, [[Fahrzeug]]e, [[Haushaltsgerät]]e, [[Speicherprogrammierbare Steuerung|SPS]], [[Messgerät]]e, [[Mobiltelefon]]e, [[Modem]]s, [[Digitalkamera]]s, [[Network Attached Storage|NAS]] oder [[Fernsehgerät|Fernseher]] handeln.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
{{Hauptartikel|Geschichte von Linux}}<br />
Da [[Linux]] nur ein Betriebssystem-[[Kernel (Betriebssystem)|Kernel]] ist, wird weitere Software benötigt, um ein benutzbares Betriebssystem zu erhalten. Aus diesem Grund kamen die ersten Linux-[[Distribution (Software)|Distributionen]] schon kurz nach der [[GNU General Public License|GPL-Lizenzierung]] von Linux auf, als Anwender, die nicht zum direkten Entwicklerkreis gehörten, Linux zu nutzen begannen. Die ersten Distributionen hatten dabei das Ziel, das System beispielsweise mit der Software des [[GNU-Projekt]]s zu einem arbeitsfähigen Betriebssystem zu bündeln. Zu ihnen gehörten ''MCC Interim Linux'', das auf den FTP-Servern der University of Manchester im Februar 1992 veröffentlicht wurde sowie ''TAMU'' und [[Softlanding Linux System]] (SLS), die etwas später herauskamen. Die erste kommerziell auf CD erhältliche Distribution war 1992 das von Adam J. Richters entwickelte [[Yggdrasil Linux]]. 1993 veröffentlichte [[Patrick Volkerding]] die Distribution [[Slackware]], die auf SLS basiert. Sie ist die älteste heute noch aktive Linux-Distribution. Ebenfalls 1993, ungefähr einen Monat nach der Veröffentlichung von Slackware, wurde das Debian-Projekt ins Leben gerufen, das im Gegensatz zu Slackware gemeinschaftlich entwickelt wird. Die erste stabile Version kam 1996 heraus.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.debian.org/doc/manuals/project-history/ch-detailed.en.html |titel=A Brief History of Debian - A Detailed History |hrsg=Debian Documentation Team |zugriff=2016-08-08}}</ref> 2004 wurde von [[Canonical]] das auf Debian basierende, später sehr populäre [[Ubuntu]] herausgebracht.<ref>{{Internetquelle |url=https://wiki.ubuntu.com/Releases |titel=Releases - Ubuntu Wiki |hrsg=Canonical |zugriff=2016-08-08}}</ref><br />
<br />
Die ersten Nutzer kannten noch freie Software aus der Zeit vor den 1980er-Jahren und schätzten Linux, weil sie wieder die [[Verwertungsrecht]]e an der von ihnen verwendeten Software besaßen. Spätere Nutzer waren Unix-Anwender, die Linux zunächst vor allem privat einsetzten und sich vor allem über den geringen Preis freuten. Waren die ersten Distributionen nur der Bequemlichkeit halber geschaffen worden, sind sie doch heute die übliche Art für Nutzer wie auch Entwickler, ein Linux-System zu installieren. Dabei werden die Linux-Distributionen heutzutage sowohl von Entwicklergruppen als auch von Firmen oder gemeinnützigen Projekten entwickelt und betrieben.<br />
<br />
Die Frage, welche Distributionen besonders beliebt sind, lässt sich nur schwer beantworten. Im deutschsprachigen Raum werden vor allem Ubuntu, Debian, [[openSUSE]] und [[Knoppix]] häufiger auch außerhalb der IT-Presse erwähnt. Darüber hinaus wäre [[Fedora (Linux-Distribution)|Fedora]] zu nennen, das von dem börsennotierten US-Unternehmen [[Red Hat]] entwickelt wird.<br />
<br />
== Arten von Distributionen ==<br />
Da Distributionen praktisch eigene [[Produkt (Wirtschaft)|Produkte]] sind, konkurrieren diese am Markt miteinander und versuchen, sich einerseits voneinander abzugrenzen, andererseits aber auch anderen Distributionen keinen zu großen Vorteil zu überlassen. Daher unterscheiden sich zwar sämtliche Distributionen; es gibt aber kaum etwas, wofür sich nicht jede Distribution anpassen ließe. Hiervon ausgenommen sind nur Spezial-Systeme, etwa als Software im [[Eingebettetes System|Embedded]]-Bereich.<br />
<br />
Einige Distributionen sind speziell auf einen Anwendungsfall optimiert. So gibt es etwa Systeme speziell für den Einsatz in Bildungseinrichtungen mit hierfür spezialisierter Software und zumeist einem [[Terminalserver]]-System, wodurch nur ein leistungsstarker Rechner benötigt wird und ansonsten auch ältere Hardware ausreicht. Beispiele sind hier [[Edubuntu]] oder [[DebianEdu]]. Ebenso gibt es Systeme speziell für veraltete Rechner, die einen geringeren Funktionsumfang haben und geringe Systemanforderungen stellen. Beispiele sind etwa [[Damn Small Linux]] oder [[Puppy Linux]], die einen Umfang von nur 50 beziehungsweise 100&nbsp;MB haben.<br />
<br />
=== Smartphone-Distributionen ===<br />
[[Datei:Android Nougat screenshot 20170116-070000.png|mini|hochkant|Homebildschirm von Android 7.1]]<br />
Für [[Smartphone]]s und [[Tabletcomputer|Tablets]] gibt es speziell optimierte Linux-Distributionen. Sie bieten neben den [[Telefon]]ie- und [[Short Message Service|SMS]]-Funktionen diverse [[Personal Information Manager|PIM]]-, [[Globales Navigationssatellitensystem|Navigations]]- und [[Multimedia]]-Funktionen. Die Bedienung erfolgt typischerweise über [[Multi-Touch]] oder mit einem Stift. Linux-basierte Smartphone-Betriebssysteme werden meist von einem Unternehmens[[konsortium]] oder einem einzelnen Unternehmen entwickelt und unterscheiden sich teilweise sehr stark von den sonst klassischen Desktop-, Embedded- und Server-Distributionen. Anders als im Embedded-Bereich sind Linux-basierte Smartphonesysteme aber nicht auf ein bestimmtes Gerät beschränkt. Vielmehr dienen sie als Betriebssystem für Geräte ganz unterschiedlicher Modellreihen und werden oft herstellerübergreifend eingesetzt.<br />
<br />
Die Architektur vieler Linux-basierter Smartphone- und Tablet-Betriebssysteme wie z.&nbsp;B. Android hat neben dem Linux-Kernel nur wenig Gemeinsamkeiten mit klassischen Linux-Distributionskonzepten.<ref name="chrishoffman" /><ref name="APIs" /><ref name="Smartphone Disto">{{cite web|url=http://www.zdnet.com/blog/hardware/the-death-of-the-linux-distro/18152 |title=The death of the Linux distro |work=The death of the Linux distro |author=Adrian Kingsley-Hughes |publisher=CBS Interactive |accessdate=2012-09-19 |date=2012-02-14 |quote=Take a look at how Android has become the dominant Linux distro on mobile platforms. […] So again, while B2G is essentially a Linux distro, people will come […] |language=englisch}}</ref> Ob Android als wichtigstes Linux-Kernel basierendes Smartphone-Betriebssystem auch als Linux-Distribution einzuordnen ist, wird kontrovers diskutiert.<ref>{{cite web|url=http://jeffhoogland.blogspot.de/2011/07/six-signs-android-really-isnt-linux.html |first=Jeff |last=Hoogland |quote=''Many people argue that Android has put Linux into the hands of millions of users. While there is no doubting that Android has been a raging success, I would argue that Google has put Android into the hands of millions of people – not Linux.'' |title=Six Signs Android really isn't Linux |date=2011-07-07 |accessdate=2015-04-20 |publisher=Thoughts on technology |language=englisch}}</ref> U.a. wird typischerweise auch nur ein kleiner Teil der sonst üblichen GNU-Software-Umgebung und -Tools genutzt.<ref name="stallman2011" /> Da Android nicht vollständig freie Software ist und Googles [[Android Market]] die Verwendung unkontrollierter proprietärer Binär-Software ermöglicht, stehen [[Richard Stallman]] und die [[Free Software Foundation|FSF]] Android sehr kritisch gegenüber und empfehlen die Verwendung von Alternativen.<ref name="stallman2011">{{cite web|url=https://www.theguardian.com/technology/2011/sep/19/android-free-software-stallman |publisher=[[The Guardian]] |title=Is Android really free software? – Google’s smartphone code is often described as 'open' or 'free' – but when examined by the Free Software Foundation, it starts to look like something different|first=Richard |last=Stallman |date=2011-09-19 |accessdate=2012-09-09 |quote=the software of Android versions 1 and 2 was mostly developed by Google; Google released it under the Apache 2.0 license, which is a lax free software license without copyleft. […] The version of Linux included in Android is not entirely free software, since it contains non-free „binary blobs“ […] Android is very different from the GNU/Linux operating system because it contains very little of GNU.|language=englisch}}</ref><ref>{{cite web|url=http://www.gnu.org/philosophy/android-and-users-freedom.html|title=Android und die Freiheit der Nutzer – Unterstützen Sie die Kampagne Befreien Sie Ihr Android! |first=Richard|last=Stallman |publisher=gnu.org |quote=Obwohl heutige Android-Telefone erheblich weniger schlecht als Apple- oder Windows-Smartphones sind, kann nicht gesagt werden, dass sie die Freiheit der Nutzer respektieren.|date=2012-08-05|accessdate=2012-09-09}}</ref> Die meist auf Linux genutzten UNIX-artigen Dienste und Tools werden teilweise durch eine [[Java-Laufzeitumgebung]] ersetzt. Dadurch entstehen neue [[Programmierschnittstelle]]n, die sich auf beliebigen anderen Plattformen emulieren bzw. umsetzen lassen.<ref>{{Internetquelle |url=http://developer.android.com/guide/basics/what-is-android.html |titel=What is Android? |werk=Android Developers Guide |zugriff=2011-09-08 |sprache=en}}</ref> Trotz großer Diskrepanzen<ref>zdnet.de: [http://www.zdnet.de/41553061/android-architektur-wieviel-linux-steckt-in-googles-os/ „Wieviel Linux steckt in Googles OS?“] von Christoph H. Hochstätter, 18. Mai 2011. Abgerufen am 11. September 2013</ref><ref>Anika Kehrer: [http://www.linux-magazin.de/NEWS/Wieviel-Linux-steckt-in-Android ''Wieviel Linux steckt in Android?'']. Online auf linux-magazin.de vom 10. November 2009; abgerufen am 11. September 2013.</ref><ref name="APIs">{{cite web|last=Paul |first=Ryan |url=http://arstechnica.com/gadgets/2009/02/an-introduction-to-google-android-for-developers/ |language=englisch |title=Dream(sheep++): A developer’s introduction to Google Android |work=[[Ars Technica]] |date=2009-02-24 |accessdate=2013-04-03}}</ref><ref name="chrishoffman">{{cite web|url=http://www.howtogeek.com/189036/android-is-based-on-linux-but-what-does-that-mean/ |title=Android is Based on Linux, But What Does That Mean?| quote=''Android may be based on Linux, but it’s not based on the type of Linux system you may have used on your PC. You can’t run Android apps on typical Linux distributions and you can’t run the Linux programs you’re familiar with on Android. Linux makes up the core part of Android, but Google hasn’t added all the typical software and libraries you’d find on a Linux distribution like Ubuntu. This makes all the difference.'' |date=2014-05-12 |language=englisch |accessdate=2015-04-23 |first=Chris |last=Hoffman}}</ref> wird Android jedoch von manchen über gemeinsame Eigenschaften mit [[Embedded Linux|Embedded-Linux]]-Distributionen bei den Linux-Distributionen eingeordnet.<ref name="BillAnderson">{{Internetquelle |autor=Bill Anderson |url=http://www.all-things-android.com/content/android-just-another-distribution-linux |titel=Android is Just Another Distribution of Linux |hrsg=Android News for Costa Rica |datum=2014-05-13 |zugriff=2014-09-12 |sprache=en |zitat=''Android is not a GNU/Linux distribution, but it is a distribution of Linux. More specifically, it is a distribution of embedded Linux that uses many NetBSD utilities.''}}</ref> Andere Linux-basierende Smartphone-Betriebssysteme wie etwa [[Firefox OS]], [[Ubuntu#Ubuntu auf Smartphones|Ubuntu for phones]],<ref>{{Internetquelle |url=http://netzsieger.de/blog/elektronik/smartphones/ubuntu-smartphones/ |titel=Canonical bringt Ubuntu auf Smartphones |zugriff=2013-01-18 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20130112095501/http://netzsieger.de/blog/elektronik/smartphones/ubuntu-smartphones/ |archiv-datum=2013-01-12 |offline=ja |archiv-bot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref> [[Maemo]], [[Tizen]], [[MeeGo#Mer-Projekt|Mer]], [[Sailfish OS]]<ref name="chip12">{{Internetquelle |url=http://www.chip.de/news/Jolla-Erstes-Sailfish-Smartphone-Ende-2013-fuer-400__58662225.html |titel=Jolla: Erstes Sailfish-Smartphone Ende 2013 für 400&nbsp;€ |hrsg=chip.de |zugriff=2013-05-29 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20130607202913/http://www.chip.de/news/Jolla-Erstes-Sailfish-Smartphone-Ende-2013-fuer-400__58662225.html |archiv-datum=2013-06-07 |offline=ja |archiv-bot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref> und [[MeeGo]] nutzen größere Teile der klassischen GNU-Software-Umgebung, so dass diese teilweise einfacher mit klassischen Linux-Anwendungen ergänzt werden können und somit eher Linux-Distributionen im klassischen Sinne entsprechen.<br />
<br />
Während die Marktanteile von bisher verbreiteten Mobil-Plattformen wie [[Apple]]s [[iOS (Betriebssystem)|iOS]], [[Microsoft]]s [[Windows Mobile]] und [[Nokia]]s [[Symbian OS]] sanken, konnte Android Marktanteile hinzugewinnen.<ref name="smartphones">{{Webarchiv|url=http://mobilemetrics.de/wordpress/wp-content/uploads/2012/04/iOS_vs_Android.jpg |wayback=20120527022639 |text=Kennzahlen zum Mobile-Markt von Business Insider |archiv-bot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}, 15. April 2012, Alexander Oschatz, Radenbul, zugegriffen: 19. Juni 2012.</ref> Seit Ende 2010 haben Linux-Systeme die Marktführerschaft auf dem schnell wachsenden Smartphone-Markt übernommen.<ref name="Marktführerschaft">[http://www.canalys.com/newsroom/google%E2%80%99s-android-becomes-world%E2%80%99s-leading-smart-phone-platform Google’s Android becomes the world’s leading smart phone platform] (englisch), zugegriffen 11. August 2011</ref> Sie wiesen zusammen im Juli 2011 einen Marktanteil von mindestens <!-- nicht allein Android -->45 %<ref name="a45">{{cite web|url=http://www.nzz.ch/nachrichten/digital/nokia_krise_1.11867798.html |title=Nokias Krise verschärft sich |publisher=[[Neue Zürcher Zeitung|NZZ]]-Online |accessdate=2012-01-10 |date=2011-08-11}}</ref> auf. Aktuell ist Android die mit großem Abstand verbreitetste Linuxdistribution für Smartphones. Der Marktanteil lag im Mai 2016 bei 78 %.<ref>{{Internetquelle |url=http://de.statista.com/statistik/daten/studie/256790/umfrage/marktanteile-von-android-und-ios-am-smartphone-absatz-in-deutschland/ |titel=Marktanteile von Android und iOS am Absatz in Deutschland |hrsg=statista |zugriff=2016-08-07}}</ref><br />
<br />
=== Embedded-Distributionen ===<br />
{{Hauptartikel|Embedded Linux}}<br />
Linux ist ein beliebtes Betriebssystem in eingebetteten Systemen.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.pro-linux.de/news/1/22158/linux-waechst-weiter-im-markt-fuer-eingebettete-geraete.html |titel=Linux wächst weiter im Markt für eingebettete Geräte |hrsg=pro-linux.de |datum=2015-03-25 |zugriff=2016-08-07}}</ref> Entsprechende Distributionen sind für gewöhnlich hoch spezialisiert, da sie auf wenige, bestimmte Aufgaben ausgelegt sind. So ist meistens auch keine oder nur eine sehr einfache grafische Oberfläche zu finden. Häufig handelt es sich um [[Echtzeitsystem]]e. Sie haben in der Regel wenig Ähnlichkeit mit PC-Distributionen.<br />
<br />
=== Live-Distributionen ===<br />
{{Hauptartikel|Live-System}}<br />
Eine Besonderheit bilden [[Live-System]]e, die von CD, DVD, USB und anderen Medien gebootet werden. Handelte es sich hierbei zunächst nur um spezialisierte Distributionen, die den Funktionsumfang von Linux demonstrieren sollten, gehört es inzwischen zum guten Ton unter Linux-Distributionen, den Standard-Umfang in Form einer Live-CD oder -DVD bzw. einem Live-USB-Speicherstick anzubieten. Einige dieser Systeme lassen sich auch direkt von dem Medium aus installieren.<br />
<br />
Live-Systeme können als vollständiges Linux gestartet werden, ohne auf die Festplatte zu schreiben und ohne die bestehende Konfiguration eines Rechners zu verändern. So kann die entsprechende Linux-Distribution gefahrlos auf einem Computer getestet werden. Live-Systeme eignen sich auch hervorragend zur Datenrettung und Systemanalyse, da sie von der Konfiguration des bereits bestehenden Systems unabhängig sind und so auch von möglichen Infektionen durch Würmer und Viren nicht betroffen werden können.<br />
<br />
== Linux-Distributionen neben anderen Betriebssystemen ==<br />
Die meisten Linux-Distributionen können auf derselben Hardware parallel zu anderen Betriebssystemen installiert werden. Als solche kommen bspw. eine weitere Linux-Distribution, ein anderes [[unixoid]]es Betriebssystem wie [[macOS]] oder [[Solaris (Betriebssystem)|Solaris]], oder aber auch ein [[Windows]] in Betracht. Prinzipiell sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden:<br />
<br />
=== Multi-Boot ===<br />
{{Hauptartikel|Multi-Boot-System}}<br />
In einer [[Multi-Boot-System|Multi-Boot]]-Konfiguration werden zwei oder mehr Betriebssysteme parallel auf verschiedene Festplatten-Partitionen installiert. [[Installationsprogramm]]e moderner Linux-Distributionen können meist bereits installierte Betriebssysteme erkennen und eigenständig eine Multi-Boot-Konfiguration einrichten. Nach der Installation kann beim Bootvorgang über einen [[Bootloader]] oder [[Bootmanager]] gewählt werden, welches Betriebssystem starten soll.<br />
<br />
=== Virtualisierung ===<br />
{{Hauptartikel|Virtualisierung (Informatik)}}<br />
Werden die Betriebssysteme häufig gleichzeitig genutzt, bietet sich u.&nbsp;U. eher eine [[Virtualisierung (Informatik)|Virtualisierungs]]-Lösung an. Zu unterscheiden sind hierbei das Host- und Gast-System. Ersteres ist tatsächlich physisch auf der Hardware installiert. Innerhalb dessen kommt eine Virtualisierungssoftware wie bspw. [[VirtualBox]] oder [[Kernel-based Virtual Machine|KVM]] zum Einsatz. Diese emuliert für das Gast-System die gesamte erforderliche Hardware oder bietet durch ein Sicherheitssystem direkten Zugriff auf die tatsächlich vorhandene Hardware des Computers. Da diese in einer solchen Konfiguration für den gleichzeitigen Betrieb beider Systeme erforderlich ist, kann es zu Geschwindigkeitseinbußen kommen.<br />
<br />
== Unterschiede zwischen einzelnen Distributionen ==<br />
Auch wenn man Spezial-Distributionen außer Acht lässt, unterscheiden sich auch gängige Linux-Distributionen in einigen Punkten.<br />
<br />
Einige Distributionen für Fortgeschrittene haben zum Beispiel keinen Installer, sondern nur eine Live-CD, die die nötigen Werkzeuge zur manuellen Installation bereitstellt (bspw. [[Arch Linux|Arch]] und [[Gentoo Linux|Gentoo]]). Die meisten bieten allerdings einen Installer in Form eines [[Assistent (Datenverarbeitung)|Assistenten]] an. Einige bieten zwar einen Assistenten an, erfordern aber Vorarbeiten, etwa das Partitionieren (bspw. Slackware). Die sonstige Art der Konfiguration entspricht normalerweise der Installationsmethode. Bei manchen Systemen muss man also die Konfigurationsdateien i.&nbsp;d.&nbsp;R. direkt bearbeiten, während andere für die wichtigsten Optionen Tools bereitstellen.<br />
<br />
Ein wichtiger Punkt ist auch die kostenlose Verfügbarkeit. Einige wenige Distributionen kosten Geld (bspw. [[Red Hat Enterprise Linux|RHEL]]), während die meisten kostenlos sind.<br />
<br />
Weiter unterscheiden sich Distributionen in der Anzahl der unterstützten [[Architektur (Informatik)|Architekturen]] (besonders vielfältig sind Gentoo und Debian). Auch spielen Art und Umfang der Dokumentation eine Rolle. So liegen einigen Produkten Handbücher bei (bspw. [[Red Hat Enterprise Linux|RHEL]]), während für die meisten nur Dokumentation auf Webseiten zur Verfügung steht. Manche Distributionen verzichten ganz auf eine offizielle Dokumentation und lassen diese lieber – bspw. als [[Wiki]] – von der Nutzerschaft pflegen. Kommerzielle Distributoren bieten darüber hinaus meist offiziellen [[Support (Dienstleistung)|Support]] an, welcher als Dienstleistung allerdings vergütet werden muss. Auch in der Lizenzpolitik gibt es Unterschiede. Einige Systeme haben ausschließlich freie Software in ihren Repositories (besonders konsequent bspw. [[Parabola GNU/Linux-libre|Parabola]]), während andere auch unfreie aufnehmen. Als ein Kompromiss werden häufig Repositories mit proprietärer Software angeboten, die aber manuell zum Paketmanager hinzugefügt werden müssen (das machen bspw. Debian und Ubuntu) oder es wird eine Ausnahme für besonders wichtige Programme gemacht (bspw. auch Ubuntu). Kostenpflichtige Software wird fast nie aufgenommen. Zu unterscheiden sind weiter Community-Distributionen (bspw. Debian) von solchen, hinter denen Unternehmen stehen (bspw. Ubuntu). Auch die Updatezyklen spielen eine Rolle. Sie gehen von [[Rolling Release]]s (bspw. Arch, Gentoo und Debian Unstable) bis hin zu vierjährigen Updatezyklen mit garantierter zehnjähriger Unterstützung einer Version (RHEL). Wichtig ist auch die Anzahl der Software in den Repositories. Entsprechend der Zielgruppe einer Distribution sind auch Größe und Fachkenntnis der Nutzerschaft verschieden.<br />
<br />
=== Kompatibilität zwischen den Distributionen ===<br />
Die Unterschiede zwischen den Distributionen wirken sich oftmals auf deren Kompatibilität aus.<ref name="stillbrokeninstallation">{{cite web | last = Mobily | first = Tony | title = 2009: software installation in GNU/Linux is still broken – and a path to fixing it | publisher = www.freesoftwaremagazine.com | date = 2009-06-23 | url = http://www.freesoftwaremagazine.com/columns/2009_software_installation_linux_broken_and_path_fixing_it | accessdate = 2011-08-04 | archiveurl = https://web.archive.org/web/20090626060615/http://www.freesoftwaremagazine.com/columns/2009_software_installation_linux_broken_and_path_fixing_it | archivedate = 2009-06-26 | offline = yes | archivebot = 2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref><br />
<br />
Schon früh in der Geschichte der Distributionen entstanden Konzepte, die Installation weiterer Software zu vereinfachen. Meist sollte Software in Form kompilierter Pakete bereitgestellt und ein Mechanismus mitgeliefert werden, der funktionelle Abhängigkeiten zwischen installierten und nachgeladenen Paketen auflösen kann. Die entstandenen [[Paketmanagement]]-Systeme arbeiten mit je eigenen Paketformaten, zum Beispiel [[RPM Package Manager|RPM]] oder [[dpkg]]. Viele Linux-Distributionen haben eine eigene Softwareverwaltung mit eigenen Binärpaketen, die zu anderen Distributionen teilweise inkompatibel sind.<br />
<br />
Die Kritik am Prinzip der Linux-Distributionen setzt unter anderem an diesem Punkt an.<ref name="stillbrokeninstallation" /><ref name="troy">{{cite web|archiveurl=https://web.archive.org/web/20071013034536/http://www.gamedev.net/reference/programming/features/linuxprogramming2/page2.asp|url=http://www.gamedev.net/reference/programming/features/linuxprogramming2/page2.asp |title=Linux Game Development Part 2 – Distributable Binaries|first=Troy |last=Hepfner |date=2007-10-01|accessdate=2011-12-19 |archivedate=2007-10-13|language=englisch|quote=Creating an executable that works on almost all Linux distributions is a challenge. There are a number of factors that contribute to the problem […]}}</ref> Da nicht jedes Software-Projekt und nicht jeder Software-Entwickler die Kenntnisse und Ressourcen hat, Software für jede einzelne Linux-Distribution bereitzustellen, wird oft nur der [[Quelltext]] veröffentlicht. Aus dem veröffentlichten Quelltext lauffähige Anwendungen zu erzeugen, ist jedoch potentiell ein komplizierter und fehlerträchtiger Prozess, der vielen Anwendern zu kompliziert sein kann. Diese bleiben dann oft auf die von der Distribution mitgelieferte Software angewiesen bzw. limitiert.<ref name="launchpad2010">{{cite web|url=https://bugs.launchpad.net/bugs/578045 |title=Upgrading packaged Ubuntu application unreasonably involves upgrading entire OS – Bug #578045 |first=John |last=King |date=2010-05-10 |accessdate=2012-05-27 |language=englisch |work=Launchpad |publisher=Ubuntu |quote=It is easier to upgrade to the newest stable versions of most applications – even open source applications – on a proprietary operating system than it is on Ubuntu.}}</ref> Die Bereitstellung des Quellcodes als Softwareauslieferungsmethode ist jedoch für Anbieter kommerzieller Software, die Software binär ausliefern wollen, keine Option, weswegen diese die Menge von Distributionen und deren Paketformaten mit spezifischen Paketen bedienen müssen, was einen großen Mehraufwand bedeutet.<ref name="lgp">{{cite web|url=http://blog.linuxgamepublishing.com/2009/11/24/playing-well-with-distros/|title=Playing well with distros |date=2009-11-24 |accessdate=2012-01-15|first=Eskild|last=Hustvedt|publisher=[[Linux Game Publishing]]|language=englisch|archiveurl=https://web.archive.org/web/20110921031204/http://blog.linuxgamepublishing.com/2009/11/24/playing-well-with-distros/|archivedate=2011-09-21}}</ref><ref name="icaza2003">{{cite web |url=http://primates.ximian.com/~miguel/texts/linux-developers.html |date=2003-11-04 |author=[[Miguel de Icaza]] |title=Linux and Independent Software Vendors |publisher=primates.ximian.com |accessdate=2012-04-07 |language=englisch |quote=[…] staffing requirements for maintaining and testing […] software for a dozen of distributions and release versions quickly becomes a big burden […] |archiveurl=https://web.archive.org/web/20120715205643/http://primates.ximian.com/~miguel/texts/linux-developers.html |archivedate=2012-07-15 |offline=yes |archivebot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref><ref>{{cite web|url=http://www.hemispheregames.com/2010/05/18/porting-osmos-to-linux-a-post-mortem-part-23/|first=Dave|last=Burke|title=Porting Osmos to Linux: A Post-Mortem (part 2/3)|date=2010-05-18|accessdate=2012-06-16|language=englisch|quote=Didn’t Love: Packaging the Game. It took days of effort to create the binary packages for Osmos […] How should an app be packaged in Linux? […]There are no standards or clear answers to any of these questions. There’s no documentation for this stuff! Asking on the forums will typically net you a spectrum of answers with no consensus answer and lots of little side arguments. I basically reverse engineered what I saw other apps doing (which sadly was of little comfort because everyone does it differently). I settled on supporting .deb/.rpm/.tar.gz with explicit 32 bit and 64 bit executables […]|publisher=hemispheregames.com}}</ref> Im Umfeld von Unternehmen hat deshalb nur eine begrenzte Auswahl an Distributionen eine Chance als allgemeine Arbeitsplattform.<br />
<br />
Ein weitere wichtige Norm ist [[Portable Operating System Interface|POSIX]]. Sie geht im Gegensatz zur [[Linux Standard Base|LSB]] über Linux hinaus und soll einen Standard für alle unixoiden Betriebssysteme bilden. POSIX ist nicht kompatibel mit der LSB. Linux-Distributionen halten sich für gewöhnlich an einen Großteil der Norm. Allerdings gibt es derzeit keine Distribution, die offiziell als POSIX-konform zertifiziert ist.<ref>{{Internetquelle |url=https://www.opengroup.org/openbrand/register/ |titel=The Register of UNIX Certified Products |zugriff=2017-07-18}}</ref><br />
<br />
=== Standardisierungsansätze ===<br />
Damit sich die Distributionen nicht weiter auseinanderentwickeln, wurde die Free Standards Group (heute [[Linux Foundation]]) mit dem Ziel gegründet, entsprechende Standards zwischen Distributionen zu fördern. Der Bekannteste ist die [[Linux Standard Base]] zur Förderung der binären Kompatibilität der Distributionen. Die LSB wird dabei von den verschiedenen Distributionen unterschiedlich strikt umgesetzt. Sie definiert übereinstimmende [[Binärschnittstelle]]n („''ABI''“ genannt, für ''Application Binary Interface''), einige Details zum inneren Aufbau und ein Paketsystem (hier [[RPM Package Manager|RPM]]), das für die Installation von Software anderer Anbieter unterstützt werden muss.<br />
<br />
Die praktische Bedeutung dieser Regeln ist allerdings nur begrenzt.<ref name="linuxfordevices">{{cite web |url=http://archive.linuxgizmos.com/lsb-40-certifications-aim-to-heal-linux-fragmentation/ |title=LSB 4.0 certifications aim to heal Linux fragmentation |first=Eric |last=Brown |date=2010-12-08 |accessdate=2011-11-16 |language=englisch |publisher=linuxfordevices.com |quote=[…] LSB helps to reduce fragmentation, it does not eliminate it. „The issue of packaging and broader dependencies is still a big one (for me) at least“ writes Kerner. „The same RPM that I get for Fedora won’t work on Ubuntu, and Ubuntu DEB packages won’t work on SUSE etc etc.“ […] |archiveurl=https://web.archive.org/web/20131224204224/http://archive.linuxgizmos.com/lsb-40-certifications-aim-to-heal-linux-fragmentation/ |archivedate=2013-12-24 |offline=yes |archivebot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref> Die einseitige Festlegung auf das RPM-Paketformat wird teilweise angezweifelt, nachdem in den letzten Jahren durch [[Ubuntu]] oder [[Linux Mint]] das [[dpkg]]-Format eine große Verbreitung erlangt hat. Weil die meisten Distributionen, die dpkg nutzen, direkt auf [[Debian]] basieren, sind deren Pakete oft in anderen Distributionen, die ebenfalls auf Debian basieren, installierbar. Auf der anderen Seite setzen alle von [[Fedora (Linux-Distribution)|Fedora]] (respektive [[Red Hat Linux]]), [[OpenSUSE]] und [[Mandriva Linux|Mandriva]] abstammenden Distributionen auf RPM. Es ist mit einigen Einschränkungen durchaus möglich – z.&nbsp;B. mit Hilfe des ''OpenSuse Build Service'' – RPM-Pakete zu erstellen, die auf allen diesen Distributionen nutzbar sind.<ref name="OpenSuse Build Service">{{Internetquelle |url=http://en.opensuse.org/openSUSE:Build_Service_cross_distribution_howto#Detect_a_distribution_flavor_for_special_code |titel=openSUSE:Build Service cross distribution howto |hrsg=Suse ([[Novell]]) |datum=2013-05-11 |zugriff=2014-02-06 |sprache=en}}</ref><br />
<br />
Eine weitere Standardisierung stellt der [[Filesystem Hierarchy Standard]] dar, der eine gemeinsame Benennung einiger Datei- und Verzeichnisnamen und eine übereinstimmende Struktur der Basisverzeichnisse ermöglichen soll. Allerdings sind auch hier Details nicht geregelt, die bisher Inkompatibilitäten erzeugten. Andere Probleme ergeben sich erst durch die feste Integration von Anwendungen in den Systemverzeichnisbaum.<ref name="gobolinux">{{cite web<br />
| url = http://www.kuro5hin.org/story/2003/5/9/05015/62649<br />
| title = The Unix tree rethought: an introduction to GoboLinux<br />
| accessdate = 2010-06-03<br />
| publisher = www.kuro5hin.org<br />
| last=Muhammad<br />
| first=Hisham<br />
| date=2003-05-09}}</ref> Er wird von der ''Linux Standard Base'' vorausgesetzt.<br />
<br />
== Alternativansätze für die Programmverbreitung ==<br />
Es gibt einige Alternativansätze zu dem Modell der zentralen Softwareverbreitung über die Distributionen und deren [[Repository|Repositories]]. Projekte wie [[Autopackage]]<ref>{{cite web|url=http://www.linux-magazin.de/Heft-Abo/Ausgaben/2006/02/Eines-fuer-alle |title=Distributionsunabhängige Pakete mit Autopackage – Eines für alle|first=Robert |last=Staudinger |publisher=[[Linux-Magazin]] 2006/02 |date=2006-02-01 |accessdate=2012-04-11 |quote=Obwohl sie nach dem gleichen Prinzip arbeiten, laufen RPMs von Suse 9.2 nicht unter Suse 9.3 und schon gar nicht unter Red Hat. Das Autopackage-Projekt setzt auf einen einheitlichen Standard für die Erstellung von Installationspaketen. Dabei lösen die einzelnen Pakete ihre Abhängigkeiten selbst auf.}}</ref>, [[Zero Install]]<ref name="leonard2007">{{cite web|url=http://www.osnews.com/story/16956/Decentralised_Installation_Systems |title=Decentralised Installation Systems|first=Thomas|last=Leonard|date=2007-01-16 |accessdate=2012-05-03 |language=englisch |publisher=osnews.com}}</ref> oder der [[AppImage#klik|Klik]]-Nachfolger ''PortableLinuxApps''<ref name="portableapps">{{cite web |url=http://portablelinuxapps.org/docs/1.0/AppImageKit.pdf |format=PDF; 38&nbsp;kB |publisher=PortableLinuxApps.org |first=Simon |last=Peter |date=2010 |accessdate=2011-07-29 |title=AppImageKit Documentation 1.0 |pages=2–3 |quote=Linux distributions mostly use package managers for everything. While this is perceived superior to Windows and the Mac by many Linux enthusiasts, it also creates a number of disadvantages: Centralization […], Duplication of effort […], Need to be online […], No recent apps on mature operating systems […], No way to use multiple versions in parallel […], Not easy to move an app from one machine to another […]. The AppImage format has been created with specific objectives in mind: Be distribution-agnostic […], Maintain binary compatibility […] |archiveurl=https://web.archive.org/web/20101129031656/http://portablelinuxapps.org/docs/1.0/AppImageKit.pdf |archivedate=2010-11-29 |offline=yes |archivebot=2018-12-11 09:47:53 InternetArchiveBot }}</ref> versuchen eine einheitliche, aber dezentrale, distributionsunabhängige, binäre Softwareverbreitungsmöglichkeit zu schaffen, konnten aber bis jetzt faktisch keine relevante Verbreitung oder Unterstützung der Linux-[[Online-Community#Entwickler-Community|Community]] erreichen.<ref name="byfield">{{cite web|archiveurl=https://web.archive.org/web/20080331092730/http://www.linux.com/articles/60124 |url=http://www.linux.com/articles/60124|title=Autopackage struggling to gain acceptance |first=Bruce |last=Byfield|date=2007-02-12 |accessdate=2012-01-21|publisher=linux.com |archivedate=2008-03-31|language=en|quote=If Hearn is correct, the real lesson of Autopackage is not how to improve software installation, but the difficulty – perhaps the impossibility – of large-scale changes in Linux architecture this late in its history. It’s a sobering, disappointing conclusion to a project that once seemed so promising.}}</ref><br />
<br />
Ein Schritt in diese Richtung war 2011 die Einführung eines ''Software Center'' in [[Ubuntu]],<ref name="softwarecenter">{{Internetquelle |autor=Ricky Laishram |url=http://techie-buzz.com/foss/synaptics-removed-ubuntu-11-10.html |titel=Software Center ersetzt Synaptic |datum=2011-06-23 |zugriff=2011-09-29 |sprache=en}}</ref> um die Anzahl der Applikationen signifikant erhöhen zu können, da das Distributionsmodell nur begrenzt skaliert.<ref name="UDS2010">{{cite web|title=UDS N Monday plenary: Getting great applications on Ubuntu |work=Ubuntu Developer Summit 2010|date=2010-10-25 |url=https://www.youtube.com/watch?v=GT5fUcMUfYg |first=Matthew Paul|last=Thomas |language=englisch |accessdate=2012-04-29}}</ref><br />
<br />
2012 betonte auch der [[Linux-Kernel|Kernelentwickler]] [[Ingo Molnár]] die Notwendigkeit der Bereitstellung einer solchen dezentralen, skalierbaren und distributionsunabhängigen Softwareverbreitungsmethode; das Fehlen eines solchen Mechanismus sei eines der Kernprobleme des Linux-Desktops.<ref name="molnar2012">{{cite web|url=https://plus.google.com/109922199462633401279/posts/VSdDJnscewS|quote=So, to fix desktop Linux we need a radically different software distribution model: less of a cathedral, more of a bazaar. […] – totally flat package dependencies (i.&nbsp;e. a package update does not forcibly pull in other package updates) […] – a guaranteed ABI platform going forward (once a package is installed it will never break or require forced updates again). Users want to be free of update pressure from the rest of the system, if they choose to.|date=2012-03-17|title=Ingo Molnar|accessdate=2012-06-16|language=englisch |publisher=plus.google.com |author=[[Ingo Molnár]]}}</ref><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Liste von Linux-Distributionen]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Johannes Plötner, [[Steffen Wendzel]]: ''Linux. Das umfassende Handbuch.'' 4. Auflage. Galileo Press, Bonn 2010, ISBN 978-3-8362-1704-0.<br />
* [[Michael Kofler (Autor)|Michael Kofler]]:'' Linux 2010: Debian, Fedora, openSUSE, Ubuntu.'' 9. Auflage. Addison-Wesley, München 2009, ISBN 978-3-8273-2158-9. (bis zur 8. Auflage unter dem Titel: ''Linux. Installation, Konfiguration, Anwendung.'')<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Linux distributions|Linux-Distribution}}<br />
* [http://distrowatch.com/index.php?language=DE Distributionsübersicht mit Ranglisten auf DistroWatch.com]<br />
* [http://livecdlist.com/ Auflistung von Live-CD-Distributionen]<br />
* [http://distrochooser.de/ Linux-Distribution Chooser]&nbsp;– ein Hilfswerkzeug für die Wahl zwischen verschiedenen verbreiteten Linux-Distributionen<br />
* [https://pkgs.org/ pkgs.org] – Suchmaschine für Softwarepakete und ihre jeweiligen Versionen in versch. Repositories<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
[[Kategorie:Linux-Distribution| ]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Korean-Air-Lines-Flug_007&diff=198114211Korean-Air-Lines-Flug 0072020-03-25T22:07:43Z<p>Udo.bellack: link auf Flugnummer</p>
<hr />
<div>{{Infobox Flugunfall<br />
|name = Korean-Airlines-Flug 007<br />
|Crash image =Boeing 747-230B, Korean Air Lines AN0597272.jpg|250px|Boeing 747-230B der Korean Air Lines<br />
|Date = 1. September 1983<br />
|Type = Abschuss<br />
|Site = westlich von [[Sachalin]]<br />
|Origin = [[John F. Kennedy International Airport]], [[New York City]], [[New York (Bundesstaat)|New York]]<br />[[Vereinigte Staaten|USA]]<br />
|Destination = [[Flughafen Gimpo]], [[Seoul]], [[Südkorea]]<br />
|Last stopover = [[Ted Stevens International Airport|Anchorage International Airport]], [[Anchorage, Alaska]]<br />{{USA}}<br />
|Fatalities = 269<br />
|Injuries =<br />
|Aircraft Type = [[Boeing 747|Boeing 747-230B]]<br />
|Operator = [[Korean Air Lines]]<br />
|Tail Number = HL7442<br />
|Passengers = 240<br />
|Crew = 29<br />
|Survivors = 0<br />
}}<br />
<br />
'''Korean-Air-Lines-Flug 007''' war die [[Flugnummer]] einer zivilen [[Boeing 747]] der [[Korean Air Lines]], die durch einen [[Sowjetische Luftverteidigungsstreitkräfte|sowjetischen]] [[Abfangjäger]] wegen Verletzung des Luftraumes am 1. September 1983 über internationalen Gewässern westlich der Insel [[Sachalin]] abgeschossen wurde. Alle 269 Personen an Bord kamen zu Tode.<br />
<br />
== Hintergrund ==<br />
Bereits 1978 war [[Korean-Air-Lines-Flug 902]], eine [[Boeing 707]], auf der [[Polarroute]] von [[Paris]] nach [[Seoul]] mit Zwischenstopp in [[Anchorage]], [[Alaska]], vom Kurs abgekommen und bei [[Murmansk]] in den sowjetischen Luftraum eingedrungen. Der Vorfall, bei dem das Flugzeug von Abfangjägern trotz der eindeutigen Identifizierung als Zivilmaschine beschossen und zur Notlandung gezwungen wurde, hatte die Schwächen des sowjetischen Luftverteidigungssystems offenbart.<ref>[http://aviation-safety.net/database/record.php?id=19780420-1 Bericht zu Korean-Airlines-Flug 092] im Aviation Safety Network, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Seit 1979 war der [[Kalter Krieg|Kalte Krieg]] allmählich wieder akut geworden und die [[Entspannungspolitik|Entspannungsphase]] der 1970er Jahre beendet. Die sowjetische Unterstützung für die [[Revolution]]sregimes in [[Angola]] und [[Nicaragua]] sowie die [[Sowjetische Intervention in Afghanistan|Intervention in Afghanistan]] wurden in den [[Vereinigte Staaten|USA]] als Expansionsbestrebungen der sowjetischen Machthaber gewertet. Unter den [[Präsident der Vereinigten Staaten|Präsidenten]] [[Jimmy Carter|Carter]] und [[Ronald Reagan|Reagan]] unterstützten sie daher verstärkt Widerstandsbewegungen in diesen Ländern. Gründe für die sehr angespannte Lage des Jahres 1983 waren zudem die geplante Aufstellung amerikanischer [[Mittelstreckenrakete]]n des Typs [[MGM-31 Pershing|Pershing II]] und [[Marschflugkörper]] [[BGM-109 Tomahawk]] als Reaktion auf die Stationierung sowjetischer [[RSD-10|SS-20]] in Europa (siehe [[NATO-Doppelbeschluss]]) sowie die [[Strategic Defense Initiative]] der USA für einen Raketenschild im Weltraum.<br />
<br />
Die Sowjetunion sah sich durch dieses erhöhte amerikanische Engagement ihrerseits bedroht und bemühte sich unter Staats- und Parteichef [[Juri Wladimirowitsch Andropow|Juri Andropow]] – einem früheren [[KGB]]-Vorsitzenden – seit 1981 mit der Operation [[RJaN]] verstärkt darum, vermutete Angriffsvorbereitungen der NATO aufzudecken. Sie wurden auch hinter dem bevorstehenden NATO-Manöver [[Able Archer 83]] und der bisher größten US-Flottenübung im Pazifik, FleetEx&nbsp;’83, gesehen. Im Rahmen von FleetEx&nbsp;’83 waren im April des Jahres wiederholt Aufklärungsflugzeuge der [[United States Navy|US Navy]] in den sowjetischen Luftraum eingedrungen. Das hatte zu Ablösungen und Verweisen für verantwortliche sowjetische Offiziere geführt, die dies nicht hatten verhindern können.<ref>Benjamin B. Fischer: [https://www.cia.gov/library/center-for-the-study-of-intelligence/csi-publications/books-and-monographs/a-cold-war-conundrum/source.htm A Cold War Conundrum: The 1983 Soviet War Scare], CIA 2007, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
[[Datei:USAF Combat Sent.jpg|links|miniatur|[[Aufklärungsflugzeug]] des Typs Boeing [[Boeing RC-135|RC-135]] der [[US Air Force]]]]<br />
<br />
Auf der [[Halbinsel]] [[Kamtschatka]], [[Sachalin]] und dem angrenzenden Festland lagen zahlreiche sensible militärische Einrichtungen, unter anderem ein Zielgebiet für Tests von [[Interkontinentalrakete]]n (ICBM) bei [[Kljutschi (Kamtschatka)|Kljutschi]]. Auch am Tag des Abschusses der koreanischen Boeing befand sich eine Boeing [[Boeing RC-135|RC-135]] der [[United States Air Force|US Air Force]] auf einer [[Elektronische Aufklärung|ELINT]]-Mission vor Kamtschatka. Diese sollte die [[Telemetrie]] des geplanten Tests einer ICBM des Typs [[RS-12M (Rakete)|RS-12M Topol]] ([[NATO-Codename]] SS-25 „Sickle“) überwachen, der nach amerikanischer Auffassung gegen den [[Strategic Arms Limitation Talks|SALT-II-Vertrag]] verstieß.<ref name="cia">CIA: [http://www.rescue007.org/docs/CIAReport.pdf Did KAL-007 Successfully Ditch at Sea and were there Survivors?] (PDF; 695&nbsp;kB), S. 23–28, auf rescue007.org, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
== Flugverlauf ==<br />
Für Korean-Airlines-Flug 007 von [[New York City|New York]] nach Seoul wurde am 31. August 1983 eine Boeing 747-230B mit dem [[Luftfahrzeugkennzeichen]] HL7442 eingesetzt. Erstbetreiber des am 31. März 1972 ausgelieferten Flugzeugs war die [[Condor Flugdienst|Condor Flugdienst GmbH]] gewesen (Kennzeichen D-ABYH<ref>[http://www.airfleets.net/ficheapp/plane-b747-20559.htm ''Boeing 747 MSN 20559 ''] auf airfleets.net</ref>), die diese Maschine regelmäßig auf den Routen von Deutschland nach Spanien und nach Thailand eingesetzt hatte. Am 20. August 1981 war sie an Korean Airlines verkauft worden.<br />
<br />
Die Maschine startete vom [[John F. Kennedy International Airport]] mit 35-minütiger Verspätung nach der geplanten Abflugzeit von 03:50 Uhr [[Koordinierte Weltzeit|UTC]] (30. August 1983, 23:50 Uhr [[Ortszeit]] UTC–4). An Bord befanden sich 23 Besatzungsmitglieder, 6 Korean-Airlines-Angehörige außer Dienst und 240 Passagiere, darunter der [[Demokratische Partei (Vereinigte Staaten)|demokratische]] [[Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten|Kongressabgeordnete]] [[Larry McDonald]]. Nach einem Tankstopp auf dem [[Flughafen Anchorage|Anchorage International Airport]] flog sie um 13 Uhr UTC (berechnet 5 Uhr Ortszeit UTC–8<!-- Sommerzeit. 3 Uhr Ortszeit passte nicht zu 13 Uhr UTC. Mindestflugzeit JFK–ANC = 7 h nach https://www.meine-flugzeit.de/flugzeit/anchorage-nach-new-york ist ok -->) unter dem Kommando von [[Flugkapitän]] Chun Byung-in weiter Richtung Seoul.<br />
<br />
Nach dem Start wurde sie angewiesen, bei Kontrollpunkt [[Bethel (Alaska)|Bethel]] auf die Nordpazifikroute (NOPAC) R-20 einzuschwenken. Diese nördlichste von fünf transpazifischen [[Luftstraße]]n führte über mehrere [[Wegpunkt]]e nach [[Japan]], wobei sie sich vor Kamtschatka dem sowjetischen Luftraum bis auf 28 Kilometer näherte. Vermutlich weil der [[Autopilot]] unbemerkt in der Betriebsart <small>HEADING</small> ([[Kurs (Navigation)|Kurs]] halten) statt <small>INS</small> ([[Trägheitsnavigationssystem|Trägheitsnavigation]]) verblieb, behielt Korean-Airlines-Flug 007 jedoch während des gesamten Fluges einen Kurs von 245 Grad<!-- passt mit der Grafik nicht zusammen --> bei, statt den vorprogrammierten Wegpunkten zu folgen. Daher wich das Flugzeug schon nach kurzer Zeit von der geplanten Strecke nach [[Steuerbord]] (= rechts) ab.<ref name="degani">Asaf Degani: [http://ntrs.nasa.gov/archive/nasa/casi.ntrs.nasa.gov/20020043310_2002070720.pdf Korean Air Lines Flight 007: Lessons from the Past and Insights for the Future] (PDF; 1,3&nbsp;MB), [[NASA]] 2001, abgerufen am 3. Februar 2009</ref><br />
<br />
[[Datei:KAL007.svg|miniatur|hochkant=1.8|Diagramm der geplanten und der tatsächlichen Flugroute]]<br />
<br />
Bereits um 13:30 Uhr UTC erfasste das [[Flugsicherungsradar]] [[Kenai]] Korean-Airlines-Flug 007 neun Kilometer nördlich der vorgesehenen Position. Um 13:50 Uhr erfasste das militärische [[Überwachungsradar]] [[King Salmon]] die Maschine 20 Kilometer nördlich des Kontrollpunkts Bethel. Diese Abweichungen von der Mittellinie der Luftstraße wurden jedoch nicht als ungewöhnlich empfunden. Bereits außer Reichweite des Flugsicherungsradars meldete die Besatzung nach Verstreichen der vorgesehenen Zeit das Überfliegen des Kontrollpunkts an das [[Flugverkehrskontrolle|Flugkontrollzentrum]] Anchorage.<ref>{{Webarchiv|url=http://bulk.resource.org/courts.gov/c/F2/928/928.F2d.1167.86-5515.86-5400.86-5524.86-5562.86-5596.html |wayback=20090830132644 |text=Urteilsbegründung des United States Court of Appeals, District of Columbia Circuit, in der Sache Fred Wyler und andere gegen Korean Airlines und andere in der erweiterten Fassung vom 3. April 1991 }}, abgerufen am 2. März 2009</ref> Ebenso meldete sie wenig später Punkt NABIE, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wegen der Kursabweichung bereits außer Reichweite für [[Ultrakurzwelle|UKW]]-Funk war und die Meldung von der 15 Minuten nach ihr gestarteten Schwestermaschine Flug 015 weiterleiten ließ.<ref>[http://testimony.ost.dot.gov/test/pasttest/83test/luffsey1.PDF Abschrift des Funkverkehrs von Korean-Airlines-Flug 007 mit der Flugsicherung in Anchorage] (Anlage zur Aussage von Walter S. Luffsey [FAA] vor dem Unterausschuss des [[Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten|US-Repräsentantenhauses]] für Verkehr, Luftfahrt und Wetter am 19. September 1983; PDF; 405&nbsp;kB), abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Flug 007 durchflog die für Zivilverkehr gesperrte US-Luftverteidigungszone nördlich von R-20, kreuzte den Kurs der dort kreisenden amerikanischen Boeing RC-135 und näherte sich Kamtschatka. Bei einer Entfernung von rund 130 Kilometern alarmierte die sowjetische Luftraumüberwachung vier [[Mikojan-Gurewitsch MiG-23|MiG-23]]-[[Abfangjäger]]. Aufgrund von Kommunikationsproblemen gelang es diesen jedoch nicht, das Flugzeug zu stellen, bevor ihnen der Treibstoff ausging. Um 15:51 Uhr UTC drang Flug 007 in den gesperrten Luftraum über Kamtschatka ein, überquerte die Halbinsel und erreichte um 17:45 Uhr wieder internationalen Luftraum über dem [[Ochotskisches Meer|Ochotskischen Meer]].<ref name="degani" /><br />
<br />
== Abschuss ==<br />
Das Flugzeug hielt nun auf die Insel Sachalin zu und wurde vom Kommando der sowjetischen Luftverteidigungskräfte für den Militärbezirk Fernost als feindliches militärisches Ziel eingestuft. Gegen 18 Uhr UTC hatten zwei [[Suchoi Su-15|Su-15]]-Abfangjäger vom [[Militärflugplatz]] [[Dolinsk]]-Sokol und eine MiG-23 aus [[Smirnych]] Sichtkontakt mit der Maschine. Die Besatzung von Flug 007 bemerkte die sowjetischen Jäger trotz Warnschüssen angeblich nicht. Zu dieser Zeit verglich sie vielmehr Wetterdaten mit Korean-Airlines-Flug 015; die auf richtigem Kurs fliegende Schwestermaschine hatte Rückenwind, während Flug 007 Gegenwind hatte. Dennoch erkannte die Besatzung noch immer nicht ihre Kursabweichung, die mittlerweile fast 500 Kilometer betrug. Um 18:15 Uhr UTC holte sie vom Flugkontrollzentrum [[Tokio]] die Erlaubnis ein, von 33.000 [[Fuß (Einheit)|Fuß]] (10.060 Meter) auf 35.000 Fuß (10.670 Meter) [[Flughöhe]] zu steigen.<br />
<br />
[[Datei:Su-15 Flagon.jpg|links|miniatur|Abfangjäger des Typs Su-15]]<br />
<br />
Als die Geschwindigkeit der Boeing 747 wegen des Steigflugs zurückging, zwang dies die Abfangjäger zum Überholen, was als Ausweichmanöver interpretiert wurde. Da sich die Maschine bereits wieder internationalem Luftraum näherte, erteilte das Luftverteidigungskommando den Befehl zum Abschuss. Um 18:26 Uhr UTC feuerte der Pilot der führenden Su-15, [[Major]] Gennadij Nikolajewitsch Osipowitsch<ref>[[GEO Epoche]] eBook Nr. 1: Die großen Katastrophen: Acht historische Reportagen über Ereignisse, die die Welt erschüttert haben, 6. Abschuss eines Jumbojets, 1987</ref>, zwei [[Luft-Luft-Rakete]]n des Typs [[Kaliningrad K-8]] (NATO-Codename AA-3 „Anab“) ab. Die Explosionen der mit Annäherungszündern ausgestatteten Sprengköpfe beschädigten das Steuersystem des Flugzeugs und verursachten einen plötzlichen [[Druckabfall im Flugzeug|Druckabfall in der Kabine]].<ref name="degani" /><br />
<br />
Offenbar erkannte die Besatzung auch jetzt noch nicht die Lage und meldete nach Tokio, dass sie wegen eines Druckabfalls auf 10.000 Fuß (3050 Meter) absinken würden, sendete aber kein [[Mayday (Notruf)|Mayday]]. Es gelang ihr, noch etwa zehn Minuten begrenzte Kontrolle zu behalten und die Maschine in 16.424 Fuß (5000 Meter) Höhe abzufangen. Danach ging das Flugzeug bei der [[Moneron|Insel Moneron]] in eine Abwärtsspirale über. Um 18:38 Uhr UTC verschwand es unterhalb einer Höhe von 1.000 Fuß (305 Meter) vom Radar in [[Komsomolsk am Amur]].<br />
<br />
== Suchoperationen ==<br />
[[Datei:Soviet boats stalking.jpg|miniatur|hochkant=1.8|Der sowjetische [[Kara-Klasse|Lenkwaffenkreuzer ''Petropawlowsk'']] (links) beschattet den amerikanischen Flottenschlepper ''[[USNS Narragansett (T-ATF-167)|USNS Narragansett]]'' während der Suche nach dem Wrack]]<br />
<br />
Unmittelbar nach dem Absturz ordneten die sowjetischen Streitkräfte eine Such- und Rettungsoperation bei Moneron an. Eine gemeinsame amerikanisch-japanisch-[[südkorea]]nische Suchaktion fand in internationalen Gewässern statt. Aufgrund der politischen Spannungen stimmten sich beide Seiten dabei nicht ab. Die Sowjetunion verweigerte den Zugang westlicher Kräfte zu Gewässern, die sie als ihr Hoheitsgebiet betrachtete. Mehrfach kam es zu Konfrontationen zwischen Kriegs- und Hilfsschiffen beider Seiten.<br />
<br />
Nach dreitägiger Suche lokalisierten sowjetische Kräfte das Wrack von Korean-Airlines-Flug 007 in 174 Metern Tiefe bei Moneron. Der Fund und die Bergung des [[Flugschreiber|Flugdatenschreibers und Cockpit-Stimmenrecorders]] wurden jedoch geheim gehalten. Lediglich einige Kleidungsstücke wurden später auf Sachalin an eine amerikanisch-japanische Delegation übergeben. Eine geringe Anzahl von Leichenteilen und kleineren Objekten aus dem Flugzeug wurden eine Woche nach dem Absturz an der Nordküste der japanischen Insel [[Hokkaidō]] angeschwemmt.<br />
<br />
== Politische Reaktionen ==<br />
Die Sowjetunion versuchte zunächst die Tatsache zu verheimlichen, dass Korean-Airlines-Flug 007 abgeschossen worden war. Die [[Nachrichtenagentur]] [[TASS]] meldete lediglich, ein unidentifiziertes Flugzeug sei von sowjetischen Jägern abgefangen worden, es sei aber entkommen. Die USA nutzten dies für eine [[Propaganda]]offensive, indem sie in ungewöhnlichem Umfang Geheimdienstmaterial veröffentlichten, das die von amerikanischen und japanischen Abhörstellen in [[Wakkanai]] aufgezeichneten sowjetischen Funkmeldungen der sowjetischen Jäger einschloss.<ref>{{Der Spiegel|ID=13512118|Titel=Sinken auf eins-null-tausend ...|Autor=W. Bittorf, A. Sampson|Jahr=1984|Nr=42|Seiten=|Datum=1984-10-15}}</ref> Am 5. September bezeichnete US-Präsident Reagan den Abschuss als „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das niemals vergessen werden dürfe, und einen „Akt der Barbarei“ und „unmenschlicher Brutalität“.<ref>[http://www.reagan.utexas.edu/archives/speeches/1983/90583a.htm Text der Radioansprache von Präsident Reagan vom 5. September 1983], abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Nach einer Sitzung des [[Sicherheitsrat der Vereinten Nationen|UN-Sicherheitsrates]] am folgenden Tag, bei der die amerikanische UN-Botschafterin [[Jeane Kirkpatrick]] Tonbandmitschnitte des sowjetischen Funkverkehrs präsentierte, räumte TASS erstmals den Abschuss ein. Die sowjetische Führung beharrte jedoch darauf, Korean-Airlines-Flug 007 habe sich auf einer Spionagemission befunden, sei absichtlich und unbeleuchtet in sowjetischen Luftraum eingedrungen und habe nicht auf Funkanrufe reagiert. Ein unbeabsichtigtes Verfliegen sei unmöglich gewesen. Sie machte den amerikanischen Geheimdienst [[Central Intelligence Agency|CIA]] für diesen „kriminellen, provokativen Akt“ verantwortlich und verwies auf die zur gleichen Zeit vor Kamtschatka operierende Boeing RC-135. Am 12. September verhinderte die Sowjetunion mit ihrem [[Veto]] eine Verurteilung des Abschusses durch den UN-Sicherheitsrat.<ref>Walter Isaacson, Johanna McGeary und Erik Amfitheatrof: [https://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,949814-1,00.html Salvaging the Remains], [[Time|Time Magazine]] vom 26. September 1983, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Am 15. September 1983 entzog Präsident Reagan der staatlichen sowjetischen [[Fluggesellschaft]] [[Aeroflot]] die Genehmigung für Flüge von und in die USA. Diese Maßnahme dauerte bis zum 29. April 1986 an. Am 16. September kündigte Reagan zudem an, das satellitengestützte [[Global Positioning System]] für den zivilen Gebrauch freizugeben. Im Jahr 1986 vereinbarten die USA, die Sowjetunion und Japan ein gemeinsames Flugüberwachungssystem für den Nordpazifik.<ref>Philip Taubman: [http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9B0DE1D81338F934A2575AC0A961948260&sec=&spon=&pagewanted=all Keeping the Air Lanes Free: Lessons of a Horror], New York Times vom 17. September 1987, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
== Untersuchungen ==<br />
[[Datei:KAL 007 Post-Takeoff Flight Path.png|miniatur|hochkant=1.8|Diagramm zur Abweichung von Korean-Airlines-Flug 007 vom vorgesehenen Kurs nach dem Start in Anchorage]]<br />
<br />
Die Nordpazifikroute R-20 wurde nach dem Vorfall von der amerikanischen [[Federal Aviation Administration]] zunächst geschlossen und nach Überprüfung der Navigationshilfen am 2. Oktober wieder freigegeben.<br />
<br />
Die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation [[Internationale Zivilluftfahrtorganisation|ICAO]] führte eine Untersuchung durch, welche jedoch ohne die Aufzeichnungen der Flugschreiber von Flug 007 auskommen musste, die von der Sowjetunion unter Verschluss gehalten wurden. Am 2. Dezember 1983 veröffentlichte sie einen vorläufigen Abschlussbericht, der als Grund für die Kursabweichung einen [[Bedienfehler|Fehler bei der Bedienung]] des Autopiloten annahm. Entweder sei die Betriebsart <small>HEADING</small> beibehalten worden, oder er sei erst dann auf <small>INS</small> gestellt worden, als sich die Maschine bereits außerhalb der Toleranzgrenze des Systems von 7,5 [[Seemeile|nautischen Meilen]] (13,9 Kilometern) vom eingegebenen Kurs befand, und daher unbemerkt im <small>HEADING</small>-Modus verblieben.<ref>{{Webarchiv|url=http://legacy.icao.int/icao/en/nr/1983/pio198324_e.pdf |wayback=20140203140426 |text=Pressemitteilung der ICAO zum vorläufigen Abschlussbericht der Untersuchung zu Flug 007 vom 13. Dezember 1983 }} (PDF; 142&nbsp;kB), abgerufen am 2. März 2009</ref> In der Folge wurde das Bedienfeld geändert, um diesen Fehler zu vermeiden. Im Jahr 1984 wurde von der Versammlung der ICAO eine zwingende Vorschrift zum Nichtgebrauch von Waffengewalt gegen in der Luft befindliche zivile Luftfahrzeuge zur Einfügung in das [[Chicagoer Abkommen|Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt]] statt der vorherigen Sollvorschrift im Anhang beschlossen.<ref>als Artikel 3 bis: [http://www.admin.ch/ch/d/sr/0_748_0/a3bis.html Wortlaut in deutscher Übersetzung]</ref> Die Einfügung trat 1998 in Kraft.<ref>laut Fußnote zu Artikel 3 bis in der [http://www.icao.int/publications/Documents/7300_8ed.pdf 8. Ausgabe (2000) des Abkommens] (PDF; 10,6&nbsp;MB) beschlossen am 10. Mai 1984, in Kraft getreten in den ratifizierenden Staaten am 1. Oktober 1998</ref><br />
<br />
Nach dem [[Glasnost|Reformprozess]] in der Sowjetunion führte die Zeitung [[Iswestija]] 1991 eine Serie von Interviews mit Beteiligten an den Vorgängen, darunter dem Jagdpiloten Osipowitsch und Bergungskräften. Osipowitsch erklärte, dass Flug 007 anders als offiziell von sowjetischer Seite dargestellt sehr wohl seine Navigationslichter eingeschaltet hatte und nicht mit [[Leuchtspurgeschoss]]en gewarnt wurde. Zwar habe er vor dem Abschuss über 200 Warnschüsse aus seiner [[Bordkanone]] abgegeben, ohne Leuchtspurmunition sei aber zweifelhaft, ob das jemand gesehen habe.<ref>[http://www.aviastar.org/air/747/kale_1.html Englische Übersetzung der Iswestija-Serie über Korean-Airlines-Flug 007 von 1991] auf aviastar.org, abgerufen am 2. März 2009</ref> 1996 sagte Osipowitsch der [[New York Times]], dass die Maschine an ihren beleuchteten Fensterreihen als Passagierflugzeug zu erkennen war: „Aber für mich bedeutete das nichts. Es ist einfach, einen zivilen Flugzeugtyp in einen militärisch genutzten umzuwandeln.“ Unter dem Druck der Situation habe er seine Erkenntnis der Bodenstation nicht gemeldet.<ref>Michael R. Gordon: [http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9902E4D7133FF93AA35751C1A960958260 Ex-Soviet Pilot Still Insists KAL 007 Was Spying], New York Times vom 9. Dezember 1996, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übergab der [[Russland|russische]] [[Präsident Russlands|Präsident]] [[Boris Nikolajewitsch Jelzin|Boris Jelzin]] im November 1992 zunächst die Behälter der Flugschreiber von Korean-Airlines-Flug 007 an Südkorea, danach die Bänder mit den Aufzeichnungen der Flugdaten und Cockpitgespräche an die ICAO. Zudem händigte er sowjetische Abschriften der Gespräche zwischen den Befehlsstellen am Boden und den Abfangjägern sowie mehrere Dokumente aus, die die absichtliche Vertuschung der Vorgänge bestätigten.<ref>[http://www.rescue007.org/docs/TopSecretMemos.pdf Englische Übersetzung der sowjetischen Dokumente zur Vertuschung der Vorgänge um Korean-Airlines-Flug 007] (PDF; 234&nbsp;kB) auf rescue007.org, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
Auf dieser Grundlage veröffentlichte die ICAO 1993 einen endgültigen Abschlussbericht. Das neue Material bestätigte, dass die Besatzung von Korean-Airlines-Flug 007 sich offenbar weder der Kursabweichung noch der Anwesenheit sowjetischer Jäger bewusst war.<ref>[http://aviation-safety.net/investigation/cvr/transcripts/cvr_ke007.php Abschrift der Aufzeichnung des Cockpit-Stimmrecorders von Flug 007] im Aviation Safety Network, abgerufen am 2. März 2009</ref> Anders als von der Sowjetunion behauptet, erfolgte auch kein Anruf über die internationale Notfrequenz. Aus ungeklärter Ursache endeten die Aufzeichnungen beider Flugschreiber allerdings eine Minute und 44 Sekunden nach den Raketentreffern, rund zehn Minuten vor dem eigentlichen Absturz.<ref>[http://legacy.icao.int/icao/en/nr/1993/pio199308r_e.pdf Pressemitteilung der ICAO zum endgültigen Abschlussbericht der Untersuchung zu Korean-Airlines-Flug 007 vom 16. Juni 1993]{{Toter Link|url=http://legacy.icao.int/icao/en/nr/1993/pio199308r_e.pdf |date=2019-04 |archivebot=2019-04-23 20:57:05 InternetArchiveBot }} (PDF; 709&nbsp;kB), abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
== Alternative Theorien ==<br />
[[Datei:Larry McDonald.jpg|miniatur|hochkant|Unter den Opfern: der antikommunistische Kongressabgeordnete [[Larry McDonald]]]]<br />
<br />
Insbesondere während des Kalten Krieges wurde vielfach geglaubt, dass Korean-Airlines-Flug 007 tatsächlich ein Spionageflug war, der das Luftverteidigungssystem der Sowjetunion testen oder von tatsächlichen Spionageflugzeugen ablenken sollte. Diese Theorien unterstützten unter anderem R. W. Johnson in seinem Buch ''Shootdown'' von 1986, aber auch Robert W. Allardyce und James Gollin in ''Desired Track: The Tragic Flight of KAL Flight 007'' von 1994. Noch 2007 erklärten letztere in einer Artikelserie im ''Airways Magazine'', dass die ICAO-Untersuchung nur zur Vertuschung gedient habe.<br />
<br />
1995 behauptete Michel Brun in ''Incident at Sakhalin: The True mission of KAL Flight 007'', dass die Boeing noch eine halbe Stunde nach der offiziellen Abschusszeit mit der Flugsicherung in Tokio gesprochen habe. Ferner habe eine große Luftschlacht stattgefunden, in deren Verlauf die sowjetische Luftwaffe mehrere US-Militärflugzeuge zerstört habe. Der Korean-Airlines-Flug 007 sei möglicherweise ähnlich wie [[Iran-Air-Flug 655]] von einem US-Kriegsschiff oder japanischen Streitkräften abgeschossen worden.<br />
<br />
In Kreisen der [[Rechtsextremismus|rechtsradikalen]] [[John Birch Society]] wurde die [[Verschwörungstheorie]] vertreten, dass ihr damaliger Vorsitzender, der [[Antikommunismus|antikommunistische]] Kongressabgeordnete [[Larry McDonald]], das Ziel des Abschusses gewesen sei.<ref>Charles J. Stewart: ''The Master Conspiracy of the John Birch Society. From Communism to the New World Order''. In: ''Western Journal of Communication'' 66, Heft 4 (2002). S. 425.</ref> Im Jahr 1991 verwies eine Studie, die auf Initiative des [[Republikanische Partei|republikanischen]] [[Senat der Vereinigten Staaten|US-Senators]] [[Jesse Helms]] (der an Bord von Korean-Airlines-Flug 015 gewesen war) verfasst wurde, auf die Möglichkeit, dass die Maschine notgewassert sei und sich Überlebende in sowjetischer Gefangenschaft befänden.<ref name="cia" /><br />
<br />
Diesen Standpunkt vertritt auch das ''International Committee for the Rescue of KAL 007 Survivors''. Dessen Gründer, Bert Schlossberg, der der Schwiegersohn eines Passagiers ist, veröffentlichte 2000 das Buch ''Rescue 007: The Untold Story of KAL 007 and its Survivors''.<ref>[http://www.rescue007.org/book.htm Buchvorstellung von ''Rescue 007: The Untold Story of KAL 007 and its Survivors''] auf rescue007.org, abgerufen am 22. August 2009.</ref> Diese Organisation ist nicht zu verwechseln mit der Angehörigenorganisation ''American Association for Families of KAL 007 Victims'', die sich für die Aufklärung des Abschusses und die Entschädigung der Hinterbliebenen einsetzte.<ref>Jan Hoffman: [http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=9802E6D6113AF932A05750C0A961958260&sec=&spon=&pagewanted=all ''Grieving Father’s 14-Year Crusade Helps Air Crash Victims.''] ''New York Times'' vom 31. März 1997, abgerufen am 2. März 2009</ref><br />
<br />
== Verarbeitung in Musik, Film und Computerspielen ==<br />
[[Gary Moore]] veröffentlichte auf dem Album „[[Victims of the Future]]“, das Ende 1983 aufgenommen wurde und 1984 erschien, ein Lied über den Zwischenfall mit dem Titel „Murder in the Skies“.<br />
<br />
1988 wurde der amerikanische Fernsehfilm „Shootdown“ gesendet, der auf dem Buch von R. W. Johnson beruht. Im Jahr 1989 erschien ein weiterer Fernsehfilm, „Tailspin“ (deutsch: „Todesflug KAL 007“), der die Geschichte aus Sicht der Ermittler erzählt.<br />
<br />
In der fünften Folge der neunten Staffel der kanadischen [[Dokumentarfilm|Dokumentar]][[Fernsehserie|serie]] [[Mayday – Alarm im Cockpit]] wurde das Unglück als ''Target is Destroyed'' (deutscher Titel: ''Zum Abschuss freigegeben'') verfilmt. In nachgestellten Szenen, [[Animation]]en sowie Interviews mit Hinterbliebenen und Ermittlern wurde über die Vorbereitungen, den Ablauf und die Hintergründe des Fluges berichtet.<br />
<br />
Im Computerspiel [[Phantom Doctrine]] (2018) wird man damit beauftragt, den Abschuss der Maschine durch Störung der sowjetischen Funkverbindung zu verhindern.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Liste abgeschossener Flugzeuge in der Zivilluftfahrt]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [http://aviation-safety.net/database/record.php?id=19830901-0&lang=en Bericht zu Korean-Airlines-Flug 007 im Aviation Safety Network] (engl.)<br />
* [http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/066/1306610.pdf Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS-Bundestagsfraktion zum Abschuss von Korean-Airlines-Flug 007 vom 16. Dezember 1996] (PDF-Datei; 165&nbsp;kB)<br />
* [http://www.rescue007.org/ Website des „International Committee for the Rescue of KAL 007 Survivors“]<br />
* Bert Schlossberg: [http://www.airliners.net/aviation-articles/read.main?id=132 The 25th Anniversary of KAL 007] Artikel zum 25. Jahrestag des Abschusses von Korean-Airlines-Flug 007 (engl.)<br />
* {{IMDb|tt0098430|Todesflug KAL 007}}<br />
* Christoph Gunkel: [http://www.spiegel.de/einestages/korean-airlines-kal-007-abschuss-durch-die-sowjetunion-a-981736.html ''Todesflug der KAL007. Absturz in den Kalten Krieg.''] In: [[einestages]] auf [[Spiegel Online]] vom 19. Juli 2014<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{SORTIERUNG:Koreanairlinesflug 0007}}<br />
[[Kategorie:Flugunfall (Pazifischer Ozean)]]<br />
[[Kategorie:Sowjetische Militärgeschichte]]<br />
[[Kategorie:Verkehrsgeschichte (Südkorea)]]<br />
[[Kategorie:Korea im Kalten Krieg]]<br />
[[Kategorie:Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten]]<br />
[[Kategorie:Flugunfall 1983]]<br />
[[Kategorie:Koreanische Geschichte (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Korean Air|Flug 0007]]<br />
[[Kategorie:Luftverkehr (Südkorea)]]<br />
[[Kategorie:Sowjetunion im Kalten Krieg]]<br />
[[Kategorie:Boeing 747]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Apsidendrehung&diff=196953072Apsidendrehung2020-02-19T09:18:02Z<p>Udo.bellack: add link auf Quadrupol</p>
<hr />
<div>[[Datei:Apsidendrehung.png|mini|Die Periheldrehung der Bahn eines Planeten. Die [[Exzentrizität (Astronomie)|Exzentrizität]] der Bahn und der Betrag der Drehung sind schematisch übertrieben.]]<br />
[[Datei:Drehung der Apsidenlinie.svg|mini|Apsidendrehung und Drehung der Apsidenlinie jeweils in der [[Periapsis]]. Man sieht somit die „'''Periapsisdrehung'''“.]]<br />
<br />
Die '''Apsidendrehung''' einer elliptischen [[Umlaufbahn]] ist eine fortschreitende Drehung der ganzen Bahn in der [[Bahnebene]]. Dabei dreht sich die [[Apsis (Astronomie)|Apsidenlinie]] kontinuierlich, während Form und Ebene der Bahn im Raum gleich bleiben. Je nach Zentralkörper werden auch folgende Bezeichnungen verwendet:<br />
* '''Periheldrehung''', oder auch ''Präzession des [[Perihel]]s'', wenn die Bahn die [[Sonne]] umläuft und<br />
* '''Perigäumsdrehung''', wenn die Bahn die [[Erde]] umläuft, also das [[Perigäum]] betrachtet wird.<br />
Wenn diese Bewegung gelegentlich als „Präzession“ des Perizentrums bezeichnet wird, darf sie nicht mit der ähnlich klingenden [[Präzession]] der [[Äquinoktium|Äquinoktien]] verwechselt werden, bei der es sich zwar ebenfalls um eine Bahnstörung handelt, bei der jedoch die Lage einer Ebene im Raum betroffen ist.<br />
<br />
== Ursachen ==<br />
Eine Apsidendrehung entsteht, wenn ein [[Himmelskörper]] auf seiner [[Ellipse|elliptischen]] Umlaufbahn um einen Zentralkörper bestimmten äußeren Störungen unterliegt. Wäre der Himmelskörper einer Anziehungskraft ausgesetzt, welche streng umgekehrt quadratisch mit der Entfernung vom Zentralkörper abnimmt, so würde er sich exakt auf einer [[Keplerbahn|Keplerellipse]] bewegen, deren Form, Lage und Orientierung im Raum unverändert blieben. Nach dem Satz von Bertrand sind die einzigen zentralsymmetrischen Potentiale mit geschlossenen Bahnen das {{Bruch|r}}-Potential und das Potential des harmonischen Oszillators mit radialem Funktionsverlauf proportional r². Abweichungen vom streng umgekehrt-quadratischen Kraftgesetz führen jedoch zu verschiedenen Arten von [[Bahnstörung]]en, welche Form, Lage und Orientierung der Bahn verändern können. Eine dieser Bahnstörungen ist die Apsidendrehung.<br />
<br />
* Eine mögliche Ursache für Abweichungen vom {{Bruch|r<sup>2</sup>}}-Zentralkraftgesetz ist die Gegenwart anderer Körper, welche zusätzliche [[Gravitation]]skräfte auf den betrachteten Himmelskörper ausüben. Im Falle der Planetenbahnen ist der Einfluss der jeweils anderen Planeten die Hauptursache für die Periheldrehungen.<br />
* Eine andere Ursache kann in Abweichungen des Zentralkörpers von der [[Kugel]]form liegen. Während ein exakt kugelsymmetrisch aufgebauter ausgedehnter Körper dasselbe streng invers-quadratische Gravitationsfeld erzeugen würde wie ein punktförmiger Körper derselben Masse, führen unregelmäßige Masseverteilungen oder der Äquatorwulst [[Abplattung|abgeplatteter]] Zentralkörper wiederum zu Abweichungen vom invers-quadratischen Kraftgesetz und damit zu Bahnstörungen. Der Äquatorwulst der Erde verursacht (neben anderen Bahnstörungen) Perigäumsdrehungen bei [[Satellit (Raumfahrt)|künstlichen Erdsatelliten]]. Die Abplattung der Sonne verursacht Periheldrehungen der Planetenbahnen, welche wegen der Geringfügigkeit der Abplattung und des großen Abstandes der Planeten jedoch wesentlich kleiner sind als die von den Planeten untereinander verursachten Drehungen.<br />
* Schließlich kann das physikalisch reale Kraftgesetz auch grundsätzlich vom idealisierten invers-quadratischen Verhalten abweichen. Gemäß der [[Allgemeine Relativitätstheorie|Allgemeinen Relativitätstheorie]] ist dies für die Gravitationsfelder, denen die Planeten ausgesetzt sind, tatsächlich der Fall (wenn auch nur in sehr geringem Ausmaß), so dass ein weiterer Beitrag zu den Periheldrehungen der Planeten entsteht.<br />
<br />
Aus all diesen Ursachen resultiert –&nbsp;in einem bezüglich des [[Fixstern]]hintergrunds ruhenden [[Astronomische Koordinatensysteme|Koordinatensystem]]&nbsp;– eine [[Rosette (Architektur)|rosettenartige]] Bewegung des Körpers: Die ''[[anomalistische Periode]]'' entspricht nicht genau der ''[[Siderische Periode|siderischen]]''. Himmelsmechanisch wird das durch einen langperiodischen [[Term]] des [[Bahnelement]]s ''[[Argument des Perizentrum]]s'' beschrieben.<br />
<br />
Wird die Bahn nicht in einem bezüglich des Fixsternhintergrunds ruhenden Bezugssystem beschrieben, sondern in einem rotierenden Bezugssystem, so kommt zu den oben beschriebenen physikalisch verursachten Drehungen eine zusätzliche scheinbare Drehung hinzu, welche lediglich die Drehung des Bezugssystems widerspiegelt. Im Falle der Planetenbahnen des Sonnensystems betragen die Periheldrehungen –&nbsp;von einem fest gewählten [[Äquinoktium|Frühlingspunkt]] aus gezählt&nbsp;– nur Bruchteile eines Grades pro Jahrhundert. Werden die Bahnen hingegen bezüglich des beweglichen [[Äquinoktium|Äquinoktiums des Datums]] beschrieben, so sind ihre Geschwindigkeiten in diesem rotierenden Bezugssystem um die [[Präzession]]sgeschwindigkeit des Frühlingspunkts, nämlich 1,396° pro Jahrhundert, höher und liegen zwischen einem und zwei Grad pro Jahrhundert.<br />
<br />
== Episoden aus der Forschungsgeschichte ==<br />
=== Bewegung der Apogäen ===<br />
Bereits den [[Geschichte der Astronomie|antiken Astronomen]] war durch Beobachtung bekannt, dass Sonne, Mond und Planeten ihre Bahnen nicht mit konstanten Geschwindigkeiten durchlaufen. Griechische Astronomen berücksichtigten dies in ihren Planetentheorien, indem sie den Mittelpunkt der jeweiligen als kreisförmig vorausgesetzten Planetenbahn nicht mit dem Mittelpunkt der im Zentrum des Universums angenommenen Erde zusammenfallen ließen, sondern in geeigneter Richtung um einen bestimmten Betrag (die so genannte ''Exzentrizität'', nicht zu verwechseln mit der [[Exzentrizität (Mathematik)|Exzentrizität]] einer Ellipsenbahn) versetzten. Auf der dem Beobachter näher liegenden Bahnhälfte bewegte sich der gleichmäßig laufende Planet nun scheinbar schneller als auf der gegenüberliegenden Hälfte. Wie sich zeigen lässt, kann der reale, dem [[Keplersche Gesetze|2. Keplerschen Gesetz]] folgende Geschwindigkeitsverlauf eines Planeten in sehr guter Näherung mittels einer geeignet verschobenen Kreisbahn (einem so genannten ''[[Exzenter (Astronomie)|Exzenter]]'') rechnerisch nachvollzogen werden. [[Hipparchos (Astronom)|Hipparchos]] beispielsweise schloss aus den ungleichen Längen der [[Jahreszeiten]] auf die Geschwindigkeitsvariation der (damals als Planet behandelten) Sonne in den einzelnen Bahnquadranten und beschrieb ihren Umlauf durch einen Kreis, welcher um 1/24 seines Radius in Richtung 65,5° verschoben war.<ref>(Ptolemäus 150) Buch 3, Kap. 4</ref> In dieser Richtung lag also auch das [[Erdnähe|Apogäum]] der Sonnenbahn, dessen [[ekliptikale Länge]] damals auch tatsächlich 66,23° betrug.<ref>(Pedersen 1974) S. 147</ref> (Damals wurde das Apogäum als Bezugspunkt benutzt, während man heute das [[Erdnähe|Perigäum]] bevorzugt.)<br />
<br />
[[Ptolemäus]] wiederholte die Bahnbestimmung 300 Jahre später. Da seine Beobachtungen aber dieselben Längen für die Jahreszeiten ergaben, erhielt er auch dieselbe Sonnenbahn und hielt daher die Lage ihres Apogäums für unveränderlich bezüglich der [[Äquinoktium|Äquinoktialpunkte]]:<br />
{{Zitat|<!-- alte Rechtschreibung, Zitat! -->Auch wir gelangen zu dem Ergebnis, dass noch heutzutage die Zeiten der obenbezeichneten Quadranten und die angegebenen Verhältnisse nahezu dieselben sind, woraus uns ersichtlich wird, dass der Exzenter der Sonne zu den Wende- und Nachtgleichenpunkten ewig dieselbe Lage bewahrt.<!-- alte Rechtschreibung, Zitat! -->|ref=<ref>(Ptolemäus 150) Buch 3, Kap. 4; Manitius Bd. I S. 167</ref>}}<br />
<br />
Anders verhielten sich jedoch die Apogäen der übrigen Planeten. Aus den Ergebnissen zahlreicher Beobachtungen und Auswertungen schloss er, dass deren Apogäen nicht bezüglich der Äquinoktialpunkte, sondern bezüglich der Fixsterne ruhen. Dies ist insofern bemerkenswert, als seiner Auffassung nach (und im Gegensatz zum heutigen Standpunkt) die Äquinoktialpunkte als ruhend und die Fixsterne als infolge der Präzession bewegt betrachtet wurden. Entsprechend hielt er die Apogäen für beweglich, und ihre Geschwindigkeit musste bestimmt werden. Die Beobachtungen zeigten ihm, dass sie sich alle etwa gleich schnell [[rechtläufig]] bewegten und dass ihre Geschwindigkeit im Rahmen der Beobachtungsgenauigkeit mit der Präzessionsgeschwindigkeit der Fixsterne übereinstimmte; er fand, dass<br />
{{Zitat|<!-- alte Rechtschreibung, Zitat! -->auch die Apogeen der Exzenter einen ganz geringen von den Wendepunkten aus in der Richtung der Zeichen vor sich gehenden Fortschritt bewerkstelligen, welcher wieder gleichförmig um den Mittelpunkt der Ekliptik verläuft und für alle Planeten ungefähr ebensogroß ist, wie er an der Fixsternsphäre wahrgenommen worden ist – d.&nbsp;h. in 100 Jahren vom Betrage eines Grades -, soweit es wenigstens möglich ist, aus dem vorliegenden Material einen Einblick zu gewinnen.<!-- alte Rechtschreibung, Zitat! -->|ref=<ref>(Ptolemäus 150) Buch 3, Kap. 5; Manitius Bd. II S. 121</ref>}}<br />
<br />
Im 9. Jahrhundert bemerkte [[Thabit ibn Qurrah]], dass auch das Sonnenapogäum eine rechtläufige Bewegung bezüglich der Äquinoktialpunkte ausführte.<ref>(Neugebauer 1975) S. 58</ref> Man hielt diese Bewegung zunächst aber noch wie die der Planetenapogäen für rein präzessionsbedingt. [[Al-Battani]] beispielsweise legte das Sonnenapogäum für den 1. März 880 auf 82°&nbsp;15' ekliptikaler Länge und gab die Anweisung, zur Berechnung der Apogäumslänge zu anderen Zeitpunkten für jeweils 66 verstrichene Jahre 1° Präzessionsverschiebung zu addieren oder abzuziehen:<br />
{{Zitat|Das Apogäum bewegt sich nämlich mit derselben Bewegung, mit der sich die Fixsternsphäre dreht und von welcher wir durch Beobachtung festgestellt haben, dass sie in 66 römischen Jahren 1 Grad beträgt.|ref=<ref>(al-Battani 900) S. 72 (Apogeum enim eodem motu quo sphaera stellarum fixarum volvitur, movetur, quem observationibus invenimus unius gradus esse in 66 annis Romanis […]", eigene Übersetzung)</ref>}}<br />
Dasselbe galt für ihn, wie auch schon für Ptolemäus, für die Apogäen der Planeten:<br />
{{Zitat|Die [Längen dieser] Apogäen bewegen sich mit der Bewegung der Fixsternsphäre, nämlich ein Grad in 66 Sonnenjahren.|ref=<ref>(al-Battani 900) S. 114 (Horum apogeorum [longitudines] motu sphaerae stellarum fixarum moventur, scilicet uno gradu in 66 annis solaribus […]", eigene Übersetzung).</ref>}}<br />
<br />
Erst [[Ibn asch-Schatir]] stellte im 14.&nbsp;Jahrhundert durch Beobachtung fest, dass das Sonnenapogäum nicht genau mit der Geschwindigkeit der Präzession wanderte (nämlich mit 1° pro 60 Persischen Jahren gegenüber 1° pro 70 Persischen Jahren), sich also bezüglich der Fixsterne eigenständig bewegte.<ref>(Saliba 1994) S. 234</ref><br />
<br />
Im Gegensatz zu den Planetenbahnen war die Perigäumsdrehung des Mondes bereits den babylonischen Astronomen bekannt und explizit in ihren Rechenschemata berücksichtigt.<ref>(Neugebauer 1975) S. 480</ref> Hipparch und Ptolemäus übernahmen aus der babylonischen Astronomie grundlegende Zahlenwerte und arbeiteten sie zu detaillierten Mondtheorien auf Basis des [[Epizykeltheorie|Epizykelmodells]] aus.<ref>(Neugebauer 1975) S. 71</ref><br />
<br />
=== Periheldrehung des Merkur ===<br />
Die elliptische Gestalt der Planetenbahnen wurde 1609 zunächst [[empirisch]] durch die [[Keplersche Gesetze|Keplerschen Gesetze]] beschrieben. Die physikalische Begründung folgte erst Mitte des 17.&nbsp;Jahrhunderts mit der [[Himmelsmechanik]] von [[Isaac Newton]]. Mit seinem universellen Kraftgesetz, das auch die [[Gravitation]] beschreibt, war es möglich geworden, die Bahnstörungen näher zu untersuchen, die die Planeten wechselseitig verursachen. Insbesondere konnten die beobachteten Apsidendrehungen der Planeten und des Mondes praktisch vollständig durch Newtons Theorie erklärt werden.<br />
<br />
In der Mitte des 19.&nbsp;Jahrhunderts jedoch benutzte [[Urbain Le Verrier]] Beobachtungen von [[Merkurtransit|Merkurdurchgängen]] für eine besonders genaue Vermessung der Merkurbahn und stellte anhand der verbesserten Daten fest, dass die Periheldrehung des Merkur etwas stärker ausfiel als erwartet. Nach den himmelsmechanischen Berechnungen sollte sie etwa 530″ ([[Bogensekunde]]n) pro Jahrhundert betragen, wobei circa 280″ auf den Einfluss der Venus entfallen, circa 150″ auf Störungen durch Jupiter und circa 100″ auf die restlichen Planeten.<ref>(Will 1993), S. 181</ref> Die beobachtete Periheldrehung (moderner Wert: 571,91″/Jahrhundert<ref>(Meeus 2000) Kap. 31</ref>) war jedoch deutlich größer; der moderne Wert für die Diskrepanz beträgt 43,11″.<br />
<br />
Le Verrier, der durch die Untersuchung unerklärter Anteile in den Bahnstörungen des [[Uranus (Planet)|Uranus]] bereits erfolgreich die Entdeckung [[Neptun (Planet)|Neptuns]] ermöglicht hatte, vermutete als Ursache der Diskrepanz bei Merkur eine Störung durch einen bislang unbekannten Planeten auf einer Bahn innerhalb der Merkurbahn. Dieser Planet erhielt den Namen [[Vulkan (Planet)|Vulkan]], konnte jedoch trotz ausgedehnter Suche –&nbsp;unter anderem während mehrerer [[Sonnenfinsternis]]se&nbsp;– nicht entdeckt werden. Ebenso konnte auch kein für die Störungen verantwortlicher sonnennaher Asteroidengürtel nachgewiesen werden. Andere verdächtigten den für das [[Zodiakallicht]] verantwortlichen Staubgürtel oder sahen zumindest einen Teil der Ursache in einer wegen ihrer Rotation abgeplatteten Gestalt der Sonne (siehe auch unten), blieben mit ihren Erklärungsversuchen aber letztlich ebenfalls erfolglos.<ref>vgl. zum&nbsp;Beispiel (Freundlich 1915)</ref><br />
<br />
Weitere Erklärungsversuche zogen die Gültigkeit des Newtonschen Kraftgesetzes in Zweifel. So gelang es unter Zugrundelegung von elektrodynamischen Kraftgesetzen zum Beispiel Levy (1890) und vor allem [[Paul Gerber (Physiker)|Paul Gerber]] (1898), den Überschuss vollständig abzuleiten, unter der Voraussetzung, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitation gleich der [[Lichtgeschwindigkeit]] ist. Gerbers Formel für die Perihelabweichung war formal bereits identisch mit der später von Einstein aufgestellten. Jedoch waren die zugrunde gelegten Kraftgesetze falsch und die Theorien dieser Art mussten verworfen werden.<ref>Oppenheim (1920), 153ff.</ref><ref>Roseveare (1982), Kap. 6</ref><br />
<br />
Erst die [[Allgemeine Relativitätstheorie]] von [[Albert Einstein]], die die Gravitation als Krümmung der [[Raumzeit]] beschreibt, auf deren Struktur auch die Weltkörper ihrerseits Einfluss haben, konnte den Überschuss überzeugend erklären.<ref>(Einstein 1915)</ref> Dieser Erfolg gilt als eine der Hauptstützen der Allgemeinen Relativitätstheorie und als ihre erste große Bestätigung. Der relativistisch berechnete Anteil von 42,98″<ref name="Nobili 1986">(Nobili 1986)</ref> stimmt sehr gut mit dem beobachteten Überschuss von 43,11″ überein. Die Ursache für den relativistischen Effekt liegt in der geringfügigen Abweichung des relativistisch behandelten Gravitationsfelds vom streng invers-quadratischen Verhalten.<ref>(Guthmann 2000) S. 93ff</ref><br />
<br />
Die Übereinstimmung zwischen Beobachtung und relativistischer Rechnung würde weniger gut ausfallen, wenn ein merklicher Teil des beobachteten Überschusses auf eine rotationsbedingte [[Abplattung]] der Sonne zurückzuführen wäre und der übrigbleibende zu erklärende Anteil daher deutlich geringer wäre als gemäß ART berechnet. Versuche, die äußerst geringe Abplattung der Sonne zu messen, lieferten über lange Zeit hinweg widersprüchliche Ergebnisse, sodass auch stets ein wenig zweifelhaft blieb, wie gut die Übereinstimmung der relativistischen Vorhersage mit der Beobachtung tatsächlich war. [[Helioseismologie|Helioseismologische]] Untersuchungen haben jedoch mittlerweile das [[Quadrupol#Gravitation|Quadrupolmoment]] <math>J_2</math> der Sonne zuverlässig zu (2,18&nbsp;±&nbsp;0,06)·10<sup>−7</sup> bestimmt; dieses Quadrupolmoment liefert nur einen Beitrag von einigen Hundertstel Bogensekunden zur Periheldrehung und ist daher vernachlässigbar.<ref>(Will 2006) S. 38</ref> Eine andere Möglichkeit zur Bestimmung von <math>J_2</math> nutzt den Umstand, dass der relativistische und der <math>J_2</math>-bedingte Anteil an der gesamten Periheldrehung mit wachsender Entfernung von der Sonne unterschiedlich rasch abfallen und sich so durch Vergleich der Gesamtdrehungen verschiedener Planeten voneinander trennen lassen. Eine solche Untersuchung<ref>(Pitjeva 2005)</ref> lieferte mit <math>J_2</math>&nbsp;=&nbsp;(1,9&nbsp;±&nbsp;0,3)·10<sup>−7</sup> ein Ergebnis, das nahe an dem der Helioseismologie liegt.<br />
<br />
Die Tabelle führt einige Beobachtungsergebnisse der letzten Jahrzehnte auf:<br />
{| class="wikitable"<br />
!Jahr<br />
!Autoren<br />
!Methode<br />
!Ergebnis<br />
!Quelle<br />
|-<br />
|1975<br />
|Morrison, Ward<br />
|Merkurdurchgänge<br />
|41,9″{{0}} ± 0,5″<br />
|<ref>(Morrison Ward 1975)</ref><br />
|-<br />
|1976<br />
|Shapiro u.&nbsp;a.<br />
|Radar<br />
|43,11″ ± 0,21″<br />
|<ref>(Shapiro 1976), zitiert nach (Pijpers 1998)</ref><br />
|-<br />
|1987<br />
|Anderson u.&nbsp;a.<br />
|Radar<br />
|42,92″ ± 0,20″<br />
|<ref>(Anderson 1987), zitiert nach (Pijper 1998)</ref><br />
|-<br />
|1991<br />
|Anderson u.&nbsp;a.<br />
|Radar<br />
|42,94″ ± 0,20″<br />
|<ref>(Anderson 1991)</ref><br />
|-<br />
|1992<br />
|Anderson u.&nbsp;a.<br />
|Radar<br />
|43,13″ ± 0,14″<br />
|<ref>(Anderson 1992), zitiert nach (Pijper 1998)</ref><br />
|}<br />
<br />
== Beispiele ==<br />
=== Planetenbahnen ===<br />
Die Bahnen aller Planeten des Sonnensystems unterliegen –&nbsp;hauptsächlich wegen ihrer gegenseitigen Störungen&nbsp;– kontinuierlichen Periheldrehungen in Richtung der Umlaufbewegung. Die folgende Tabelle<ref>(Meeus 2000) Kap. 31, Zahlen gerundet</ref> listet die Beträge dieser Drehungen sowohl bezüglich des [[Frühlingspunkt]]s („tropisch“) als auch bezüglich des [[Fixstern]]hintergrunds („siderisch“) auf. Die Zahlenwerte sind langfristig leicht veränderlich und unterliegen auch geringfügigen kürzerfristigen Schwankungen. Die angegebenen Werte beschreiben die mittlere Bewegung (also unter Abrechnung der kurzfristigen Schwankungen) für den Beginn des Jahres 2000 (d.&nbsp;h. zur [[Epoche (Astronomie)|Epoche]] [[J2000.0]]).<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
!Planet<br />
!tropisch [°/Jh.]<br />
!siderisch [°/Jh.]<br />
|-<br />
|Merkur<br />
|1,556<br />
|0,159<br />
|-<br />
|Venus<br />
|1,402<br />
|0,005<br />
|-<br />
|Erde<br />
|1,720<br />
|0,323<br />
|-<br />
|Mars<br />
|1,841<br />
|0,444<br />
|-<br />
|Jupiter<br />
|1,613<br />
|0,216<br />
|-<br />
|Saturn<br />
|1,964<br />
|0,567<br />
|-<br />
|Uranus<br />
|1,486<br />
|0,089<br />
|-<br />
|Neptun<br />
|1,426<br />
|0,029<br />
|}<br />
<br />
Die Zahlenwerte beider Spalten unterscheiden sich um 1,396° pro Jahrhundert, die Rate der [[Präzession]] der Erde in ekliptikaler Länge. So ändert sich zum&nbsp;Beispiel der Winkel zwischen dem Perihel der Erde und dem Frühlingspunkt um 1,720°/Jahrhundert, so dass beide nach circa 21.000 Jahren wieder dieselbe Stellung zueinander einnehmen, was unter anderem Auswirkungen auf das Klima haben könnte (siehe [[Eiszeitalter|Eiszeit]], [[Milanković-Zyklen]]). Dieser Zyklus ist jedoch hauptsächlich durch die raschere Bewegung des Frühlingspunkts bestimmt. Der Winkel zwischen dem Perihel und einem (unendlich weit entfernt gedachten) Fixstern ändert sich dagegen nur mit einer Rate von 0,323°/Jahrhundert, so dass das Perihel etwa 110.000 Jahre braucht, um bezüglich des [[Inertialsystem|inertialen Raums]] einmal die Erdbahn zu umrunden. Dies ist die Rate der Perihelbewegung, wie sie durch äußere Störeinflüsse verursacht wird.<br />
<br />
Das Ausmaß der Periheldrehung hängt unter anderem auch von der Exzentrizität der betreffenden Bahn ab. Die Venus mit ihrer beinahe kreisförmigen Bahn weist daher eine auffallend geringe siderische Periheldrehung auf.<br />
<br />
=== Mond ===<br />
Die Apsidenlinie des [[Mond]]es dreht sich in 8,85 Jahren einmal um die gesamte Mondbahn. Die Hauptursache hierfür ist die Sonne, die als dritter, störender Körper auf den Umlauf des Mondes um die Erde einwirkt.<ref>(Neugebauer 1975) S. 1103ff</ref><br />
<br />
Dieser ''Zyklus der Apsiden'' ({{enS|lunar apse cycle, perigee cycle}}) berechnet sich:<ref name="NautAl">{{Literatur |Titel=Nautical Almanac |Datum=1974 |Seiten=107}}; zit. nach {{Internetquelle |autor=Victor Reijs |hrsg= |url=http://www.iol.ie/~geniet/eng/moonfluct.htm#noteapse |titel=Mean lunar and solar periods |werk=The Moon and its path |datum=2001-02-23 |zugriff=2010-05-09 |sprache=en}}</ref><br />
: <math>360/(0{,}1114040803-0{,}0007739 \cdot 2/10000 \cdot T -0{,}00000026 \cdot 3/10000 \cdot T^2)/365{,}25</math><!-- die letzte Division ist nicht ganz kalr..--><br />
:: mit ''T'' [[Julianisches Jahrhundert|JJhd]] seit [[J1900.5]]<br />
<br />
Der Zyklus findet sich in der Variation der [[Lunation]]en, und ist auch als Periode der [[Gezeiten]] und meteorologischer Phänomene wohluntersucht.<ref name="apse caycle">Erste Forschungen von {{Literatur |Autor=Otto Pettersson |Titel=On the occurrence of lunar periods in solar activity and the climate of the earth. A study in geophysics and cosmic physics |Sammelwerk=Svenska Hydrogr. Biol. Komm |Datum=1914 |Sprache=en}}; {{Literatur |Autor=derslb. |Hrsg=Conseil Permanente International pour l’Exploration de la Mer |Titel=Long periodical variations of the tide-generating force |Sammelwerk=Pub. Circ. |Nummer=65 |Datum= |Seiten=2–23 |Sprache=en}}; zitiert n. und weitere Literatur: {{Literatur |Autor=John E. Sanders (Barnard College, Columbia University) |Titel=The Lunar Perigee-syzygy Cycle for 1998: Implications for Astronomic Tidal Heights |Datum= |Sprache=en |Online=[http://pbisotopes.ess.sunysb.edu/lig/Conferences/Abstracts98/Sanders.pdf ess.sunysb.edu] |Format=PDF |KBytes= |Abruf=2010-05-09}}; {{Literatur |Autor=derslb. |Titel=Lunar Cycles – 1999 |Datum= |Sprache=en |Online=[http://www.geo.sunysb.edu/lig/Conferences/abstracts99/Sanders_lunar_ms.pdf geo.sunysb.edu] |Format=PDF |KBytes=}}</ref><br />
<br />
=== Künstliche Erdsatelliten ===<br />
Perigäumsdrehungen von [[Satellit (Raumfahrt)|Satelliten]] werden als grundlegendes [[Satellitenbahnelement]] dargestellt. Ihre Ursache liegt in der Abplattung der Erde und bei Satelliten in niedriger Umlaufbahn gegebenenfalls auch in der Atmosphärenreibung. Die Perigäumsdrehung der [[Global Positioning System|GPS-Satelliten]], welche die Erde in einer Höhe von circa 20.200&nbsp;Kilometern umkreisen, beträgt etwa 0,01° pro Tag.<ref name="Hofmann-Wellenhof 1997 S. 62">(Hofmann-Wellenhof 1997) S. 62</ref><br />
<br />
Beschreibt man die Abweichung des Erdgravitationspotentials von der Kugelgestalt vereinfacht durch Beschränkung auf sein Quadrupolmoment <math>J_2</math>, so beträgt die Bewegung des Perigäums <math>\omega</math><ref name="Hofmann-Wellenhof 1997 S. 62" /><br />
<br />
: <math>\dot \omega = \frac{3}{4} \, n \, a_E^2 \, \frac{5 \cos^2(i)-1}{a^2 (1-e^2)^2} \, J_2</math><br />
<br />
{|<br />
|<math>n</math><br />
|mittlere Bewegung des Satelliten<br />
|-<br />
|<math>a_E</math><br />
|große Halbachse der Erde (6.378.137&nbsp;m)<br />
|-<br />
|<math>a</math><br />
|große Halbachse der Umlaufbahn<br />
|-<br />
|<math>i</math><br />
|Neigung der Umlaufbahn<br />
|-<br />
|<math>e</math><br />
|Exzentrizität der Umlaufbahn<br />
|-<br />
|<math>J_2</math><br />
|[[Geoid#Geoid-Näherungen_mit_Kugelfunktionen|Entwicklungskoeffizient des Quadrupolmoments]] des Gravitationspotentials der Erde (1,0826359·10<sup>−3</sup>)<ref>International Earth Rotation & Reference Systems Service: ''[http://hpiers.obspm.fr/eop-pc/models/constants.html Useful Constants]'', aufgerufen 15. August 2006</ref><br />
|}<br />
<br />
Für Neigungen unter 63,4° bewegt sich das Perigäum in Bewegungsrichtung des Satelliten. Für Neigungen darüber bewegt es sich rückläufig. Hat der Satellit eine Bahnneigung von 63,4°, so unterliegt er (näherungsweise) keiner Perigäumsdrehung, denn <math>5 \cos^2(63{,}4^\circ)-1 = 0</math>. Beträgt seine Umlaufdauer darüber hinaus etwa 12 Stunden (genauer: einen halben [[Siderischer Tag|siderischen Tag]]) und wählt man die Bahn sehr exzentrisch, so liegt das Apogäum während jedes Umlaufs längere Zeit über derselben Region der Erdoberfläche und der Satellit kann zum&nbsp;Beispiel günstig für Telekommunikationszwecke genutzt werden. Er befindet sich in einem so genannten [[Molnija-Orbit]].<br />
<br />
=== Relativistische Periheldrehung ===<br />
[[Datei:Newton versus Schwarzschild trajectories-thumbnail.gif|mini|verweis=Datei:Newton_versus_Schwarzschild_trajectories.gif|Periheldrehung eines Testpartikels im starken gravitativen Feld einer nichtrotierenden zentralen Masse.]]<br />
[[Datei:Horizon skimming Kerr orbit thumbnail.gif|mini|verweis=Datei:Horizon_skimming_Kerr_orbit.gif|Testpartikel im starken gravitativen Feld einer schnell rotierenden zentralen Masse.]]<br />
Der relativistische Anteil an der Periheldrehung konnte neben Merkur auch bei der [[Venus (Planet)|Venus]], der [[Erde]], dem [[Mars (Planet)|Mars]] sowie dem Asteroiden [[(1566) Icarus|Icarus]] nachgewiesen werden (siehe Tabelle,<ref>(Nobili 1986), zitiert nach (Dehnen 1988)</ref> Stand 1986). Bei der [[Erdbahn|Erde]] beispielsweise beträgt die gesamte beobachtete Drehung 1161″ je Jahrhundert; das ist um 5″ mehr, als nach der newtonschen Gravitationstheorie zu erwarten ist. Dieser Überschuss ist gut verträglich mit der relativistischen Vorhersage von 3,8″.<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
!Körper<br />
!Theorie<br />
!Beobachtung<br />
|-<br />
|Merkur<br />
|42,98″<br />
|43,11″ ± 0,45″<br />
|-<br />
|Venus<br />
|{{0}}8,6″<br />
|{{0}}8,4″{{0}} ± 4,8″<br />
|-<br />
|Erde<br />
|{{0}}3,8″<br />
|{{0}}5,0″{{0}} ± 1,2″<br />
|-<br />
|Mars<br />
|{{0}}1,4″<br />
|{{0}}1,5″{{0}} ± 0,15″<br />
|-<br />
|Icarus<br />
|10,3″<br />
|{{0}}9,8″{{0}} ± 0,8″<br />
|}<br />
<br />
Für die relativistische Periheldrehung eines Planeten gilt:<ref name="Nobili 1986" /><br />
<br />
:<math>\dot \omega = \frac{6 \pi \, G M_\odot}{P a (1-e^2)c^2} = \frac{6 \pi k^2}{P \bar a (1-e^2)} \frac{A^2}{D^2 c^2}</math><br />
<br />
{|<br />
|<math>G \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|[[Gravitationskonstante|Newtonsche Gravitationskonstante]]<br />
|<br />
|<math>M_\odot</math><br />
|[[Sonnenmasse]]<br />
|-<br />
|<math>k \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|[[Gaußsche Gravitationskonstante]]: 0,01720209895&nbsp;AE<sup>3/2</sup>d<sup>−1</sup>M<sub>S</sub><sup>−1/2</sup><br />
|<br />
|<math>D \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|Anzahl der Sekunden im Tag: 86400 s<br />
|-<br />
|<math>A \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|[[Astronomische Einheit]] in Metern: AE = 1,4959787·10<sup>11</sup> m<br />
|<br />
|<math>c \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|[[Lichtgeschwindigkeit]]: 299792458 m/s<br />
|-<br />
|<math>a \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|große Halbachse des Planeten in Metern<br />
|<br />
|<math>\bar a</math><br />
|große Halbachse des Planeten in [[Astronomische Einheit|AE]]<br />
|-<br />
|<math>e \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|Exzentrizität der Planetenbahn<br />
|<br />
|<math>P \,</math> <!-- \, erzwingt großes Rendern, bitte drin lassen --><br />
|Bahnperiode des Planeten in Jahren<br />
|-<br />
|<math>\dot \omega</math><br />
|Periheldrehung, Radiant pro Jahr<br />
|<br />
|<br />
|<br />
|}<br />
<br />
Die zweite Form der Gleichung ergibt sich, wenn die [[Astronomische Einheit#Heliozentrische Gravitationskonstante|heliozentrische Gravitationskonstante]] <math>G M_\odot</math> durch die Gaußsche Gravitationskonstante <math>k \,</math> ausgedrückt wird.<br />
<br />
Mit den Bahndaten <math>\bar a</math> = 0,387099 AE, <math>e \,</math> = 0,205630 und <math>P \,</math> = 0,24085 Jahre für Merkur erhält man zum Beispiel die in der Tabelle angegebene Periheldrehung von 42,98 Bogensekunden pro 100 Jahren.<br />
<br />
=== Exotische Systeme ===<br />
In extremer Form tritt die Apsidendrehung zwischen besonders massereichen Himmelskörpern wie [[Stern]]en und [[Neutronenstern]]en auf. Im Doppelpulsar [[PSR 1913+16]] beträgt die relativistische Periheldrehung 4,2° pro Jahr,<ref>(Sivaram 1995), (Will 2006) Kap. 5</ref> im Doppelsystem [[PSR J1906+0746]] beträgt sie 7,57° pro Jahr,<ref>(Lorimer 2006), (Will 2006) Kap. 5</ref> und in [[PSR J0737-3039]] (in dem beide Komponenten Pulsare sind) sogar 16,90° pro Jahr.<ref>(Burgay 2003), (Will 2006) Kap. 5, (Kramer 2006)</ref><br />
<br />
Die [[Lichtkurve]] des Quasars [[OJ 287]] lässt vermuten, dass sich in seinem Zentrum zwei einander umkreisende [[Schwarzes Loch|Schwarze Löcher]] befinden, deren gegenseitiger Orbit sich pro 12-jährigem Umlauf um 39° dreht.<ref>M.J. Valtonen et al.: ''Confirmation of the Gravitational Wave Energy Loss in the Binary Black Hole System OJ287''. American Astronomical Society, AAS Meeting #211, #112.07 (2007), {{bibcode|2007AAS...21111207V}}</ref><br />
<br />
Lange Zeit schien die Apsidendrehung des [[Doppelstern]]systems [[DI Herculis]] im Widerspruch zu den physikalischen Gesetzen zu stehen, aber die geringe Geschwindigkeit der Apsidendrehung ist durch die Lage der [[Rotationsachse]] in der Bahnebene verursacht.<ref>S. Albrecht, S. Reffert, I. Snellen, J. Winn: Nature 461, 373-376 (2009)</ref><br />
<br />
== Literatur ==<br />
* (al-Battani 900): M. al-Battani: ''Zij''. Ar-Raqqah, ca. 900; lat. Übersetzung: C.A. Nallino: ''Al-Battani sive Albatenii Opus Astronomicum''. Mailand 1899–1907; Nachdruck Olms, Hildesheim 1977<br />
* (Anderson 1987): J.D. Anderson, G. Colombo, P.B. Espsitio, E.L. Lau, G.B. Trager: ''The mass, gravity field, and ephemeris of Mercury''. In: ''Icarus'', 71, 1987, S. 337<br />
* (Anderson 1991): J.D. Anderson, M.A. Slade, R.F. Jurgens, E.L. Lau, X.X. Newhall, E.M. Standish Jr.: ''Radar and Spacecraft Ranging to Mercury between 1966 and 1988''. In: ''Proc. ASA'', 9, 1991, S. 324<br />
* (Anderson 1992): J.D. Anderson et al.: ''Recent Developments in Solar-System Tests of General Relativity''. In: H. Sato, T. Nakamura (Hrsg.): ''Proc. Sixth Marcel Grossmann Meeting''. World Scientific, Singapore (1992)<br />
* (Burgay 2003): M. Burgay: ''An increased estimate of the merger rate of double neutron stars from observations of a highly relativistic system''. In: ''Nature'', 426, 2003, S. 531–533, [http://www.nature.com/nature/journal/v426/n6966/abs/nature02124.html Abstract], {{arXiv|astro-ph/0312071}}<br />
* (Dehnen 1988): H. Dehnen: ''Empirische Grundlagen und experimentelle Prüfung der Relativitätstheorie''. In: J. Audretsch, K. Mainzer (Hrsg.): ''Philosophie und Physik der Raumzeit''. Grundlagen der exakten Naturwissenschaften, Band 7. BI-Wissenschaftsverlag 1988<br />
* (Einstein 1915): A. Einstein: ''Erklärung der Perihelbewegung des Merkur aus der Allgemeinen Relativitätstheorie''. In: ''Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften'', 1915, S. 831–839<br />
* (Freundlich 1915): E. Freundlich: ''Über die Erklärung der Anomalien im Planeten-System durch die Gravitationswirkung interplanetarer Massen''. In: Astronomische Nachrichten Nr. 4803, Bd. 201, 1915, S. 49–56, {{bibcode|1915AN....201...49F}}<br />
* (Guthmann 2000): A. Guthmann: ''Einführung in die Himmelsmechanik und Ephemeridenrechnung''. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2000, ISBN 3-8274-0574-2<br />
* (Hofmann-Wellenhof 1997): B. Hofmann-Wellenhof et al.: ''GPS – Theory and Practice''. 4. Auflage. Springer, Wien 1997, ISBN 3-211-82839-7<br />
* (Kramer 2006): M. Kramer et al.: ''Tests of general relativity from timing the double pulsar''. In: ''Science Express'', 14. Sept. 2006, {{arXiv|astro-ph/0609417}}<br />
* (Lorimer 2006): D.R. Lorimer et al.: ''Arecibo Pulsar Survey Using ALFA. II. The Young, Highly Relativistic Binary Pulsar J1906+0746''. In: ''ApJ'', 640, 2006, S. 428–434 ([http://www.journals.uchicago.edu/ApJ/journal/issues/ApJ/v640n1/63810/brief/63810.abstract.html Abstract])<br />
* (Meeus 2000): J. Meeus: ''Astronomical Algorithms''. 2nd ed., 2nd prnt., Willmann-Bell, Richmond 2000, ISBN 0-943396-61-1<br />
* (Morrison Ward 1975): L.V. Morrison, C.G. Ward: ''An Analysis of the Transits of Mercury: 1677–1973''. In: ''Mon. Not. R. astr. Soc.'', 173, 1975, S. 183–206, {{bibcode|1975MNRAS.173..183M}}<br />
* (Neugebauer 1975): O. Neugebauer: ''A History of Ancient Mathematical Astronomy''. Springer, Berlin 1975, ISBN 3-540-06995-X<br />
* (Nobili 1986): A. Nobili, C. Will: ''The real value of Mercury’s perihelion advance''. In: ''Nature'', 320, 1986, S. 39–41, {{bibcode|1986Natur.320...39N}}<br />
* {{Cite journal<br />
|author=S. Oppenheim<br />
|year=1920<br />
|title=Kritik des newtonschen Gravitationsgesetzes<br />
|journal=Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen<br />
|volume=6.2.2<br />
|pages =80–158<br />
|url=http://www.archive.org/details/encyklomath2206encyrich}}<br />
* (Pedersen 1974): O. Pedersen: ''A Survey of the Almagest''. Odense University Press, 1974<br />
* (Pijpers 1998): F.P. Pijpers: ''Helioseismic determination of the solar gravitational quadrupole moment''. In: ''Mon. Not. R. Astron. Soc.'', 297, 1998, S. L76-L80, {{bibcode|1998MNRAS.297L..76P}}<br />
* (Pitjeva 2005): E.V. Pitjeva: ''Relativistic Effects and Solar Oblateness from Radar Observations of Planets and Spacecraft''. In: ''Astronomy Letters'', 31, 2005, Band 5, S. 340–349, {{bibcode|2005AstL...31..340P}}<br />
* (Ptolemäus 150): C. Ptolemäus: ''Almagest''. Alexandria, ca. 150; dt. Übersetzung: ''Handbuch der Astronomie'' (übers. v. K. Manitius). Teubner, Leipzig 1963<br />
* {{Cite book| author=N. T Roseveare | year=1982| title=Mercury’s perihelion from Leverrier to Einstein| location=Oxford| publisher=University Press}}<br />
* (Saliba 1994): G. Saliba: ''A History of Arabic Astronomy''. New York University Press, New York 1994, ISBN 0-8147-7962-X<br />
* (Shapiro 1976) I.I. Shapiro, C.C. Counselman III, R.W. King: ''Verification of the principle of equivalence for massive bodies''. In: ''Phys. Rev. Lett.'', 36, 1976, S. 555<br />
* (Sivaram 1995): C. Sivaram: ''The Hulse-Taylor binary pulsar PSR1913+16''. In: ''Bull. Astr. Soc. India'', 23, 1995, S. 77–83, {{bibcode|1995BASI...23...77S}}<br />
* (Will 1993): C.M. Will: ''Theory and Experiment in Gravitational Physics''. Revised edition, Cambridge University Press, Cambridge 1993, ISBN 0-521-43973-6<br />
* (Will 2006): C.M. Will: ''The Confrontation Between General Relativity and Experiment''. In: ''Living Rev. Relativity'', 9, 2006, {{arXiv|gr-qc/0510072}}<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Apsidal precession|Apsidendrehung}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Himmelsmechanik]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl_Mildenberger&diff=196431772Karl Mildenberger2020-02-02T15:28:24Z<p>Udo.bellack: /* Nach dem Boxen */ Jahr der Deutschland-Premiere</p>
<hr />
<div>{{Infobox Boxer<br />
| name= Karl Mildenberger<br />
| bild= Boxkampf Karl Mildenberger gegen Ulli Ritter (Kiel 76.711).jpg<br />
| bildunterschrift= Karl Mildenberger (rechts) gegen [[Ulrich Ritter (Boxer)|Ulrich Ritter]] in der [[Sparkassen-Arena (Kiel)|Kieler Ostseehalle]], 1963<br />
| realname= Karl Mildenberger<br />
| gewicht= [[Schwergewicht]]<br />
| nationalität= [[Deutschland|Deutsch]]<br />
| geburtstag= [[23. November]] [[1937]]<br />
| geburtsort= [[Kaiserslautern]]<br />
| todestag=[[4. Oktober]] [[2018]]<br />
| todesort=[[Kaiserslautern]]<br />
| stil= Rechtsauslage<br />
| größe= 1,87&nbsp;m<br />
| kämpfe= 62<br />
| siege= 53<br />
| KO= 19<br />
| niederlagen= 6<br />
| unentschieden= 3<br />
| keine_wertung=<br />
}}<br />
<br />
'''Karl Mildenberger''' (* [[23. November]] [[1937]] in [[Kaiserslautern]]; † [[4. Oktober]] [[2018]] ebenda) war ein deutscher [[Boxen|Boxer]] und von 1964 bis 1968 [[Liste der EBU-Boxeuropameister im Schwergewicht|EBU-Boxeuropameister im Schwergewicht]].<br />
<br />
Mildenberger boxte in der für seine Zeit untypischen [[Auslage (Boxen)|Rechtsauslage]]. Als Profi absolvierte er von 1958 bis 1969 62 Kämpfe, von denen er 53 gewann (19 davon durch K.O.), bei drei Unentschieden und sechs Niederlagen. Zeitweise war er in den 1960er-Jahren der einzige Europäer in der [[Weltrangliste]], die er zeitweilig sogar anführte.<ref>{{Internetquelle |autor=Horst S. Vetten |url=https://www.zeit.de/1963/50/ein-neuer-schmeling-in-sicht/komplettansicht |titel=Karl Mildenberger: Ein neuer Schmeling in Sicht? |werk=[[Die Zeit|Zeit Online]] |datum=2012-11-17 |abruf=2018-10-07 |kommentar=Eine frühere Fassung wurde in ''Die Zeit'' 50/1963 am 13. Dezember 1963 publiziert.}}</ref><br />
<br />
== Boxkarriere ==<br />
=== Amateur ===<br />
Mildenberger begann seine Boxkarriere 1946 mit Training in der Jugendstaffel der Boxabteilung des [[1. FC Kaiserslautern]], die von seinem Onkel Richard Mildenberger geleitet wurde. Aufgrund der Kriegsschäden des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] trainierte er im Sommerhalbjahr zeitweise auf dem Rasen des [[Fritz-Walter-Stadion|Betzenbergstadions]]. Mit elf Jahren bestritt er seinen ersten Amateurboxkampf und gelangte 1956 in die bundesdeutsche Amateurstaffel. 1958 gewann er den Deutschen Amateurmeistertitel.<ref>''Geburtstage – Karl Mildenberger wird 56''. In: ''Sport-Bild.'' 16. November 1993, S.&nbsp;69.<br />{{Internetquelle |autor=Hartmut Scherzer |url=http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/boxen-der-groesste-machte-karl-mildenberger-beruehmt-1489099.html |titel=„Der Größte“ machte Karl Mildenberger berühmt |werk=[[Frankfurter Allgemeine Zeitung#FAZ.NET|faz.net]] |datum=2007-11-23 |abruf=2018-10-07}}</ref><br />
<br />
=== Profi ===<br />
==== EM-Kämpfe ====<br />
Im selben Jahr wurde Mildenberger Profi im Boxstall von Promoter [[Willy Knörzer]]. Nach dessen Tod 1960 wurde [[Bruno Müller (Boxtrainer)|Bruno Müller]] sein Trainer. Bei seinem ersten [[Europameisterschaft|EM]]-Kampf unterlag er am 24. Februar 1962 gegen [[Dick Richardson]] in Dortmund durch K.O. in Runde 1. Nach dieser „Blitz-K.O.-Niederlage“ wurde Mildenberger in Anlehnung an [[Karl der Große|Karl den Großen]], dessen Namen er als Spitznamen seit seinem Sieg gegen Howard King trug, von der [[Bild (Zeitung)|Bild-Zeitung]] als „Karl der Flache“ bespöttelt. Den Europameistertitel gewann er im zweiten Anlauf in seinem 45. Kampf gegen [[Sante Amonti]] am 17. Oktober 1964 in Berlin durch K.O. in der ersten Runde. Sechsmal verteidigte Mildenberger den Europameistertitel erfolgreich:<br />
* 14. Mai 1965 in Frankfurt durch Punktsieg gegen [[Piero Tomasoni]],<br />
* 26. November 1965 in Frankfurt durch Punktsieg gegen [[Gerhard Zech (Boxer)|Gerhard Zech]],<br />
* 15. Juni 1966 in Frankfurt durch Punktsieg gegen [[Yvan Preburg]],<br />
* 1. Februar 1967 in Frankfurt durch Punktsieg gegen Piero Tomasoni,<br />
* 21. Mai 1967 in London durch K.O. in der achten Runde gegen [[Billy Walker (Boxer)|Billy Walker]],<br />
* 31. Dezember 1967 in Berlin durch Punktsieg gegen [[Gerhard Zech (Boxer)|Gerhard Zech]].<br />
<br />
Am 18. September 1968 verlor Mildenberger den EM-Kampf gegen den englischen „British Empire Heavyweight Champion“ [[Henry Cooper (Boxer)|Henry Cooper]] durch [[Disqualifikation]] in der achten Runde.<br />
<br />
==== WM-Kämpfe ====<br />
Mildenbergers wohl bedeutendster Kampf fand am 10. September 1966 im [[Commerzbank-Arena|Frankfurter Waldstadion]] statt. An jenem Tag lieferte der amtierende Europameister vor 45.000 Zuschauern dem Schwergewichts-Weltmeister [[Muhammad Ali]] bis in die zwölfte Runde einen großartigen Kampf und machte diesem schwer zu schaffen. Er setzte Ali vor allem in der sechsten und siebten Runde mit seiner gefürchteten Linken unter Druck. Doch wegen einer Platzwunde über dem linken Auge nahm der Ringrichter den angeschlagenen Mildenberger in der zwölften Runde aus dem Kampf. „Es war mein schwerster Kampf seit dem Titelgewinn gegen [[Sonny Liston]]“, sagte Ali nach seiner sechsten erfolgreichen Titelverteidigung und kündigte an, nie wieder gegen Karl Mildenberger boxen zu wollen. Es war der erste Schwergewichts-Weltmeisterschaftskampf, der in Deutschland ausgetragen wurde. Der Kampf wurde in 11 europäischen Ländern live im Fernsehen übertragen, nicht aber in Deutschland.<br />
<br />
Als Muhammad Ali 1967 der Titel aberkannt wurde, war Mildenberger erneut Weltranglistenerster. In einem WM-Ausscheidungskampf erlitt er jedoch gegen den Argentinier [[Óscar Bonavena]] am 16. September 1967 in Frankfurt eine schwere Niederlage nach zwölf Runden und ging dabei viermal zu Boden.<br />
<br />
== Nach dem Boxen ==<br />
1969 zog sich Mildenberger vom Boxsport zurück. Nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn blieb er jedoch neben seiner Arbeit bei der [[Bayerische Brauerei Kaiserslautern|Bayerischen Brauerei Kaiserslautern]] stets seinen sportlichen Aspekten im Leben treu. Dies spiegelte sich in einer Anstellung als Rettungsschwimmer beim Sport- und Bäderamt in Kaiserslautern wider, die er bis zum hohen Rentenalter ausübte.<br />
<br />
Sein Wissen und seine Erfahrungen um den Boxsport gab er der Boxabteilung seiner Heimatstadt Kaiserslautern weiter. Dort engagierte er sich ehrenamtlich für den Nachwuchs.<br />
<br />
Bei großen Box-Veranstaltungen in Deutschland, beispielsweise bei den WM-Kämpfen von [[Axel Schulz (Boxer)|Axel Schulz]], war er immer wieder zu sehen.<br />
<br />
Bei der Deutschland-Premiere des Kinofilms ''[[Ali (Film)|Ali]]'' im Jahre 2002 in [[Riesa]] war der Kontrahent von 1966 ebenfalls zu Gast und traf dort Ali nach vielen Jahren wieder. Dabei forderte ihn der schwerkranke Ali sogar nochmal zu einem kleinen Sparring heraus<ref>https://www.alamy.com/stock-photo-dpa-boxing-legend-muhammad-ali-l-fights-a-show-match-against-his-former-53698216.html</ref>.<br />
<br />
Karl Mildenberger lebte in Kaiserslautern und starb dort am 4. Oktober 2018 im Alter von 80&nbsp;Jahren in einem [[Hospiz]].<ref>{{Internetquelle |url=https://www.rheinpfalz.de/lokal/artikel/box-europameister-karl-mildenberger-stirbt-mit-80-jahren/ |titel=Box-Europameister Karl Mildenberger stirbt mit 80 Jahren |werk=[[Die Rheinpfalz]] |datum=2018-10-05 |abruf=2018-10-05}}</ref><br />
<br />
== Ehrungen ==<br />
* 2003: [[Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz]]<br />
* 2007: Silberne Stadtplakette der Stadt Kaiserslautern<br />
<br />
== Sonstiges ==<br />
Der Kampf Mildenbergers gegen den Amerikaner [[Archie McBride]], der am Freitag, den 25. Januar 1963 im [[Berliner Sportpalast]] hätte stattfinden sollen, wurde von den Veranstaltern vorsorglich um einen Tag verschoben, weil man fürchten musste, dass das Publikum an diesem Abend ausbleiben würde. Der Grund war die Fernsehausstrahlung der sechsten und letzten Folge des [[Kriminalfilm]]s ''[[Tim Frazer]]'' von [[Francis Durbridge]], die eine Einschaltquote von 93 % erreichte.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat}}<br />
* {{BoxRec ID|9381}}<br />
* {{toter Link|url=http://www.hr-online.de/website/specials/home/index.jsp?startrubrik=18534}} „Karl is the best!“ Karl Mildenberger vs. Muhammad Ali in Frankfurt 1966 (hr-online Spezial)<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=1170109292|LCCN=|VIAF=3022154137637015370000}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Mildenberger, Karl}}<br />
[[Kategorie:Boxer (Deutschland)]]<br />
[[Kategorie:Europameister (Boxen)]]<br />
[[Kategorie:Deutscher Meister (Boxen)]]<br />
[[Kategorie:Sportler (1. FC Kaiserslautern)]]<br />
[[Kategorie:Träger des Verdienstordens des Landes Rheinland-Pfalz]]<br />
[[Kategorie:Deutscher]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1937]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 2018]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Mildenberger, Karl<br />
|ALTERNATIVNAMEN=<br />
|KURZBESCHREIBUNG=deutscher Boxsportler<br />
|GEBURTSDATUM=23. November 1937<br />
|GEBURTSORT=[[Kaiserslautern]]<br />
|STERBEDATUM=4. Oktober 2018<br />
|STERBEORT=[[Kaiserslautern]]<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Dorsa_Cato&diff=195473727Dorsa Cato2020-01-03T18:28:35Z<p>Udo.bellack: Historiker und Staatsmann statt "Erdingenieur" (ein Witz?)</p>
<hr />
<div>{{Infobox Mondstruktur<br />
|FeatureId=1592<br />
|Typ=Dorsum<br />
|Name=Dorsa Cato<br />
|Bild=Taruntius - LROC - WAC.JPG<br />
|Bildtext=Dorsa Cato (unten rechts) und Umgebung ([[LROC]]-WAC)<br />
|Breitengrad=0.21<br />
|Längengrad=47.7<br />
|Durchmesser=128.64<br />
|LCA=61<br />
|BenanntNach=[[Marcus Porcius Cato der Ältere|Marcus Porcius Cato]]<br />
|BenanntJahr=1976<br />
}}<br />
Die '''Dorsa Cato''' ist eine Gruppe [[Dorsum (Astrogeologie)|Meeresrücken]] beim [[Äquator]] des [[Mond|Erdmondes]]. Sie durchmisst ungefähr 140 km und befindet sich im [[Mare Fecunditatis]], südlich des Kraters [[Taruntius (Mondkrater)|Taruntius]]. Sie wurde 1976 nach dem [[Römische Republik|römischen]] [[Historiker]] und [[Staatsmann]] [[Marcus Porcius Cato der Ältere|Marcus Porcius Cato]] benannt. <br />
<br />
==Siehe auch==<br />
* [[Liste der Berge und Gebirge des Erdmondes]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [http://the-moon.wikispaces.com/Dorsa+Cato Dorsa Cato] auf The-Moon Wiki<br />
<br />
[[Kategorie:Dorsum|Cato]]<br />
[[Kategorie:Marcus Porcius Cato der Ältere]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Alpha_Centauri&diff=195471361Alpha Centauri2020-01-03T17:23:14Z<p>Udo.bellack: /* Sternenhimmel */ fix Deklination der Sonne (invers zu RE und DE von Alpha Centauri)</p>
<hr />
<div>{{Dieser Artikel|beschäftigt sich mit dem Sternsystem. Zu anderen Bedeutungen siehe [[Alpha Centauri (Begriffsklärung)]].}}<br />
{{Infobox Doppelstern<br />
| Name = Alpha Centauri<br />
| Bild = Alpha Centauri relative sizes-de.svg<br />
| Bildtext = Größe und Farbe der Sonne, verglichen mit den Sternen Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A, Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;B und Proxima&nbsp;Centauri<br />
| KarteDir = ol<br />
| KarteX = 800<br />
| KarteY = 2150<br />
| Kartentext = <br />
| Sternbild = Cen<br />
| Visuell-gesamt = −0,27<ref name="space.com">{{Webarchiv|url=http://www.space.com/scienceastronomy/brightest_stars_030715-3.html | wayback=20101111114408 | text=''The 10 Brightest Stars.''}}.</ref><br />
<!-- interne Werte --><br />
| Gr = −0.27<br />
| Planeten = 1<br />
| Rek = 14/39/35.79<br />
| Dek = −/60/50/8.035<br />
| Size = 46<br />
| Caption = Alpha Centauri<br />
<!-- gemeinsame Werte --><br />
| V-Radial = −22,3<br />
| Parallaxe = 737<br />
| LJ = 4,34<small> ± 0,03 </small><br />
| PC = 1,33<small> ± 0,01 </small><br />
| Absolut-vis = 4,13<br />
| Absolut-bol =<br />
| Periode = 79,9 a<ref name="Pourbaix1999" /><br />
| GroßeHalbachse = 17,59″ / 23,9 AE<br />
| Exzentrizität = 0,519<ref name="Pourbaix1999" /><br />
| Periastron = 11,5 AE<ref name="Entfernung1" group="A" /><br />
| Apastron = 36,3 AE<ref name="Entfernung1" group="A" /><br />
| Bahnneigung = 79,205°<br />
| ArgumentdesKnotens = 204,85°<br />
| PeriastronEpoche = 1875,66<br />
| ArgumentderPeriapsis = 231,65°<br />
| Alter = 6,52<small> ± 0,3 </small>Mrd. a<br />
| V-RA = −3678,19<ref name="hipparcos">{{Webarchiv|text=''Hipparcos Catalogue.'' |url=http://archive.ast.cam.ac.uk/hipp/hipparcos.html |webciteID=68uazyWU7}}</ref><br />
| V-DE = +481,84<ref name="hipparcos" /><br />
<!-- Komponente A --><br />
| Name1 = ''A''<br />
| Rektaszension1 = {{Rektaszension|14|39|36,5}}<br />
| Deklination1 = {{Deklination|−60|50|02,31}}<br />
| Visuell1 = −0,003<small> ± 0,006 </small><br />
| Spektralklasse1 = G2 V<br />
| B-V-Index1 = 0,65<br />
| U-B-Index1 = 0,24<br />
| Absolut-vis1 = 4,40<br />
| Absolut-bol1 =<br />
| Masse1 = 1,105<small> ± 0,0070 </small><br />
| Radius1 = 1,224<small> ± 0,003 </small><br />
| Leuchtkraft1 = 1,522<small> ± 0,030 </small><br />
| Temperatur1 = 5810<small> ± 50 </small><br />
| Metallizität1 = 0,22<small> ± 0,05 </small><br />
| Rotation1 = 22<br />
<!-- Komponente B --><br />
| Name2 = ''B''<br />
| Rektaszension2 = {{Rektaszension|14|39|35,08}}<br />
| Deklination2 = {{Deklination|−60|50|13,76}}<br />
| Visuell2 = 1,333<small> ± 0,014 </small><br />
| Spektralklasse2 = K1 V<br />
| B-V-Index2 = 0,85<br />
| U-B-Index2 = 0,64<br />
| Absolut-vis2 = 5,74<br />
| Absolut-bol2 =<br />
| Masse2 = 0,934<small> ± 0,0061 </small><br />
| Radius2 = 0,863<small> ± 0,005 </small><br />
| Leuchtkraft2 = 0,503<small> ± 0,020 </small><br />
| Temperatur2 = 5260<small> ± 50 </small><br />
| Metallizität2 = 0,24<small> ± 0,05 </small><br />
| Rotation2 = 41<br />
<!-- Bezeichnungen --><br />
| Bayer = α&nbsp;Centauri<br />
| CD =<br />
| HD1 = 128620<br />
| HD2 = 128621<br />
| HIP1 = 71683<br />
| HIP2 = 71681<br />
| HR1 = 5459<br />
| HR2 = 5460<br />
| SAO = 252838<br />
| TYC = 9007-5849-1<br />
| WDS =<br />
| Weitere = Toliman, Rigil Kentaurus, Rigilkent, Bungula, GJ 559, [[FK5]] 538<br />
| Weitere1 =<br />
| Weitere2 =<br />
<!-- Quellen --><br />
| RekDekRef = <ref name="SIMBAD A">[http://simbad.u-strasbg.fr/simbad/sim-id?Ident=HD+128620 ''SIMBAD Query Result: HD 128620 – High proper-motion Star.'']</ref><br />
| SpekRef = <ref name="SIMBAD A" /><br />
| UBRef = <ref name="aricns1">[http://www.ari.uni-heidelberg.de/datenbanken/aricns/cnspages/4c01151.htm ''ARICNS 4C01151,''] [http://www.ari.uni-heidelberg.de/datenbanken/aricns/cnspages/4c01152.htm ''ARICNS 4C01152.''] ARICNS ARI Data Base for Nearby Stars.</ref><br />
| BVRef = <ref name="aricns1" /><br />
| AbsRef = <ref name="aricns1" /><br />
| AlterRef = <ref name="Eggenberger2004" /><br />
| V-RadRef =<ref name="AstronomyOnline">AstronomyOnline: ''[http://astronomyonline.org/Appendix.asp Appendices and Other Various Tables.]''</ref><br />
| LJPCRef =<ref name="aricns1" /><br />
| VisRef =<ref name="Eggenberger2004">{{Literatur |Autor=P. Eggenberger, C. Charbonnel, S. Talon, G. Meynet, A. Maeder, F. Carrier, G. Bourban |Titel=Analysis of α&nbsp;Centauri&nbsp;AB including seismic constraints |Sammelwerk=Astronomy and Astrophysics |Band=417 |Datum=2004-04 |Seiten=235–246 |arxiv=astro-ph/0401606 |DOI=10.1051/0004-6361:20034203}}</ref><br />
| MasseRef =<ref name="Eggenberger2004" /><br />
| RadiusRef =<ref name="Eggenberger2004" /><br />
| LkRef =<ref name="Eggenberger2004" /><br />
| TempRef =<ref name="Eggenberger2004" /><br />
| MetallRef =<ref name="Eggenberger2004" /><br />
| RotRef =<ref name="aaa470" /><br />
}}<br />
'''Alpha Centauri''' [{{IPA|ˈalfa ʦɛnˈtaʊ̯ʀi}}] ('''α&nbsp;Centauri,''' abgekürzt '''α&nbsp;Cen,''' aber auch '''Rigil&nbsp;Kentaurus, Rigilkent, Toliman''' oder '''Bungula''' genannt) ist im [[Sternbild]] des [[Zentaur (Sternbild)|Zentauren]] am [[Südhimmel]] ein etwa 4,34&nbsp;[[Lichtjahr]]e entferntes [[Doppelstern]]system. Es bildet zusammen mit dem ihn umkreisenden, 0,22&nbsp;[[Lichtjahr|Lj]] von Alpha Centauri entfernten [[Sonne|sonnen]]<nowiki/>nächsten [[Roter Zwerg|Roten Zwerg]] [[Proxima Centauri|Proxima&nbsp;Centauri]] (etwa 4,2421&nbsp;Lj Abstand zur Sonne) ein hierarchisches Dreifachsternsystem.<ref name="Kervella" /> Alpha Centauri besteht aus dem helleren gelben Stern Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A und dem orangefarbenen Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;B in derzeit 6″ Abstand. Zusammen mit der Sonne befindet es sich in der sogenannten [[Lokale Flocke|Lokalen Flocke]]. Nur 4,4° westlich steht mit [[Beta Centauri]] ein weiterer [[Stern 1.&nbsp;Größe]].<br />
<br />
Als [[teleskopisch]]er (nur im Fernrohr trennbarer) Doppelstern ist Alpha Centauri mit einer [[Scheinbare Helligkeit|scheinbaren Gesamthelligkeit]] von −0,27&nbsp;mag das hellste Objekt im Sternbild und der dritthellste Stern am Nachthimmel. Der hellere Alpha Centauri&nbsp;A alleine hat eine scheinbare Helligkeit von −0,01&nbsp;mag und ist damit der [[Liste der hellsten Sterne|vierthellste Stern]] am Himmel.<ref name="jumk">{{Internetquelle |url=http://jumk.de/astronomie/sterne/alpha-centauri.shtml |titel=Alpha Centauri |zugriff=2008-02-24}}</ref><br />
<br />
== Lage am Sternenhimmel ==<br />
Alpha Centauri und der 4,4° entfernte [[Beta Centauri|Beta&nbsp;Centauri]] sowie die drei hellsten Sterne aus dem Sternbild [[Kreuz des Südens]], das westlich des Zentauren liegt, bilden zusammen die deutlichste Häufung von [[Stern 1. Größe|Sternen der 1.&nbsp;Größe]] innerhalb einer [[Spanne (Längenmaß)|Handspanne]] am gesamten Sternenhimmel.<br />
<br />
Die Linie durch Alpha und Beta&nbsp;Centauri zeigt auf das Sternbild ''Kreuz des Südens.'' Die „Zeiger“ wurden so genannt, um auf einfache Weise zwischen dem Kreuz des Südens und dem oft damit verwechselten östlichen [[Asterismus (Astronomie)|Asterismus]] (Sternansammlung, die fälschlicherweise für ein Sternbild gehalten wird), dem „Falschen Kreuz“ (dem Sternbild [[Segel des Schiffs]] oder Vela), unterscheiden zu können. Das „Falsche Kreuz“ umfasst die mit freiem Auge sichtbaren Sterne [[Epsilon Carinae|ε&nbsp;Car]], [[Turais]], [[Kappa Velorum|κ&nbsp;Vel]] und [[Delta Velorum|δ&nbsp;Vel]].<br />
<br />
Alpha und Beta Centauri liegen zu weit südlich, als dass man sie von den mittleren nördlichen Breitengraden (z.&nbsp;B. Europa) sehen könnte. Ab 33° südlicher Breite sind die beiden Sterne [[Zirkumpolar (Astronomie)|zirkumpolar]] und bleiben damit immer über dem Horizont.<br />
<br />
== Alpha Centauri als Doppelsternsystem ==<br />
[[Datei:Alpha-Centauri-tracectory-de.svg|mini|links|'''Scheinbare und tatsächliche Bahn von Alpha&nbsp;Centauri.''' Es wird die Bewegung von der Komponente&nbsp;B relativ zur Komponente&nbsp;A gezeigt. Dabei beschreibt die schmale Ellipse die scheinbare Umlaufbahn, wie sie von einem Beobachter auf der Erde gesehen wird. Der senkrechte Blick auf die Umlaufbahn (große Ellipse) macht die tatsächliche Position deutlich.]]<br />
Der Doppelstern hat eine [[absolute Helligkeit]] von 4,1&nbsp;[[Scheinbare Helligkeit|mag]]. Mit bloßem Auge sind die beiden Komponenten&nbsp;A und B von der Erde aus nicht zu trennen. Erst in einem [[Fernrohr]] mit 5&nbsp;cm [[Apertur|Öffnung]] sind die einzelnen Sterne erkennbar.<br />
<br />
Einmal in 79,9&nbsp;Jahren umrunden sich die beiden Sterne auf stark elliptischen Bahnen mit einer [[Exzentrizität (Mathematik)|Exzentrizität]] von 0,519,<ref name="Pourbaix1999">{{Literatur |Autor=D. Pourbaix, C. Neuforge-Verheecke, A. Noels |Titel=Revised masses of α&nbsp;Centauri |Sammelwerk=Astronomy and Astrophysics |Ort=Les Ulis |Datum=1999 |Seiten=172–176 |Online=[http://aa.springer.de/papers/9344001/2300172.pdf Volltext] |Format=PDF |KBytes=224}} {{ISSN|0004-6361}}.</ref> wobei der Abstand zwischen 11,5 und 36,3&nbsp;[[Astronomische Einheit|AE]] liegt. Die große Halbachse beträgt rund 23,9&nbsp;AE.<ref group="A" name="Entfernung1">Die Parallaxe von α&nbsp;Cen beträgt 0,737″ (Pourbaix 1999). Eine AE in dieser Entfernung erscheint also unter einem Winkel von 0,737″. Ein Winkel von 17,57″ (große Halbachse, Pourbaix 1999) entspricht daher einer Strecke von 17,59/0,737&nbsp;= 23,9&nbsp;AE. Kleinster Abstand&nbsp;= große Halbachse&nbsp;· (1&nbsp;− Exzentrizität)&nbsp;= 11,5&nbsp;AE, größter Abstand&nbsp;= große Halbachse&nbsp;· (1&nbsp;+ Exzentrizität)&nbsp;= 36,3&nbsp;AE.<!-- (mit der Hipparcos-Parallaxe von ca. 742 mas kommt man auf geringfügig andere Werte) --></ref> Im Mai 1995 war die größte Distanz ([[Apsis (Astronomie)|Apastron]]) erreicht. Zur größten Annäherung (Periastron) kommt es im Mai 2035.<ref name="imperialstar2.com">{{Internetquelle |autor=Andrew James |hrsg=Andrew James |url=http://homepage.mac.com/andjames/PageAlphaCen007.htm |titel=THE IMPERIAL STAR Page7 |zugriff=2008-05-03 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20081216065357/http://homepage.mac.com/andjames/PageAlphaCen007.htm |archiv-datum=2008-12-16}}</ref><br />
<br />
Aus den Werten der Halbachsen und der Umlaufdauer lässt sich die Gesamtmasse des Doppelsternsystems auf 2,08 Sonnenmassen berechnen.<ref group="A"><math>M/1\,M_{\text{Sonne}} = (a/1\,\text{AE})^3/(T/1\,\text{a})^2 = \left(\left((11{,}4+36{,}0\right)/2\right)^3/79{,}91^2=2{,}08</math></ref><br />
<br />
Der [[Winkel]]abstand und der [[Positionswinkel]] verändern sich wegen der relativ kurzen Umlaufdauer innerhalb weniger Jahre merklich (siehe&nbsp;Tabelle). Während eines Umlaufs variiert der [[Scheinbar (Astronomie)|scheinbare]] Abstand zwischen etwa 2″ und 22″.<ref>{{Literatur |Autor=R. Burnham Jr. |Titel=Burnham’s Celestial Handbook |Ort=Dover/New York |Datum=1978 |ISBN=0-486-23567-X |Seiten=549}}</ref><br />
<br />
{| class="wikitable" style="margin-left:2em; text-align:center;"<br />
|+ style="background-color:#dfd;" | Die Lage von B relativ zu A<br />
|- class="hintergrundfarbe8"<br />
!width="30%"| Jahr<br />
!width="35%"| Winkelabstand<br />
!width="35%"| Positionswinkel<br />
|-<br />
| 1990<br />
| 19,7″<br />
| 215°<br />
|-<br />
| 1995<br />
| 17,3″<br />
| 218°<br />
|-<br />
| 2000<br />
|14,1″<br />
| 222°<br />
|-<br />
| 2005<br />
| 10,5″<br />
| 230°<br />
|-<br />
| 2010<br />
| 6,8″<br />
| 245°<br />
|}<br />
<br />
Die meisten der aktuell ermittelten Distanzen der drei Sterne, die in der Literatur erwähnt werden, beruhen auf den Werten der Parallaxen des [[Hipparcos-Katalog|Hipparcos-Sternenkatalogs]] (HIP) von 1991.<br />
<br />
== Physikalische Eigenschaften ==<br />
Alpha Centauri&nbsp;A und B sind als gemeinsam entstandenes Sternenpaar etwa 6,5&nbsp;±&nbsp;0,3&nbsp;Milliarden Jahre alt.<ref name="Eggenberger2004" /> Beide sind gewöhnliche [[Hauptreihe]]nsterne und befinden sich somit in einer stabilen Phase des [[Wasserstoffbrennen]]s ([[Kernfusion|Fusion]] von [[Wasserstoff]] zu [[Helium]]). Da Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A massereicher ist als Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;B, verbleibt er kürzer in der Hauptreihe, bevor er sich zu einem [[Roter Riese|roten Riesen]] entwickelt. Damit hat Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A im Gegensatz zum kleineren und damit langlebigeren Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;B schon mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich. [[Proxima Centauri|Proxima&nbsp;Centauri]] dagegen ist nur rund 4,85&nbsp;Milliarden Jahre alt.<br />
<br />
Über Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A und B, die zusammen oft auch α&nbsp;Cen&nbsp;AB genannt werden, liegen detaillierte Beobachtungen der Oberflächenschwingungen vor, aus denen die [[Asteroseismologie]] Rückschlüsse auf die innere Struktur der Sterne ziehen kann. Kombiniert man dies mit den traditionellen Beobachtungsmethoden, so erhält man präzisere Werte über die Eigenschaften der Sterne, als mit den einzelnen Methoden möglich wäre.<ref name="Eggenberger2004" /><ref>{{Literatur |Autor=Hans Kjeldsen, Timothy R. Bedding, [[R. Paul Butler]], Joergen Christensen-Dalsgaard, Laszlo L. Kiss, Chris McCarthy, [[Geoffrey Marcy|Geoffrey W. Marcy]], Christopher G. Tinney, Jason T. Wright |Titel=Solar-Like Oscillations in α&nbsp;Centauri&nbsp;B |Sammelwerk=[[The Astrophysical Journal]] |Band=635 |Nummer=2 |Datum=2005-08-29 |Seiten=1281–1290 |arxiv=astro-ph/0508609 |DOI=10.1086/497530}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=http://www.aao.gov.au/press/cen_a_bedding_221205.html |sprache=en |titel=AAO Anglo-Australian Observatory: Star near the southern cross is ‚ringing‘ |datum=2005-12-22 |zugriff=2016-01-24 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20120322023036/http://www.aao.gov.au/press/cen_a_bedding_221205.html |archiv-datum=2012-03-22}}</ref><br />
<br />
{| class="wikitable" style="margin-left:2em; text-align:center;"<br />
|+ style="background-color:#dfd;" | Vergleich der Elementverteilung in Massenprozent<ref name="stefantaube">{{Internetquelle |autor=Stefan Taube |werk=Astronomie.de |url=http://www.astronomie.de/news/eso/2003/005-03.htm |titel=Portrait einer Nachbarsfamilie |archiv-url=https://web.archive.org/web/20080529005525/http://www.astronomie.de/news/eso/2003/005-03.htm |archiv-datum=2008-05-29 |zugriff=2008-05-02}}</ref><br />
|- class="hintergrundfarbe8"<br />
!width="25%"| Name<br />
!width="25%"| Wasserstoff<br />
!width="25%"| Helium<br />
!width="25%"| schwere Elemente<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''α&nbsp;Centauri&nbsp;A'''''<br />
| 71,5<br />
| 25,8<br />
| 2,74<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''α&nbsp;Centauri&nbsp;B'''''<br />
| 69,4<br />
| 27,7<br />
| 2,89<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''Sonne'''''<br />
| 73,3<br />
| 24,5<br />
| 1,81<br />
|}<br />
<br />
=== Alpha Centauri A ===<br />
Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A ist wie die Sonne ein [[Gelber Zwerg]] vom [[Spektralklasse|Spektraltyp]] G2&nbsp;V. Damit gehört er wie die Sonne zu den heißeren G-Sternen (innerhalb der Spektralklasse G reicht die numerische Bezeichnung von 0 (heißester) bis 9 (kühlster) Stern). Die [[Leuchtkraftklasse]]&nbsp;V gibt an, dass er zu den [[Hauptreihe]]nsternen gehört. Er ist mit einer [[Scheinbare Helligkeit|scheinbaren Helligkeit]] von 0,00&nbsp;[[Scheinbare Helligkeit|mag]] (Magnitude) nach [[Sirius]] (−1,46&nbsp;mag), [[Canopus]] (−0,72&nbsp;mag) und [[Arktur]] (−0,05&nbsp;mag) vor [[Wega]] (0,03&nbsp;mag) der vierthellste Stern am Nachthimmel.<br />
<br />
Da Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A vom gleichen Spektraltyp ist und ähnliche Dimensionen wie die Sonne hat, gilt er als der erdnächste „[[Sonnenähnlicher Stern|Sonnenzwilling]]“ (was aber nicht bedeutet, dass sie zusammen entstanden sind). Seine Oberflächentemperatur beträgt etwa 5800&nbsp;[[Kelvin|K]]. Mit dem 1,22-fachen Sonnendurchmesser ist er größer als Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;B. Er besitzt 1,1&nbsp;Sonnenmassen und gibt 1,52-mal so viel [[Strahlungsleistung]] ab wie die Sonne. Die chemische Zusammensetzung ist jener der Sonne sehr ähnlich. Der Anteil an schweren [[Chemisches Element|Elementen]] (Elemente mit einer Ordnungszahl größer als Helium werden in der [[Astrophysik]] als Metalle bezeichnet) ist jedoch um knapp 70 % höher (die [[Metallizität]] beträgt [Fe/H]<sub>A</sub>&nbsp;=&nbsp;0,22&nbsp;±&nbsp;0,05).<ref name="Eggenberger2004" /> Seine [[habitable Zone]] liegt zwischen 1,2 und 1,3&nbsp;[[Astronomische Einheit|astronomischen Einheiten]] (AE).<ref name="Astronomical Journal 1997AJ" /><br />
<br />
=== Alpha Centauri B ===<br />
Alpha Centauri&nbsp;B gehört dem Spektraltyp K1 mit der [[Leuchtkraftklasse]]&nbsp;V an. Er weist gegenüber dem helleren Stern Alpha Centauri&nbsp;A nur eine Helligkeit von 1,33&nbsp;mag auf und ist damit die Nummer 21 in der [[Liste der hellsten Sterne]] am Himmel. Er besitzt 0,93&nbsp;Sonnenmassen und hat einen 0,86-fachen Sonnendurchmesser. Auch er ist ähnlich wie die Sonne zusammengesetzt. Der Anteil an schweren Elementen liegt allerdings um gut 70 % höher (die Metallizität beträgt [Fe/H]<sub>B</sub>&nbsp;=&nbsp;0,24&nbsp;±&nbsp;0,05).<ref name="Eggenberger2004" /> Es wurde eine Rotationsdauer von 41&nbsp;Tagen festgestellt. Zum Vergleich: Die Sonne rotiert in etwa 25&nbsp;Tagen einmal um die eigene Achse.<ref name="aaa470">{{Internetquelle |autor=M. Bazot |titel=Asteroseismology of α&nbsp;Centauri&nbsp;A. Evidence of rotational splitting |werk=Astronomy and Astrophysics |url=http://www.aanda.org/articles/aa/abs/2007/28/aa5694-06/aa5694-06.html |kommentar=[[doi:10.1051/0004-6361:20065694]] |zugriff=2008-07-18}}</ref><br />
<br />
Mit einer Oberflächentemperatur von etwa 5300&nbsp;K ist er nur wenig kühler als die Sonne. Er erreicht wegen der geringeren Temperatur und der kleineren Oberfläche jedoch nur 50 % der Sonnenstrahlungsleistung. Somit beträgt die Helligkeit des orange-gelb strahlenden K1-V-Sterns Alpha Centauri&nbsp;B nur ein Drittel des größeren Sterns Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A. Die [[habitable Zone]] liegt in einem Abstand von 0,73 bis 0,74&nbsp;AE.<br />
<br />
Obwohl er weniger hell als Alpha Centauri&nbsp;A ist, strahlt Alpha Centauri&nbsp;B im [[Röntgenstrahlung|Röntgenbereich]] des Spektrums mehr Energie ab. Die Lichtkurve von B variiert in kurzen Zeitabständen und es wurde zumindest ein [[Sonneneruption|Flare]] beobachtet.<ref name="robrade">{{Literatur |Autor=J.&nbsp;Robrade |Titel=X-rays from α&nbsp;Centauri&nbsp;– The darkening of the solar twin |Sammelwerk=Astronomy and Astrophysics |Datum=2005 |bibcode=2005A&A...442..315R}}</ref><br />
<br />
{| class="wikitable" style="margin-left:2em; text-align:center;"<br />
|+ style="background-color:#dfd;" | Vergleich wichtiger Sternparameter<br />
|- class="hintergrundfarbe8"<br />
!width="17%"| Name<br />
!width="16%"| Durchmesser<br />[Mio. km]<br />
!width="16%"| Radius<br />[R<sub>Sonne</sub>]<br />
!width="16%"| Masse<br />[M<sub>Sonne</sub>]<br />
!width="16%"| Leuchtkraft<br />[L<sub>Sonne</sub>]<br />
!width="16%"| Spektralklasse<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''α&nbsp;Centauri&nbsp;A'''''<br />
| 1,70<br />
| 1,22<br />
| 1,1<br />
| 1,52<br />
| G2 V<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''α&nbsp;Centauri&nbsp;B'''''<br />
| 1,20<br />
| 0,86<br />
| 0,93<br />
| 0,50<br />
| K1 V<br />
|-<br />
|style="text-align:left;"|'''''Sonne'''''<br />
| 1,39<br />
| 1<br />
| 1<br />
| 1<br />
| G2 V<br />
|}<br />
<br />
== Zugehörigkeit von Proxima Centauri zum Sternsystem ==<br />
[[Datei:Alpha centauri.jpg|mini|Die tatsächlichen Positionen von α&nbsp;Cen&nbsp;A und B (Aufnahme des 1,5-Meter-Teleskops CTIO der ESO in Chile). Proxima Centauri läge um 1 Bildbreite außerhalb (rechts unten).]]<br />
Der Abstand von Proxima Centauri zum [[Doppelsternsystem]] Alpha Centauri&nbsp;A und B beträgt etwa 12.900&nbsp;AE<ref name="Kervella" /> oder 0,204 Lichtjahre. Das entspricht etwa der 1000-fachen Distanz zwischen α&nbsp;Cen&nbsp;A und B selbst, oder der 500-fachen Distanz Neptuns zur Sonne. Der Winkelabstand von Proxima Centauri zu Alpha Centauri&nbsp;A und B am Himmel beträgt etwa 2,2&nbsp;Grad (vier Vollmondbreiten).<br />
<br />
Die Zugehörigkeit von [[Proxima Centauri]] zu Alpha Centauri gilt seit November 2016 als gegeben. Basis ist die Untersuchung einer Forschergruppe um Pierre Kervella und Frederic Thévenin.<ref name="Kervella">{{Internetquelle |url=https://arxiv.org/pdf/1611.03495v1.pdf |titel=Proxima’s orbit around alpha Centauri |datum=2016-11-14 |sprache=en |zugriff=2016-11-23 |format=PDF; 259&nbsp;kB}} ({{arXiv|1611.03495}}).</ref> Demnach ist Proxima Centauri gravitativ an das Sternenpaar gebunden und umläuft es in etwa 600.000 Jahren mit einer Bahnexzentrizität von etwa 0,42 in 9.100&nbsp;AE mittlerer Entfernung (kürzeste Entfernung etwa 5.300&nbsp;AE, längste etwa 12.900&nbsp;AE, d.&nbsp;h., Proxima Centauri befindet sich derzeit nahe seinem [[Apoastron]]). Proxima Centauri kann somit auch als ''Alpha Centauri&nbsp;C'' bezeichnet werden.<br />
<br />
Auf diese Zugehörigkeit wiesen bereits ältere hochpräzise [[Astrometrie|astrometrische Messungen]] wie die des [[Hipparcos]]-Satelliten hin (die Angaben zur Umlaufzeit schwankten seinerzeit zwischen einigen 100.000 Jahren bis zu einigen [[Jahrmillion]]en). Ältere Untersuchungen aus dem Jahr 1994 ließen noch die Möglichkeit offen, dass Proxima Centauri zusammen mit dem inneren Doppelsternsystem und neun weiteren Sternsystemen einen [[Bewegungshaufen]] bildet. Demzufolge würde Proxima Centauri nicht in einer stabilen Bewegung das Paar Alpha Centauri umrunden, sondern seine Bahn wäre durch das Doppelsternsystem hyperbolisch gestört, sodass Proxima Centauri nie einen vollen Umlauf um Alpha Centauri&nbsp;A und B vollführen würde.<ref name="stefantaube" /> Ähnlich weichen auch gemäß einer 2006 veröffentlichten Arbeit einige Radialgeschwindigkeitsmessungen, z.&nbsp;B. im [[Sternkatalog#Gliese (Gl) und Gliese-Jahreiß (GJ)|Gliese]]-Katalog, von den für ein gravitativ gebundenes System erwarteten Werten ab, sodass nicht auszuschließen sei, dass es sich nur um eine [[Doppelstern#Typen von Doppelsternen|zufällige Sternbegegnung]] handele. Diese Vermutung wurde durch Simulationsrechnungen weder bestätigt noch widerlegt, die ausgehend von der berechneten Bindungsenergie des Systems in 44 % der untersuchten Möglichkeiten ein gebundenes System ergaben.<ref name="apj132">{{Literatur |Autor=Jeremy G. Wertheimer, Gregory Laughlin |Titel=Are Proxima and α&nbsp;Centauri Gravitationally Bound? |Sammelwerk=The Astronomical Journal |Band=132 |Nummer=5 |Datum=2006-10 |Seiten=1995–1997 |arxiv=astro-ph/0607401 |DOI=10.1086/507771}}</ref><br />
<br />
== Bewegung ==<br />
[[Datei:near-stars-past-future-de.svg|mini|links|Die Entfernungen der sonnennächsten Sterne in einem Zeitraum von 20.000 Jahren in der Vergangenheit bis 80.000 Jahre in die Zukunft.]]<br />
[[Datei:Motion-of-Alpha-Cen-de.png|mini|Scheinbare Bewegung von Alpha Centauri gegenüber [[Beta Centauri]] (Agena). Im Jahr 6048 n. Chr. wird die größte Annäherung an β&nbsp;Cen erreicht sein. Das Kreuz des Südens ist rechts sichtbar.]]<br />
<br />
Das Alpha-Centauri-System bewegt sich schräg auf das [[Sonnensystem]] zu und verringert die Distanz mit einer [[Radialgeschwindigkeit]] von rund 22&nbsp;km/s. Proxima&nbsp;Centauri nähert sich hingegen nur mit 16&nbsp;km/s der Sonne.<ref name="jumk" /><ref name="RobertMatthews">{{Literatur |Autor=Robert Matthews, Gerard Gilmore |Titel=Is Proxima really in orbit about Alpha CEN A/B? |Sammelwerk=Monthly Notices of the Royal Astronomical Society |Band=261 |Datum=1993-02 |Seiten=L5 |bibcode=1993MNRAS.261L...5M}}</ref><br />
<br />
In tausend Jahren bewegt sich Alpha&nbsp;Centauri um etwa ein Grad (zwei Vollmondbreiten) am Himmel weiter. In 4000 Jahren wird er sich optisch so weit an [[Beta Centauri|Beta&nbsp;Centauri]] angenähert haben, dass sie einen scheinbaren Doppelstern bilden.<ref group="A">Da sich Alpha Centauri in Richtung Sonne bewegt und sich damit die Distanz zu ihr verkürzt, wird sich die scheinbare Eigenbewegung in Zukunft geringfügig erhöhen.</ref> In Wirklichkeit ist aber Beta mit 520&nbsp;Lj rund 120-mal weiter von der Sonne entfernt als Alpha&nbsp;Centauri, und seine Eigenbewegung beträgt nur etwa 1 % jener von Alpha.<br />
<br />
In etwa 28.000 Jahren wird das Alpha-Centauri-System mit einer Entfernung von 3&nbsp;Lj zum [[Sonnensystem]] seine größte Annäherung erreichen und danach den Abstand wieder vergrößern. Es wird an der Grenze der Sternbilder [[Wasserschlange (Sternbild)|Wasserschlange]] (Hydra) und [[Segel des Schiffs]] stehen und bis −1,28&nbsp;mag hell werden&nbsp;– nur wenig schwächer als [[Sirius]].<ref name="imperialstar1.com">{{Internetquelle |autor=Andrew James |hrsg=Andrew James |url=http://homepage.mac.com/andjames/PageAlphaCen005.htm |titel=THE IMPERIAL STAR Page5 |zugriff=2008-05-03 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20081216065352/http://homepage.mac.com/andjames/PageAlphaCen005.htm |archiv-datum=2008-12-16}}</ref><br />
<br />
In ferner Zukunft wird das Gestirn langsam unter den Sternen der [[Milchstraße]] verschwinden.<!-- Die letzte Position des [[Fluchtpunkt]]es, die durch die visuelle Perspektive verursacht wird, wird in etwa 100.000 Jahren zu beobachten sein. (Anm. Irgendwie passt das mit der Grafik nicht zusammen). --> Dann wird der ehemals so dominante Stern im unscheinbaren Sternbild [[Teleskop (Sternbild)|Teleskop]] unter die freiäugige Sichtbarkeit fallen. Diese ungewöhnliche Position wird durch Alpha Centauris eigene unabhängige galaktische Bewegung erklärt, die eine hohe Neigung in Bezug auf die Milchstraße aufweist.<br />
<div style="clear:both;"></div><br />
<br />
== Möglichkeit der Planetenbildung ==<br />
Aktuelle Computermodelle zur Planetenformation errechneten, dass sich [[Erdähnlicher Planet|terrestrische Planeten]] nahe an Alpha&nbsp;Centauri&nbsp;A wie auch an Alpha Centauri&nbsp;B bilden könnten.<ref name="Quintana">{{Literatur |Autor=E. V. Quintana, J. J. Lissauer, J. E. Chambers, M. J. Duncan |Titel=Terrestrial Planet Formation in the α&nbsp;Centauri System |Sammelwerk=The Astrophysical Journal |Band=576 |Nummer=2 |Datum=2002-02-22 |Seiten=982–996 |DOI=10.1086/341808}}</ref> Diese Ergebnisse werden durch die Entdeckung von Planeten in einem Doppelsternsystem wie [[Errai|Gamma&nbsp;Cephei]], die hohe [[Metallizität]] des Alpha-Centauri-Systems und die Existenz zahlreicher Satelliten um [[Jupiter (Planet)|Jupiter]] und [[Saturn (Planet)|Saturn]] gestützt.<br />
<br />
Gemäß einer im Dezember 2017 erschienenen Arbeit können den bisherigen Messungen Planeten bis zu 53 Erdmassen entgangen sein, die Alpha Centauri&nbsp;A in seiner habitablen Zone umrunden, bzw. solche bis zu 8,4 Erdmassen für Alpha Centauri B.<ref name="Zhao2017">{{Internetquelle |autor=Lily L. Zhao, Debra A. Fischer, John M. Brewer, Matt Giguere, Bárbara Rojas-Ayala |url=https://arxiv.org/pdf/1711.06320.pdf |titel=Planet Detectability in the Alpha Centauri System |werk=[[Astronomical Journal]] Volume 155, Number 1 |format=PDF; 941&nbsp;kB |datum=2017-11-20 |zugriff=2017-12-23}} {{doi|10.3847/1538-3881/aa9bea}}, {{arXiv|1711.06320}}</ref><ref>{{Internetquelle |url=http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-22231-2017-12-20.html |titel=Hat auch Alpha Centauri Planeten? – Erdnächster Doppelstern könnte noch unentdeckte Begleiter besitzen |hrsg=[[scinexx]] |datum=2017-12-20 |zugriff=2017-12-23}}</ref><br />
<br />
Sicher auszuschließen sind jedoch Gasriesen wie [[Jupiter (Planet)|Jupiter]] und [[Saturn (Planet)|Saturn]], die sich wegen der gravitativen Störungen in einem Doppelsternsystem nicht bilden können.<ref>{{Literatur |Autor=M. Barbier, F. Marzari, H. Scholl |Titel=Formation of terrestrial planets in close binary systems: The case of α&nbsp;Centauri&nbsp;A |Sammelwerk=Astronomy & Astrophysics |Band=396 |Datum=2002-12 |Seiten=219–224 |arxiv=astro-ph/0209118 |DOI=10.1051/0004-6361:20021357}}</ref> Daher ist es nicht verwunderlich, dass bis heute keine Auffälligkeiten in der Radialgeschwindigkeit gefunden wurden, die auf solche hindeuten. Weil Gasriesen somit fehlen, gehen einige Astronomen davon aus, dass ein eventuell vorhandener terrestrischer Planet im Alpha-Centauri-System trocken sein könnte. Dies beruht auf der Annahme, dass Gasriesen wie Jupiter und Saturn entscheidend dafür sind, dass [[Komet]]en in das Innere eines Sternsystems gelenkt werden und durch Einschläge Wasser auf die Planeten bringen. Es kann sein, dass dieser Effekt trotz des Fehlens der Gasplaneten eintritt, vorausgesetzt, Alpha Centauri&nbsp;A würde die Rolle des Jupiters für Alpha Centauri&nbsp;B übernehmen oder umgekehrt. Es ist ebenfalls vorstellbar, dass Proxima Centauri im [[Apsis (Astronomie)|Periastron]] eine Menge Kometen aus der [[Oortsche Wolke|Oortschen Wolke]] des Systems ablenken und somit mögliche terrestrische Planeten um die Sterne&nbsp;A und B mit Wasser versorgen könnte.<ref>{{Internetquelle |url=http://www.final-frontier.ch/Alpha_Centauri_Proxima_und_das_Leben |sprache=de |titel=Alpha Centauri, Proxima und das Leben |datum=2006-08-21 |zugriff=2008-04-22 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20100810010806/http://www.final-frontier.ch/Alpha_Centauri_Proxima_und_das_Leben |archiv-datum=2010-08-10}}</ref> Da noch keine Oortsche Wolke nachgewiesen wurde, besteht auch die Möglichkeit, dass sie während der Formation des Systems völlig zerstört wurde.<br />
<br />
Bis zu welcher Distanz stabile Umlaufbahnen für Planeten in einem Doppelsternsystem möglich sind, ist noch nicht ganz geklärt. Für Alpha Centauri&nbsp;A schwanken die Einschätzungen von 1,2&nbsp;AE bis zur halben [[Apsis (Astronomie)|Periheldistanz]] von 6,5&nbsp;AE.<ref name="exoplaneten">{{Internetquelle |werk=exoplaneten.de |url=http://www.exoplaneten.de/alpha-centauri/alpha-centauri.html |sprache=de |titel=Unser Nachbar im Weltall |zugriff=2008-05-02}}</ref> Andernfalls könnten sie schon bei der Entstehung oder erst später aufgrund von gravitativen Störungen durch Alpha Centauri&nbsp;B aus ihrer ursprünglichen Umlaufbahn herausgerissen werden.<br />
<br />
Um erdähnliche Planeten in der bewohnbaren Zone von sonnenähnlichen Sternen mit der Methode der Messung der Radialgeschwindigkeit nachzuweisen, sind sehr genaue Messungen in der Größenordnung von Zentimetern pro Sekunde notwendig. Dabei wird das „Wackeln“ (engl. ''wobbling'') des Zentralsterns, verursacht durch die Schwerkraft von Planeten, gemessen. Alpha Centauri scheint für diese Messungen gut geeignet, da seine Aktivität (Schwingung des Sterns, Ausbrüche in der [[Chromosphäre]]) sehr klein ist. Es ist anzunehmen, dass einige Jahre lang Daten gesammelt werden müssen, um einen eventuellen Planeten nachzuweisen.<ref>{{Internetquelle |autor=Nico Schmidt |werk=planeten.ch |url=http://www.planeten.ch/planetensuche_alpha_centauri_20080301 |titel=Planetensuche bei Alpha Centauri beginnt |datum=2008-03-01 |zugriff=2016-01-24 |archiv-url=https://web.archive.org/web/20130616144744/http://www.planeten.ch/planetensuche_alpha_centauri_20080301 |archiv-datum=2013-06-16}}</ref><br />
<br />
=== Alpha Centauri Bb ===<br />
Die [[Europäische Südsternwarte]] teilte am 16.&nbsp;Oktober 2012 die Entdeckung eines Alpha Centauri&nbsp;B begleitenden Planeten [[Alpha Centauri&nbsp;Bb]] mit.<ref>{{Internetquelle |autor=Dumusque u.&nbsp;a. (Übersetzung: Carolin Liefke) |werk=eso.org |url=http://www.eso.org/public/germany/news/eso1241/ |sprache=Deutsch |titel=Planet in sonnennächstem Sternsystem entdeckt |datum=2012-10-16 |zugriff=2012-10-17}}</ref> Im Jahre 2015 erschien eine Untersuchung, welche bereits existente Zweifel an der Existenz des Planeten bestärkten<ref name="Rajpaul">{{cite journal |last1=Rajpaul |first=Vinesh |arxiv=1510.05598 |title=Ghost in the time series: no planet for Alpha Cen B |date=2015-10-19 |doi=10.1093/mnrasl/slv164 |volume=456 |journal=Monthly Notices of the Royal Astronomical Society: Letters |pages=L6–L10|bibcode = 2016MNRAS.456L...6R }}</ref> und im selben Jahr anerkannte Dumusque, dass das Signal des Planeten wohl falsch war.<ref name="Poof">{{cite web | last = Powell | first = Devin | title = Poof! The Planet Closest To Our Solar System Just Vanished | url = http://news.nationalgeographic.com/2015/10/151028-planet-disappears-alpha-centauri-astronomy-science/ | publisher = National Geographic | date = 2015-10-29 | accessdate = 2015-01-15}}</ref><br />
<br />
== Bedingungen für Leben ==<br />
Ausgehend von der Ähnlichkeit der beiden Sterne, was das Alter, den Sterntyp, den [[Spektralklasse|Spektraltyp]] und die Stabilität der [[Umlaufbahn|Orbits]] betrifft, wird vermutet, dass dieses Sternensystem eine der besten bekannten Voraussetzungen für [[außerirdisches Leben]] bieten könnte.<ref name="Astronomical Journal 1997AJ">{{Literatur |Autor=P. A. Wiegert, M. J. Holman |Titel=The stability of planets in the Alpha Centauri system |Sammelwerk=The Astronomical Journal |Band=113 |Nummer=4 |Datum=1997-04 |Seiten=1445–1450 |arxiv=astro-ph/9609106 |DOI=10.1086/118360}}</ref><br />
<br />
Ein Planet um Alpha Centauri&nbsp;A müsste einen Abstand von etwa 1,2 bis 1,3&nbsp;[[Astronomische Einheit|AE]]<ref name="Astronomical Journal 1997AJ" /> haben, um erdähnliche Temperaturen aufzuweisen. Dies würde, auf das Sonnensystem bezogen, ungefähr einer Umlaufbahn zwischen Erde und [[Mars (Planet)|Mars]] entsprechen. Für den weniger hellen, kühleren Alpha Centauri&nbsp;B müsste diese Distanz etwa 0,73 bis 0,74&nbsp;AE<ref name="Astronomical Journal 1997AJ" /> (etwa der Abstand von der [[Venus (Planet)|Venus]] zur Sonne) betragen.<br />
<br />
{{Siehe auch|Habitable Zone}}<br />
<br />
Alpha Centauri&nbsp;A und B standen ganz oben auf der Top-100-Zieleliste des von der [[NASA]] geplanten [[Terrestrial Planet Finder]]s.<ref name="Top100">{{Webarchiv | url=http://www.stsci.edu/portal/ | archive-is=20121212120443 | text=Hubble Sees a Galaxy Hit a Bull's-Eye}}</ref> Diese Liste umfasst die aussichtsreichsten Sterne, um die [[Erdähnlicher Planet|erdähnliche Planeten]] vermutet werden. Allerdings wurde der Bau dieses [[Weltraumteleskop]]s wegen Budgetkürzungen auf unbestimmte Zeit verschoben.<br />
<br />
== Der Himmel über Alpha Centauri ==<br />
=== Sternenhimmel ===<br />
[[Datei:Sol View from AlpCenA1.png|mini|220px|Die Sonne, von Alpha Centauri aus gesehen, in [[Celestia]]]]<br />
<br />
Vom Alpha-Centauri-System aus gesehen präsentiert sich der Himmel einem Beobachter ähnlich wie von der Erde aus. Die meisten Sternbilder wie [[Großer Bär|Ursa&nbsp;Major]] und [[Orion (Sternbild)|Orion]] sehen beinahe unverändert aus. Im Sternbild Centaurus fehlt natürlich der hellste Stern. Dagegen erscheint die [[Sonne]] als 0,5&nbsp;mag heller Stern im Sternbild [[Kassiopeia (Sternbild)|Kassiopeia]]. Das \/\/ der Kassiopeia verwandelt sich in ein /\/\/, und die Sonne bildet anstelle von [[Epsilon Cassiopeiae|Segin]] (ε&nbsp;Cas) das neue östliche Ende der Konstellation. Die Sonne steht [[Antipode|antipodal]] (in der Gegenrichtung) zu der von der Erde aus gesehenen Position von Alpha Centauri, also an den Koordinaten [[Rektaszension|RA]] {{Rektaszension|02|39|35}} und [[Deklination (Astronomie)|DE]] {{Deklination|60|50|7|5}}.<br />
<br />
Näher stehende helle Sterne wie [[Sirius]], [[Altair]] und [[Prokyon]] sind in deutlich verschobenen Positionen zu erblicken. Sirius gehört nun zum Sternbild Orion und steht 2&nbsp;Grad westlich von [[Beteigeuze]],<ref>{{Internetquelle |autor=Roland Brodbeck |werk=astro!nfo |url=http://news.astronomie.info/sky200606/thema.html |titel=Der Sternenhimmel ist dreidimensional |zugriff=2008-05-27}}</ref> wobei er nicht die gleiche Helligkeit von −1,46&nbsp;mag hat wie von der Erde aus gesehen, sondern nur −1,2&nbsp;mag. Auch die etwas weiter entfernten Sterne [[Fomalhaut]] und [[Wega]] erscheinen etwas versetzt. [[Proxima Centauri|Proxima&nbsp;Centauri]] ist trotz seines geringen Abstands von 13.500&nbsp;AE (ein Viertel-Lichtjahr) nur ein unauffälliger Stern mit einer Helligkeit von 4,5&nbsp;mag. Dies verdeutlicht, wie lichtschwach dieser [[Roter Zwerg|Rote Zwerg]] ist.<br />
<br />
Die nächsten größeren Nachbarsterne des Alpha-Centauri-Systems sind nach der [[Sonne]] (Distanz 4,34&nbsp;Lj) mit einer Entfernung von 6,47&nbsp;Lj [[Barnards Pfeilstern|Barnards&nbsp;Pfeilstern]], mit 9,5&nbsp;Lj Sirius und mit 9,7&nbsp;Lj [[Epsilon Indi]]. Barnards&nbsp;Stern ist auch von der Sonne mit einem Abstand von 5,96&nbsp;Lj der zweitnächste Stern.<ref name="solstation">{{Internetquelle |werk=Sol Company |url=http://www.solstation.com/stars/alp-cent3.htm |sprache=en |titel=Alpha Centauri&nbsp;3 |zugriff=2008-05-03}}</ref><br />
<br />
=== Die zwei Sonnen ===<br />
Ein Beobachter auf einem hypothetischen Planeten um Alpha Centauri&nbsp;A oder B sieht den jeweils anderen Stern als ein sehr helles Objekt. Ein erdgroßer Planet, der in einem Abstand von 1,25&nbsp;AE (dies entspricht etwa der Mitte zwischen Erd- und [[Mars (Planet)|Marsumlaufbahn]]) Alpha Centauri&nbsp;A umkreist (und dabei rund 1,34&nbsp;Jahre benötigen würde), empfängt von ihm etwa die Lichtmenge, die die Erde von der Sonne erhält. Alpha Centauri&nbsp;B erscheint je nach Position in seiner Umlaufbahn zwischen 5,7 und 8,6&nbsp;mag „dunkler“ (−21 bis −18,2&nbsp;mag). Das ist 190- bis 2700-mal lichtschwächer als Alpha Centauri&nbsp;A, aber immer noch etwa um den gleichen Faktor heller als der Vollmond.<br />
<br />
Bei Alpha Centauri&nbsp;B müsste ein erdgroßer Planet in einem Abstand von 0,7&nbsp;AE (entspricht einer Umrundungsdauer von etwas über 0,6&nbsp;Jahren) den Stern umlaufen, um die gleiche Strahlenmenge wie die Erde von der Sonne zu erhalten. Alpha Centauri&nbsp;A strahlt dann je nach Position in der Umlaufbahn mit etwa 4,6 bis 7,3&nbsp;mag (−22,1 bis −19,4&nbsp;mag) schwächer als der Hauptstern. Das ist 70- bis 840-mal lichtschwächer als Alpha Centauri&nbsp;B, aber immer noch 520- bis 6300-mal heller als der Vollmond.<br />
<br />
In beiden Fällen hat man bei der Beobachtung den Eindruck, als ob die „Zweitsonne“ im Laufe eines Planetenjahres den Himmel umkreist. Bei Annahme einer geringen Bahnneigung des Orbits von Alpha Centauri&nbsp;A gegenüber Alpha Centauri&nbsp;B befinden sich die Sterne im Laufe eines „Jahres“ einmal eng beieinander; ein halbes Jahr später ist der sekundäre Stern dann als Mitternachtssonne zu sehen. Nach einem weiteren halben Jahr ist dieser Zyklus beendet. Für einen hypothetischen erdähnlichen Planeten um einen der beiden Sterne ist die zweite Sonne nicht hell genug, um das Klima noch zu beeinflussen (auch wenn er so nahe kommen kann wie der Saturn der Sonne). Dennoch sorgt der weiter entfernte Stern dafür, dass er ein halbes Jahr den Nachthimmel so weit erhellt, dass er statt pechschwarz eher dunkelblau aussieht. Man könnte problemlos herumwandern und sogar ohne zusätzliches Licht lesen.<br />
<br />
== Namensgebung ==<br />
„Alpha Centauri“ ist eine Bezeichnung nach der [[Bayer-Bezeichnung|Bayer-Klassifikation]]. [[Alpha]]&nbsp;(α) ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets, und Centauri (der [[Genitiv]] zu lat. ''Centaurus,'' der [[Kentaur]]) zeigt die Zugehörigkeit zum Sternbild [[Zentaur (Sternbild)|Zentaur]] an.<br />
<br />
Der Eigenname ''Rigil&nbsp;Kentaurus''<ref>{{Literatur |Autor=Francis Baily |Titel=The Catalogues of Ptolemy, Ulugh Beigh, Tycho Brahe, Halley, and Hevelius |Sammelwerk=Memoirs of Royal Astronomical Society |Ort=London |Datum=1843}}</ref> (oft abgekürzt als ''Rigil Kent.'')<ref name="K&S">{{Literatur |Autor=P. Kunitzsch, T. Smart |Hrsg=Sky Pub. Corp. |Titel=A Dictionary of Modern star Names. A Short Guide to 254 Star Names and Their Derivations |Ort=Cambridge |Datum=2006 |Seiten=27}}</ref> früher ''Rigjl Kentaurus''<ref>{{Literatur |Autor=[[Thomas Hyde]] |Titel=Ulugh Beighi Tabulae Stellarum Fixarum, Tabulae Long. ac Lat. Stellarum Fixarum ex Observatione Ulugh Beighi |Ort=Oxford |Datum=1665 |Seiten=142}}</ref> und ''Riguel Kentaurus''<ref>R. da Silva Oliveira: [http://www.asterdomus.com.br/principal_1.htm ''Crux Australis: o Cruzeiro do Sul.''] Planetario Movel Inflavel AsterDomus, Artigos.</ref> (auf Portugiesisch) ist von der [[Arabische Sprache|arabischen]] Phrase ''Rijl Qan<u>t</u>ūris''<ref name="K&S" /> (oder ''Rijl al-Qan<u>t</u>ūris;'' {{ar|رجل قنطورس&lrm;|d=riǧl qanṭūris}})<ref name="davis">{{Literatur |Autor=G. A. Davis Jr. |Titel=The Pronunciations, Derivations, and Meanings of a Selected List of Star Names |Sammelwerk=Popular Astronomy |Band=Vol.&nbsp;52 |Nummer=3 |Datum=1944-10 |Seiten=16 |bibcode=1944PA.....52....8D}}</ref> abgeleitet und bedeutet „Fuß des [[Kentaur]]en“.<br />
<br />
Der ebenfalls verwendete Name ''Toliman'' (auch falsch ''Tolimann'') kommt entweder aus der arabischen ({{ar|الظلمان&lrm;|d=aẓ-ẓulmān}}) oder der hebräischen Sprache. Auf Arabisch bedeutet er „Sträuße“<ref name="K&S" /> und auf Hebräisch so viel wie „das Vordem und das Hernach“ oder auch „Spross der Rebe“.<br />
<br />
Der heutzutage nur noch selten verwendete Name ''Bungula'' wurde vermutlich von „β“ und von [[Latein|lat.]] ''ungula'' („Huf“)<ref name="K&S" /> gebildet und bezeichnet ebenso wie ''Rigil'' das vordere Bein des [[Kentaur]]en.<ref>E. H. Burritt: ''Atlas, Designed to Illustrate the Geography of the Heavens.'' F. J. Huntington and Co., New York 1835, pl. 7. (New Edition).</ref><br />
<br />
In der chinesischen Sprache wird Alpha Centauri Nánmén’èr (南門二), „Zweiter Stern des südlichen Tors“, genannt (wie erwähnt bilden Alpha und Beta Centauri gemeinsam die „südlichen Zeiger“ zum Sternbild Kreuz des Südens).<br />
<br />
Meist wird der Doppelstern nach der Bayer-Bezeichnung ''Alpha Centauri'' genannt.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
[[Datei:Alpha Centauri AB over limb of Saturn PIA10406.jpg|mini|Alpha Centauri&nbsp;AB über dem Horizont des [[Saturn (Planet)|Saturns]], aufgenommen von [[Cassini-Huygens|Cassini]] am 17.&nbsp;Mai 2008]]<br />
<br />
Schon die alten [[Griechen]] kannten Alpha Centauri. Doch infolge der fortdauernden [[Zyklus der Präzession|Präzession]] der Erdachse wanderte er unter den europäischen Horizont und wurde schließlich vergessen.<ref>{{Literatur |Autor=Robert Dinwiddie |Titel=The Definitive Visual Dictionary |Sammelwerk=Universe |Verlag=DK Adult Publishing |Ort=Garden City |Datum=2005}}{{ISSN|0276-1033}}</ref><br />
<br />
Die [[Inka]] verwendeten in [[Inka#Astronomie und Astrologie|Kenko]] zwei zylindrisch geformte, dicht nebeneinanderstehende Steine, die etwa 20&nbsp;Zentimeter emporragten und als Visiersteine bei der Sternbeobachtung, insbesondere der [[Plejaden]] und des Alpha Centauri, dienten.<ref name="terrax-raetsel-144">{{Literatur |Autor=Gottfried Kirchner |Titel=Terra X – Rätsel alter Weltkulturen |TitelErg=Heyne-Taschenbuch. Neue Folge |Ort=Frankfurt/Main |Datum=1986 |Seiten=144 f.}} ISBN 3-453-00738-7.</ref><br />
<br />
<!-- aus http://en.wikipedia.org/wiki/Amerigo_Vespucci --><br />
Der Entdecker [[Amerigo Vespucci]] kartierte nach der ersten Hälfte seiner letzten Reise (1501 bis 1502) Alpha Centauri, Beta Centauri und das Sternbild [[Kreuz des Südens]].<br />
<br />
Die Entdeckung der Doppelsternnatur wird dem jesuitischen Priester Jean Richaud zugeschrieben, der dies im Dezember 1689 in [[Puducherry|Pondicherry]] (Indien) festgestellt haben soll, während er einen in der Nähe vorbeiziehenden Kometen mit einem Teleskop beobachtete.<ref>{{Literatur |Autor=N. Kameswara Rao, A. Vagiswari, Ch. Louis |Titel=Father J. Richaud and early telescope observations in India |Sammelwerk=ASTRON. SOC. OF INDIA. BULLETIN V.12:1 |Ort=Hyderabad |Datum=1984-03 |Seiten=81–85 |bibcode=1984BASI...12...81K}}</ref><br />
<br />
Die scheinbare Eigenbewegung von Alpha Centauri wurde aufgrund der astrometrischen Beobachtungsdaten des französischen Astronomen [[Nicolas-Louis de Lacaille|Abbé de La Caille]] 1751 bis 1752 festgestellt.<br />
<br />
[[Thomas Henderson (Astronom)|Thomas James Henderson]], ein schottischer Astronom, berechnete am Cape Observatory als Erster die Distanz zu Alpha Centauri. Er maß zwischen April 1832 und Mai 1833 die jährliche trigonometrische [[Parallaxe]] beider Sterne. Er stellte die hohe Eigenbewegung des Sterns fest und folgerte daraus, dass Alpha Centauri ein besonders naher Stern sein müsse. Nachdem er die Parallaxe von 1,16&nbsp;± 0,11 Bogensekunden gemessen hatte, kam er zum Ergebnis, dass Alpha Centauri etwas weniger als 1&nbsp;[[Parsec]] (3,26&nbsp;Lj) entfernt sei.<ref>{{Literatur |Autor=Thomas Henderson |Titel=On the Parallax of α&nbsp;Centauri |Sammelwerk=Memoirs of the Royal Astronomical Society |Band=11 |Datum=1839-01-03 |Seiten=61–68 |bibcode=1840MmRAS..11...61H}}</ref> Der Wert war 33,7 % zu niedrig, aber zu dieser Zeit schon relativ genau. Er publizierte die Ergebnisse aber noch nicht, weil er sie wegen der hohen Werte ernsthaft anzweifelte. Erst 1839, nachdem [[Friedrich Wilhelm Bessel]] 1838 seine eigenen präzisen Messungen der Parallaxe von [[61&nbsp;Cygni]] veröffentlicht hatte, publizierte er seine Resultate. Alpha Centauri ist daher offiziell der zweite Stern, dessen Abstand berechnet wurde.<br />
<br />
[[Datei:Blue Ensign of South Australia 1870-1876.svg|mini|Flagge von Südaustralien (1870)]]<br />
<br />
1870 gab es die erste Flagge von Südaustralien. Sie enthielt das Kreuz des Südens, dabei dienten die zwei Sterne Alpha Centauri und Beta Centauri als Orientierungspunkte. Auch in der aktuellen [[Flagge Australiens]] ist das Kreuz des Südens noch enthalten.<br />
<br />
1926 veröffentlichte William Stephen Finsen die Parameter der [[Bahnelement]]e von Alpha Centauri&nbsp;A und&nbsp;B. Die zukünftigen Positionen konnten nun in [[Ephemeriden]] (Tabellen, die Positionen von sich bewegenden astronomischen Objekten auflisten) berechnet werden. Andere Astronomen wie D.&nbsp;Pourbaix im Jahr 2002 haben die Umlaufbahn und die Bahnelemente nur wenig korrigiert. Die achtzigjährige Umlaufperiode für α&nbsp;Centauri&nbsp;AB ist daher ziemlich genau.<ref name="imperialstar3.com">{{Internetquelle |autor=Andrew James |hrsg=Southern Astronomical Delights |titel=The Imperial Star – Alpha Centauri – Part 2: The Apparent Orbit |url=http://www.southastrodel.com/PageAlphaCen002.htm |datum=2011-07-19 |zugriff=2012-10-17 |sprache=en}}</ref><br />
<br />
== Kultur ==<br />
Da Alpha Centauri das der Sonne nächstgelegene Sternsystem ist, ist es oft Thema in der [[Science-Fiction|Science Fiction]] – wie beispielsweise im Film ''[[Avatar – Aufbruch nach Pandora|Avatar]]'', im Roman ''[[Die drei Sonnen]]'' – oder in Videospielen wie beispielsweise [[Sid Meier’s Alpha Centauri]] sowie in der [[Ego-Shooter]]-Reihe [[Vorlage:Navigationsleiste Killzone|Killzone]]. Dabei spielen [[Interstellare Raumfahrt|interstellare Reisen]], die Erforschung durch den Menschen und die Entdeckung und Kolonisierung möglicher Planeten eine Rolle.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Liste der nächsten extrasolaren Systeme]]<br />
* [[Breakthrough Starshot]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=D. Pourbaix, C. Neuforge-Verheecke, A. Noels<br />
|Hrsg=European Southern Observatory<br />
|Titel=Revised masses of Alpha Centauri<br />
|Sammelwerk=[[Astronomy and Astrophysics]]<br />
|Band=Vol.&nbsp;344<br />
|Nummer=1<br />
|Verlag=Springer<br />
|Ort=Berlin<br />
|Datum=1999<br />
|ISSN=0004-6361<br />
|Seiten=172–176<br />
|Online=[http://aa.springer.de/papers/9344001/2300172.pdf online]<br />
|Format=PDF<br />
|KBytes=218}}<br />
* Martin Beech: ''Alpha Centauri. Unveiling the Secrets of Our Nearest Stellar Neighbor.'' Springer, Cham 2015, ISBN 978-3-319-09371-0.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary}}<br />
{{Commons}}<br />
* {{Webarchiv|url=http://homepage.mac.com/andjames/PageAlphaCen001.htm | wayback=20060503081855 | text=''The Imperial Star – Alpha Centauri.''}} (englisch).<br />
* [https://www.youtube.com/watch?v=eieBXGpNYyE ''Searching for Planets around Alpha Centauri.''] [[SETI-Institut]], Seti Talk November 2015. Bei: ''Youtube.com.''<br />
* [https://palereddot.org/introduction/ ''Pale Red Dot.''] Bei: ''PaleRedDot.org.''<br />
* astronews.com: [http://www.astronews.com/bilddestages/2016/20160825.shtml Bild des Tages] 25. August 2016<br />
* astronews.com: [http://www.astronews.com/bilddestages/2016/20160830.shtml Bild des Tages] 30. August 2016<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references group="A" /><br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Exzellent|29. Mai 2008|46653728}}<br />
<br />
[[Kategorie:Hauptreihenstern]]<br />
[[Kategorie:Sternkatalog Gliese-Jahreiß]]<br />
[[Kategorie:Wikipedia:Artikel mit Video]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Leitungstheorie&diff=194482959Leitungstheorie2019-11-29T12:08:14Z<p>Udo.bellack: /* Anwendungsbeispiele */ fix typo</p>
<hr />
<div>Die '''Leitungstheorie''' ist ein Teilgebiet der [[Elektrotechnik]]. Sie befasst sich mit Erscheinungen auf elektrischen Leitungen, deren Länge in der Größenordnung der Wellenlänge des übertragenen Signalspektrums oder darüber liegt, und findet hauptsächlich Anwendung in der [[Fernmeldetechnik]], der [[Hochfrequenztechnik]], der [[Impulstechnik]] und in der elektrischen Energieversorgung bei [[Hochspannungsleitung]]en.<br />
<br />
Die Leitungstheorie benutzt das Modell der elektrischen Doppelleitung und beschreibt diese durch das [[Ersatzschaltbild]] eines „unendlich kurzen“ Leitungsstückes, dessen Elemente von den [[Leitungsbeläge]]n bestimmt werden. Ohne das elektromagnetische Feld mit Hilfe der [[Maxwell-Gleichungen|Maxwellschen Gleichungen]] selbst zu ermitteln, leitet sie daraus ein System [[Partielle Differentialgleichung|partieller Differentialgleichungen]] (die sogenannten [[Leitungsgleichung]]en) ab und versucht diese mit verschiedenen, den jeweiligen [[Randbedingung]]en angepassten, mathematischen Methoden zu lösen.<br />
<br />
Dadurch gelingt es, die Vorgänge und Wellenphänomene (z.&nbsp;B. [[Reflexion (Physik)|Reflexionen]], [[stehende Welle]]n, negatives [[Überschwingen]], [[Widerstandstransformation]]en), die im Zusammenhang mit Leitungen auftreten, qualitativ zu verstehen, quantitativ zu fassen und für die praktischen Anwendungen richtig zu interpretieren. Schließlich entstehen Regeln für den Einsatz der Leitung als [[Elektrisches Bauelement|Bauelement]] in der Elektrotechnik, speziell in der [[Nachrichtentechnik]] und der [[Elektronik]].<br />
<br />
== Hintergrund ==<br />
<br />
Nur für [[Gleichstrom]] oder [[Wechselstrom]] niedriger Frequenz lässt sich eine Leitung grob mit dem [[Elektrischer Widerstand#Ohmscher Widerstand|ohmschen Widerstand]] aus Leitungsquerschnittsfläche, Leitfähigkeit und Länge beschreiben. Sobald die [[Wellenlänge]] der Signale in der Größenordnung der Leitungslänge liegt oder schnelle Schaltvorgänge auf Leitungen beschrieben werden sollen, reicht dieses stark vereinfachte Modell nicht aus. Durch die auf jeder Leitung vorhandenen Kapazitäts- und Induktivitätsbeläge breiten sich die Signale maximal mit [[Lichtgeschwindigkeit]] aus. Wenn die räumliche Ausdehnung eines elektrischen Systems so groß ist, dass die Laufzeit der zu verarbeitenden Signale nicht mehr vernachlässigt werden kann, treten neben dem „normalen“ Verhalten besondere Wellenphänomene auf. Die Beschreibung solcher Systeme erfordert mathematische Verfahren, die den Ort der Signale in die Betrachtungen einbeziehen.<br />
<br />
Beispielsweise besitzt eine Wechselspannung von 1&nbsp;GHz im Vakuum eine Wellenlänge von etwa 30&nbsp;cm. Wellenvorgänge spielen deshalb auf den [[Leiterplatte|Platinen]] moderner [[Computer]] eine große Rolle. Aufgrund der hochfrequenten [[Taktsignal|Taktung]] werden die Daten durch sehr kurze Impulse mit steilen Flanken dargestellt und übertragen. Deshalb wären solche Systeme ohne Anwendung der Erkenntnisse der Leitungstheorie nicht realisierbar.<br />
<br />
Für die Methoden der klassischen Leitungstheorie dürfen allerdings der technische Leiterabstand nicht größer als die halbe Wellenlänge der entstehenden Wellen und der [[Widerstandsbelag]] nicht zu groß sein, so dass nur die [[Transversalelektromagnetische Welle|transversalen elektromagnetischen Felder]] (TEM-Wellen) eine Rolle spielen. Nur dann kann man ein „unendlich kurzes“ Leitungsstück durch ein Ersatzschaltbild aus konzentrierten Bauelementen beschreiben. Ist das nicht der Fall, so müssen die [[Maxwell-Gleichungen|Maxwellschen Gleichungen]] direkt gelöst werden. Damit beschäftigen sich die Hoch- und [[Mikrowellen|Höchstfrequenztechnik]] in den Theorien der [[Hohlleiter|Hohlraumwellen]] und der [[Antennentechnik|Antennensysteme]].<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
<br />
Die 1850 begonnene Verlegung von transatlantischen [[Seekabel]]n und die bei derartig langen Kabeln auftretenden starken [[Verzerrung (Elektrotechnik)|Verzerrung]]en erforderten eine theoretische Analyse der Vorgänge auf „langen Leitungen“. Als erster beschäftigte sich um 1855 [[William Thomson, 1. Baron Kelvin|William Thomson]] mit der Beschreibung der Vorgänge auf Leitungen. 1886 formulierte [[Oliver Heaviside]] diese Erkenntnisse in ihrer heutigen Form als [[Leitungsgleichung]] und begründete damit die ''allgemeine Leitungstheorie''. Er fand die nach ihm benannte [[Heaviside-Bedingung]], aus der zu erkennen war, dass die Probleme der Verzerrung wesentlich durch die hohen Leitungskapazitäten verursacht wurden. [[Rudolf Franke]] betrachtete die Leitung 1891 erstmals mit den Mitteln der [[Zweitor|Vierpoltheorie]]. Zur Lösung des Verzerrungsproblems schlug 1900 [[Mihajlo Pupin]] die [[Bespulte Leitung|Bespulung]] von Leitungen zur künstlichen Erhöhung ihrer Induktivität vor. Damit stand auch der Realisierung von langen [[Telefonkabel|Fernsprechleitung]]en nichts mehr im Weg. Um 1903 betrachtete [[George Ashley Campbell]] die Leitung als [[Analogfilter|Kettenleiter]]. Mit dem Aufkommen der [[Hochfrequenztechnik]] am Anfang des 20. Jahrhunderts war es notwendig, schon kurze Leitungen mit den Mitteln der Leitungstheorie zu behandeln. Sie konnten dabei als verlustlos betrachtet und außer zur Signalübertragung auch als [[Lecher-Leitung|Bauelement]] (z.&nbsp;B. zur Widerstandstransformation) eingesetzt werden. Alle diese Anwendungen beruhten bis dahin auf [[sinus]]förmigen Signalen und konnten deshalb mit Hilfe der [[Komplexe Wechselstromrechnung|komplexen Wechselstromrechnung]] gelöst werden. Mitte des 20. Jahrhunderts erforderte die [[Impulstechnik]] und später die [[Digitaltechnik]] die unverfälschte Übertragung von kurzen Impulsen über Leitungen. Dazu war es erforderlich, die Analyse mit Hilfe einer [[Operatorenrechnung]], graphisch mit einem [[Impulsfahrplan]] oder (falls speicherfreie Bauelemente mit nichtlinearen Kennlinien angeschlossen werden) mit dem [[Bergeron-Verfahren]] durchzuführen. Zur Analyse der Impulsausbreitung auf verlustbehafteten Leitungen wurden numerische Verfahren entwickelt.<br />
<br />
== Die Leitungsgleichungen ==<br />
<br />
Die Leitungsgleichungen einer homogenen linearen Zweidrahtleitung lassen sich aus dem in folgender Abbildung gezeigten Ersatzschaltbild eines solchen Leitungsabschnitts der infinitesimalen Länge d''x'' bestimmen:<br />
<br />
[[Datei:Leitungsbelag.svg|mini|zentriert|Ersatzschaltbild eines kurzen Stückes einer Zweidrahtleitung]]<br />
<br />
Die darin enthaltenen Größen sind die mit der Länge d''x'' multiplizierten [[Leitungsbeläge]]: Der [[Induktivitätsbelag]] ''L&prime;'', der [[Kapazitätsbelag]] ''C&prime;'', der [[Leitungsbeläge#Widerstandsbelag R'|Widerstandsbelag]] ''R&prime;'' und der [[Leitungsbeläge#Ableitungsbelag G'|Ableitungsbelag]] ''G&prime;''.<br />
<br />
Aus Spannung ''u(x,t)'' und Strom ''i(x,t)'' am Anfang, aus Spannung ''u(x+dx,t)'' und Strom ''i(x+dx,t)'' am Ende dieses Elements der Leitung ergeben sich unter Zuhilfenahme von [[Maschensatz]] und [[Knotenpunktsatz]] die beiden partiellen Differentialgleichungen der homogenen Leitung (die ausführliche Herleitung erfolgt im Artikel [[Leitungsgleichung]]):<br />
<br />
:<math>\frac{\partial u(x,t)}{\partial x} = -R'\cdot i(x,t) - L'\cdot\frac{\partial i(x,t)}{\partial t}</math><br />
:<math>\frac{\partial i(x,t)}{\partial x} = -G'\cdot u(x,t) - C'\cdot\frac{\partial u(x,t)}{\partial t}</math><br />
<br />
Dabei sind Spannung u und Strom i jeweils nach unten bzw. nach rechts (in +x-Richtung) eingeführt. Die Hauptaufgabe der Leitungstheorie ist die Lösung dieses DGL-Systems für die Anfangs- und Randbedingungen der verschiedensten praktischen technischen Anwendungen und damit die Ermittlung des Verlaufs von Spannung ''u(x,t)'' und Strom ''i(x,t)'' auf der Leitung in Abhängigkeit vom Ort ''x'' und der Zeit ''t''.<br />
<br />
=== Sonderfall: Sinusförmige Signale ===<br />
In vielen Fällen der [[Wechselstrom]]technik und der klassischen [[Nachrichtentechnik]] reicht es praktisch aus, die Spannung und den Strom sowohl als rein sinusförmig (harmonisch) als auch Einschalt- und Einschwingvorgang als abgeschlossen zu betrachten. Dann treten auch auf einer Leitung nur (stationäre) sinusförmige Signale auf. In diesem besonderen Fall kann die [[komplexe Wechselstromrechnung]] angewendet werden und weil die Zeitabhängigkeit entfällt, reduzieren sich die Leitungsgleichungen auf ein System [[Gewöhnliche Differentialgleichung|gewöhnlicher Differentialgleichungen]] für die auf der Leitung vorhandenen vom Ort ''x'' abhängigen [[Phasor|komplexen Amplituden]] ''U(x)'' und ''I(x)'':<br />
<br />
:<math>\frac{\mathrm{d}U(x)}{\mathrm{d}x} = -(R' + \mathrm j\omega L')\cdot I(x)</math><br />
:<math>\frac{\mathrm{d}I(x)}{\mathrm{d}x} = -(G' + \mathrm j\omega C')\cdot U(x)</math><br />
<br />
Sie werden in der Literatur oft als „komplexe Leitungsgleichungen“ bezeichnet. Bei linearer Beschaltung der beiden Leitungsenden kann in diesem Fall eine geschlossene Lösung der Leitungsgleichungen angegeben werden.<br />
<br />
=== Sonderfall: Verlustlose Leitungen ===<br />
Bei kurzen und/oder bei [[Hochfrequenz]]leitungen kann man praktisch die Verluste durch Widerstands- und Leitwertbelag vernachlässigen. Dadurch vereinfachen sich die Leitungsgleichungen wie folgt:<br />
<br />
:<math>\frac{\partial u(x,t)}{\partial x} = - L'\cdot\frac{\partial i(x,t)}{\partial t}</math><br />
:<math>\frac{\partial i(x,t)}{\partial x} = - C'\cdot\frac{\partial u(x,t)}{\partial t}</math><br />
<br />
Wenn man dieses DGL-System zu einer einzigen partiellen Differentialgleichung umformt, dann erhält man die klassische eindimensionale [[Wellengleichung]].<br />
<br />
Weil dann auf der Leitung weder [[Dämpfung]] noch Verzerrung auftreten (die [[Heaviside-Bedingung]] ist „automatisch“ erfüllt), lassen sich die Gleichungen in vielen Fällen einfach lösen und die erhaltenen Lösungen lassen sich besonders anschaulich deuten. Die Ergebnisse dieser Idealisierung stellen trotzdem das wesentliche Verhalten einer Leitung richtig dar und sind außerdem für den „Einstieg in die Leitungstheorie“ von didaktischer Bedeutung.<br />
<br />
=== Sonderfall: Sinusförmige Signale auf der verlustlosen Leitung ===<br />
Durch die Kombination dieser beiden Sonderfälle erhält man die folgende besonders einfache Form der „komplexen Leitungsgleichungen“:<br />
<br />
:<math>\frac{\mathrm{d}U(x)}{\mathrm{d}x} = -j\omega L'\cdot I(x)</math><br />
:<math>\frac{\mathrm{d}I(x)}{\mathrm{d}x} = -j\omega C'\cdot U(x)</math><br />
<br />
Da ihre hauptsächliche Bedeutung in der [[Hochfrequenztechnik]] liegt, sind sie der Ausgangspunkt für die ''Theorie der Hochfrequenzleitungen'', dem „didaktischen Paradebeispiel“ der Leitungstheorie.<br />
<br />
== Die allgemeine Lösung der Leitungsgleichungen ==<br />
<br />
Der erste Schritt der Leitungstheorie zur Lösung der Leitungsgleichungen ist die Ermittlung der ''allgemeinen Lösung'' des DGL-Systems. Diese besitzt frei wählbare (Integrations-) Konstanten oder Funktionen, welche anschließend durch Festlegung der an den konkreten Anwendungsfall angepassten [[Anfangsbedingung|Anfangs-]] und [[Randbedingungen]] noch festgelegt werden müssen. Da das DGL-System der Leitungsgleichungen linear ist, kann die allgemeine Lösung im allgemeinen Fall beispielsweise mit Hilfe der Laplace-Transformation ermittelt werden.<br />
<br />
Bei der Ermittlung der allgemeinen Lösung stößt man auf wesentliche Kenngrößen der Leitung, wie die [[Phasengeschwindigkeit|Phasen-]] und [[Gruppengeschwindigkeit]] bzw. die [[Ausbreitungskonstante]] (Fortpflanzungskonstante) sowie den [[Wellenimpedanz|Wellenwiderstand]] (Wellenimpedanz). Im Allgemeinen sind die letzten beiden Größen komplizierte Operatoren im Sinne der [[Operatorenrechnung]]. Insbesondere die Ausbreitungskonstante ist verantwortlich für die Ausbreitung der Wellen auf der Leitung, ihre Geschwindigkeit, ihre Dämpfung und ihre Verformung.<br />
<br />
In folgenden Sonderfällen ist die allgemeine Lösung allerdings relativ leicht ermittelbar.<br />
<br />
=== Sonderfall: Verlustlose Leitungen ===<br />
Mit den Definitionen für den (reellen) Wellenwiderstand der verlustlosen Leitung<br />
:<math>Z_0=\sqrt{\frac{L'}{C'}}</math><br />
und die (konstante) Phasengeschwindigkeit der verlustlosen Leitung<br />
:<math>v_0=\frac{1}{\sqrt{L'\cdot C'}}</math><br />
erhält man die allgemeine (sogenannte [[d'Alembert]]sche) Lösung<br />
:<math>u(x,t)=u_h\left(t-\frac{x}{v_0}\right)+u_r\left(t+\frac{x}{v_0}\right)</math><br />
:<math>i(x,t)=\frac{1}{Z_0}\cdot u_h\left(t-\frac{x}{v_0}\right)-\frac{1}{Z_0}\cdot u_r\left(t+\frac{x}{v_0}\right)</math><br />
Dabei sind u<sub>h</sub>(t) und u<sub>r</sub>(t) zwei Zeitfunktionen, die noch durch die Randbedingungen festgelegt werden müssen. Der Nachweis der Richtigkeit kann durch Einsetzen in die „verlustlosen“ Leitungsgleichungen erbracht werden.<br />
<br />
Diese allgemeine Lösung kann wie folgt interpretiert werden:<br />
*Der linke Term der Lösung stellt eine vom Anfang zum Ende der Leitung hinlaufende (beliebig geformte) Welle dar.<br />
*Der rechte Term stellt eine vom Ende zum Anfang der Leitung zurücklaufende Welle dar.<br />
*Beide Wellen haben die Geschwindigkeit v<sub>0</sub>.<br />
*Sie werden auf der Leitung weder gedämpft noch in ihrer Form verzerrt.<br />
*Der Wellenwiderstand Z<sub>0</sub> stellt das Verhältnis von Spannung und Strom der jeweiligen Welle dar.<br />
<br />
=== Sonderfall: Sinusförmige Signale ===<br />
Mit den Definitionen für den [[Wellenimpedanz|komplexen Wellenwiderstand]] (Wellenimpedanz)<br />
:<math>Z_{Ltg}=\sqrt{\frac{R' + j\omega L'}{G' + j\omega C'}}</math><br />
und die komplexe [[Ausbreitungskonstante]] (Fortpflanzungskonstante)<br />
:<math>\gamma=\sqrt{(R' + j\omega L')\cdot(G' + j\omega C')}=\alpha+j\beta</math><br />
erhält man entsprechend den Lösungsverfahren (z.&nbsp;B. [[Exponentialansatz]]) für [[Lineare gewöhnliche Differentialgleichung|lineare Differentialgleichungen]] die allgemeine Lösung<br />
:<math>U(x)=U_{h0}\cdot e^{-\gamma x}+U_{r0}\cdot e^{+\gamma x}</math><br />
:<math>I(x)=\frac{U_{h0}}{Z_{Ltg}}\cdot e^{-\gamma x}-\frac{U_{r0}}{Z_{Ltg}}\cdot e^{+\gamma x}</math><br />
Dabei sind U<sub>h0</sub> und U<sub>r0</sub> die beiden noch unbestimmten komplexen Integrationskonstanten, welche durch die Randbedingungen festgelegt werden müssen. Der Nachweis der Richtigkeit kann durch Einsetzen in die „komplexen Leitungsgleichungen“ erbracht werden.<br />
<br />
Diese allgemeine Lösung kann wie folgt interpretiert werden:<br />
*Der linke Term der Lösung stellt eine vom Anfang zum Ende der Leitung hinlaufende sinusförmige Welle ([[Wanderwelle]]) dar.<br />
*Der rechte Term stellt eine vom Ende zum Anfang der Leitung zurücklaufende sinusförmige Welle dar.<br />
*Diese Wellen werden aufgrund der (im Allgemeinen frequenzabhängigen) [[Dämpfungskonstante]] &alpha; gedämpft und entsprechend der (immer) frequenzabhängigen [[Phasenkonstante]] &beta; in der Phase gedreht. Wegen der im Allgemeinen nichtlinearen Frequenzabhängigkeit der Phasenkonstante muss man zwischen [[Phasengeschwindigkeit]] und [[Gruppengeschwindigkeit]] unterscheiden.<br />
*Der komplexe Wellenwiderstand Z<sub>Ltg</sub> stellt jeweils das Verhältnis der komplexen Amplituden von Spannung und Strom der jeweiligen Welle dar. Demgegenüber ist durch die [[Interferenz (Physik)|Interferenz]] von hin- und rücklaufender Welle das Verhältnis von Gesamtspannung U(x) zu Gesamtstrom I(x) nicht konstant, es entstehen [[stehende Welle]]n, die durch ihr [[Stehwellenverhältnis]] charakterisiert werden.<br />
<br />
=== Sonderfall: Verzerrungsfreie Leitung ===<br />
Schon [[Oliver Heaviside]] hat gezeigt, dass auf einer Leitung, deren Leitungsbeläge die nach ihm benannte [[Heaviside-Bedingung]]<br />
:<math>\frac{R'}{L'}=\frac{G'}{C'}</math><br />
erfüllen, die „über die Leitung laufenden Wellen“ in ihrer Form (trotz Dämpfung) nicht verzerrt werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Phasengeschwindigkeit nicht von der Frequenz abhängt und deshalb keine [[Dispersion (Physik)|Dispersion]] auftritt, also benachbarte Frequenzgruppen nicht „auseinander laufen“. Diese wünschenswerte Eigenschaft wird aber normalerweise von einer realen Leitung aufgrund des überwiegenden Kapazitätsbelages nicht erfüllt. Um trotzdem möglichst lange verzerrungsfreie Fernsprechleitungen zu realisieren, hat man praktisch den Induktivitätsbelag künstlich erhöht ([[Bespulte Leitung]], [[Krarupkabel]]).<br />
<br />
== Das Betriebsverhalten einer Leitung ==<br />
<br />
Im zweiten Schritt ermittelt die Leitungstheorie aus der allgemeinen Lösung eine konkrete (partikuläre) Lösung, indem die verbleibenden Freiheitsgrade durch Festlegung von Rand- und Anfangsbedingungen eliminiert werden.<br />
*Wird einerseits eine Leitung zur Signalübertragung verwendet, dann ist an ihrem Anfang ein aktiver (Generator-) Zweipol angeschlossen und an ihrem Ende ein passiver Lastzweipol. Wenn eine über die Leitung laufende Welle auf das Ende oder den Anfang der Leitung trifft, dann kann sie dort reflektiert werden. Dabei wird sie im Allgemeinen in ihrer Größe und in ihrer Form (falls sie nicht sinusförmig ist) geändert. Die [[Impedanz]] des jeweiligen Abschlusses und der Wellenwiderstand bestimmen dabei, wie das passiert. Zur quantitativen Beschreibung der [[Reflexion (Physik)|Reflexion]]en dienen die [[Reflexionsfaktor]]en am Anfang und am Ende der Leitung.<br />
*Anderseits ist es möglich, die Leitung als [[Vierpol]] zu betrachten und aus der allgemeinen Lösung die [[Vierpolparameter]] zu bestimmen.<br />
<br />
Unter folgenden speziellen Randbedingungen hat die Leitungstheorie Methoden entwickelt, um geschlossene partikuläre Lösungen zu ermitteln:<br />
*Enthalten sowohl der Generator- als auch der Lastzweipol einer ''verlustlosen'' Leitung nur ''lineare ohmsche'' Widerstände, dann gibt es eine geschlossene Lösung als (durch auftretende Mehrfachreflexionen) [[unendliche Reihe]]. Die Ausbreitung einer einzelnen Impulsflanke kann grafisch als [[Impulsfahrplan]] (engl.: ''Lattice Diagram'') dargestellt und berechnet werden.<br />
*Enthalten der Generator- und/oder der Lastzweipol einer ''verlustlosen'' Leitung ''nichtlineare speicherfreie'' Widerstände, dann kann die Ausbreitung einer einzelnen Impulsflanke grafisch mit Hilfe des [[Bergeron-Verfahren]]s ermittelt werden.<br />
*Enthalten sowohl der Generator- als auch der Lastzweipol beliebige lineare Bauelemente, dann ist die Lösung mit Hilfe der [[Laplace-Transformation]] (oder einer anderen [[Operatorenrechnung]]) zu ermitteln. Ist die Leitung ''verlustlos'', dann ist das manuell machbar, ist sie dagegen ''verlustbehaftet'', dann sind im Allgemeinen rechentechnische/numerische Verfahren notwendig.<br />
*Enthalten sowohl der Generator- als auch der Lastzweipol einer ''verlustbehafteten'' Leitung beliebige lineare Bauelemente und ist die Generatorspannung (rein) sinusförmig, dann ist die Lösung mit Hilfe der [[Komplexe Wechselstromrechnung|komplexen Wechselstromrechnung]] geschlossen zu ermitteln.<br />
<br />
=== Sonderfall: Unendlich lange Leitung ===<br />
In diesem Fall gibt es nur eine hinlaufende Welle (den linken Term der allgemeinen Lösung). Das Verhältnis von Spannung zu Strom auf jeder Stelle der Leitung entspricht dem Wellenwiderstand. Daraus folgt eine wichtige „Deutung“ des Wellenwiderstandes: Der Eingangswiderstand einer unendlich langen Leitung ist gleich ihrem Wellenwiderstand. Der Generatorzweipol wirkt also wie ein [[Spannungsteiler]] aus seinem [[Innenwiderstand]] und dem Wellenwiderstand.<br />
<br />
Dieser theoretische Fall wird in der Praxis dann annähernd erreicht, wenn die Leitung sehr lang und dadurch ihre Dämpfung so groß ist, dass die am Ende reflektierte Welle praktisch am Leitungsanfang „nicht mehr messbar“ ist.<br />
<br />
=== Sonderfall: Mit dem Wellenwiderstand ausgangsseitig abgeschlossene Leitung ===<br />
Wird eine ''endlich lange Leitung'' mit einem passiven Zweipol abgeschlossen, dessen Impedanz gleich dem Wellenwiderstand der Leitung ist, dann wirkt das genauso, als würde sich die Leitung ins Unendliche fortsetzen. Deshalb verhält sich eine mit dem Wellenwiderstand abgeschlossene ([[Anpassung (Elektrotechnik)|angepasste]]) Leitung genau wie eine unendlich lange Leitung, insbesondere gibt es nur eine hinlaufende Welle und ihr Eingangswiderstand ist ebenfalls gleich dem Wellenwiderstand.<br />
<br />
=== Sonderfall: Mit dem Wellenwiderstand eingangsseitig abgeschlossene Leitung ===<br />
In diesem Fall läuft eine Welle vom Eingang zum Ausgang, wird dort teilweise reflektiert (und dabei im Allgemeinen verformt) und läuft zum Eingang zurück, wo ihre Energie im Generatorinnenwiderstand „verbraucht“ wird.<br />
<br />
== Beispiel: Sinusförmige Signale auf der verlustlosen Leitung ==<br />
Für das „Paradebeispiel“ der Leitungstheorie, die praktisch wichtige [[Elektrische Leitung#Hochfrequenzleitungen|Hochfrequenzleitung]], sollen hier die vollständigen Lösungen angegeben werden.<br />
Die allgemeine Lösung vereinfacht sich in diesem Fall zu<br />
:<math>U(x)=U_{h0}\cdot e^{-j\beta x}+U_{r0}\cdot e^{+j\beta x}</math><br />
:<math>I(x)=\frac{U_{h0}}{Z_0}\cdot e^{-j\beta x}-\frac{U_{r0}}{Z_0}\cdot e^{+j\beta x}</math><br />
wobei die [[Fortpflanzungskonstante|Ausbreitungskonstante]] aufgrund fehlender Dämpfung nur noch durch die linear von der Frequenz abhängige Phasenkonstante repräsentiert wird:<br />
:<math>\beta=\frac{\omega}{v_0}=\frac{2\pi}{\lambda}</math><br />
Dabei ist &lambda; die [[Wellenlänge]] auf der Leitung, welche um den [[Verkürzungsfaktor]] geringer ist als die Wellenlänge einer elektromagnetischen Welle gleicher Frequenz im Vakuum.<br />
<br />
=== Betriebsverhalten einer beidseitig abgeschlossenen Leitung ===<br />
Besitzen an einer Leitung der Länge L der Generatorzweipol eine innere (komplexe) Impedanz Z<sub>G</sub> und eine Leerlaufspannung U<sub>G</sub> sowie der Lastzweipol eine innere (komplexe) Impedanz Z<sub>2</sub>, dann erhält man aus der allgemeinen Lösung nach der Ermittlung der beiden Konstanten U<sub>h0</sub> und U<sub>r0</sub> die endgültige Lösung als Überlagerung ''einer'' hinlaufenden und ''einer'' rücklaufenden Welle<br />
:<math>U(x)=U_h(x)+U_r(x)=U_G\cdot\frac{Z_0}{Z_G+Z_0}\cdot\frac{1}{1-r_e r_a\cdot e^{-2j\beta L}}\cdot\left(e^{-j\beta x}+r_a\cdot e^{-j\beta (2L-x)}\right)</math><br />
:<math>I(x)=\frac{U_h(x)}{Z_0}-\frac{U_r(x)}{Z_0}=U_G\cdot\frac{1}{Z_G+Z_0}\cdot\frac{1}{1-r_e r_a\cdot e^{-2j\beta L}}\cdot\left(e^{-j\beta x}-r_a\cdot e^{-j\beta (2L-x)}\right)</math><br />
Während der Herleitung dieser Lösung werden der komplexe [[Reflexionsfaktor]] am Ausgang definiert als<br />
:<math>r_a=\frac{U_r(L)}{U_h(L)}=\frac{Z_2-Z_0}{Z_2+Z_0}</math><br />
und der komplexe Reflexionsfaktor am Eingang als<br />
:<math>r_e=\frac{Z_G-Z_0}{Z_G+Z_0}</math><br />
Damit können die Signale auf der Leitung an jeder Stelle x für jede konkrete lineare Beschaltung des Aus- und Eingangs ermittelt werden. Es zeigt sich, dass das Verhältnis von hin- und rücklaufender Welle allein von der Beschaltung am Ausgang abhängt und dass es vorteilhaft ist, den verallgemeinerten (komplexen) Reflexionsfaktor für eine beliebige Stelle x der Leitung wie folgt zu definieren:<br />
:<math>r(x)=\frac{U_r(x)}{U_h(x)}=r_a\cdot e^{-2j\beta\cdot(L-x)}=r_a\cdot e^{-4\pi j\cdot\frac{L-x}{\lambda}}</math><br />
In der Praxis interessiert oft der leicht messbare Verlauf der Amplitude bzw. des Effektivwertes der meist vorhandenen stehenden Wellen. Er ergibt sich relativ zur hinlaufenden Welle am Ausgang zu<br />
:<math>\frac{|U(x)|}{|U_h(L)|}=\left|1+r_a\cdot e^{-4\pi j\cdot\frac{L-x}{\lambda}}\right|</math><br />
Wenn man Maximal- und Minimalwert der stehenden Welle in Beziehung setzt, erhält man daraus als wichtiges Maß für die [[Fehlanpassung]] das [[Stehwellenverhältnis]] (SWR):<br />
:<math>s=\frac{|U(x)|_\mathrm{max}}{|U(x)|_\mathrm{min}}=\frac{1+|r_a|}{1-|r_a|}</math><br />
<br />
=== Die Hochfrequenzleitung als Vierpol ===<br />
Gibt man als Randbedingungen zur Ermittlung einer partikulären Lösung alternativ Spannung U<sub>2</sub> und Strom I<sub>2</sub> am Ende der Leitung vor, dann erhält man für die Spannung U(x) und den Strom I(x) auf der Leitung:<br />
:<math>U(x)=U_2\cdot\cos{\beta (L-x)}+I_2\cdot jZ_0\cdot\sin{\beta (L-x)}</math><br />
:<math>I(x)=U_2\cdot\frac{j}{Z_0}\cdot\sin{\beta (L-x)}+I_2\cdot\cos{\beta (L-x)}</math><br />
Für x&nbsp;=&nbsp;0 errechnet man die Spannung U<sub>1</sub> und den Strom I<sub>1</sub> am Anfang der Leitung und erhält damit die [[Vierpol-Ketten-Gleichungen]] der Leitung:<br />
:<math>U_1=U_2\cdot\cos{\beta L}+I_2\cdot jZ_0\cdot\sin{\beta L}</math><br />
:<math>I_1=U_2\cdot\frac{j}{Z_0}\cdot\sin{\beta L}+I_2\cdot\cos{\beta L}</math><br />
Sie sind die Basis zur Nutzung eines Leitungsstückes als hochfrequenztechnisches Bauelement.<br />
<br />
== Leitungstransformation ==<br />
Die ''Leitungstransformation'' oder auch '' Impedanztransformation'' bezeichnet eine Eigenschaft welche die [[Impedanz]] am Anfang einer Leitung, als Z<sub>1</sub> bezeichnet, durch die Länge L<sub>Ltg</sub> und den [[Leitungswellenwiderstand]] Z<sub>Ltg</sub> und durch den Abschluss der Leitung mit der Impedanz Z<sub>2</sub> verändern zu können. Dabei wird eine näherungsweise verlustlose Leitung angenommen bei der der Zusammenhang gilt:<br />
<br />
:<math>Z_1 = Z_\mathrm{Ltg} {{Z_2 + \mathrm{j} Z_\mathrm{Ltg} \tan \beta L_\mathrm{Ltg} } \over {Z_\mathrm{Ltg} + \mathrm{j} Z_2 \tan \beta L_\mathrm{Ltg}}}</math><br />
<br />
Mit der [[Wellenzahl]] <math>\beta</math> und der [[Wellenlänge]] <math>\lambda</math> in der Beziehung:<br />
<br />
:<math>\beta = \frac{2 \pi}{\lambda }</math><br />
<br />
Der Leitungswellenwiderstand Z<sub>Ltg</sub> wird in diesem Zusammenhang auch als charakteristische Impedanz der Leitung bezeichnet – er ist unabhängig vom Abschluss und Länge der Leitung und ist durch die [[Leitungsbeläge]] bestimmt. Weiters ist die Wellenlänge in diesem Zusammenhang entlang einer Übertragungsleitung unterschiedlich zu der Wellenlänge bei Ausbreitung einer elektromagnetischen Welle im freien Raum. Dieser Zusammenhang wird durch den [[Verkürzungsfaktor]] beschrieben.<br />
<br />
Ausgehend von dieser für die Leitungstransformation fundamentalen Beziehung analysiert die Leitungstheorie das Transformationsverhalten der Leitung bei bestimmten Leitungslängen wie den wichtigen Spezialfällen einer &lambda;/4-Leitung oder &lambda;/2-Leitung und bei bestimmten Leitungsabschlüssen wie [[Anpassung (Elektrotechnik)|Anpassung]], [[Elektrischer Kurzschluss|Kurzschluss]], Leerlauf, reeller Abschluss, Blindwiderstand als Abschluss und allgemeiner komplexer Abschluss.<br />
<br />
[[Datei:Leitungstransformation.png|mini|Transformation im [[Smith-Diagramm]]]]<br />
Alternativ lassen sich Leitungstransformationen auch mithilfe des [[Smith-Diagramm]]es durchführen: Man dreht dazu den normierten Abschlusswiderstand <math>z</math> im Smith-Diagramm lediglich im Winkel<br />
<br />
:<math> \phi = -\frac{360^\circ}{0{,}5} \cdot \frac{L}{\lambda} = -\frac{360^\circ}{0{,}5} \cdot \frac{L f \sqrt{\varepsilon_r}}{c_0}</math><br />
<br />
um den Punkt <math>z = 1</math> (Leitungslänge <math>L</math>, Generatorfrequenz <math>f</math>, relative [[Dielektrizitätszahl]] <math>\varepsilon_r</math>, Vakuum-[[Lichtgeschwindigkeit]] <math>c_0</math>). Die normierte Eingangsimpedanz lässt sich dann direkt aus dem Smith-Diagramm ablesen.<br />
<br />
=== Kurzgeschlossene Leitung ===<br />
Für eine am Ende kurzgeschlossene Leitung (''Z''<sub>2</sub>&nbsp;=&nbsp;0) vereinfacht sich die Gleichung zu<br />
<br />
:<math>Z_1 = Z_\mathrm{Ltg} \mathrm{j} \tan \beta L_\mathrm{Ltg}</math><br />
<br />
Das Verhältnis ''L''<sub>Ltg</sub>/&lambda;&nbsp;=&nbsp;m bestimmt auf Grund der Vorzeichenregeln der [[Tangensfunktion]], ob sich diese U-förmige Leitung wie eine Kapazität, eine Induktivität oder ein Schwingkreis verhält:<br />
*Für 1/4&nbsp;>&nbsp;m&nbsp;>&nbsp;0 ist es eine Induktivität<br />
*Für 1/4&nbsp;=&nbsp;m ist es ein [[Schwingkreis#Parallelschwingkreis|Parallelschwingkreis]] mit den Resonanzwellenlängen &lambda;; &lambda;/3; &lambda;/5; …<br />
*Für 1/2&nbsp;>&nbsp;m&nbsp;>&nbsp;1/4 ist es eine Kapazität.<br />
*Für 1/2&nbsp;=&nbsp;m ist es ein [[Schwingkreis#Reihenschwingkreis|Reihenschwingkreis]] mit den Resonanzwellenlängen &lambda;; &lambda;/2; &lambda;/4; …<br />
<br />
Dieses Verhalten setzt sich für ungeradzahlige Vielfache periodisch fort.<br />
<br />
''Anmerkung'': ''L''<sub>Ltg</sub> ist die tatsächliche ''geometrische'' Leitungslänge. Der Einfluss des [[Verkürzungsfaktor]]s ist in der Wellenlänge <math>\lambda</math> enthalten.<br />
<br />
In einigen speziellen Funkgeräten für sehr hohe Frequenzen wird bei [[Stichleitung]]en bzw. [[Lecher-Leitung]]en ein verschiebbarer Kurzschlussbügel verwendet, um die gewünschte Eigenschaft einstellen zu können. Im Regelfall wird keine symmetrische Doppelleitung verwendet, die Energie abstrahlt und deshalb nur einen geringen [[Gütefaktor]] besitzt, sondern ein geschlossener, zylindersymmetrischer [[Topfkreis]].<br />
<br />
=== Offene Leitung ===<br />
Für eine am Ende offene Leitung (''Z''<sub>2</sub>&nbsp;→&nbsp;∞) vereinfacht sich die Gleichung zu<br />
<br />
:<math>Z_1=\frac {Z_\mathrm{Ltg}}{\mathrm{j} \tan \beta L_\mathrm{Ltg}} = - \mathrm{j} Z_\mathrm{Ltg} \cot \beta L_\mathrm{Ltg}</math><br />
<br />
Das Verhältnis ''L''<sub>Ltg</sub>/&lambda;&nbsp;=&nbsp;m bestimmt, ob sich die leerlaufende Leitung wie eine Kapazität, eine Induktivität oder ein Schwingkreis verhält:<br />
*Für 1/4&nbsp;>&nbsp;m&nbsp;>&nbsp;0 ist es eine Kapazität<br />
*Für 1/4&nbsp;=&nbsp;m ist es ein [[Schwingkreis#Reihenschwingkreis|Reihenschwingkreis]] mit den Resonanzwellenlängen &lambda;; &lambda;/2; &lambda;/4; …<br />
*Für 1/2&nbsp;>&nbsp;m&nbsp;>&nbsp;1/4 ist es eine Induktivität.<br />
*Für 1/2&nbsp;=&nbsp;m ist es ein [[Schwingkreis#Parallelschwingkreis|Parallelschwingkreis]] mit den Resonanzwellenlängen &lambda;; &lambda;/3; &lambda;/5; …<br />
<br />
Dieses Verhalten setzt sich für ungeradzahlige Vielfache periodisch fort.<br />
<br />
=== {{Anker|λ/4 Leitung}}λ/4-Leitung ===<br />
[[Datei:Quarter wave impedance transformer de.svg|mini|λ/4-Leitung]]<br />
Für die Leitungslänge λ/4 vereinfacht sich die Gleichung zu der Transformationsbeziehung mit der Impedanz am Anfang einer Leitung zu:<br />
<br />
:<math>\frac{Z_1}{Z_\mathrm{Ltg}} = \frac{Z_\mathrm{Ltg}}{Z_2} \quad \Rightarrow \quad Z_1 = \frac{Z_\mathrm{Ltg}^2}{Z_2} </math><br />
<br />
Wird die λ/4-lange Leitung am Ende kurzgeschlossen (''Z''<sub>2</sub>&nbsp;→&nbsp;0), wirkt diese am Eingang wie ein Leerlauf, ist also hochohmig mit ''Z''<sub>1</sub>&nbsp;→&nbsp;∞. Umgekehrt wirkt eine am Ende offene λ/4-lange Leitung am Eingang wie ein Kurzschluss. Der Leitungswellenwiderstand Z<sub>Ltg</sub> spielt in beiden Fällen keine Rolle.<br />
<br />
Die λ/4-Transformation setzt sich periodisch für ungeradzahlige Vielfache fort.<br />
<br />
==== Anwendungsbeispiele ====<br />
[[Datei:Isolierende Viertelwellenstütze.png|mini|Die metallische Stütze isoliert die Doppelleitung bei bestimmten Frequenzen.]]<br />
[[Datei:Wilkinson-coupler.svg|mini|Leistungsteiler mit [[Streifenleitung]]en aufgebaut]]<br />
Im oberen Bild wird eine Methode gezeigt, wie eine Hochfrequenz-Doppelleitung gestützt und geerdet werden kann, obwohl sie auf der Sollwellenlänge λ isoliert. Der Innenleiter einer luftgefüllten Koaxialleitung für hohe Übertragungsleistungen lässt sich auf vergleichbare Weise durch einen λ/4-[[Topfkreis]] stützen.<br />
<br />
Entfernt man den unteren Querbügel, wirkt der λ/4-lange Stub wie ein selektiver Kurzschluss für ganz bestimmte Frequenzen, während er bei Gleichstrom isoliert. Damit kann die unerwünschte Ausbreitung von HF-Energie definierter Frequenz unterbunden werden.<br />
<br />
Manche Bauelemente der [[Radar]]technik wie [[Duplexer#Branch-Duplexer|Branch-Duplexer]] und [[Ringkoppler]] basieren auf der Impedanztransformation von λ/4-Leitungen.<br />
<br />
In einen [[Hohlleiter]] wird die elektrische Energie mit einer Sonde (Stabantenne) eingekoppelt, die λ/4 vom geschlossenen Ende entfernt in den Hohlleiter hineinragt. Die sich von der Sonde des Kopplers ablösende elektromagnetische Welle „sieht“ an drei Seiten den unendlich hohen Widerstand der kurzgeschlossenen λ/4-Leitung, kann sich also nur in der verbleibenden Richtung ausbreiten.<br />
<br />
{{Anker|Resonanzdichtung}}Beim [[Mikrowellenherd]] ist die Resonanzdichtung (also die Türdichtung, die den Austritt von Mikrowellenenergie verhindert) ein umlaufendes Band aus einem λ/4-Kanal, der exakt 3&nbsp;cm breit ist und dessen Metallflächen sich nicht berühren. Diese Breite passt zu der vom Magnetron erzeugten Wellenlänge 12&nbsp;cm. Damit gelingt es auch ohne Verwendung störanfälliger Kontakte, das elektromagnetische Strahlungsfeld im Innenraum „einzusperren“.<br />
<br />
Der [[Wilkinson-Teiler]] lässt sich am einfachsten als Leistungsaddierer erklären: Zwei Sender oder Antennen, jeweils mit der Quellimpedanz ''Z''<sub>0</sub> liefern gleichphasig Signale an die Tore P2 und P3. Die jeweils folgenden λ/4-Leitungen mit der Impedanz <math>\sqrt{2} \cdot Z_0</math> transformieren auf 2·''Z''<sub>0</sub> am Tor P1, woraus sich durch Parallelschaltung wieder die Gesamtimpedanz ''Z''<sub>0</sub> ergibt. Der Widerstand 2·''Z''<sub>0</sub> rechts zwischen P2 und P3 hat keine Auswirkung, solange die dort eintreffenden Signale gleichphasig sind. Die Energie gegenphasiger Signale wandelt er in Wärme um.<br />
<br />
=== {{Anker|λ/2 Leitung}}λ/2-Leitung ===<br />
Eine λ/2-lange Leitung transformiert nicht die Ausgangsimpedanz und es gilt für die Impedanz am Eingang unabhängig vom Leitungswellenwiderstand der λ/2-Leitung:<br />
<br />
:<math>Z_\mathrm{1} = Z_\mathrm{2}</math><br />
<br />
Wird eine λ/2-lange Leitung am Ende kurzgeschlossen (''Z''<sub>2</sub>&nbsp;=&nbsp;0), wirkt sie auch am Eingang wie ein Kurzschluss. Umgekehrt wirkt eine am Ende offene λ/2-lange Leitung auch am Eingang wie ein Leerlauf.<br />
<br />
==== Anwendungsbeispiele ====<br />
In der Funktechnik verwendet man häufig [[Dipolantenne]]n, deren Aufgabe darin besteht, die Impedanz des Senderausgangs auf den [[Wellenwiderstand des Vakuums]] (377&nbsp;Ω) zu transformieren, damit die Energie effizient abgestrahlt werden kann.<br />
<br />
Speist man einen ''nicht'' unterbrochenen λ/2-Dipol an einem Ende, misst man dort eine Impedanz Z<sub>1</sub>&nbsp;≈&nbsp;2200&nbsp;Ω. Weil dieser Wert zu sehr von der Wellenimpedanz eines [[Koaxialkabel]]s (Z&nbsp;≈&nbsp;50&nbsp;Ω) abweicht, würde ein unmittelbarer Anschluss zu einer untragbaren Fehlanpassung führen. Bei der eben beschriebenen Methode wurden – genau genommen – ''zwei'' λ/4-Stäbe elektrisch parallel betrieben, deshalb hat jeder der beiden die Impedanz Z<sub>1</sub>&nbsp;≈&nbsp;4400&nbsp;Ω.<br />
<br />
Um die Dipolimpedanz zu senken, wird der Dipol meist in der Mitte getrennt, denn dort misst man den erheblich geringeren Wert Z&nbsp;≈&nbsp;70&nbsp;Ω, der besser zur Kabelimpedanz passt. Dieses Messergebnis kann man auch als Reihenschaltung von zwei 35&nbsp;Ω-Widerständen interpretieren – jeder λ/4-Stab hat die Impedanz Z<sub>a</sub>&nbsp;=&nbsp;35&nbsp;Ω. Solche [[Groundplane-Antenne]]n werden bei Mittelwellen-Rundfunksendern verwendet, an deren unterem Ende tatsächlich diese Impedanz Z<sub>2</sub>&nbsp;=&nbsp;35&nbsp;Ω gemessen wird, wenn das obere Ende frei bleibt.<br />
<br />
Setzt man diese Messwerte 4400&nbsp;Ω und 35&nbsp;Ω zu beiden Seiten ''eines'' λ/4-Stab in die Transformationsgleichung für die λ/4-Leitung ein:<br />
<br />
:<math>Z_\mathrm{1}\cdot Z_\mathrm{2} = Z_\mathrm{Ltg}^2</math><br />
<br />
erhält man ''Z''<sub>Ltg</sub>&nbsp;=&nbsp;392&nbsp;Ω, der dem Wert des Freiraumwellenwiderstandes Z<sub>0</sub> nahekommt.<br />
<br />
== Weitere Teilgebiete der Leitungstheorie ==<br />
Um einige praktisch wichtige Probleme zu lösen, wird die klassische Leitungstheorie auf Basis der homogenen Doppelleitung mit konstanten Leitungsbelägen durch folgende Teilgebiete ergänzt:<br />
* Einfluss des [[Skin-Effekt]]es auf die [[Leitungsbeläge]] und die Wellenausbreitung<br />
* [[Brechung (Physik)|Brechung]] durch Störstellen auf der Leitung oder an Koppelstellen von Leitungen<br />
* [[Ersatzschaltung]]en für kurze Leitungen<br />
* Leitungsschaltungen und Einsatz der Leitung als Bauelement<br />
* Wellenausbreitung auf Mehrleitersystemen<br />
* Gekoppelte Leitungen und [[Richtkoppler]]<br />
* [[Übersprechen]] zwischen verschiedenen Leitungen<br />
<br />
=== Leitungen in komplexen Strukturen ===<br />
Die Lösung der Leitungsgleichungen in Vierpolparameterform (z.&nbsp;B. als S-, Z- oder Y-Parameter) lässt sich für fortgeschrittene Betrachtungen als Matrix entweder zahlenmäßig oder formelmäßig in numerische bzw. symbolisch rechnende CAD-Systeme einspiegeln, die ihrerseits lineare Baugruppen mit n-Tor-Matrizen vernetzen. Auf der Basis der Kirchhoffschen Gesetze ergeben sich dann sofort die von Standard-CAD-Systemen bekannten, über 30 Ausgabegrößen der Hochfrequenzelektronik wie Spannungs- und Stromverstärkung, Eingangs- und Ausgangsimpedanz, verallgemeinerte Streuparameter, verschiedene Gewinnbegriffe etc., und zwar entweder als Zahlen oder als vollautomatisch hergeleitete Formelausdrücke. In der Praxis wird man insbesondere bei komplizierteren Strukturen aus vielen Leitungen und anderen linearen Baugruppen (R, L, C, Trafos, linearisierte Transistoren etc.) alle Formeln automatisch herleiten<ref>Timmermann: ''Hochfrequenzelektronik mit CAD, Band 1.'' (Lit.), S. 123 ff.</ref>.<br />
<br />
=== Übertragung der Leitungstheorie auf akustische Wellen und Wärmewellen ===<br />
Besonders angenehm ist, dass die gesamte elektrische Leitungstheorie mit der kompletten Begriffswelt der CAD-Systeme mit ganz einfachen Substitutionen auf viele andere Fragestellungen übertragbar ist<ref>Timmermann: ''Hochfrequenzelektronik mit CAD, Band 1.'' (Lit.), S. 156–160 ff.</ref>, z.&nbsp;B. auf ebene akustische Wellen und ebene Wärmewellen, so dass derartige Probleme hervorragend mit den CAD-Systemen der Hochfrequenzelektronik analysierbar sind. Die Optimierungsalgorithmen und alle Bequemlichkeiten der Systeme stehen somit zur Verfügung. Da die Differentialgleichungen bis auf Substitutionen gleich sind, entsteht kein neues Problem.<br />
<br />
Ebene akustische Wellen, die sich mit Druck p<sub>x</sub> = U und Teilchengeschwindigkeit v<sub>x</sub>= I in x-Richtung ausbreiten, werden in der Leitungstheorie wegen der analogen Differentialgleichungen bei verlustlosem Stoff beschrieben durch R’=0, G’=0, L’ = ρ (Stoffdichte) und C’ als Elastizitätsmodul bzw. Kompressibilität (bei Gasen abhängig vom Adiabatenkoeffizient). Die Berechnung z.&nbsp;B. der Schallgeschwindigkeit v=1/(L’C’)<sup>1/2</sup> fiele dabei als triviales Nebenergebnis ab. Eine immer noch sehr leicht zu lösende Aufgabe wäre die Frage nach der frequenzabhängigen Schalldämmung einer 3-fach verglasten Fensterscheibe. Man würde sie anhand der Kettenschaltung von 5 Leitungsvierpolen aus Glas-Luft-Glas-Luft-Glas berechnen, wobei als Generator- und Lastimpedanz jeweils der akustische Wellenwiderstand (L’/C’)<sup>1/2</sup> von Luft zu nehmen wäre. Die Berechnung des Problems unterscheidet sich in nichts von den Schaltungsberechnungen in der Hochfrequenzelektronik. Der schwammige Begriff „Dämmung“ präzisiert sich dann zu dem aus der Elektronik wohlbekannten Standardbegriff „Gewinn“ G =|s<sub>21G</sub>|<sup>2</sup> mit s<sub>21G</sub> als verallgemeinerter (generalized) Streuparameter, wie er in jedem CAD-System implementiert ist. Wäre bei ''f''=1&nbsp;kHz z.&nbsp;B. G = 1,5E-3, hätte man 28,2&nbsp;dB Dämpfung (Dämmung).<br />
<br />
Ebene Wärmewellen sind ebenfalls leicht mit dem Rüstzeug der Leitungstheorie analysierbar. Hier korrespondiert U mit der Temperatur und I mit dem Wärmestrom durch eine Fläche A. Es gilt G’=0 und L’=0. Die Größen R’ und C’ bestimmen sich aus Wärmeleitfähigkeit, spezifischer Wärme und Stoffdichte. Eine Wärmeleitung ist dabei eine stark dämpfende Leitung mit α=β. Da meist αL ≫1 ist, gibt es keine rücklaufende Welle, und die Eingangsimpedanz der Leitung ist gleich dem Wellenwiderstand (R’/jωC’)<sup>1/2</sup>. Temperatur und Wärmestrom (Spannung und Strom) sind dann bei x=0 um 45° gegeneinander phasenverschoben.<br />
<br />
=== Andere Anwendungen der Leitungstheorie ===<br />
Generell ist bei allen Problemen, deren Differentialgleichungen formal auf die Struktur obiger Leitungsgleichungen zurückgeführt werden können, nach Feststellung der Analogiegrößen für U, I sowie R’, L’, G’ und C’ das Problem vollständig gelöst.<br />
<br />
Zu dieser Klasse physikalischer Probleme gehören neben ebenen Wärmewellen und akustischen Wellen auch ebene elektromagnetische Wellen, die unter einem Winkel auf eine verlustfreie Schichtenfolge mit unterschiedlichen Werten für Permeabilität, Permittivität und Dicke L einfallen. Die Lösung der Maxwellschen Gleichungen eines Abschnitts lässt sich dann für die Komponenten des elektrischen und magnetischen Feldes noch in eine Vierpolform mit Wellenwiderstand und Ausbreitungsmaß umschreiben, die jeweils von den Materialwerten, Schichtdicken und Winkeln abhängen. Die verallgemeinerten Streuparameter s<sub>11G</sub> und s<sub>21G</sub> geben dann wie in der Hochfrequenzelektronik üblich mit |s<sub>21G</sub>|<sup>2</sup> den transmittierten und mit |s<sub>11G</sub>|<sup>2</sup> den reflektierten Leistungsbruchteil an.<br />
<br />
Der idealste Verstärker ist stets ein Wanderwellenverstärker, bei dem eine Welle in eine Leitung reflexionsfrei hineinfliegt, mit negativem α verstärkt wird, dispersionsfrei wandert und am Ende reflexionsfrei in die Last transmittiert. In IC-Bauform realisiert man sie im Mikrowellenbereich näherungsweise als Leitung aus einigen Kettenleiterabschnitten jeweils aus Ls und Cs, wobei statt G’ ein FET genommen wird, der mit seiner Stromquelle für α < 0 und somit für eine Verstärkung der hinlaufenden Welle sorgt. Bei [[Lichtwellenleiter]]n hat man das Analogon als erbiumdotierten Faserverstärker. Im Medizinbereich lassen sich Blutbahnen mit Leitungsgleichungen modellieren.<br />
<br />
=== Grenzen der Leitungstheorie ===<br />
Die Leitungstheorie ist spätestens dann nicht mehr anwendbar, wenn die Wellen beginnen, sich im Zick-Zack auszubreiten, aber auch dann, wenn komplexere Strukturen zu analysieren sind. Wenn z.&nbsp;B. zwei 75 Ohm-Leitungen miteinander verbunden werden, von denen die eine ein TV-Koaxialkabel ist und die andere eine mikroskopisch kleine Mikrostreifenleitung, ist der Steckerübergang nach der Leitungstheorie reflexionsfrei, in der Realität aber keinesfalls. Hier endet die Leitungstheorie und die Maxwellschen Gleichungen sind zu lösen (vergl. [[Elektronik#Hochfrequenzelektronik]]).<br />
<br />
== Literatur ==<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=Heinrich Schröder<br />
|Jahr=1966<br />
|Titel=Elektrische Nachrichtentechnik, I. Band<br />
|Ort=Berlin-Borsigwalde<br />
|Verlag=Verlag für Radio-Foto-Kinotechnik GmbH}}<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=[[Peter Vielhauer]]<br />
|Jahr=1970<br />
|Titel=Theorie der Übertragung auf elektrischen Leitungen<br />
|Ort=Berlin<br />
|Verlag=Verlag Technik}}<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=[[Hans-Georg Unger]]<br />
|Jahr=1980<br />
|Titel=Elektromagnetische Wellen auf Leitungen<br />
|Ort=Heidelberg<br />
|Verlag=Dr. Alfred Hüthig Verlag<br />
|ISBN=3-7785-0601-3}}<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=[[Claus-Christian Timmermann]]<br />
|Jahr=2003<br />
|Titel= Hochfrequenzelektronik mit CAD, Band 1. Leitungen, Vierpole, Transistormodelle und Simulation mit numerischen und symbolischen CAD/CAE-Systemen<br />
|Ort=Plankstadt<br />
|Verlag=PROFUND Verlag<br />
|ISBN=3-932651-21-9}}<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=[[Gerhard Wunsch]]<br />
|Jahr=1985<br />
|Titel=Geschichte der Systemtheorie<br />
|Ort=Leipzig<br />
|Verlag=Akademie-Verlag}}<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* {{DNB-Portal|4132672-6|TYP=Literatur über}}<br />
* {{Webarchiv | url=http://www.delta.tu-dortmund.de/cms/Medienpool/ELEKTRONIK_2013/ELEKTRONIK_2013_KAPITEL_04.pdf | wayback=20140124060707 | text=Skript zur Vorlesung „Elektronik“ von Prof. Dr. Klaus Wille, Technische Universität Dortmund}} (PDF; 1,5&nbsp;MB)<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4132672-6|LCCN=|NDL=|VIAF=}}<br />
<br />
[[Kategorie:Übertragungstechnik]]<br />
[[Kategorie:Wellen]]<br />
[[Kategorie:Elektrische Leitung]]<br />
<br />
[[ja:分布定数回路]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Internationales_Phonetisches_Alphabet&diff=193466904Internationales Phonetisches Alphabet2019-10-26T07:32:59Z<p>Udo.bellack: /* Töne und Intonation */ link auf lexikalischen Ton</p>
<hr />
<div>{{Weiterleitungshinweis|IPA}}<br />
[[Datei:IPA chart 2018.pdf|mini|hochkant=1.6|IPA-Tabelle 2018 (englisch)]]<br />
<br />
Das '''Internationale Phonetische Alphabet''' ('''IPA''') ist ein [[Phonetik|phonetisches]] [[Alphabet]] und somit eine Sammlung von Zeichen, mit deren Hilfe die [[Laut]]e aller menschlichen [[Sprache]]n nahezu genau beschrieben und notiert werden können. Es wurde von der [[International Phonetic Association]] entwickelt und ist das heute am weitesten verbreitete [[Lautschrift]]&shy;system.<br />
<br />
Die aktuellen IPA-Zeichen und ihre Aussprachen sind in der [[Liste der IPA-Zeichen]] aufgeführt.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
Die wichtigsten Versuche vor dem 19.&nbsp;Jahrhundert in Europa, ein universales phonetisches Alphabet zu schaffen, waren jene von [[John Wilkins]] (1614–1672) im Jahr 1668, von [[Francis Lodwick]] (1619–1694) im Jahr 1686, von [[Charles de Brosses]] (1709–1777) im Jahr 1765, von [[William Jones (Orientalist)|William Jones]] (1746–1794) im Jahr 1788 und von [[William Thornton (Architekt)|William Thornton]] (1759–1828) im Jahr 1793. Weitere Vorschläge stammten von [[John Pickering (Linguist)|John Pickering]] (1777–1846) im Jahr 1818 und [[Constantin François Volney]] (1757–1820) 1795. Vorschläge von [[Isaac Pitman]] (1813–1897) 1837 und 1842 sowie von [[Alexander John Ellis]] (1814–1890) 1845, 1847 und seiner ''Essentials of Phonetics, containing the theory of a universal alphabet'' 1848 sollten später bei der Schaffung des Internationalen Phonetischen Alphabetes übernommen werden. Weitere Vorläufer waren [[Samuel Haldeman]] (1812–1880) mit seiner ''Analytic Othography'' 1858/1860, [[Karl Moritz Rapp]] und seine ''Physiologie der Sprache'' (1836–1841), [[Ernst Brücke]] (1819–1892) mit ''Grundzüge der Physiologie'' 1856 und 1963, [[Carl Ludwig Merkel|Carl Merkel]] (1812–1876) und seine ''Physiologie der menschlichen Sprache (physiologische Laletik)'' 1866, [[Moritz Thausing]] (1838–1884) mit ''Das natürliche Lautsystem der menschlichen Sprache'' 1863, [[Félix du Bois-Reymond]] (1782–1865) und seine Schrift ''Kadmus'' von 1862.<br />
<br />
Als Meilenstein gilt das Werk von [[Karl Richard Lepsius]], der 1852 im Auftrag der [[Church Missionary Society]] ein [[Alphabet]] vorschlug, das zum Ziel hatte, alle [[Sprache]]n der Welt, vor allem aber [[Afrikanische Sprachen|afrikanische]] ohne eigenes [[Schriftsystem]], schreiben zu können. Ein Mitbewerber von Lepsius war [[Friedrich Max Müller]] (1823–1900). Das »Standardalphabet« von Lepsius wurde mit Anpassungen u.&nbsp;a. von dem Afrikanisten [[Carl Meinhof]] (1857–1944) und von dem Missionar [[Karl Endemann]] (1836–1919) verwendet, und auch das phonetische Alphabet des Missionars Wilhelm Schmidt (1845–1921) beruhte auf den Symbolen von Lepsius.<br />
<br />
Im Jahr 1867 erschien ''Visible Speech, the Science of Universal Alphabetics'' von [[Alexander Melville Bell]] (1819–1905), das eine recht abstrakte, ikonische Lautschrift vorstellte; 1877 veröffentlichte sein Schüler [[Henry Sweet]] (1845–1912) ein ''Handbook of Phonetics'', in dem er mit Bezug auf Bell und auf Ellis wieder ein System auf Grundlage des lateinischen Alphabetes vorschlug.<br />
<br />
Der [[Frankreich|französische]] [[Linguist]] [[Paul Passy]] (''Le maître phonétique'') initiierte die Entwicklung des „Internationalen Phonetischen Alphabets“, dessen Entwürfe 1888 publiziert wurden<ref>vgl. P.T. Daniels, W. Bright (Hrsg.): ''The World's Writing Systems'', New York & Oxford, 1996, S. 821–46.</ref>. Er war auch erster Präsident der International Phonetic Association (noch als ''Dhi Fonètik Tîtcerz' Asóciécon'' FTA) von 1886 bis 1888.<ref>[https://www.internationalphoneticassociation.org/content/history-ipa History of the IPA], abgerufen am 19. August 2016</ref> In [[Kiel]] fand 1989 die [[International Phonetic Association Kiel Convention]] statt, die nach mehr als einem Jahrhundert eine wesentliche Überarbeitung des IPA brachte.<ref>John Esling: ''Computer Coding of the IPA: Supplementary Report''. Journal of the International Phonetic Association, Vol. 20(1), 1990.</ref> Kleinere Revisionen fanden auch 1993 und 1996 statt.<br />
<br />
== Praktische Bedeutung ==<br />
Das IPA stellt eine wesentliche Erleichterung der Darstellung der [[Aussprache]] in Wörterbüchern und Lexika dar. Beim Lesen von IPA-Texten ist jedoch auch Vorsicht geboten:<br />
<br />
Bei manchen Sprachen, z.&nbsp;B. dem [[Französische Sprache|Französischen]], gibt es eine allgemein akzeptierte Standardaussprache ([[Orthophonie]]), bei anderen nicht. Eine amtlich festgesetzte Aussprache kann allerdings im Alltag ungebräuchlich sein. Die landesübliche Bandbreite eines Lautes kann wesentlich größer sein (z.&nbsp;B. die deutsche Endsilbe ''-er'') als der Unterschied ähnlicher Lautzeichen. Was in einer Sprache als korrekt oder falsch, als normal oder fremdartig, als verständlich oder unverständlich aufgefasst wird, ist für jemanden, der die Sprache nur selten oder noch nie gehört hat, nicht zu ermessen.<br />
<br />
In Wörterbüchern wird nicht selten ein vereinfachter Zeichensatz verwandt, um Leser ohne Vorkenntnisse nicht zu verwirren.<ref>K.-H. Ramers: ''Phonologie.'' In: J. Meibauer [u. a.] (Hrsg.): ''Einführung in die germanistische Linguistik.'' Stuttgart, Metzler, 2002. S. 70–120.</ref> So unterscheidet ''{{lang|en|Cassell’s German Dictionary}}'' weder die verschiedenen Aussprachen des deutschen ''r'', noch die offenere Aussprache eines kurzen ''a'', ''i'', ''u'' und ''ü'' gegenüber dem jeweiligen langen Vokal. Die Aussprache des englischen ''no'' wird aus Tradition allgemein als [{{IPA|noʊ}}] wiedergegeben, obwohl im [[Britisches Englisch|Britischen]] tatsächlich [{{IPA|nəʊ}}] gesagt wird. Üblicherweise wird auch nicht berücksichtigt, dass in manchen Sprachen ohne sch-Laut {{IPA-Phon|ʃ}} das ''s'' zumeist eher wie {{IPA-Phon|ɕ}} (zwischen ''s'' {{IPA-Phon|s}} und ''Ich-Laut'' {{IPA-Phon|ç}}) ausgesprochen wird, beispielsweise im [[Spanische Sprache|europäischen Spanisch]] und im [[Neugriechisch|Griechischen]] (eine phonetisch genauere Beschreibung ist wahrscheinlich allgemein „zurückgezogen“, also [s̱], wobei der spanische Laut eher [[Apikal (Linguistik)|apikal]] ist, also [s̺], der griechische hingegen eher [[laminal]], also [s̻]).<br />
<br />
Ganz so genau, wie sie erscheint, ist auch die IPA-Notation nicht, beispielsweise ist das {{IPA-Phon|ʉ}} in engl. ''book'' ein nur etwas zentraleres {{IPA-Phon|u}}, im [[Norwegische Sprache|norwegischen]] und [[Schwedische Sprache|schwedischen]] Wort ''sund'' ein nur etwas zentraleres {{IPA-Phon|y}}.<br />
<br />
== Zeichenzuordnungen der Laute und Lautzeichenerweiterungen ==<br />
Die [[Liste der IPA-Zeichen|IPA-Zeichentabelle]] nutzt unter anderem Buchstaben des [[Lateinisches Schriftsystem|lateinischen Schriftsystems]] und des [[Griechisches Alphabet|griechischen Alphabets]], teilweise in abgewandelter Form. Jedes Zeichen bezeichnet dabei einen Laut oder beschreibt einen bereits angegebenen Laut näher, der in einer Sprache der Welt ein Wort von einem anderen unterscheidet.<br />
<br />
Das Internationale Phonetische Alphabet ist sprachenübergreifend; dies führt dazu, dass die Zuordnung eines Zeichens zu einem Laut in einer bestimmten Sprache nicht zwangsläufig mit der Lautzuordnung desselben Zeichens im IPA identisch ist. So steht beispielsweise das Zeichen {{IPA-Phon|ç}} im IPA für die Aussprache der Buchstabenfolge ''ch'' im deutschen Wort „ich“, obwohl es der deutschen Orthographie fremd ist; für die Abbildung der Aussprache des [[Französische Sprache|Französischen]], dessen Orthografie „ç“ als [[Stimmlosigkeit|stimmloses]] „s“ kennt, wird das Zeichen dagegen nicht benötigt.<br />
<br />
Die Sonderzeichen des IPA-Alphabets wurden in [[Unicode]] im Bereich von U+0250 bis U+02AF aufgenommen.<br />
<br />
=== [[Vokal]]e ===<br />
{{Vokale}}<br />
{| class="wikitable"<br />
| rowspan="2" | &nbsp;<br />
! colspan="2" style="background:#FFDEAD"| vorne<br />
! colspan="2" style="background:#FFDEAD"| fast<br />vorne<br />
! colspan="2" style="background:#FFDEAD"| zentral<br />
! colspan="2" style="background:#FFDEAD"| fast<br />hinten<br />
! colspan="2" style="background:#FFDEAD"| hinten<br />
|- style="text-align:center"<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | [[Rundung (Phonetik)|ung.]]<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | [[Rundung (Phonetik)|ger.]]<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ung.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ger.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ung.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ger.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ung.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ger.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ung.<br />
| style="width:2em; background-color:#FFDEAD" | ger.<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| geschlossen<br />
| title="Unicode-Code: U+0069 (i)" style="text-align:center" | [[Ungerundeter geschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|i}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0079 (y)" style="text-align:center" | [[Gerundeter geschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|y}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+0268" style="text-align:center" | [[Ungerundeter geschlossener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɨ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0289" style="text-align:center" | [[Gerundeter geschlossener Zentralvokal|{{IPA-Text|ʉ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+026F" style="text-align:center" | [[Ungerundeter geschlossener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ɯ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0075 (u)" style="text-align:center" | [[Gerundeter geschlossener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|u}}]]<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| fast geschlossen<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+026A" style="text-align:center" | [[Ungerundeter zentralisierter fast geschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|ɪ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+028F" style="text-align:center" | [[Gerundeter zentralisierter fast geschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|ʏ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+028A" style="text-align:center" | [[Gerundeter zentralisierter fast geschlossener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ʊ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| halbgeschlossen<br />
| title="Unicode-Code: U+0065 (e)" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halbgeschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|e}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+00F8" style="text-align:center" | [[Gerundeter halbgeschlossener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|ø}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+0258" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halbgeschlossener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɘ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0275" style="text-align:center" | [[Gerundeter halbgeschlossener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɵ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+0264" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halbgeschlossener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ɤ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+006F (o)" style="text-align:center" | [[Gerundeter halbgeschlossener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|o}}]]<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| mittel<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| colspan="2" title="Unicode-Code: U+0259" style="text-align:center" | [[Schwa|{{IPA-Text|ə}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| halboffen<br />
| title="Unicode-Code: U+025B" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halboffener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|ɛ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0153" style="text-align:center" | [[Gerundeter halboffener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|œ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+025C" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halboffener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɜ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+025E" style="text-align:center" | [[Gerundeter halboffener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɞ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+028C" style="text-align:center" | [[Ungerundeter halboffener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ʌ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0254" style="text-align:center" | [[Gerundeter halboffener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ɔ}}]]<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| fast offen<br />
| title="Unicode-Code: U+00E6" style="text-align:center" | [[Ungerundeter fast offener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|æ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| colspan="2" title="Unicode-Code: U+0250" style="text-align:center" | [[Fast offener Zentralvokal|{{IPA-Text|ɐ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
! style="background:#FFDEAD; text-align:left;"| offen<br />
| title="Unicode-Code: U+0061 (a)" style="text-align:center" | [[Ungerundeter offener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|a}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0276" style="text-align:center" | [[Gerundeter offener Vorderzungenvokal|{{IPA-Text|ɶ}}]]<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| &nbsp;<br />
| title="Unicode-Code: U+0251" style="text-align:center" | [[Ungerundeter offener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ɑ}}]]<br />
| title="Unicode-Code: U+0252" style="text-align:center" | [[Gerundeter offener Hinterzungenvokal|{{IPA-Text|ɒ}}]]<br />
|}<br />
<br />
''Verweilt der Mauszeiger ''neben'' einem Zeichen in dessen Tabellenzelle, wird sein Unicode-Wert angezeigt; zeigt man auf das Zeichen, so erhält man eine kurze Beschreibung als [[Tooltip]].''<br />
<br />
{{Siehe auch|Hauptvokal|Vokaltrapez}}<br />
<br />
=== Konsonanten ===<br />
Bei den [[Konsonant]]en sind verschiedene Luftstrommechanismen zu unterscheiden.<br />
<br />
Die pulmonalen Konsonanten werden mit ausströmender Atemluft (d.&nbsp;h. Luft aus der Lunge) erzeugt ([[pulmonal]]-egressiv). Zu dieser Gruppe zählen die allermeisten Konsonanten. Bei den [[Ejektiv]]en und [[Implosiv]]en wird der Luftstrom dagegen durch Bewegungen des Kehlkopfs erzeugt. Bei den Ejektiven bewegt sich der Kehlkopf nach oben, sodass Luft ausströmt (glottal-egressiv); bei den Implosiven bewegt er sich nach unten, sodass Luft einströmt (glottal-ingressiv). Schnalzlaute (manchmal auch als „Avulsive“ oder im Englischen als „clicks“ bezeichnet) entstehen dadurch, dass Zunge und [[Gaumensegel]] einen abgeschlossenen Hohlraum bilden, der durch eine Zurück- und Abwärtsbewegung der Zunge vergrößert wird. Beim Öffnen des Hohlraums findet ein Druckausgleich statt (Luft strömt hinein, daher velar-ingressiv), sodass ein Laut erzeugt wird.<br />
<br />
==== Pulmonale Konsonanten ====<br />
{| class="wikitable" style="text-align:center"<br />
! rowspan="3"|<br />
! colspan="4" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[labial]]<br />
! colspan="8" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[koronal]]<br />
! colspan="8" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Dorsal (Phonetik)|dorsal]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Radikal (Phonetik)|radikal]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[laryngal]]<br />
|-<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[bilabial]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Labiodental|labio&shy;dental]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[dental]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[alveolar]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Postalveolar|post&shy;alveolar]]<!--palatoalveolar--><br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[retroflex]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Alveolopalatal|alveolo-palatal]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[palatal]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[velar]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[uvular]]<br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[Pharyngal|pha&shy;ryngal]]<br />
<!--epiglottal--><br />
! colspan="2" scope="colgroup" class="hintergrundfarbe8"| [[glottal]]<br />
|- style="text-align:center;"<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em"| [[Stimmlosigkeit|stl.]]<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| [[Stimmhaftigkeit|sth.]]<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| stl.<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="width:1.7em; text-align:center;"| sth.<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Plosiv]]e<br />
| title="Unicode: U+0070" | [[Stimmloser bilabialer Plosiv|{{IPA-Text|p}}]]<br />
| title="Unicode: U+0062" | [[Stimmhafter bilabialer Plosiv|{{IPA-Text|b}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
| title="Unicode: U+0074" | [[Stimmloser alveolarer Plosiv|{{IPA-Text|t}}]]<br />
| title="Unicode: U+0064" | [[Stimmhafter alveolarer Plosiv|{{IPA-Text|d}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
| title="Unicode: U+0288" | [[Stimmloser retroflexer Plosiv|{{IPA-Text|ʈ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0256" | [[Stimmhafter retroflexer Plosiv|{{IPA-Text|ɖ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
| title="Unicode: U+0063" | [[Stimmloser palataler Plosiv|{{IPA-Text|c}}]]<br />
| title="Unicode: U+025F" | [[Stimmhafter palataler Plosiv|{{IPA-Text|ɟ}}]]<br />
| title="Unicode: U+006B" | [[Stimmloser velarer Plosiv|{{IPA-Text|k}}]]<br />
| title="Unicode: U+0261" | [[Stimmhafter velarer Plosiv|{{IPA-Text|ɡ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0071" | [[Stimmloser uvularer Plosiv|{{IPA-Text|q}}]]<br />
| title="Unicode: U+0262" | [[Stimmhafter uvularer Plosiv|{{IPA-Text|ɢ}}]]<br />
<!--U+02A1 ʡ--><br />
| ||style="color:gray;background:gray" |<br />
| title="Unicode: U+0294" | [[Stimmloser glottaler Plosiv|{{IPA-Text|ʔ}}]] ||style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Frikativ]]e<br />
| title="Unicode: U+0278" | [[Stimmloser bilabialer Frikativ|{{IPA-Text|ɸ}}]]<br />
| title="Unicode: U+03B2" | [[Stimmhafter bilabialer Frikativ|{{IPA-Text|β}}]]<br />
| title="Unicode: U+0066" | [[Stimmloser labiodentaler Frikativ|{{IPA-Text|f}}]]<br />
| title="Unicode: U+0076" | [[Stimmhafter labiodentaler Frikativ|{{IPA-Text|v}}]]<br />
| title="Unicode: U+03B8" | [[Stimmloser dentaler Frikativ|{{IPA-Text|θ}}]]<br />
| title="Unicode: U+00F0" | [[Stimmhafter dentaler Frikativ|{{IPA-Text|ð}}]]<br />
| title="Unicode: U+0073" | [[Stimmloser alveolarer Frikativ|{{IPA-Text|s}}]]<br />
| title="Unicode: U+007A" | [[Stimmhafter alveolarer Frikativ|{{IPA-Text|z}}]]<br />
| title="Unicode: U+0283" | [[Stimmloser postalveolarer Frikativ|{{IPA-Text|ʃ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0292" | [[Stimmhafter postalveolarer Frikativ|{{IPA-Text|ʒ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0282" | [[Stimmloser retroflexer Frikativ|{{IPA-Text|ʂ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0290" | [[Stimmhafter retroflexer Frikativ|{{IPA-Text|ʐ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0255" | [[Stimmloser alveolopalataler Frikativ|{{IPA-Text|ɕ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0291" | [[Stimmhafter alveolopalataler Frikativ|{{IPA-Text|ʑ}}]]<br />
| title="Unicode: U+00E7" | [[Stimmloser palataler Frikativ|{{IPA-Text|ç}}]]<br />
| title="Unicode: U+029D" | [[Stimmhafter palataler Frikativ|{{IPA-Text|ʝ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0078" | [[Stimmloser velarer Frikativ|{{IPA-Text|x}}]]<br />
| title="Unicode: U+0263" | [[Stimmhafter velarer Frikativ|{{IPA-Text|ɣ}}]]<br />
| title="Unicode: U+03C7" | [[Stimmloser uvularer Frikativ|{{IPA-Text|χ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0281" | [[Stimmhafter uvularer Frikativ|{{IPA-Text|ʁ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0127" | [[Stimmloser pharyngaler Frikativ|{{IPA-Text|ħ}}]]<br />
| title="Unicode: U+0295" | [[Stimmhafter pharyngaler Frikativ|{{IPA-Text|ʕ}}]]<br />
<!--U+029C ʜ | U+02A2 ʢ--><br />
| title="Unicode: U+0068" | [[Stimmloser glottaler Frikativ|{{IPA-Text|h}}]]<br />
| title="Unicode: U+0266" | [[Stimmhafter glottaler Frikativ|{{IPA-Text|ɦ}}]]<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Lateral (Phonetik)|laterale]]&nbsp;Frikative<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan="2"|<br />
| title="Unicode: U+026C" | [[Stimmloser lateraler alveolarer Frikativ|{{IPA-Text|ɬ}}]]<br />
| title="Unicode: U+026E" | [[Stimmhafter lateraler alveolarer Frikativ|{{IPA-Text|ɮ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Nasal (Phonetik)|Nasale]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+006D" | [[Stimmhafter bilabialer Nasal|{{IPA-Text|m}}]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0271" | [[Stimmhafter labiodentaler Nasal|{{IPA-Text|ɱ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+006E" | [[Stimmhafter alveolarer Nasal|{{IPA-Text|n}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0273" | [[Stimmhafter retroflexer Nasal|{{IPA-Text|ɳ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0272" | [[Stimmhafter palataler Nasal|{{IPA-Text|ɲ}}]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+014B" | [[Stimmhafter velarer Nasal|{{IPA-Text|ŋ}}]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0274" | [[Stimmhafter uvularer Nasal|{{IPA-Text|ɴ}}]]<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Vibrant]]en<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0299" | [[Stimmhafter bilabialer Vibrant|{{IPA-Text|ʙ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0072 (r)" | [[Stimmhafter alveolarer Vibrant|{{IPA-Text|r}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0280" | [[Stimmhafter uvularer Vibrant|{{IPA-Text|ʀ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Tap (Phonetik)|Taps]]/[[Flap (Phonetik)|Flaps]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+2C71" align="center" valign="center" | [[Stimmhafter labiodentaler Flap|{{IPA-Text|ⱱ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+027E" | [[Stimmhafter alveolarer Tap|{{IPA-Text|ɾ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+027D" | [[Stimmhafter retroflexer Flap|{{IPA-Text|ɽ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| laterale&nbsp;Flaps<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+027A" | [[Stimmhafter lateraler alveolarer Flap|{{IPA-Text|ɺ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| [[Approximant]]en<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+028B" | [[Stimmhafter labiodentaler Approximant|{{IPA-Text|ʋ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0279" | [[Stimmhafter alveolarer Approximant|{{IPA-Text|ɹ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+027B" | [[Stimmhafter retroflexer Approximant|{{IPA-Text|ɻ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+006A (j)" | [[Stimmhafter palataler Approximant|{{IPA-Text|j}}]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+0270" | [[Stimmhafter velarer Approximant|{{IPA-Text|ɰ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|-<br />
! class="hintergrundfarbe8" style="text-align:left"| laterale&nbsp;Approximanten<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+006C" | [[Stimmhafter lateraler alveolarer Approximant|{{IPA-Text|l}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+026D" | [[Stimmhafter lateraler retroflexer Approximant|{{IPA-Text|ɭ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+028E" | [[Stimmhafter lateraler palataler Approximant|{{IPA-Text|ʎ}}]]<br />
|colspan=2 title="Unicode: U+029F" | [[Stimmhafter lateraler velarer Approximant|{{IPA-Text|ʟ}}]]<br />
|colspan="2"|<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|colspan=2 style="color:gray;background:gray" |<br />
|}<br />
<br />
''Verweilt der Mauszeiger ''neben'' einem Zeichen in dessen Tabellenzelle, wird sein Unicode-Wert angezeigt; zeigt man auf das Zeichen, so erhält man eine kurze Beschreibung als [[Tooltip]].''<br />
<br />
Gegebenenfalls steht jeweils links der [[Stimmlosigkeit|stimmlose]] und rechts der [[Stimmhaftigkeit|stimmhafte]] Konsonant.<br />
<br />
Dunkel hinterlegte Felder bezeichnen [[Physiologie|physiologisch]] unmögliche Artikulationen. Beispielsweise ist ein glottaler Nasal unmöglich, weil bei einem Verschluss der [[Stimmlippe]]n keine Luft durch die Nase ausströmen kann usw.<br />
<br />
==== [[Nichtpulmonaler Laut|Nicht-pulmonale Konsonanten]] ====<br />
{| cellpadding="6" align="center" cellspacing="0" border="0" width="100%"<br />
| style="vertical-align:top; width:33%" |<br />
{{IPA Klicks}}<br />
| style="vertical-align:top; width:33%" |<br />
{{IPA Implosive}}<br />
| style="vertical-align:top;width:33%" |<br />
{{IPA Ejektive}}<br />
|}<br />
<br />
=== Andere Symbole ===<br />
{| class="wikitable"<br />
|- style="background:#FFDEAD"<br />
! Zeichen<br />
! Unicode-Code<br />
! Bedeutung<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʍ}}<br />
| U+028D<br />
| [[stimmloser labiovelarer Frikativ]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|w}}<br />
| U+0077 (w)<br />
| [[stimmhafter labiovelarer Approximant]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ɥ}}<br />
| U+0265<br />
| [[stimmhafter labiopalataler Approximant]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʜ}}<br />
| U+029C<br />
| [[stimmloser epiglottaler Frikativ]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʢ}}<br />
| U+02A2<br />
| [[stimmhafter epiglottaler Frikativ]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʡ}}<br />
| U+02A1<br />
| [[stimmloser epiglottaler Plosiv]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ɺ}}<br />
| U+027A<br />
| [[stimmhafter lateraler alveolarer Flap]]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ɧ}}<br />
| U+0267<br />
| [[stimmloser velopalataler Frikativ]] ({{IPA-Phon|ʃ}} und {{IPA-Phon|x}} zugleich)<br />
|}<br />
<br />
=== Suprasegmentalia ===<br />
Von den [[Suprasegmentales Zeichen|Suprasegmentalen Zeichen]] stehen die Betonungszeichen ''vor'' der [[Silbe]], auf die sie sich beziehen, die Längezeichen danach.<br />
<br />
{{IPA Suprasegmentalia}}<br />
<br />
=== [[Tonsprache|Töne]] und [[Intonation (Phonetik)|Intonation]] ===<br />
{| class="wikitable"<br />
! style="background:#FFDEAD" width="200"| Zeichen<br />
! style="background:#FFDEAD" width="200"| Unicode-Code<br />
! style="background:#FFDEAD" width="200"| Bedeutung<br />
! style="background:#FFDEAD" width="200"| Beispiele<br />
|-<br />
| {{IPA|̋}} ([[Doppelakut]]) oder {{IPA-Zeichen|˥}}<br />
| U+030B oder U+02E5<br />
| besonders hoch<br />
| [{{IPA|e̋}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|́}} ([[Akut]]) oder {{IPA-Zeichen|˦}}<br />
| U+0301 oder U+02E6<br />
| hoch<br />
| {{IPA-Phon|é}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̄}} ([[Makron]]) oder {{IPA-Zeichen|˧}}<br />
| U+0304 oder U+02E7<br />
| mittel<br />
| {{IPA-Phon|ē}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̀}} ([[Gravis (Typografie)|Gravis]]) oder {{IPA-Zeichen|˨}}<br />
| U+0300 oder U+02E8<br />
| niedrig<br />
| {{IPA-Phon|è}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̏}} ([[Doppelgravis]]) oder {{IPA-Zeichen|˩}}<br />
| U+030F oder U+02E9<br />
| besonders niedrig<br />
| {{IPA-Phon|ȅ}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̌}} ([[Hatschek]])<br />
| U+030C<br />
| steigend<br />
| {{IPA-Phon|ě}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̂}} ([[Zirkumflex]])<br />
| U+0302<br />
| fallend<br />
| {{IPA-Phon|ê}}<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ꜜ}}<br />
| U+A71C<br />
| stufenweise abwärts / {{lang|en|''downstep''}}<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ꜛ}}<br />
| U+A71B<br />
| stufenweise aufwärts / {{lang|en|''upstep''}}<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|↗︎}}<br />
| U+2197<br />
| Generalanstieg / {{lang|en|''global rise''}}<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|↘︎}}<br />
| U+2198<br />
| Generalabfall / {{lang|en|''global fall''}}<br />
| &nbsp;<br />
|}<br />
<br />
Bemerkung:<br />
* Unicode hat keine eigenen Zeichen für die meisten [[Lexikalischer Ton|Konturtöne]]. Stattdessen werden Folgen aus Zeichen für [[Lexikalischer Ton|Registertöne]] verwendet und die genaue Darstellung wird der jeweiligen Schriftart überlassen, üblicherweise durch OpenType-Regeln: [{{IPA|e᷇ ḕ̄}}] oder [{{IPA|e˥˧ e˧˩˨}}] (in vielen Browsern nicht korrekt dargestellt). Weil nur sehr wenige Schriftarten die Kombinierung von Registerton-Zeichen erlauben, wird oft das alte System der Tonmarkierung durch hochgestellte Nummern von „1“ bis „5“ verwendet, beispielsweise [e<sup>53</sup> e<sup>312</sup>]. Deren Verwendung hängt allerdings von lokalen Linguistiktraditionen ab; bei asiatischen Sprachen wird „5“ für den höchsten Ton verwendet und „1“ für den tiefsten, bei den afrikanischen Sprachen umgekehrt. Gelegentlich ist noch eine alte IPA-Tradition anzutreffen, nach der die Konturtöne durch untergesetzte Diakritika bezeichnet werden: [{{IPA|e̖ e̗}}] für tief-fallend bzw. tief-steigend.<br />
<br />
=== [[Diakritisches Zeichen|Diakritika]] ===<br />
{| class="wikitable"<br />
! style="background:#FFDEAD" width="200"| Zeichen<br />
! style="background:#FFDEAD" width="100"| Unicode-Code<br />
! style="background:#FFDEAD" width="400"| Bedeutung<br />
! style="background:#FFDEAD" width="250"| Beispiele<br />
|-<br />
| colspan="4" style="background-color:#FFF1DB; text-align:left" | '''[[Phonation]]'''&nbsp; ''(Siehe auch Anmerkung am Ende der Tabelle)''<br />
|-<br />
| untergestellt:&nbsp;{{IPA|̥}}<br />
| style="text-align:center"| U+0325<br />
| rowspan="2" |<br />
[[Stimmlosigkeit|stimmlos]], bzw. entstimmt<br /><br />
stimmloses Sprechen eines normalerweise stimm''haften'' Lautes, z.&nbsp;B. weil er von zwei stimmlosen umschlossen ist.<br />
| ''S''ee [{{IPA|z̥eː}}] (südliches Deutsch)<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|̊}}<br />
| style="text-align:center"| U+030A<br />
| ''g''ut [{{IPA|ɡ̊uːt}}] (südliches Deutsch)<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̬}}<br />
| style="text-align:center"| U+032C<br />
| rowspan="2" |<br />
[[Stimmhaftigkeit|stimmhaft]]<br /><br />
Stimmhaftes Sprechen eines normalerweise stimm''losen'' Lautes.<br /><br />
| [{{IPA|s̬}}], [{{IPA|t̬}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|̌}}<br />
| style="text-align:center"| U+030C<br />
| {{IPA-Phon|ǧ}}<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA-Zeichen|ʰ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02B0<br />
| [[Aspiration (Phonetik)|aspiriert]]<br />
| ''T''asse [{{IPA|ˈtʰasə}}], [{{IPA|dʰ}}]<br />
|-<br />
| colspan="4" style="background-color:#FFF1DB; text-align:left" | '''Genauere Beschreibung der Artikulation eines Vokals'''<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̹}}<br />
| style="text-align:center"| U+0339<br />
| rowspan="2" | stärker [[Rundung (Phonetik)|gerundet]]<br />
| rowspan="2" | [{{IPA|ɔ̹}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|͗}}<br />
| style="text-align:center"| U+0357<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̜}}<br />
| style="text-align:center"| U+031C<br />
| rowspan="2" | weniger gerundet<br />
| rowspan="2" | [{{IPA|ɔ̜}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|͑}}<br />
| style="text-align:center"| U+0351<br />
|-<br />
| {{IPA|̟}}<br />
| style="text-align:center"| U+031F<br />
| weiter vorne<br />
| [{{IPA|u̟}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̠}}<br />
| style="text-align:center"| U+0320<br />
| weiter hinten<br />
| [{{IPA|i̠}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̈}}<br />
| style="text-align:center"| U+0308<br />
| [[Zentralisierung (Vokal)|zentralisiert]]<br />
| {{IPA-Phon|ë}}<br />
|-<br />
| {{IPA|̽}}<br />
| style="text-align:center"| U+033D<br />
| zur Mitte zentralisiert<br />
| [{{IPA|e̽}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̝}}<br />
| style="text-align:center"| U+031D<br />
| angehoben<br />
| [{{IPA|e̝}}]<br /><br />
|-<br />
| {{IPA|̞}}<br />
| style="text-align:center"| U+031E<br />
| gesenkt<br />
| [{{IPA|e̞}}]<br /><br />
|-<br />
| {{IPA|̘}}<br />
| style="text-align:center"| U+0318<br />
| vorverlagerte Zungenwurzel<br />
| [{{IPA|e̘}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̙}}<br />
| style="text-align:center"| U+0319<br />
| zurückverlagerte Zungenwurzel<br />
| [{{IPA|e̙}}]<br />
|-<br />
|<br />
{{IPA-Zeichen|˞}}<br /><br />
kombinierte Zeichen: {{IPA-Zeichen|ɚ}} (U+025A), {{IPA-Zeichen|ɝ}} (U+025D)<br />
| style="text-align:center"| U+02DE<br />
| [[Rhotizität|rhotisch]]<br />
| {{IPA-Phon|ɚ}}<br />
|-<br />
! colspan="4" style="background:#FFF1DB; text-align:left;"| Genauere Beschreibung des artikulierenden Organs bei Konsonanten<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̪}}<br />
| style="text-align:center"| U+032A<br />
| rowspan="2" | [[dental]]<br />
| rowspan="2" | [{{IPA|t̪}}], [{{IPA|d̪}}], [{{IPA|n̪}}], [{{IPA|l̪}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|͆}}<br />
| style="text-align:center"| U+0346<br />
|-<br />
| {{IPA|̼}}<br />
| style="text-align:center"| U+033C<br />
| [[linguolabial]]<br />
| [{{IPA|t̼}}], [{{IPA|d̼}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̺}}<br />
| style="text-align:center"| U+033A<br />
| [[Apikal (Linguistik)|apikal]]<br />
| [{{IPA|t̺}}], [{{IPA|d̺}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̻}}<br />
| style="text-align:center"| U+033B<br />
| [[laminal]]<br />
| [{{IPA|t̻}}], [{{IPA|d̻}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̃}}<br />
| style="text-align:center"| U+0303<br />
| [[Nasalierung|nasaliert]]<br />
| Ch''an''ce [{{IPA|ʃɑ̃ːsə}}]<br />
|-<br />
! colspan="4" style="background:#FFF1DB; text-align:left;"| Zusätzliche Engebildung<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʷ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02B7<br />
| [[Labialisierung|labialisiert]]<br />
| ''Gl''ück [{{IPA|gʷlʷʏkʰ}}]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ʲ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02B2<br />
| [[Palatalisierung|palatalisiert]]<br />
| [{{IPA|tʲ}}], [{{IPA|dʲ}}]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ˠ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02E0<br />
| [[Velarisierung|velarisiert]]<br />
| [{{IPA|tˠ}}], [{{IPA|dˠ}}]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ˁ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02C1<br />
| [[Pharyngalisierung|pharyngalisiert]]<br />
| [{{IPA|tˁ}}], [{{IPA|dˁ}}]<br />
|-<br />
|<br />
{{IPA|̴}}<br /><br />
kombinierte Zeichen: {{IPA-Zeichen|ɫ}} (U+026B)<br />
| style="text-align:center"| U+0334<br />
| velarisiert oder pharyngalisiert<br />
| {{IPA-Phon|ɫ}}<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ˀ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02C0<br />
| glottalisiert<br />
| &nbsp;<br />
|-<br />
! colspan="4" style="background:#FFF1DB; text-align:left;"| Art der Verschlusslösung für [[Plosiv]]e<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ⁿ}}<br />
| style="text-align:center"| U+207F<br />
| [[Nasal (Phonetik)|nasale]] Verschlusslösung<br />
| Re''dn''er [{{IPA|ˈʁeːdⁿnɐ}}]<br />
|-<br />
| {{IPA-Zeichen|ˡ}}<br />
| style="text-align:center"| U+02E1<br />
| [[Lateral (Phonetik)|laterale]] Verschlusslösung<br />
| Han''dl''ung [{{IPA|ˈhandˡlʊŋ}}]<br />
|-<br />
| {{IPA|̚}}<br />
| style="text-align:center"| U+031A<br />
| keine hörbare Verschlusslösung<br />
| sti''mm''t [{{IPA|ˈʃtɪm̚t}}]<br />
|-<br />
! colspan="4" style="background:#FFF1DB; text-align:left;"| [[Silbizität]]<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̩}}<br />
| style="text-align:center"| U+0329<br />
| rowspan="2" | [[silbisch]]<br />
| red''en'' [{{IPA|ˈʁeːdn̩}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|̍}}<br />
| style="text-align:center"| U+030D<br />
| Reg''en'' [{{IPA|ˈʁeːgⁿŋ̍}}]<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̯}}<br />
| style="text-align:center"| U+032F<br />
| rowspan="2" | [[nichtsilbisch]]<br />
| rowspan="2" | akt''u''ell [{{IPA|akˈtu̯ɛl}}]<br />Lib''y''en [{{IPA|ˈliːby̆ən}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|˘}}<br />
| style="text-align:center"| U+0311<br />
|-<br />
! colspan="4" style="background:#FFF1DB; text-align:left;"| Stimmqualität<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̤}}<br />
| style="text-align:center"| U+0324<br />
| rowspan="2" | behaucht<br />
| rowspan="2" | [{{IPA|b̤}}], [{{IPA|a̤}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|̈}}<br />
| style="text-align:center"| U+0308<br />
|-<br />
| untergestellt: {{IPA|̰}}<br />
| style="text-align:center"| U+0330<br />
| rowspan="2" | knarrig<br />
| rowspan="2" | [{{IPA|b̰}}], [{{IPA|a̰}}]<br />
|-<br />
| übergestellt: {{IPA|̃}}<br />
| style="text-align:center"| U+0303<br />
|}<br />
<br />
Anmerkung: Ob mit Diakritika versehene Zeichen Äquivalente zu dem jeweils anderen Zeichen der Artikulationsart und des Artikulationsortes sind, ist von der [[International Phonetic Association|IPA]] nicht vollständig festgelegt worden. Im „Handbuch der International Phonetic Association“ heißt es dazu: „Es ist strittig, ob [{{IPA|k̬}}] und {{IPA-Phon|g}} phonetisch identische Laute bezeichnen, und dasselbe gilt für {{IPA-Phon|s}} und [{{IPA|z̥}}]. Möglicherweise werden bei der Unterscheidung zwischen [{{IPA|k̬}}] und {{IPA-Phon|g}} oder {{IPA-Phon|s}} und [{{IPA|z̥}}] unterschiedliche Dimensionen einbezogen, die von der Stimmbandvibration unabhängig sind, wie etwa Gespanntheit gegenüber Ungespanntheit in der Artikulation, sodass die Möglichkeit, Stimmhaftigkeit separat zu bezeichnen, wichtig wird. Es kann aber in jedem Fall vorteilhaft sein, wenn man in der Lage ist, die lexikalische Form eines Wortes beizubehalten […].“<br />
<br />
Zeichen mit Unterlänge können durch ein übergestelltes Diakritikum ausgezeichnet werden. Standardmäßig sollte jedoch mit untergestellten Diakritika ausgezeichnet werden, wenn beide Möglichkeiten bestehen.<br />
<br />
== Alternative Notationen ==<br />
=== Ältere Notationen ===<br />
Das IPA ist nicht das einzige System zur Notation von Sprachlauten. Im Laufe der Zeit hat es einige Versuche gegeben, Laute exakter darzustellen als in herkömmlicher Rechtschreibung. Schon 1855 veröffentlichte der deutsche Ägyptologe [[Karl Richard Lepsius]] sein [[Lepsius-Alphabet|Standardalphabet]] „zur Darstellung ungeschriebener Sprachen und fremder Zeichensysteme in einer einheitlichen Orthographie in europäischen Buchstaben“. Überarbeitet erschien das Werk 1863 außer auf Deutsch auch auf Englisch<!--''Standard alphabet for reducing unwritten languages and foreign graphic systems to a uniform orthography in European letters''-->. Zeitgenössische Texte über die Laute der menschlichen Sprache belegen, dass dieses Standardalphabet als Lautschrift aufgefasst wurde. Einige seiner Zeichen sind in das IPA-Alphabet eingegangen. Für deutsche Transliterationen (also Wiedergaben der Schreibung) wurde seine an der [[Tschechische Sprache|tschechischen]] Orthographie orientierte Unterscheidung verschieden artikulierter Zischlaute übernommen, nicht aber in die IPA-Lautschrift.<br />
<br />
[[Alexander Melville Bell]] stellte demgegenüber 1867 in seinem System der [[Visible Speech]] eine ''ikonische Notation'' vor, bei der einzelne Merkmale eines Lautes (z.&nbsp;B. die Rundung der Lippen und dergleichen) im Zeichen selbst abgebildet werden. Andere Versuche in Richtung einer ''analphabetischen Notation'' wurden von den Linguisten [[Otto Jespersen]] (1889) oder [[Kenneth L. Pike]] (1943) unternommen. Dadurch, dass in diesen Systemen die einzelnen Stellungen der Sprechwerkzeuge unabhängig voneinander angegeben werden können, lassen sich Lautnuancen viel feiner kodieren.<br />
<br />
In der deutschen und romanistischen Dialektologie ist auch heute noch die [[Teuthonista (Lautschrift)|Teuthonista]]-Transkription üblich. Die Teuthonista ist 1924/25 von Hermann Teuchert in der dialektologischen Zeitschrift Teuthonista präsentiert worden und baut mit einem Bezug auf Karl Richard Lepsius’ Standardalphabet im Wesentlichen auf dem lateinischen Alphabet auf. Da ähnliche Vorschläge in der Romania von [[Graziadio Isaia Ascoli]] und [[Eduard Böhmer (Romanist)|Eduard Böhmer]] vorgestellt worden sind, sind die Teuthonista- und die Böhmer-Ascoli-Transkription heute weitgehend zusammengefallen.<br />
<br />
=== IPA in Sprachtechnologie und Internet: SAMPA, X-SAMPA und Kirshenbaum ===<br />
Mit den Notationen [[SAMPA]] (für 7 europäische Sprachen) und [[X-SAMPA]] (die SAMPA-Erweiterung für das vollständige IPA) wurden von europäischen Phonetikern und Sprachingenieuren im Rahmen von multilingualen sprachtechnologischen EU-Forschungsprojekten in den 1980er Jahren Alphabete entwickelt, mittels derer IPA-Zeichen im [[ASCII]]-Code geschrieben werden konnten. Diese Notationen, die das IPA exakt abbilden und in der Sprachtechnologie sehr verbreitet sind, dienen folgenden Zwecken:<br />
* Austausch phonetischer Daten (Transkriptionsdateien und Sprachsignal-Annotationsdateien) in einfacher Textform.<br />
* Einfache programmiertechnische Verarbeitung von Transkriptionen in der automatischen Spracherkennung und in der Sprachsynthese.<br />
* Einfache Überprüfung und Redaktion phonetischer Daten bei gleichzeitiger maschineller Lesbarkeit.<br />
* Tastaturfreundliche Eingabe aller mit dem IPA darstellbaren Laute.<br />
<br />
Diese Notationen wurden nicht für die allgemeine Darstellung des IPA in Veröffentlichungen entworfen, werden aber häufig in technisch-wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Datendarstellung verwendet. Für allgemeine Veröffentlichungszwecke, auch im Internet, sind standardisierte [[Unicode]]-Zeichensätze, die eher Text-Ausgabe- als -Eingabe-orientiert sind, besser geeignet. Unabhängig von SAMPA und X-SAMPA wurde von Internetznutzern in den frühen 1990er Jahren das ähnliche [[Kirshenbaum]]-Alphabet entwickelt, das sich jedoch nicht durchsetzen konnte. In den USA werden vorwiegend für die englische Sprache häufig das „Klattbet“ oder das „Arpabet“ in der Sprachtechnologie verwendet.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Liste der IPA-Zeichen]] <!--wird hier leichter gefunden--><br />
* [[Liste ehemaliger IPA-Zeichen]]<br />
* [[IPA in Unicode]]<br />
* [[Uralisches Phonetisches Alphabet]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* ''Handbook of the International Phonetic Association: A guide to the use of the International Phonetic Alphabet''. Cambridge University Press (1999). ISBN 978-0-521-65236-0.<br />
* M. Duckworth, G. Allen, W. Hardcastle, M. J. Ball: ''Extensions to the International Phonetic Alphabet for the transcription of atypical speech.'' In: ''Clinical Linguistics and Phonetics.'' Taylor & Francis, London 4.1990, S. 273–280. {{ISSN|0269-9206}}<br />
* J. Alan Kemp: The history and development of a universal phonetic alphabet in the 19th century. From the beginnings to the establishment of the IPA. In: Sylvain Auroux, E. F. K. Koerner, Hans-Josef Niederehe, [[Kees Versteegh]] (Hrsg.): ''History of the Language Sciences. Geschichte der Sprachwissenschaften. Histoire des sciences du langage''. Berlin / New York: Walter de Gruyter, 2001; ISBN 3-11-016735-2. S.&nbsp;1572–1584.<br />
* William A. Ladusaw und [[Geoffrey Pullum]]: ''Phonetic Symbol Guide.'' University of Chicago Press, 1996, ISBN 0-226-68535-7.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary}}<br />
{{Wiktionary|IPA}}<br />
{{Commons|International Phonetic Alphabet|Internationales Phonetisches Alphabet}}<br />
* {{Toter Link | date=2019-08-02 | url= http://ipatrainer.com/user/site/?language=de |text= IPA Trainer Online Applikation zum Üben von Phonetik und Transkription}}<br />
* [http://www.internationalphoneticassociation.org/ Website der International Phonetic Association]<br />
* [http://www.yorku.ca/earmstro/ipa/ IPA Charts] – interaktive Darstellung der Laute<br />
* [http://www.unicode.org/versions/Unicode5.0.0/ch07.pdf#G2970 The Unicode Standard&nbsp;5.0, Section&nbsp;7.1: ''IPA Extensions: U+0250-U+02AF''] (PDF-Datei; 670&nbsp;kB)<br />
* [http://www.unicode.org/versions/Unicode5.0.0/ch07.pdf#G5851 The Unicode Standard&nbsp;5.0, Section&nbsp;7.1: ''Spacing Modifier Letters: U+02B0-U+02FF''] (PDF-Datei; 670&nbsp;kB)<br />
* [http://www.unicode.org/charts/PDF/U0250.pdf The Unicode Standard&nbsp;5.0, Code Chart ''IPA Extensions''] (PDF-Datei; 127&nbsp;kB)<br />
* [http://www.unicode.org/charts/PDF/U02B0.pdf The Unicode Standard&nbsp;5.0, Code Chart ''Spacing Modifier Letters''] (PDF-Datei; 98&nbsp;kB)<br />
* [http://www.unicode.org/charts/PDF/U2070.pdf The Unicode Standard&nbsp;5.0, Code Chart ''Superscripts and Subscripts''] (PDF-Datei; 69&nbsp;kB)<br />
* [http://www.lfsag.unito.it/ipa/index_en.html IPA-Tabelle mit Tonaufnahmen] vom Phonetischen Laboratorium der Universität Turin, Italien<br />
* [http://r12a.github.io/pickers/ipa/ Texte aus IPA-Symbolen interaktiv zusammenstellen]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4421853-9}}<br />
<br />
[[Kategorie:Phonetisches Alphabet]]<br />
[[Kategorie:Phonologie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Lexikalischer_Ton&diff=193466757Lexikalischer Ton2019-10-26T07:22:54Z<p>Udo.bellack: fix emphase</p>
<hr />
<div>'''Lexikalischer Ton''' ist ein Begriff der [[Prosodie]] und bezeichnet die Nutzung der Höhe oder des Verlaufs der [[Grundfrequenz]] einer [[Silbe]] als distinktives Merkmal der [[Morphem|Morpheme]] <ref>{{Internetquelle |autor=Christian Lehmann |url=https://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/phon/index.html |titel=Phonetik und Phonologie, Abschnitt 15 Prosodie |werk= |hrsg= |datum= |abruf=2019-10-26 |sprache=}}</ref> Man unterscheidet zwischen einem '''Registerton''' mit konstanter Höhe und einem '''Konturton''', der während seiner Dauer die Höhe wechselt. Konturtöne sind ein markantes [[Charakteristikum]] der [[Tonsprache|Tonsprachen]], ein bekanntes Beispiel sind die [[Chinesische Sprachen|Chinesischen Sprachen]].</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Prosodie&diff=193466730Prosodie2019-10-26T07:21:11Z<p>Udo.bellack: link auf lexikalischen Ton</p>
<hr />
<div>{{Begriffsklärungshinweis}}<br />
'''Prosodie''' ist die Gesamtheit derjenigen lautlichen Eigenschaften der Sprache, die nicht an den Laut bzw. ans [[Phonem]] als minimales Segment, sondern an umfassendere lautliche Einheiten gebunden sind. Dazu zählen folgende Eigenschaften:<br />
<br />
# [[Akzent (Linguistik)|Wort- und Satzakzent]]<br />
# der auf Wortsilben ruhende [[lexikalischer Ton|lexikalische Ton]] in [[Tonsprache|Tonsprachen]]<br />
# [[Intonation (Phonetik)|Intonation]] (von Einheiten von mehr als Silbenumfang) und [[Satzmelodie]]<br />
# [[Quantität]] aller lautlichen Einheiten, vor allem derjenigen von mehr als Segmentumfang<br />
# Tempo, [[Sprechrhythmus|Rhythmus]] und Pausen beim Sprechen.<br />
<br />
Teile werden durch die umgangssprachlichen Ausdrücke Betonung und Tonfall bezeichnet, die allerdings keine Termini sind.<br />
<br />
Wie viele Termini dieser Art bezeichnet ''Prosodie'' sowohl einen Ausschnitt des Objektbereichs — also die genannten sprachlichen Eigenschaften — als auch eine Subdisziplin einer wissenschaftlichen Disziplin — in diesem Falle der [[Phonologie]] und der [[Phonetik]]. Entsprechend ist Prosodie Gegenstand sowohl der [[Linguistik]] als auch der Phonetik.<br />
<br />
== Herkunft des Ausdrucks ==<br />
{{Quellen fehlen}}<br />
Der Ausdruck ''Prosodie'' (auch ''Prosodik'') ist ein Fremdwort von lateinisch ''prosodia'' aus griechisch ''prosōdía'' (προσῳδία). Die enthaltenen Wurzeln sind ''pros'' (πρός) ‚hinzu‘ und ''ōd-'' (ᾠδ-) ‚singen‘; die Grundbedeutung ist also etwa ‚Hinzugesang‘. Der Begriff bezog sich vor allem auf das phonetisch richtige Vorlesen von Dichtung und umfasste auch den oben mitaufgeführten Ton. Auf dem griechischen Ausdruck basiert die lateinische [[Lehnübersetzung]] ''accentus''. Da es jedoch im Lateinischen keinen Ton in diesem Sinne gibt, wurde der Begriff ''accentus'' auch eingeengt auf den Teil der Prosodie, den auch der Terminus „Akzent“ bezeichnet.<br />
<br />
== Suprasegmentalia ==<br />
Da die Eigenschaften, die unter Prosodie fallen, eben das gemeinsam haben, dass sie auf einer lautlichen Ebene „oberhalb“ des Segments angesiedelt sind, werden sie auch [[suprasegmentale Merkmale]] (Suprasegmentalia) genannt. Entsprechend unterscheidet man die segmentale von der suprasegmentalen Ebene. z.&nbsp;B. sind die deutschen Wörter ''umfahren'' ‚[etwas] durch Dagegenfahren zu Fall bringen‘ und ''umfahren'' ‚um [etwas] herumfahren‘ auf der segmentalen Ebene gleich zusammengesetzt (und auch [[homograph]]), auf der suprasegmentalen jedoch verschieden (und daher nicht [[homophon]]); denn das erstere hat den Wortakzent auf der ersten, das letztere dagegen auf der zweiten Silbe.<br />
<br />
Die Suprasegmentalia haben im Einzelnen folgende akustische Basis:<br />
<br />
# Akzent: Schallintensität, also in erster Linie relative Lautstärke, in zweiter relative Tonhöhe<br />
# Ton: relative Tonhöhe (Grundfrequenz) und deren Verlauf innerhalb der Silbe<br />
# Intonation und Satzmelodie: Verlauf der Tonhöhe über syntaktischen Einheiten<br />
# Quantität: relative zeitliche Dauer sprachlicher Einheiten<br />
# Tempo, Rhythmus und Pausen: Zuweisung von sprachlichen Einheiten und deren Akzent zu aufeinander folgenden Zeitspannen.<br />
<br />
Die Termini werden im folgenden Abschnitt erläutert.<br />
<br />
== Prosodische, psychoakustische, akustische und schriftsprachliche Merkmale ==<br />
Die prosodischen Merkmale (bzw. Teilgebiete) Intonation, Sprechrhythmus und Akzent werden generell mit psychoakustischen Merkmalen und akustischen, also physikalisch messbaren Merkmalen beschrieben. Zudem findet sich eine Korrelation der prosodischen Merkmale mit Hervorhebungsmöglichkeiten in der [[Geschriebene Sprache|Schriftsprache]].<br />
<br />
=== Prosodie und Akustik ===<br />
In der [[Akustik]] werden die Phänomene und Eigenschaften von Schallwellen untersucht. Da Sprache auf Schallübertragung basiert und Prosodie ein Teil der Sprache ist, müssen auch prosodische Merkmale mit akustischen Merkmalen korreliert sein. Untersuchungsgegenstand ist also das Sprachsignal. Akustisch messbare Eigenschaften können in der automatischen [[Prosodieerkennung]], [[Sprechererkennung]] und [[Sprecherverifikation]] genutzt werden – die gemessenen Eigenschaften werden dann zu [[Merkmalsvektor|Merkmalen]] für eine [[Mustererkennung]] weiterverarbeitet.<br />
<br />
==== Grundfrequenz ====<br />
Die Intonation einer Sprache lässt sich akustisch gesehen mit der [[Grundfrequenz]] (Einheit ist [[Hertz (Einheit)|Hertz]]) einer Stimme beschreiben (bzw. dem Verlauf der Grundfrequenz, sogenannten Grundfrequenzkonturen).<br />
<br />
==== Dauer ====<br />
Prosodische Dauermerkmale wie Rhythmus, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Gedehntheit etc. lassen sich durch Messung der zeitlichen Länge dieser Signalabschnitte oder durch Bildung von [[Mittelwert]]en (mittlere Sprechgeschwindigkeit) messen. Oft werden zum Beispiel erst inkrementell Phonemlängen bestimmt und daraus dann Silbenlängen. Da sich diese Längen von Sprecher zu Sprecher unterscheiden können, müssen diese Längen normiert werden.<br />
<br />
==== Energie ====<br />
Energiemerkmale beschreiben die [[Schallintensität]] (in&nbsp;[[Dezibel|dB]]) eines Sprachsignals. In der Mustererkennung wird oft die Momentanenergie auf Frameebene berechnet, also die Energie in einem kleinen Ausschnitt des Sprachsignals. Mittels dieser Energiemerkmale kann zum Beispiel erkannt werden, ob ein Sprachsignalabschnitt eine Stimme oder nur Stille enthält (Unterscheidung zwischen stimmhaft und stimmlos). In der Internettelefonie [[VoIP]] werden so Abschnitte, welche keine Stimme enthalten, gar nicht erst übertragen, um Bandbreite zu sparen (allerdings bezeichnet man in der Technik die relevante Messgröße als [[Amplitude]]).<br />
<br />
=== Prosodie und Psychoakustik ===<br />
In der [[Psychoakustik]] werden menschliche Wahrnehmungen in Vergleichsexperimenten mit akustischen Einheiten in Zusammenhang gebracht.<br />
<br />
==== Tonhöhe ====<br />
{{Hauptartikel|Tonhöhe}}<br />
Die Tonhöhe oder die Tonlage beschreiben die wahrgenommene Höhe eines Tons verglichen mit einem 1-kHz-Signal einer bestimmten Schallintensität. Sie wird in [[Hörversuch]]en festgestellt. Die empfundene Tonhöhe steht in einem nichtlinearen Verhältnis zur Frequenz eines Tons. Bis 500&nbsp;Hz ist auf der [[Eberhard Zwicker|Zwickerskala]] noch ein lineares Verhältnis vorhanden, dann führt jedoch eine Verdopplung der Frequenz eines Tons nicht mehr zu einer Verdopplung der wahrgenommenen Tonhöhe. Die Einheit der Tonhöhe ist [[mel]]. Die Veränderungen in der Tonhöhe korrelieren in der Prosodie mit der Intonation.<br />
<br />
==== Lautheit ====<br />
Die Lautheit ist eine Empfindungsgröße, die ebenfalls in Hörversuchen festgestellt wird, weil sie nicht nur vom Schalldruck, sondern auch von der Frequenz und weiteren Einflussfaktoren abhängt.<br />
Die Einheit der Lautheit ist [[sone]]. Ein sone ist definiert als die empfundene Lautstärke eines 1000-Hz-Sinustons bei 40&nbsp;dB SPL ([[Schalldruckpegel]], Sound Pressure Level).<br />
<br />
Unterschiede in der wahrgenommenen Lautheit werden in der Prosodie oft zur Akzentuierung eingesetzt.<br />
<br />
=== Prosodie und Schriftsprache ===<br />
In der Schriftsprache korrelieren [[Schriftauszeichnung]] (kursiv, fett, Schriftgröße, Schriftart) mit dem prosodischen Merkmal [[Akzent (Aussprache)|Akzent]] und der [[Intonation (Phonetik)|Intonation]], [[Interpunktion]] mit dem [[Sprechrhythmus]] sowie mit Pausen. So wird nach einem Punkt oder einem Komma oft auch eine sprachliche Pause eingelegt. Auch Gedankenstriche, die einen Satzteil einschieben, werden oft beim Lesen durch Pausen ersetzt und mit veränderter Intonation gelesen. Fragezeichen oder Rufzeichen markieren Frage- bzw. Ausrufesätze und werden ebenfalls durch spezielle Intonation am Ende des Satzes markiert.<br />
<br />
== Funktionen der Prosodie ==<br />
<br />
=== Sprachliche und parasprachliche Funktionen ===<br />
Man unterscheidet zwischen sprachlichen (zum einzelnen Sprachsystem gehörigen) und parasprachlichen (sonstigen kommunikativen) Funktionen der Prosodie. Zu den rein '''sprachlichen Funktionen''' zählen die folgenden:<br />
<br />
* Wortakzent und Ton unterscheiden Wörter in ihrer Bedeutung.<br />
* Die Intonation kann [[Satzart|Satztypen]] voneinander unterscheiden, z.&nbsp;B. den [[Deklarativsatz]] und den [[Fragesatz|Interrogativsatz]] im Deutschen.<br />
* Pausen, Rhythmus und Intonation unterteilen die Rede in sinnvolle Abschnitte, darunter auch in syntaktische Einheiten.<br />
* Satzakzent, Intonation und Pausen kodieren die [[Informationsstruktur]] einer Äußerung, insbesondere [[Topik (Linguistik)|Topik]] und [[Fokus (Linguistik)|Fokus]]. Der Satzakzent hebt einen Ausdruck gegenüber im Satz benachbarten hervor und dient der [[Emphase]].<br />
<br />
Diese Funktionen sind auf allen sprachlichen Ebenen zwischen Wort und Text angesiedelt. Daher lässt sich die Prosodie nicht einer bestimmten grammatischen Ebene zuordnen.<br />
<br />
Die '''parasprachlichen Funktionen''' der Prosodie lassen sich wie folgt systematisieren:<br />
<br />
* Die Sprechmelodie / der Tonfall verleiht Emotionen Ausdruck und kodiert auch [[Ironie]].<br />
* Sprachen und [[Varietät (Linguistik)|Varietäten]] (Dialekte, Soziolekte, Register) einer Sprache unterscheiden sich in prosodischer Hinsicht. Suprasegmentalia charakterisieren die Rede von Angehörigen einer Sprachgemeinschaft ähnlich wie ihr Lautsystem, ihre Wortwahl oder andere sprachliche Eigenschaften. Daher kann man anhand ihrer die Sprechweise einer Person einer solchen Varietät zuordnen.<br />
* Da prosodische Merkmale mit der Stimme und dem Artikulationsapparat hervorgebracht werden und da diese physiologische Eigenschaften einer Person sind, können sie diese (nach Geschlecht, Alter usw.) charakterisieren und sogar identifizieren.<br />
<br />
Auf prosodischen Merkmalen wie den beiden letztgenannten beruht es z.&nbsp;B., wenn man jemanden am Telefon erkennt. Auch [[Imitator]]en machen sie sich zunutze.<br />
<br />
In der sprachlichen Prosodie spielen nur relative Unterschiede, also z.&nbsp;B. die relative Tonhöhe am Ende eines Interrogativsatzes, eine Rolle. In der parasprachlichen Prosodie geht es auch um absolute Unterschiede, z.&nbsp;B. die unterschiedliche Grundfrequenz, mit der ein Junge und ein Mann sprechen.<br />
<br />
=== Korrelation prosodischer Merkmale ===<br />
Prosodische Eigenschaften wie Veränderungen in der Intonation, in der Lautstärke und im Rhythmus treten oft synchron auf statt einzeln, sind also korreliert. So wird die Hervorhebung eines Wortes zum Beispiel dadurch erreicht, dass die Intonation (bzw. die [[Tonhöhe]]) verändert wird, die Sprechgeschwindigkeit gleichzeitig reduziert wird (zum Beispiel in dem vor dem Wort eine Sprechpause eingelegt wird) und das Wort mit erhöhter Lautstärke ausgesprochen wird.<br />
<br />
=== Auflösung von Ambiguitäten ===<br />
Im Sprachsystem sind suprasegmentale Merkmale ebenso [[Distinktives Merkmal|distinktiv]] wie segmentale. Ebenso also, wie zwei Ausdrücke — z.&nbsp;B. ''tut'' und ''tot'' — sich bloß in einem segmentalen Merkmal unterscheiden können, können sie sich auch bloß in einem suprasegmentalen Merkmal unterscheiden — wie die schon angeführten zwei Verben, die ''umfahren'' geschrieben werden. Da die Schrift die Prosodie nur unvollkommen wiedergibt, lassen sich gewisse Ambiguitäten schriftlicher Texte auf verschiedenen sprachlichen Ebenen bei mündlicher Wiedergabe mithilfe der Prosodie auflösen.<br />
<br />
==== Syntaktische Ebene ====<br />
Die Wortfolge<br />
<br />
* Erna kommt nicht aber Erwin.<br />
<br />
entspricht zwei verschiedenen syntaktischen Konstruktionen, nämlich<br />
<br />
a) Erna kommt, nicht aber Erwin.<br />
<br />
b) Erna kommt nicht, aber Erwin.<br />
<br />
Die beiden Versionen unterscheiden sich u.&nbsp;a. darin, dass #a Pause hinter ''kommt'', #b jedoch Pause hinter ''nicht'' hat. In diesem Falle reflektiert die Interpunktion die Prosodie.<br />
<br />
Die Wortfolge<br />
<br />
* Der Mann sah die Frau mit dem Fernglas.<br />
<br />
entspricht zwei verschiedenen syntaktischen Konstruktionen, nämlich<br />
<br />
a) der Mann sah [ die Frau mit dem Fernglas ] (die mit Fernglas ausgestattete Frau)<br />
<br />
b) der Mann sah [ die Frau ] [ mit dem Fernglas ] (er blickte durch ein Fernglas)<br />
<br />
Diese beiden Versionen sind in gewöhnlicher Sprechweise nicht einmal durch die Prosodie verschieden. Man kann aber versuchen, Version #b durch starken Intonationsbruch mit Pause hinter ''Frau'' zu verdeutlichen.<br />
<br />
==== Lexikalische Ebene ====<br />
Neben solchen Paaren wie den homographen, nicht jedoch homophonen Verben ''umfahren'' stehen im Deutschen weitere wie ''übersetzen'', ''unterstellen'', ''überlaufen'' usw. (Sie sind übrigens nur in einigen Flexionsformen homograph, nicht jedoch z.&nbsp;B. im Partizip: ''(hat) übersetzt'' vs. ''übergesetzt''.) Außerdem gibt es Homographen wie ''Tenor'', was mit Akzent auf der ersten Silbe "Gehalt", mit Akzent auf der zweiten jedoch "hohe männliche Stimmlage" bedeutet.<br />
<br />
==== Pragmatische Ebene ====<br />
* Das ist aber kalt hier.<br />
<br />
Je nach Aussprache des Satzes kann angedeutet werden, dass es nur eine Aussage über die Temperatur ist (monotone Stimme), eine Aufforderung, ein Fenster zu schließen (negative Klangfarbe, Betonung des Wortes ''kalt'') oder nur die Klage über diesen als negativ empfundenen Zustand, der nicht zu ändern ist. Durch eine starke Betonung auf dem Wort „Das“ kann die Aussage auch ironisch gemeint sein. Somit kann die Funktion eines [[Sprechakt]]es besser verdeutlicht werden.<br />
<br />
==== Dialogebene ====<br />
Auf Dialogebene lassen sich Satz- oder Phrasengrenzen markieren, sodass Dialoge in sinnvolle Abschnitte unterteilt werden können. So können sprachliche Handlungen strukturiert werden. Bekannte Informationen werden dabei deakzentuiert (gleichbleibende Intonation), wichtige Informationen jedoch akzentuiert.<br />
<br />
== Prosodieebenen ==<br />
Nach [[Hans Günther Tillmann]] unterscheidet man zwischen A-, B- und C-Prosodie.<br />
<br />
=== A-Prosodie ===<br />
Die A-Prosodie kann vom Sprecher willkürlich gesteuert werden. Parameter der A-Prosodie sind unter anderem die Intonation, Pausen und Lautstärkeänderungen. Mit Hilfe der A-Prosodie werden beispielsweise die Satzintention übermittelt und Betonungen gesetzt. Des Weiteren dient sie der Auflösung von syntaktischen und lexikalischen Ambiguitäten. Auch die Gefühle und die körperliche Verfassung des Sprechers können durch die A-Prosodie übermittelt werden.<br />
<br />
Sprache, aus der man die A-Prosodie entfernt, wird allgemein als [[Computerstimme]] empfunden.<br />
<br />
=== B-Prosodie ===<br />
Die B-Prosodie wird unwillkürlich erzeugt und bezeichnet den der Muttersprache eigenen Silbenrhythmus. Sie regelt die Abfolge von [[stimmhaft]]en und [[stimmlos]]en Abschnitten. Durch die B-Prosodie erkennen wir ein Signal als Sprache.<br />
<br />
=== C-Prosodie ===<br />
Die C-Prosodie bezeichnet die intrinsische dynamische Struktur der Sprachlaute, das heißt beispielsweise die korrekten Übergänge zwischen benachbarten Lauten, die Abfolge von Pause, Burst und [[Aspiration (Phonetik)|Aspiration]] bei [[Plosiv]]en oder das Zusammenspiel von [[stimmhaft]]er Anregung und Friktion bei stimmhaften [[Frikativ]]en.<br />
<br />
== Mikroprosodie ==<br />
Die [[Mikroprosodie]] betrachtet Schwankungen im Sprachsignal, wie zum Beispiel [[Mikroprosodie#Jitter|Jitter]] und [[Mikroprosodie#Shimmer|Shimmer]]. Diese Schwankungen sind vor allem in verrauschten Sprachsignalen zu finden. In der Medizin lassen sich allein aus der Messung des ''jitter'' und des ''shimmer'' Rückschlüsse auf das Vorliegen von Rachenkrankheiten oder Kehlkopfentzündungen schließen (zum Beispiel Kehlkopfkrebs im Frühstadium).<br />
<br />
== Störungen der Prosodie ==<br />
Störungen der Prosodie sind unter anderem im [[Autismus]]spektrum geläufig, besonders beim [[Asperger-Syndrom]].<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Akuem (Phonetik)]]<br />
* [[Aprosodie]]<br />
* [[Chronem]]<br />
* [[Computerlinguistik]]<br />
* [[gesprochene Sprache]]<br />
* [[Parasprache]]<br />
* [[Satzakzent]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Hans Günther Tillmann, Phil Mansell: ''Phonetik. Lautsprachliche Zeichen, Sprachsignale und lautsprachlicher Kommunikationsprozeß.'' Klett-Cotta, Stuttgart 1980, ISBN 3-12-937910-X.<br />
* [[Hadumod Bußmann]] (Hrsg.): ''Lexikon der Sprachwissenschaft.'' 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Alfred Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-45203-0.<br />
* Wolfgang Hess: {{Webarchiv | url=http://www.ikp.uni-bonn.de/lehre/informationen-materialien/informationen-und-materialien-kopho/materialien-1/hess/prosodie/prosodie | wayback=20100628051123 | text=''Prosodie''}}. (Foliendokumentationen einer Vorlesung an der Universität Bonn; archiviert am 28. Juni 2010, abgerufen am 18. August 2019).<br />
* [[Eberhard Zwicker]], H. Fastl: ''Psychoacoustics. Facts and Models.'' 2., aktualisierte Auflage. Springer, Berlin u. a. 1999, ISBN 3-540-65063-6 (''Springer series in information sciences'' 22).<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary}}<br />
* [http://kaltric.de/mat/matlingu/prosodie/ Prosodische Kontrastakzente in typologisch diversen Sprachen.]<br />
* [http://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/phon/15_prosodie.php Kapitel über Prosodie des Kurses 'Phonetik und Phonologie' von Christian Lehmann]<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4047500-1}}<br />
<br />
[[Kategorie:Verslehre]]<br />
[[Kategorie:Rhetorik]]<br />
[[Kategorie:Phonetik]]<br />
[[Kategorie:Klinische Linguistik]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Lexikalischer_Ton&diff=193466672Lexikalischer Ton2019-10-26T07:18:13Z<p>Udo.bellack: initial</p>
<hr />
<div><nowiki>'''Lexikalischer Ton'''</nowiki> ist ein Begriff der [[Prosodie]] und bezeichnet die Nutzung der Höhe oder des Verlaufs der [[Grundfrequenz]] einer [[Silbe]] als distinktives Merkmal der [[Morphem|Morpheme]] <ref>{{Internetquelle |autor=Christian Lehmann |url=https://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/phon/index.html |titel=Phonetik und Phonologie, Abschnitt 15 Prosodie |werk= |hrsg= |datum= |abruf=2019-10-26 |sprache=}}</ref> Man unterscheidet zwischen einem <nowiki>'''Registerton''' mit konstanter Höhe und einem '''Konturton'''</nowiki>, der während seiner Dauer die Höhe wechselt. Konturtöne sind ein markantes [[Charakteristikum]] der [[Tonsprache|Tonsprachen]], ein bekanntes Beispiel sind die [[Chinesische Sprachen|Chinesischen Sprachen]].</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ellipse&diff=192699628Ellipse2019-09-29T11:58:53Z<p>Udo.bellack: /* Tangente */ link auf Implizite Differentiation</p>
<hr />
<div>{{Dieser Artikel|behandelt die geometrische Figur der Ellipse, zu anderen Bedeutungen siehe [[Ellipse (Begriffsklärung)]]. Zur algebraischen Kurve siehe [[Elliptische Kurve]].}}<br />
[[Datei:01-Ellipse-vertikal.svg|mini|hochkant=1.0|Ellipse mit Mittelpunkt <math>M</math>, Brennpunkten <math>F_1</math> und <math>F_2</math>, Scheitelpunkten <math>S_1, \dotsc, S_4</math>, Hauptachse (rot) und Nebenachse (grün)]]<br />
[[Datei:Ellipse-conic.svg|mini|Eine Ellipse (rot) als Schnitt einer geneigten Ebene mit einem [[Kegel (Geometrie)|Kegel]]]]<br />
[[Datei:01-Ellipse-Kegelschnitt.svg|mini|hochkant=1.4|Ellipse als Kegelschnitt.<br /><br />
Die Mittelachse des Kegels ist soweit geneigt, dass die Schnittebene einer [[Lotrichtung|vertikalen Linie]] entspricht; damit zeigt sich in der [[Normalprojektion#Ansichten|Seitenansicht von rechts]] die Ellipse in wahrer Größe.]]<br />
[[Datei:Saturn - Lord of the Rings.jpg|mini|Die [[Ringe des Saturn|Saturnringe]] erscheinen elliptisch.]]<br />
'''Ellipsen''' sind in der Geometrie spezielle geschlossene [[Oval (Geometrie)|ovale]] [[Kurve (Mathematik)|Kurven]]. Sie zählen neben den [[Parabel (Mathematik)|Parabeln]] und den [[Hyperbel (Mathematik)|Hyperbeln]] zu den [[Kegelschnitt]]en. Eine anschauliche Definition ist die Definition der [[#Definition einer Ellipse als geometrischer Ort|Ellipse als Punktmenge]].<br />
<br />
In der Natur treten Ellipsen in Form von ungestörten [[Keplersche Gesetze|keplerschen]] [[Planetenbahn]]en um die [[Sonne]] auf. Auch beim Zeichnen von [[Schrägbild]]ern werden häufig Ellipsen benötigt, da ein Kreis durch eine [[Parallelprojektion]] im Allgemeinen auf eine Ellipse abgebildet wird (s. [[Ellipse (Darstellende Geometrie)]]).<br />
<br />
Die Ellipse (von {{grcS|prefix=nein|ἔλλειψις|élleipsis}} ‚Mangel‘) wurde von [[Apollonios von Perge]] (etwa 262–190 v. Chr.)<ref>Peter Proff: ''Die Deutung der Begriffe „Ellipse“, „Parabel“ und „Hyperbel“ nach Apollonios v. Perge.'' In: ''„gelêrter der arzeniê, ouch apotêker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Willem F. Daems.'' Hrsg. von Gundolf Keil, Horst Wellm Verlag, Pattensen/Hannover 1982 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 24), ISBN 3-921456-35-5, S. 17–34; hier S. 17.</ref> eingeführt und benannt, die Bezeichnung bezieht sich auf die [[Exzentrizität (Mathematik)|Exzentrizität]] <math>\varepsilon < 1</math>.<ref>I. N. Bronstein, K. A. Semendjajew (Begründer), Günter Grosche (Bearb.), [[Eberhard Zeidler (Mathematiker)|Eberhard Zeidler]] (Hrsg.): ''[[Taschenbuch der Mathematik|Teubner-Taschenbuch der Mathematik]].'' Teubner, Stuttgart 1996, ISBN 3-8154-2001-6, S. 24.</ref><br />
<br />
== Definition einer Ellipse als geometrischer Ort ==<br />
[[Datei:Ellipse parameters.svg|hochkant=1.3|mini|Diese Grafik zeigt die im nachfolgenden Text verwendeten Bezeichnungen auf.]]<br />
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Ellipsen zu [[Definition|definieren]]. Neben der üblichen Definition über gewisse Abstände von Punkten ist es auch möglich, eine Ellipse als Schnittkurve zwischen einer entsprechend geneigten Ebene und einem [[Kegel (Geometrie)|Kegel]] zu bezeichnen (s. 1. Bild) oder als [[#Ellipse als affines Bild des Einheitskreises|affines Bild des Einheitskreises]].<br />
<br />
Eine '''Ellipse''' ist der [[Geometrischer Ort|geometrische Ort]] aller Punkte <math>P</math> der [[Ebene (Mathematik)|Ebene]], für die die [[Summe]] der [[Abstand|Abstände]] zu zwei gegebenen Punkten <math>F_1</math> und <math>F_2</math> gleich einer gegebenen Konstante ist. Diese Konstante wird üblicherweise mit <math>2a</math> bezeichnet. Die Punkte <math>F_1</math> und <math>F_2</math> heißen ''Brennpunkte:''<br />
: <math>E = \{P \mid |PF_2| + |PF_1| = 2a\}</math><br />
Um eine [[Strecke (Geometrie)|Strecke]] auszuschließen, setzt man voraus, dass <math>2a</math> größer als der Abstand <math>|F_1F_2|</math> der Brennpunkte ist.<br />
Falls die beiden Brennpunkte zusammenfallen, ist <math>E</math> ein ''[[Kreis]]'' mit Radius <math>a</math>. Dieser einfache Fall wird in den folgenden Überlegungen oft stillschweigend ausgeschlossen, da die meisten Aussagen über Ellipsen im Kreisfall trivial werden.<br /><br />
Der Mittelpunkt <math>M</math> der Strecke <math>\overline{F_1F_2}</math> heißt ''Mittelpunkt'' der Ellipse. Die Gerade durch die Brennpunkte ist die ''Hauptachse'' und die dazu orthogonale Gerade durch <math>M</math> die ''Nebenachse.'' Die beiden Ellipsenpunkte <math>S_1,\; S_2</math> auf der Hauptachse sind die ''Hauptscheitel.'' Der Abstand der Hauptscheitel zum Mittelpunkt ist <math>a</math> und heißt die ''große Halbachse.'' Die beiden Ellipsenpunkte <math>S_3,\; S_4</math> auf der Nebenachse sind die ''Nebenscheitel'', und ihr Abstand zum Mittelpunkt ist jeweils die ''kleine Halbachse'' <math>b</math>. Den Abstand <math>e</math> der Brennpunkte zum Mittelpunkt nennt man die ''lineare Exzentrizität'' und <math>\varepsilon=e/a</math> die ''numerische Exzentrizität.'' Mit dem [[Satz des Pythagoras]] gilt <math>a^2=e^2+b^2</math> (siehe Zeichnung).<br />
[[Datei:Ellipse-def-dc.svg|mini|Ellipse: Definition mit Leitkreis]]<br />
Die Gleichung <math>|PF_2| + |PF_1| = 2a</math> kann man auch so interpretieren:<br />
Wenn <math>c_2</math> der Kreis um <math>F_2</math> mit Radius <math>2a</math> ist, dann ist der Abstand des Punktes <math>P</math> zum Kreis <math>c_2</math> gleich dem Abstand des Punktes zum Brennpunkt <math>F_1</math>:<br />
: <math>|PF_1|=|Pc_2|</math><br />
<math>c_2</math> heißt ''Leitkreis'' der Ellipse bzgl. des Brennpunktes <math>F_2</math>.<br />
Diese Eigenschaft sollte man nicht verwechseln mit der ''[[#Direktrix|Leitlinieneigenschaft]]'' einer Ellipse (s. unten).<br />
<br />
Mit Hilfe [[Dandelinsche Kugel|Dandelinscher Kugeln]] beweist man, dass gilt:<br />
: Jeder ''Schnitt eines Kegels mit einer Ebene,'' die die Kegelspitze nicht enthält, und deren Neigung kleiner als die der Mantellinien des Kegels ist, ist eine Ellipse.<br />
<br />
Aufgrund der Leitkreis-Eigenschaft ist eine Ellipse die [[Äquidistanz (Geometrie)|Äquidistanz-Kurve]] zu jedem ihrer Brennpunkte und dem Leitkreis mit dem anderen Brennpunkt als Mittelpunkt.<br />
<br />
== Ellipse in kartesischen Koordinaten ==<br />
=== Gleichung ===<br />
A. Führt man [[Kartesisches Koordinatensystem|kartesische Koordinaten]] so ein, dass der Mittelpunkt der Ellipse im Ursprung liegt, die <math>x</math>-Achse die Hauptachse ist, und<br />
: die Brennpunkte die Punkte <math>F_1=(e,0),\ F_2=(-e,0)</math>,<br />
: die ''Hauptscheitel'' <math>S_1=(a,0),\ S_2=(-a,0)</math> sind,<br />
so ergibt sich für einen beliebigen Punkt <math>(x,y)</math> der Abstand zum Brennpunkt <math>(e,0)</math> als <math>\sqrt{ (x-e)^2 + y^2 }</math> und zum zweiten Brennpunkt <math>\sqrt{ (x+e)^2 + y^2 }</math>. Also liegt der Punkt <math>(x,y)</math> genau dann auf der Ellipse, wenn die folgende Bedingung erfüllt ist:<br />
:<math>\sqrt{(x-e)^2 + y^2} + \sqrt{(x+e)^2 + y^2} = 2a</math><br />
Nach Beseitigung der Wurzeln durch geeignetes Quadrieren und Verwenden der Beziehung <math>b^2 = a^2-e^2</math> (s.&nbsp;o.) erhält man die Gleichung<br />
: <math>\frac{x^2}{a^2}+\frac{y^2}{b^2}= 1</math> oder nach <math>y</math> aufgelöst<br />
: <math>y=\pm\frac{b}{a}\sqrt{a^2-x^2}.</math><br />
<math>S_3=(0,b),\; S_4=(0,-b)</math> sind die Nebenscheitel. Aus der Beziehung<br />
<math>b^2 = a^2-e^2</math> erhält man die Gleichungen<br />
: <math>e = \sqrt{a^2-b^2}</math> und <math>\varepsilon = \frac{\sqrt{a^2-b^2}}{a} \ .</math><br />
Daraus ergeben sich noch die Beziehungen<br />
:<math>b = a \sqrt{1 - \varepsilon^2}</math><br />
:<math>p = a \cdot (1 - \varepsilon^2)</math><br />
Ist <math>a = b</math>, so ist <math>\varepsilon = 0</math> und die Ellipse ein [[Kreis (Geometrie)|Kreis]].<br /><br />
Ist <math>b = e</math>, so ist <math>\varepsilon = \tfrac{1}{\sqrt{2}}</math>, und man nennt die Ellipse eine ''gleichseitige Ellipse'' oder ''Ellipse schönster Form.''<br />
<br />
B. Die Ellipse in A. lässt sich auch mithilfe einer [[Bilinearform]] als Lösungsmenge der Gleichung <math>\vec x^TM\,\vec x=1</math> auffassen.<ref>Vgl. z.&nbsp;B. Annette Werner: ''[https://www.uni-frankfurt.de/50581212/geometrie.pdf Skript zur Vorlesung Geometrie.]'' (PDF; 241&nbsp;kB). Bei: ''Uni-Frankfurt.de.''</ref> Hierbei werden die Vektoren <math>x</math> und <math>x^T</math> mit dem gleichen Punkt <math>X</math> identifiziert. Bei Einführung kartesischer Koordinaten ist <math>M</math> die [[Matrix (Mathematik)|Matrix]]<br />
<math><br />
\begin{pmatrix}<br />
\frac{1}{a^2} & 0 \\<br />
0 & \frac{1}{b^2}<br />
\end{pmatrix}</math>, <math>\vec x^T = (x,y)</math> ein Zeilenvektor und <math>\vec x = \begin{pmatrix} x \\ y\end{pmatrix}</math> ein Spaltenvektor.<br />
<br />
C. Eine Ellipse mit dem Mittelpunkt im Ursprung und den Brennpunkten auf der <math>x</math>-Achse heißt auch ''in 1.&nbsp;Hauptlage.'' Wenn hier die obige Ellipsengleichung erwähnt wird, wird immer angenommen, dass <math>a\ge b</math> und damit die Ellipse in 1.&nbsp;Hauptlage ist, was im „realen Leben“ aber nicht sein muss. Da kann durchaus auch <math>a<b</math> vorkommen, was bedeutet, dass die Ellipse sich in 2.&nbsp;Hauptlage befindet (die Brennpunkte liegen auf der <math>y</math>-Achse).<br />
<br />
Aufgrund der Definition einer Ellipse gilt:<br />
: Eine Ellipse ist ''symmetrisch'' zu ihren Achsen und damit auch zu ihrem Mittelpunkt.<br />
(Die Symmetrieeigenschaft lässt sich auch leicht an der hier abgeleiteten Gleichung einer Ellipse erkennen.)<br />
<br />
=== Halbparameter ===<br />
Die halbe Länge <math>p</math> einer [[Sehne (Mathematik)|Ellipsensehne]], die durch einen Brennpunkt geht und zur Hauptachse senkrecht verläuft, nennt man den '''Halbparameter,''' manchmal auch nur ''Parameter <math>p</math>'' oder auch '''semi-latus rectum''' (die Hälfte des ''latus rectum'' = <math>2 \cdot p</math>) der Ellipse. Mit Hilfe der Gleichung einer Ellipse rechnet man leicht nach, dass<br />
:<math>p = \frac{b^2}a</math><br />
gilt. Der Halbparameter hat noch die zusätzliche Bedeutung (s. unten): Der Krümmungsradius in den Hauptscheiteln ist <math>p</math>.<br />
<br />
=== Tangente ===<br />
A. Für den Hauptscheitel <math>(a,0)</math> bzw. <math>(-a,0)</math> hat die Tangente die Gleichung <math>x = a</math> bzw. <math>x = -a</math>. Die einfachste Weise, die Gleichung der Tangente in einem Ellipsenpunkt <math>(x_0,y_0\neq0)</math> zu bestimmen, ist, die Gleichung <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}= 1</math> der Ellipse [[Implizite Differentiation|implizit zu differenzieren]]. Hiermit ergibt sich für die Ableitung<br />
:<math>\frac{2x}{a^2}+\frac{2yy'}{b^2}= 0 \ \rightarrow \ y'=-\frac{x}{y}\frac{b^2}{a^2}</math><br />
und damit die [[Tangente#Tangente in der Analysis|Punkt-Steigungs-Form]] der Tangente im Punkt <math>(x_0,y_0)</math>:<br />
:<math>y=-\frac{x_0}{y_0}\frac{b^2}{a^2}(x-x_0) +y_0</math><br />
Berücksichtigt man <math>\tfrac{x_0^2}{a^2}+\tfrac{y_0^2}{b^2}= 1</math>, so erhält man als Gleichung der Tangente im Punkt <math>(x_0,y_0)</math>:<br />
:<math>\frac{x_0}{a^2}x+\frac{y_0}{b^2}y = 1</math><br />
Diese Form schließt auch die Tangenten durch die Hauptscheitel ein. Letzteres gilt auch für die Vektorform<br />
:<math>\vec x=\begin{pmatrix}x_0\\ y_0 \end{pmatrix}+s\; \begin{pmatrix}-ay_0/b\\ bx_0/a \end{pmatrix}\quad\text{mit}\quad s\in\mathbb{R}</math>.<br />
<br />
B. Die in A. eingeführte Tangentengleichung <math>\tfrac{x_0}{a^2}x+\tfrac{y_0}{b^2}y = 1</math> lässt sich auch ohne Differentialrechnung als Spezialfall einer Polarengleichung einführen (s.&nbsp;u. [[Ellipse#Herleitung der Lagebeziehungen von Pol und Polare; alternative Herleitung einer Tangenten- und einer Ellipsengleichung|Herleitung der Lagebeziehungen von Pol und Polare, D.]]). Sie entspricht einer [[Normalenform]] mit dem Normalenvektor <math>\vec n = \left(\tfrac{x_0}{a^2}, \tfrac{y_0}{b^2}\right)</math>. Von diesem lässt sich ein dazu rechtwinkeliger [[Parameterform#Aus der Normalenform|Richtungsvektor]] <math>\vec u</math> von <math>t</math> ablesen. Da <math>\vec u</math> nur bis auf einen Skalar eindeutig ist, hat er die Formen<br />
:<math>\vec u = \begin{pmatrix} -y_0/b^2 \\ x_0/a^2 \end{pmatrix} =</math><math> \frac{1}{ab} \begin{pmatrix} -a y_0/b\\ b x_0/a \end{pmatrix} = </math><math>-\frac{y_0}{b^2} \begin{pmatrix} 1 \\ \frac{- x_0}{y_0} \frac{b^2}{a^2}\end{pmatrix}</math>;<br />
dies liefert den Richtungsvektor der in A. angegebenen Vektorform und auch die Steigung der dort angegebenen [[Punktsteigungsform]].<br />
<br />
Eine ''zeichnerische'' Bestimmung von Ellipsentangenten findet man im Artikel [[Ellipse (Darstellende Geometrie)]].<br />
<br />
=== Gleichung einer verschobenen Ellipse ===<br />
Verschiebt man die obige Ellipse so, dass der Mittelpunkt der Punkt <math>(m_1, m_2)</math> ist, ergibt sich die Mittelpunktsform einer Ellipse, deren Achsen parallel zu den Koordinatenachsen sind:<br />
: <math>\frac{(x-m_1)^2}{a^2} + \frac{(y-m_2)^2}{b^2} = 1</math><br />
<br />
=== Parameterdarstellungen ===<br />
;Standarddarstellung<br />
Die übliche Parameterdarstellung einer Ellipse verwendet die [[Sinus und Kosinus|Sinus- und Kosinus-Funktion]]. Wegen <math>\cos^2 t + \sin^2 t = 1</math> beschreibt<br />
: <math>(a \cos t, b \sin t),\ 0\le t<2\pi</math><br />
die Ellipse <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}=1.</math><br />
<br />
Verschiedene Möglichkeiten, den Parameter <math>t</math> geometrisch zu interpretieren, werden im Abschnitt ''[[#Ellipsen zeichnen|Ellipsen zeichnen]]'' angegeben.<br />
<br />
;Rationale Parameterdarstellung<br />
[[Datei:Ellipse-ratpar.svg|300px|mini|Punkte einer Ellipse mit Hilfe der rationalen Parameterdarstellung berechnet (<math>\Delta u=0{,}2</math>)]]<br />
Mit der Substitution <math>u = \tan(t/2)</math> und [[Formelsammlung Trigonometrie|trigonometrischen Formeln]] erhält man<br />
:<math>\cos t = (1-u^2)/(1+u^2)\ ,\quad \sin t = 2u/(1+u^2)</math><br />
und damit die [[Rationale Funktion|rationale]] Parameterdarstellung einer Ellipse:<br />
: <math>\begin{array}{lcl} x(u) & = & a(1-u^2)/(1+u^2) \\ y(u) & = & 2bu/(1+u^2) \end{array} ,\quad -\infty<u<\infty\; .</math><br />
<br />
Die rationale Parameterdarstellung hat folgende Eigenschaften (s. Bild):<br />
* Für <math>u=0</math> wird der positive Hauptscheitel dargestellt: <math>x(0) = a, y(0) = 0</math>; für <math>u=1</math> der positive Nebenscheitel: <math> x(1) = 0, y(1) = b</math>.<br />
* Übergang zur [[Positive und negative Zahlen#Gegenzahl|Gegenzahl]] des Parameters spiegelt den dargestellten Punkt an der <math>x</math>-Achse: <math>x(-u) = x(u), y(-u) = -y(u)</math>;<br />
* Übergang zum [[Kehrwert]] des Parameters spiegelt den dargestellten Punkt an der <math>y</math>-Achse: <math>x \left(\tfrac{1}{u}\right) = -x(u), y\left(\tfrac{1}{u}\right) = y(u)</math>.<br />
* Der negative Hauptscheitel kann mit keinem reellen Parameter <math>u</math> dargestellt werden. Die Koordinaten desselben sind die [[Grenzwert (Funktion)|Grenzwerte]] der Parameterdarstellung für unendliches positives oder negatives <math>u</math>: <math>\lim_{u \to \pm \infty} x(u)=-a, \lim_{u \to \pm \infty} y(u)=0</math>.<br />
<br />
Rationale Parameterdarstellungen der [[Kegelschnitte]] (Ellipse, Hyperbel, Parabel) spielen im [[CAD]]-Bereich bei ''[[Bezierkurve#Kegelschnitte als rationale Bezierkurven|quadratischen rationalen Bezierkurven]]'' eine wichtige Rolle.<ref>J. Hoschek, D. Lasser: ''Grundlagen der geometrischen Datenverarbeitung.'' Springer-Verlag, 1989, ISBN 3-519-02962-6, S. 147.</ref><br />
<br />
;Tangentensteigung als Parameter<br />
Eine Parameterdarstellung, die die ''Tangentensteigung'' <math>m</math> in dem jeweiligen Ellipsenpunkt verwendet, erhält man durch Differentiation der Parameterdarstellung <math>\vec x(t)=(a \cos t, b \sin t)^T</math>:<br />
: <math>\vec x'(t) = (-a\sin t, b\cos t)^T \quad \rightarrow \quad m = -\frac{b}{a}\cot t\quad \rightarrow \quad \cot t = -\frac{ma}{b}.</math><br />
Mit Hilfe [[Formelsammlung Trigonometrie#Gegenseitige Darstellung|trigonometrischer Formeln]] ergibt sich<br />
: <math>\cos t = \frac{\cot t}{\pm\sqrt{1+\cot^2t}} = \frac{-ma}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}\ ,\quad\quad<br />
\sin t = \frac{1}{\pm\sqrt{1+\cot^2t}} = \frac{b}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}.</math><br />
Ersetzt man in der Standarddarstellung <math>\cos t</math> und <math>\sin t</math>, erhält man schließlich<br />
: <math>\vec c_\pm(m) = \left(-\frac{ma^2}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}\;,\;\frac{b^2}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}\right)^T,\, m \in \R.</math><br />
Dabei ist <math>m</math> die Tangentensteigung im jeweiligen Ellipsenpunkt, <math>\vec c_+</math> die obere und <math>\vec c_-</math> die untere Hälfte der Ellipse. Die Punkte mit senkrechten Tangenten (Scheitel <math>(\pm a,0)</math>) werden durch diese Parameterdarstellung nicht erfasst.<br /><br />
Die Gleichung der Tangente im Punkt <math>\vec c_\pm(m)</math> hat die Form <math>y=mx+n</math>. Der <math>y</math>-Abschnitt <math>n</math> ergibt sich durch Einsetzen der Koordinaten des zugehörigen Ellipsenpunktes <math>\vec c_\pm(m)</math>:<br />
: <math>y = m x \pm\sqrt{m^2a^2+b^2}</math><br />
Diese [[Geradengleichung#Haupt- oder Normalform|Hauptform]] der Tangentengleichung ist ein wesentliches Hilfsmittel bei der Bestimmung der [[Orthoptische Kurve|orthoptischen Kurve]] einer Ellipse.<br />
<br />
''Bemerkung''. Die Hauptform der Tangentengleichung und die Koordinaten von <math>\vec c_\pm(m)</math> lassen sich auch ohne Differentialrechnung und ohne trigonometrische Formeln herleiten, indem die Tangente als Spezialfall einer Polare aufgefasst wird (s.&nbsp;u. [[Ellipse#Herleitung der Lagebeziehungen von Pol und Polare; alternative Herleitung einer Tangenten- und einer Ellipsengleichung|Herleitung der Lagebeziehungen von Pol und Polare, D.]])<br />
<br />
;Verschobene Ellipse<br />
Eine ''verschobene Ellipse'' mit Mittelpunkt <math>(m_1,m_2)</math> wird durch<br />
: <math>(m_1+a \cos t\; ,\; m_2+ b \sin t),\ 0\le t<2\pi</math><br />
beschrieben.<br />
<br />
Eine Parameterdarstellung einer beliebigen Ellipse ist in dem Abschnitt [[#Ellipse als affines Bild des Einheitskreises|Ellipse als affines Bild des Einheitskreises]] enthalten.<br />
<br />
== Eigenschaften ==<br />
=== Brennpunkteigenschaft ===<br />
{{Hauptartikel|Brennpunkt (Geometrie)}}<br />
<br />
[[Datei:Ellpise tangente nomrmale foci eps.svg|mini|Brennpunktseigenschaft]]<br />
<br />
Die Verbindungslinie zwischen einem Brennpunkt und einem Punkt der Ellipse heißt ''Brennlinie, Leitstrahl'' oder ''Brennstrahl.'' Ihren Namen erhielten Brennpunkte und Brennstrahlen aufgrund der folgenden Eigenschaft:<br />
: Der [[Winkel]] zwischen den beiden Brennstrahlen in einem Punkt der Ellipse wird durch die [[Normale]] in diesem Punkt halbiert.<br />
;Anwendungen:<br />
# Der Einfallswinkel, den der eine Brennstrahl mit der [[Tangente]] bildet, ist gleich dem Ausfallswinkel, den die Tangente mit dem anderen Brennstrahl bildet. Ein [[Lichtstrahl]], der von einem Brennpunkt ausgeht, wird demnach an der Ellipsentangente so [[Reflexion (Physik)|reflektiert]], dass er den anderen Brennpunkt trifft. Bei einem ellipsenförmigen Spiegel treffen sich demnach alle von einem Brennpunkt ausgehenden Lichtstrahlen in dem anderen Brennpunkt.<br />
# Da der Weg von einem zum anderen Brennpunkt (entlang zweier zusammengehöriger Brennstrahlen) immer gleich lang ist, wird z.&nbsp;B. [[Schall]] nicht nur „verstärkt“ (siehe unten) von einem zum anderen Brennpunkt übertragen, sondern kommt sogar zeit- und phasengleich (also verständlich und nicht interferierend) dort an.<br />
# Die Tangente im Ellipsenpunkt ist die [[Winkelhalbierende]] des [[Außenwinkel]]s. Da Winkelhalbierenden leicht zu konstruieren sind, bietet die Brennpunkteigenschaft eine einfache Methode, die Tangente in einem Ellipsenpunkt zu konstruieren (Eine weitere Tangentenkonstruktion wird in [[Ellipse (Darstellende Geometrie)#Konstruktion von Ellipsentangenten|Ellipse (Darstellende Geometrie)]] beschrieben.).<br />
<br />
Zwei Ellipsen mit denselben Brennpunkten <math>F_1,\; F_2</math> nennt man ''[[konfokal]].'' Durch jeden Punkt, der nicht zwischen den Brennpunkten liegt, gibt es genau eine Ellipse mit den Brennpunkten <math>F_1,\; F_2</math>. Zwei konfokale Ellipsen haben ''keinen Schnittpunkt'' (s. Definition einer Ellipse).<br />
<br />
'''Beweis der Brennpunkteigenschaft'''<br />
<br />
Da die Tangente senkrecht zur Normalen verläuft, ist die obige Behauptung bewiesen, wenn die analoge [[Aussage (Logik)|Aussage]] für die Tangente gilt:<br />
[[Datei:Ellipse-reflex.svg|250px|mini|Die Tangente halbiert den Außenwinkel der Brennstrahlen]]<br />
: Der [[Außenwinkel]] der Brennstrahlen <math>\overline{PF_1}, \overline{PF_2}</math> in einem Ellipsenpunkt <math>P</math> wird von der Tangente in diesem Punkt halbiert (s. Bild).<br />
<br />
Es sei <math>L</math> der Punkt auf der Geraden <math>\overline{PF_2}</math> mit dem Abstand <math>2a</math> zum Brennpunkt <math>F_2</math> (<math>a</math> ist die große Halbachse der Ellipse). Die Gerade <math>w</math> sei die Winkelhalbierende der Außenwinkel der Brennstrahlen <math>\overline{PF_1}, \overline{PF_2}</math>. Um nachzuweisen, dass <math>w</math> die Tangente ist, zeigt man, dass auf <math>w</math> kein weiterer Ellipsenpunkt liegen kann. Anhand der Zeichnung und der [[Dreiecksungleichung]] erkennt man, dass<br />
: <math>|QF_2|+|QF_1|=|QF_2|+|QL|>|LF_2|=2a</math><br />
gilt. Dies bedeutet, dass <math>|QF_2|+|QF_1|>2a</math> ist. Wenn <math>Q</math> ein Punkt der Ellipse wäre, müsste die Summe aber gleich <math>2a</math> sein.<br />
<br />
''Bemerkung'': Eine Beweis mit Mitteln der [[Analytische Geometrie|analytischen Geometrie]] befindet sich im Beweisarchiv.<ref>https://de.wikibooks.org/wiki/Beweisarchiv:_Geometrie:_Satz_vom_Flüstergewölbe</ref><br />
<br />
'''Natürliches Vorkommen und Anwendung in der Technik:'''<br />
<br />
Die Decken mancher Höhlen ähneln einer Ellipsenhälfte. Befindet man sich –&nbsp;mit den Ohren&nbsp;– in einem Brennpunkt dieser Ellipse, hört man jedes Geräusch, dessen Ursprung im zweiten Brennpunkt liegt, verstärkt („[[Flüstergewölbe]]“). Diese Art der Schallübertragung funktioniert in einigen Stationen der [[Métro Paris|Pariser Métro]] sogar von Bahnsteig zu Bahnsteig.<br />
Das gleiche Prinzip der Schallfokussierung wird heute zur Zertrümmerung von [[Nierenstein]]en mit [[Stoßwelle]]n verwendet.<br />
Auch im lampengepumpten [[Nd:YAG-Laser]] wird ein Reflektor in Form einer Ellipse verwendet. Die Pumpquelle –&nbsp;entweder eine Blitzlampe oder eine Bogenlampe&nbsp;– wird in dem einen Brennpunkt positioniert, und der dotierte Kristall wird in den anderen Brennpunkt gelegt.<br />
<br />
=== Direktrix ===<br />
[[Datei:Ellipse def.svg|mini|hochkant=1.5|Ellipse mit Leitlinien]]<br />
Für eine echte Ellipse, d.&nbsp;h. <math>e > 0</math>, bezeichnet man eine Parallele zur Nebenachse im Abstand <math>a^2/e</math> als '''Direktrix''' oder '''Leitlinie.''' Für einen beliebigen Punkt <math>P</math> der Ellipse ist das Verhältnis seines [[Abstand]]s von einem Brennpunkt zu dem Abstand von der Direktrix <math>d</math> auf der entsprechenden Seite der Nebenachse gleich der numerischen Exzentrizität:<br />
<br />
:<math>|P F_1| : |P d_1| = |P F_2| : |P d_2| = \varepsilon.</math> Es ist <math>\varepsilon>0.</math><br />
'''Beweis:'''<br /><br />
Mit <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}=1 \Leftrightarrow y^2 = b^2 -\tfrac{b^2x^2}{a^2}</math> sowie <math>e^2+b^2=a^2</math> und den [[Binomische Formeln#Formeln|binomischen Formeln]] ist<br />
<br />
: <math>|PF_{1,2}|^2 = (x \mp e)^2 + y^2 =</math><br />
<br />
: <math>{(x \mp e)^2 + b^2 - \frac{b^2x^2}{a^2} = \frac{a^2x^2}{a^2} \mp 2ex + e^2 + b^2 - \frac{b^2x^2}{a^2} = \frac{e^2x^2}{a^2} \mp 2 \frac{ex}{a} \cdot a + a^2 = \left(\frac{ex}{a} \mp \frac{ea^2}{ae}\right)^2 =}</math><br />
<br />
: <math>\left(\frac{e}{a}\right)^2 \left(x \mp \frac{a^2}{e}\right)^2 = \varepsilon^2 |P d_{1,2}|^2</math>.<br />
<br />
Die ''Umkehrung'' dieser Aussage gilt auch und kann zu einer weiteren Definition<br />
einer Ellipse benutzt werden (ähnlich wie bei einer Parabel):<br />
: Für einen Punkt <math>F</math> (Brennpunkt), eine Gerade <math>d</math> (Leitlinie) nicht durch <math>F</math> und eine reelle Zahl <math>\varepsilon</math> mit <math>0 < \varepsilon < 1</math> ist die Menge der Punkte (geometrischer Ort), für die der Quotient der Abstände zu dem Punkt <math>F</math> und der Geraden <math>d</math> gleich <math>\varepsilon</math> ist, eine Ellipse:<br />
: <math>E= \{P \mid \frac{|PF|}{|Pd|} = \varepsilon\}</math><br />
<br />
Die Wahl <math>\varepsilon=0</math>, also die Exzentrizität eines Kreises, ist in diesem Zusammenhang nicht erlaubt. Man kann als Leitlinie eines Kreises die unendlich entfernte Gerade auffassen.<br />
[[Datei:Kegelschnitt-Schar.svg|mini|Kegelschnittschar mit einem gemeinsamen Scheitel und einem gemeinsamen Halbparameter]]<br />
'''Beweis:'''<br />
<br />
Es sei <math>F=(f,0) ,\ \varepsilon>0</math> und <math>(0,0)</math> ein Punkt der Kurve.<br />
Die Leitlinie <math>d</math> hat die Gleichung <math>x=-\tfrac{f}{\varepsilon}</math>. Mit <math>P=(x,y)</math> und der Beziehung <math>|PF|^2=\varepsilon^2|Pd|^2</math> ergibt sich<br />
:<math>(x-f)^2+y^2=\varepsilon^2(x+\tfrac{f}{\varepsilon})^2=(\varepsilon x+f)^2</math> und <math>x^2(\varepsilon^2-1)+2xf(1+\varepsilon)-y^2=0.</math><br />
Die Substitution <math>p=f(1+\varepsilon)</math> liefert<br />
: <math>x^2(\varepsilon^2-1)+2px-y^2=0.</math><br />
Dies ist die Gleichung einer ''Ellipse'' (<math>\varepsilon<1</math>) oder einer ''Parabel'' (<math>\varepsilon=1</math>) oder einer ''Hyperbel'' (<math>\varepsilon>1</math>). All diese nicht-ausgearteten Kegelschnitte haben den Ursprung als Scheitel gemeinsam (s. Bild).<br />
<br />
Für <math>\varepsilon<1</math> führt man neue Parameter <math>a = \tfrac{p}{1 -\varepsilon^2}</math> und <math>b^2= a p \Rightarrow 1-\varepsilon^2 =\tfrac{b^2}{a^2}</math> ein; die obige Gleichung wird dann zu<br />
: <math>\frac{(x-a)^2}{a^2}+\frac{y^2}{b^2}=1\ ,</math><br />
was die Gleichung einer Ellipse mit Mittelpunkt <math>(a,0)</math>, der <math>x</math>-Achse als Hauptachse und den Halbachsen <math>a,b</math> ist.<br />
<br />
'''Allgemeiner Fall:'''<br />
<br />
Für den Brennpunkt <math>F=(f_1,f_2)</math> und die Leitlinie <math>ux+vy+w=0</math> erhält man die Gleichung<br />
:<math>\left(x-f_1\right)^2+\left(y-f_2\right)^2= \varepsilon^2\cdot\frac{\left(ux+vy+w\right)^2}{u^2+v^2}.</math><br />
<br />
Die rechte Seite der Gleichung benutzt die [[Hessesche Normalform]] einer Geraden, um den Abstand eines Punktes von einer Gerade zu berechnen.<br />
<br />
=== Konjugierte Durchmesser ===<br />
[[Datei:Ellipse conjugated diameter.svg|mini|Ellipse mit zwei konjugierten Durchmessern]]<br />
<br />
* Betrachtet man zu einem beliebigen Ellipsendurchmesser (einer [[Sehne (Mathematik)|Ellipsensehne]] durch den Ellipsenmittelpunkt) <math>\overline{PP'}</math> alle [[Parallel (Geometrie)|parallelen]] Sehnen, so liegen deren Mittelpunkte ebenfalls auf einem Ellipsendurchmesser <math>\overline{QQ'}</math>. Man nennt <math>\overline{QQ'}</math> den zu <math>\overline{PP'}</math> [[Konjugierte Durchmesser|konjugierten Durchmesser]].<ref>Diese und die folgenden Aussagen finden sich in Bosch: "Mathematik-Taschenbuch", Dritte Auflage. R. Oldenbourg Verlag, München/Wien 1991, S. 227 f.)</ref><br />
* Bildet man zum konjugierten Durchmesser erneut den konjugierten Durchmesser, so erhält man wieder den ursprünglichen. In der Zeichnung stimmt also der zu <math>\overline{QQ'}</math> konjugierte Durchmesser mit dem ursprünglichen Durchmesser <math>\overline{PP'}</math> überein.<br />
* Die Tangenten in den Endpunkten eines Durchmessers (etwa <math>\overline{PP'}</math>) sind parallel zum konjugierten Durchmesser (im Beispiel <math>\overline{QQ'}</math>).<br />
* Haupt- und Nebenachse sind das einzige Paar orthogonaler konjugierter Durchmesser.<br />
* Ist die Ellipse ein Kreis, so sind genau die orthogonalen Durchmesser (auch) konjugiert.<br />
* Sind konjugierte Durchmesser nicht orthogonal, so ist das Produkt ihrer Steigungen <math>\tfrac{-b^2}{a^2}</math>.<br />
* Seien <math>d_1</math>, <math>d_2</math> konjugierte Durchmesser. Dann ist <math>\left(\tfrac{d_1}{2}\right)^2 + \left(\tfrac{d_2}{2}\right)^2 = a^2 + b^2</math>. ([[Satz von Apollonios|Satz des Apollonius]])<br />
<br />
Konjugierte Durchmesser (erstrangig von Ellipsen) werden auch auf einer eigenen Wikipedia-Seite behandelt, ebenso der [[Satz von Apollonios|Satz des Apollonius]] (samt Beweis). Ein analytischer Gesamt-Beweis sämtlicher hier aufgeführter Aussagen, der von der gemeinsamen Bilinearform zweier Ursprungsgeraden ausgeht, findet sich im Beweisarchiv. Dieser Beweis benötigt weder trigonometrische Funktionen noch Parameterdarstellungen noch eine affine Abbildung.<ref>https://de.wikibooks.org/wiki/Beweisarchiv:_Geometrie:_Konjugierte_Durchmesser</ref><br />
<br />
Eine Anwendungsmöglichkeit im Bereich des [[Technisches Zeichnen|technischen Zeichnens]] besteht in der Möglichkeit, den höchsten Punkt einer Ellipse oder eines Ellipsenbogens beliebiger Lage über einer Linie zu finden&nbsp;– nützlich z.&nbsp;B. für korrekte 2D-Darstellungen nicht-orthogonaler Ansichten zylindrischer Körper oder abgerundeter Kanten ohne Verwendung von 3D-Programmen. Wichtig ist dies für den sauberen Anschluss tangential von der Ellipse weg laufender Linien. Hierzu sind in die Ellipse oder den Ellipsenbogen zwei Sehnen parallel zur gewünschten Tangentenrichtung und die durch die Mittelpunkte der beiden Sehnen definierte Linie des zugehörigen konjugierten Durchmessers einzuzeichnen. Der Schnittpunkt dieser Linie mit der Ellipse oder dem Ellipsenbogen definiert den Anschlusspunkt der Tangente (und normalerweise den Endpunkt des Ellipsenbogens).<br />
<br />
[[Datei:Orthoptic-ellipse-s.svg|mini|Ellipse mit orthoptischer Kurve (lila)]]<br />
<br />
=== Orthogonale Tangenten ===<br />
{{Hauptartikel|Orthoptische Kurve}}<br />
Für die Ellipse <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}=1</math> liegen die [[Schnittpunkt]]e ''orthogonaler'' Tangenten auf dem Kreis <math>x^2+y^2=a^2+b^2</math>.<br />
<br />
Diesen Kreis nennt man die ''orthoptische Kurve'' der gegebenen Ellipse, es ist der [[Umkreis]] des Rechtecks, das die Ellipse umschreibt.<br />
<br />
=== Pol-Polare-Beziehung ===<br />
Führt man [[Kartesisches Koordinatensystem|kartesische Koordinaten]] so ein, dass der Mittelpunkt der Ellipse im Ursprung liegt, so kann eine beliebige Ellipse mit der Gleichung <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2} = 1</math> beschrieben werden (s.&nbsp;o. Abschnitt [[Ellipse#Gleichung|Gleichung]]). Weiter ordnet für eine vorgegebene Ellipse eine Funktion <math>f</math> je einem Punkt <math>P_0=(x_0,y_0)</math> die Gerade <math>\frac{x_0x}{a^2}+\frac{y_0y}{b^2} = 1</math> zu. Bezüglich <math>f</math> heißt <math>P_0</math> '''Pol''', die zugeordnete Gerade '''Polare'''.<br />
<math>f</math> ist eine [[Bijektion]]; die [[inverse Funktion]] bildet je eine Polare auf einen Pol ab. Der Ellipsenmittelpunkt <math>(0,0)</math> ist in keiner so definierten Polare enthalten, entsprechend existiert zu <math>(0,0)</math> keine Polare. Die angegebene Gleichung der Polare lässt sich als [[Normalenform]] mit dem zugehörigen Normalenvektor <math>\left(\tfrac{x_0}{a^2},\tfrac{y_0}{b^2}\right)</math> auffassen.<br />
<br />
Eine solche Beziehung zwischen Punkten und Geraden, die durch einen Kegelschnitt vermittelt wird, nennt man ''Pol-Polare-Beziehung'' oder einfach ''Polarität''. Pol-Polare-Beziehungen gibt es auch für [[Hyperbel (Mathematik)|Hyperbeln]] und [[Parabel (Mathematik)|Parabeln]], siehe auch [[Pol und Polare]].<br />
[[Datei:Ellipse-pol.svg|250px|mini|Ellipse: Pol-Polare-Beziehung]]<br />
<br />
Zu Pol und Polare gelten folgende Lagebeziehungen:<br />
<br />
* Der Brennpunkt <math>(e,0)</math> und die Leitlinie <math>x=\tfrac{a^2}{e}</math> bilden eine Polarität. '''(1)'''<br />
* Genau dann, wenn der Pol außerhalb der Ellipse liegt, hat die Polare zwei Punkte mit der Ellipse gemeinsam (s.&nbsp;Bild: <math>P_2,\ p_2</math>). '''(2)'''<br />
* Genau dann, wenn der Pol auf der Ellipse liegt, hat die Polare genau einen Punkte mit der Ellipse gemeinsam (= die Polare ist eine Tangente; s.&nbsp;Bild: <math>P_1,\ p_1</math>). '''(3)'''<br />
* Genau dann, wenn der Pol innerhalb der Ellipse liegt, hat die Polare keinen Punkt mit der Ellipse gemeinsam (s.&nbsp;Bild: <math>F_1,\ l_1</math>). '''(4)'''<br />
* Jeder gemeinsame Punkt einer Polare und einer Ellipse ist Berührpunkt einer Tangente vom zugehörigen Pol <math>P</math> an die Ellipse (s. Bild: <math>P_2,\ p_2</math>). '''(5)'''<br />
* Der Schnittpunkt zweier Polaren ist der Pol der Gerade durch die Pole. '''(6)'''<br />
<br />
=== Herleitung der Lagebeziehungen von Pol und Polare; alternative Herleitung einer Tangenten- und einer Ellipsengleichung ===<br />
<br />
A. Ist eine Polare parallel zur <math>y</math>-Achse, so hat sie auch die Form <math>0 \ne c = x \Leftrightarrow \frac{1}{c} \cdot x +0 \cdot y = 1</math>. Mit dem zugehörigen Normalenvektor <math>\left(\tfrac{x_0}{a^2} = \tfrac{1}{c}, \tfrac{y_0}{b^2} = 0\right)</math> ist der zugehörige Pol <math>\left(x_0 = \tfrac{a^2}{c}, y_0 = 0\right).</math> Insbesondere folgt für <math>x_0 = \tfrac{a^2}{c} = e \Leftrightarrow c = \tfrac{a^2}{e}</math> die Polarität '''(1)''' von Brennpunkt und Direktrix.<br />
<br />
Einsetzen der betrachteten Polare in die Mittelpunktform einer Ellipse ergibt für die Ordinate <math>y</math> eines beliebigen Schnittpunkts die Bedingung <math>\tfrac{c^2}{a^2} + \tfrac{y^2}{b^2} = 1</math>; die [[Diskriminante#Diskriminante einer quadratischen Gleichung|Diskriminante]] dieser quadratischen Gleichung in <math>y</math> hat bis auf einen positiven Faktor die Form<br />
:<math> T_1 = \left(\frac{a^2}{c^2} -1 = \right)\quad\ \frac{x_0^2}{a^2} -1</math>.<br />
<br />
B. Ist eine Polare nicht parallel zur <math>y</math>-Achse, so hat sie die [[Geradengleichung#Haupt- oder Normalform|Hauptform]] <math>y = mx+n</math>. Wegen <math>n \neq 0</math> lässt sich diese in die Normalenform <math>-mx/n +y/n= 1</math> umformen. Vergleich mit der Normalenform ergibt als Darstellung Koordinaten des Pols mit den Parametern der Hauptform:<br />
:<math>x_0 = -\frac{ma^2}{n}, \quad\ y_0=\frac{b^2}{n}</math>.<br />
<br />
Einsetzen der Hauptform <math>y = mx +n</math> in die Mittelpunktform einer Ellipse ergibt für die Abszisse <math>x</math> eines beliebigen Schnittpunkts die Bedingung <math>\tfrac{x^2}{a^2} + \tfrac{(mx +n)^2}{b^2} = 1</math>; die Diskriminante dieser quadratischen Gleichung in <math>x</math> hat bis auf einen positiven Faktor die Form<br />
:<math>T_2 = \left(\frac{m^2a^2}{n^2}+\frac{b^2}{n^2} -1=\right) \quad\ \frac{x_0^2}{a^2}+\frac{y_0^2}{b^2} -1. </math><br />
<br />
C. Insgesamt erlaubt der Term <math>T=T_1</math> bzw. <math>T=T_2</math> für eine beliebige Polare folgende Unterscheidung paarweise disjunkter Fälle:<br />
* Für <math>T<0</math> hat die Polare mit der Ellipse keinen Punkt gemeinsam, und der Pol liegt innerhalb der Ellipse. Hieraus folgt '''(2)'''.<br />
* Für <math>T=0</math> hat die Polare mit der Ellipse ''genau einen'' Punkt gemeinsam, und der Pol liegt auf der Ellipse. Also ist die Polare eine '''Tangente''' an die Ellipse, der Pol ihr Berührpunkt (s.&nbsp;Bild: <math>P_1,\ p_1</math>). Hieraus folgt '''(3)'''.<br />
* Für <math>T>0</math> hat die Polare mit der Ellipse zwei Punkte gemeinsam, und der Pol liegt außerhalb der Ellipse. Hieraus folgt '''(4)'''.<br />
<br />
D. Ist eine Tangente nicht senkrecht, so ergibt Auflösung der Gleichung <math>T_2=0</math> nach <math>n</math> und Einsetzen von <math>n</math> die Hauptform der Tangente:<br />
<br />
<math>\quad\ y = m x \pm\sqrt{m^2a^2+b^2}</math>;<br />
<br />
Einsetzen von <math>n</math> in die Koordinaten <math>x_0 = -\tfrac{ma^2}{n}, y_0=\tfrac{b^2}{n}</math> des Berührpunkts ergibt die Koordinaten der Parameterdarstellung einer Ellipse mit der Steigung <math>m</math> als Parameter:<br />
<math>\quad\ \vec c_\pm(m) = \left(-\frac{ma^2}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}\;,\;\frac{b^2}{\pm\sqrt{m^2a^2+b^2}}\right)^T,\, m \in \R</math>;<br />
<br />
diese Parameterdarstellung erfasst die Hauptscheitel nicht.<br />
<br />
E. Ausgehend von der im [[#Gleichung|Abschnitt „Gleichung“]], B. aufgeführten Bilinearform der Ellipse hat die Polare zum Punkt <math>P</math> die Normalenformen<br />
:<math>\vec p^T M \vec x = 1</math> mit dem Normalenvektor <math>\vec n^T = \vec p^T M</math> und<br />
:<math>\vec x^T M \vec p = 1</math> mit dem Normalenvektor <math>M \vec p = \vec n</math>.<br />
Ist <math>P</math> ein Punkt der Ellipse, so beschreiben auch diese Gleichungen eine Tangente.<br />
<br />
Diese koordinatenfreie rechnerische Darstellung der Polare eignet sich für Beweise. Mit den Koordinatendarstellungen <math>P(x_0, y_0)</math> und <math>X(x,y)</math> sowie den im [[#Gleichung|Abschnitt „Gleichung“]] angegebenen Matrizenkoordinaten für <math>M</math> entsteht durch Auswertung der Matrizenprodukte wieder die im [[Ellipse#Pol-Polare-Beziehung|Abschnitt "Pol-Polare-Beziehung"]] angegebene Gleichung <math>\tfrac{x_0}{a^2}x+\tfrac{y_0}{b^2}y = 1</math>.<br />
<br />
'''Beweis''' von '''(5)''' ("Jeder gemeinsame Punkt einer Polare und einer Ellipse ist Berührpunkt einer Tangente vom zugehörigen Pol <math>P</math> an die Ellipse "):<br /><br />
Da die Ellipsenpunkte <math>S_1, S_2</math> auf der Polare zu <math>P</math> liegen, gilt <math>\vec s_1^T M \vec p = 1</math> und <math>\vec s_2^T M \vec p = 1</math>. Fasst man in diesen Gleichungen nicht <math>M \vec p</math>, sondern <math>\vec s_1^T M</math> bzw. <math>\vec s_2^T M</math> als Normalenvektor auf, so besagen sie, dass die Tangenten in den Ellipsenpunkten <math>S_1, S_2</math> den Punkt <math>P</math> gemeinsam haben.<br />
<br />
'''Beweis''' von '''(6)''' ("Der Schnittpunkt zweier Polaren ist der Pol der Gerade durch die Pole"):<br /><br />
Für einen Schnittpunkt <math>S</math> zweier Polaren zu <math>P_1</math> und <math>P_2</math> gilt <math>\vec s^T M \vec p_1 = 1</math> und <math>\vec s^T M \vec p_2 = 1</math>. Fasst man in diesen Gleichungen nicht <math>M \vec p_1</math> bzw. <math>M \vec p_2</math>, sondern <math>\vec s^T M = \vec n^T</math> als Normalenvektor auf, so besagen sie, dass auf der Polare zu <math>S</math> die Punkte <math>P_1</math>, <math>P_2</math> liegen. Weiter zeigt die Betrachtung der [[Parameterform#Aus der Zweipunkteform|Parameterform]] <math>\vec x = \vec p_1 + \lambda (\vec p_2 -\vec p_1)</math> mit<br />
<br />
:<math>\vec n^T \vec x = \vec n^T\vec p_1 + \lambda (\vec n^T \vec p_2 -\vec n^T \vec p_1) = 1 + \lambda (1 -1) = 1 = \vec s^T M \vec x</math><br />
<br />
die punktweise Gleichheit der Gerade <math>(P_1 P_2)</math> mit der Polare zu <math>S</math>.<br />
<br />
== Ellipse als affines Bild des Einheitskreises ==<br />
[[Datei:Ellipse-aff.svg|mini|Ellipse als affines Bild des Einheitskreises]]<br />
Eine andere Definition der Ellipse benutzt eine spezielle geometrische Abbildung, nämlich die [[Affinität (Mathematik)|Affinität]]. Hier ist die Ellipse als ''affines Bild des Einheitskreises'' definiert.<ref>Siehe: C. Leopold, S.&nbsp;55.</ref> Eine affine Abbildung in der reellen Ebene hat die Form <math>\vec x \to \vec f_0+A\vec x</math>, wobei <math>A</math> eine reguläre Matrix (Determinante nicht 0) und <math>\vec f_0</math> ein beliebiger Vektor ist. Sind <math>\vec f_1,\; \vec f_2</math> die Spaltenvektoren der Matrix <math>A</math>, so wird der Einheitskreis <math>(\cos t,\sin t), 0\le\ t \le 2\pi,</math> auf die Ellipse<br />
:<math>\vec x = \vec p(t)= \vec f_0 +\vec f_1 \cos t +\vec f_2 \sin t</math><br />
abgebildet. <math>\vec f_0</math> ist der Mittelpunkt und <math>\vec f_1,\; \vec f_2</math> sind zwei konjugierte Halbmesser (s.&nbsp;u.) der Ellipse. <math>\vec f_1,\; \vec f_2</math> stehen i.&nbsp;A. nicht senkrecht aufeinander. D.&nbsp;h., <math>\vec f_0\pm \vec f_1</math> und <math>\vec f_0\pm \vec f_2</math> sind i.&nbsp;A. ''nicht'' die Scheitel der Ellipse. Diese Definition einer Ellipse liefert eine einfache Parameterdarstellung (s.&nbsp;u.) einer beliebigen Ellipse.<br />
<br />
Da in einem '''Scheitel''' die [[Tangente]] zum zugehörigen Ellipsendurchmesser senkrecht steht und die Tangentenrichtung in einem Ellipsenpunkt <math>\vec p'(t) = -\vec f_1\sin t + \vec f_2\cos t</math> ist, ergibt sich der Parameter <math>t_0</math> eines Scheitels aus der Gleichung<br />
:<math>\vec p'(t)\cdot (\vec p(t) -\vec f_0) = (-\vec f_1\sin t + \vec f_2\cos t)\cdot(\vec f_1 \cos t +\vec f_2 \sin t) =0</math><br />
und damit aus <math>\cot (2t_0)= \tfrac{\vec f_1^{\, 2}-\vec f_2^{\, 2}}{2\vec f_1 \cdot \vec f_2}</math>.<br /><br />
(Es wurden die Formeln <math>\cos^2 t -\sin^2 t=\cos 2t,\ 2\sin t \cos t = \sin 2t</math> benutzt.)<br />
<br />
Falls <math>\vec f_1 \cdot \vec f_2=0</math> ist, ist <math>t_0=0</math> und die Parameterdarstellung schon in [[Scheitelpunkt|Scheitelform]].<br />
<br />
Die '''4 Scheitel''' der Ellipse sind <math>\vec p(t_0),\vec p(t_0\pm\frac{\pi}{2}),\vec p(t_0+\pi).</math><br />
<br />
Die '''Scheitelform''' der Parameterdarstellung der Ellipse ist<br />
:<math>\vec x = \vec p(t)= \vec f_0 +(\vec p(t_0)-\vec f_0) \cos (t-t_0) +(\vec p(t_0+\tfrac{\pi}{2})-\vec f_0) \sin (t-t_0).</math><br />
<br />
'''Beispiele:'''<br />
[[Datei:Ellipse-sf.svg|mini|Ellipse: Transformation auf Scheitelform (Beispiel&nbsp;3)]]<br />
# <math>\vec f_0=\begin{pmatrix} 0 \\ 0 \end{pmatrix},\ \vec f_1=\begin{pmatrix} a \\ 0 \end{pmatrix},\ \vec f_2=\begin{pmatrix} 0 \\ b \end{pmatrix}</math> liefert die übliche Parameterdarstellung der Ellipse mit der Gleichung <math>\frac{x^2}{a^2} + \frac{y^2}{b^2} = 1 :\quad \vec x=\vec p(t)=\begin{pmatrix} a\cos t \\ b\sin t \end{pmatrix}</math>.<br />
# <math>\vec f_0=\begin{pmatrix} x_0 \\ y_0 \end{pmatrix},\ \vec f_1=\begin{pmatrix} a\cos \varphi \\ a\sin \varphi\end{pmatrix},\ \vec f_2=\begin{pmatrix} -b\sin \varphi \\ b \cos \varphi\end{pmatrix}</math> liefert die [[Parameterdarstellung]] der Ellipse, die aus <math>\tfrac{x^2}{a^2} + \tfrac{y^2}{b^2} = 1</math> durch Drehung um den Winkel <math>\varphi</math> und anschließende Verschiebung um <math>\vec f_0</math> hervorgeht. Die Parameterdarstellung ist schon in Scheitelform. D.&nbsp;h., <math>\vec f_0\pm \vec f_1</math> und <math>\vec f_0\pm \vec f_2</math> sind die Scheitel der Ellipse.<br />
# Die Parameterdarstellung<br />
::: <math>\vec x=\vec p(t)=\begin{pmatrix} \sqrt{3} \\ 0 \end{pmatrix}\cos t+\begin{pmatrix} 1 \\ 2 \end{pmatrix}\sin t</math><br />
:: einer Ellipse ist ''nicht'' in Scheitelform.<br />
:: Der Scheitelparameter ergibt sich aus <math>\cot (2t_0)=-\tfrac{1}{\sqrt{3}}</math> zu <math>t_0=-\tfrac{\pi}{6}</math>.<br />
:: Die Scheitelform der Parameterdarstellung ist:<br />
::: <math>\vec x=\vec p(t)=\begin{pmatrix} \ 1 \\ -1 \end{pmatrix}\cos (t+\tfrac{\pi}{6}) + \sqrt{3}\begin{pmatrix} 1 \\ 1 \end{pmatrix}\sin (t+\tfrac{\pi}{6})</math><br />
:: Die Scheitel sind: <math>(1,-1),(-1,1),(\sqrt{3},\sqrt{3}),(-\sqrt{3},-\sqrt{3})</math> und<br />
:: die Halbachsen: <math>a=\sqrt{2},\ b=\sqrt{6}.</math><br />
<br />
'''Bemerkung:''' Sind die [[Vektor]]en <math>\vec f_0,\; \vec f_1,\; \vec f_2</math> aus dem <math>\R^3</math>, so erhält man eine Parameterdarstellung einer Ellipse im Raum.<br />
<br />
== Peripheriewinkelsatz und 3-Punkteform für Ellipsen ==<br />
=== Kreise ===<br />
[[Datei:Inscribe-a-c.svg|mini|Kreis: Peripheriewinkelsatz]]<br />
Ein Kreis mit der Gleichung <math>(x-c)^2+(y-d)^2=r^2,\ r> 0</math> ist durch drei Punkte <math>(x_1,y_1),\; (x_2,y_2),\; (x_3,y_3)</math> nicht auf einer Geraden eindeutig bestimmt. Eine einfache Methode, die Parameter <math>c,d,r</math> zu bestimmen, benutzt den [[Peripheriewinkelsatz]] für Kreise:<br />
: Vier Punkte <math>P_i=(x_i,y_i),\ i=1,2,3,4</math> (s. Bild) liegen genau dann auf einem Kreis, wenn die Winkel bei <math>P_3</math> und <math>P_4</math> gleich sind.<br />
<br />
Üblicherweise misst man einen einbeschriebenen Winkel in [[Grad (Winkel)|Grad]] oder [[Radiant (Einheit)|Radiant]]. Um die Gleichung eines Kreises durch 3 Punkte zu bestimmen, ist das folgende ''Winkelmaß'' geeigneter:<br />
: Um den ''Winkel'' zwischen zwei Geraden mit den Gleichungen <math>y=m_1x+d_1, \ y=m_2x + d_2, \ m_1\ne m_2</math> zu ''messen,'' wird hier der folgende Quotient benutzt:<br />
:: <math>\frac{1+m_1\cdot m_2}{m_2-m_1}</math><br />
: Dieser Quotient ist der ''[[Kotangens]] des Schnittwinkels der beiden Geraden.''<br />
<br />
'''Peripheriewinkelsatz für Kreise:'''<br /><br />
Für vier Punkte <math>P_i=(x_i,y_i),\ i=1,2,3,4</math> keine drei auf einer Geraden (s. Bild) gilt:<br />
: Die vier Punkte liegen genau dann auf einem Kreis, wenn die Winkel bei <math>P_3</math> und <math>P_4</math> im obigen Winkelmaß gleich sind, d.&nbsp;h., wenn:<br />
:: <math>\frac{(x_4-x_1)(x_4-x_2)+(y_4-y_1)(y_4-y_2)}<br />
{(y_4-y_1)(x_4-x_2)-(y_4-y_2)(x_4-x_1)}=<br />
\frac{(x_3-x_1)(x_3-x_2)+(y_3-y_1)(y_3-y_2)}<br />
{(y_3-y_1)(x_3-x_2)-(y_3-y_2)(x_3-x_1)}</math><br />
Das Winkelmaß ist zunächst nur für Sekanten, die nicht parallel zur <math>y</math>-Achse sind, verfügbar. Die angegebene vereinfachte Formel ist aber schließlich auch für diese Ausnahmen gültig.<br />
<br />
Eine Folge des Peripheriewinkelsatzes in dieser Form ist:<br />
<br />
'''3-Punkteform einer Kreisgleichung:'''<br />
: Die Gleichung des Kreises durch die 3 Punkte <math>P_i=(x_i,y_i)</math> nicht auf einer Geraden ergibt sich durch Umformung der Gleichung (Beseitigung der Nenner und quadratische Ergänzung):<br />
:: <math>\frac{({\color{green}x}-x_1)({\color{green}x}-x_2)+({\color{red}y}-y_1)({\color{red}y}-y_2)}<br />
{({\color{red}y}-y_1)({\color{green}x}-x_2)-({\color{red}y}-y_2)({\color{green}x}-x_1)}=<br />
\frac{(x_3-x_1)(x_3-x_2)+(y_3-y_1)(y_3-y_2)}<br />
{(y_3-y_1)(x_3-x_2)-(y_3-y_2)(x_3-x_1)}</math><br />
Diese Formel lässt sich durch Verwenden der Ortsvektoren, des Skalarproduktes und der Determinante übersichtlicher schreiben:<br />
::<math>\frac{({\color{red}\vec x}-\vec x_1)\cdot({\color{red}\vec x}-\vec x_2)}{\det({\color{red}\vec x}-\vec x_1,{\color{red}\vec x}-\vec x_2)}=\frac{(\vec x_3-\vec x_1)\cdot(\vec x_3-\vec x_2)}{\det(\vec x_3-\vec x_1,\vec x_3-\vec x_2)} \; .</math><br />
<br />
'''Beispiel:'''<br />
<br />
Für <math>P_1=(2,0),\; P_2=(0,1),\; P_3=(0,0)</math> ergibt sich zunächst die 3-Punkteform<br />
: <math>\frac{(x-2)x+y(y-1)}{yx-(y-1)(x-2)}=0</math> und schließlich <math>(x-1)^2+(y-1/2)^2=5/4\ .</math><br />
<br />
=== Ellipsen ===<br />
In diesem Abschnitt werden nur Ellipsen betrachtet mit Gleichungen<br />
: <math>\frac{(x-c)^2}{a^2}+ \frac{(y-d)^2}{b^2}=1 \quad \leftrightarrow \quad (x-c)^2+\frac{a^2}{b^2}(y-d)^2=a^2, \quad c,d,\in \R, \ a > 0 \ ,</math><br />
für die der Quotient <math>\tfrac{a^2}{b^2}</math> fest (invariant) ist.<br />
Mit der Abkürzung <math>{\color{blue}q} = \tfrac{a^2}{b^2}</math> erhält man die geeignetere Form<br />
: <math>(x-c)^2+{\color{blue}q}\; (y-d)^2=a^2,\quad c,d \in \R,\quad a> 0</math> und <math>q>0</math> ''fest.''<br />
Die Achsen solcher Ellipsen sind parallel zu den Koordinatenachsen und ihre ''Exzentrizität'' (s. oben) ist fest.<br />
Die Hauptachse ist parallel zur <math>x</math>-Achse, falls <math>q>1</math> ist, und parallel zur <math>y</math>-Achse, falls <math>q<1</math> ist.<br />
[[Datei:Inscribe-a-e.svg|mini|Ellipse: Peripheriewinkelsatz]]<br />
Wie beim Kreis ist so eine Ellipse durch drei Punkte nicht auf einer Geraden eindeutig bestimmt.<br />
<br />
Für diesen allgemeineren Fall führt man das folgende Winkelmaß ein:<ref>E. Hartmann: [http://www.mathematik.tu-darmstadt.de/~ehartmann/circlegeom.pdf Lecture Note '''''Planar Circle Geometries,''' an Introduction to Möbius-, Laguerre- and Minkowski-planes.''] S. 55.</ref><ref>W. Benz: ''Vorlesungen über Geometrie der Algebren.'' [[Springer Science+Business Media|Springer]] (1973).</ref><br />
: Um den ''Winkel'' zwischen zwei Geraden mit den Gleichungen <math>y=m_1x+d_1, \ y=m_2x + d_2, \ m_1\ne m_2</math> zu ''messen,'' wird hier der folgende Quotient benutzt:<br />
:: <math>\frac{1+{\color{blue}q}\; m_1\cdot m_2}{m_2-m_1}</math><br />
<br />
'''Peripheriewinkelsatz für Ellipsen:'''<br /><br />
Für vier Punkte <math>P_i=(x_i,y_i),\ i=1,2,3,4</math> keine drei auf einer Geraden (s. Bild) gilt:<br />
: Die vier Punkte liegen genau dann auf einer Ellipse mit der Gleichung <math>(x-c)^2+q\; (y-d)^2=a^2</math>, wenn die Winkel bei <math>P_3</math> und <math>P_4</math> im obigen Winkelmaß gleich sind, d.&nbsp;h., wenn:<br />
:: <math>\frac{(x_4-x_1)(x_4-x_2)+{\color{blue}q}\;(y_4-y_1)(y_4-y_2)}<br />
{(y_4-y_1)(x_4-x_2)-(y_4-y_2)(x_4-x_1)}=<br />
\frac{(x_3-x_1)(x_3-x_2)+{\color{blue}q}\;(y_3-y_1)(y_3-y_2)}<br />
{(y_3-y_1)(x_3-x_2)-(y_3-y_2)(x_3-x_1)}</math><br />
Das Winkelmaß ist zunächst nur für Sekanten, die nicht parallel zur <math>y</math>-Achse sind, verfügbar. Die angegebene vereinfachte Formel ist aber schließlich auch für diese Ausnahmen gültig.<br />
<br />
Der Beweis ergibt sich durch einfaches Nachrechnen. Dabei kann man im Fall „Punkte auf einer Ellipse&nbsp;…“ annehmen, dass der Mittelpunkt der Ellipse der Ursprung ist.<br />
<br />
Eine Folge des Peripheriewinkelsatzes in dieser Form ist:<br />
<br />
'''3-Punkteform einer Ellipsengleichung:'''<br /><br />
Die Gleichung der Ellipse durch die 3 Punkte <math>P_i=(x_i,y_i)</math> nicht auf einer Geraden ergibt sich durch Umformung der Gleichung (Beseitigung der Nenner und quadratische Ergänzung):<br />
: <math>\frac{({\color{green}x}-x_1)({\color{green}x}-x_2)+{\color{blue}q}\;({\color{red}y}-y_1)({\color{red}y}-y_2)}<br />
{({\color{red}y}-y_1)({\color{green}x}-x_2)-({\color{red}y}-y_2)({\color{green}x}-x_1)}=<br />
\frac{(x_3-x_1)(x_3-x_2)+{\color{blue}q}\;(y_3-y_1)(y_3-y_2)}<br />
{(y_3-y_1)(x_3-x_2)-(y_3-y_2)(x_3-x_1)}</math><br />
Diese Formel lässt sich (wie beim Kreis) übersichtlicher darstellen durch<br />
: <math>\frac{({\color{red}\vec x}-\vec x_1)*({\color{red}\vec x}-\vec x_2)}<br />
{\det({\color{red}\vec x}-\vec x_1,{\color{red}\vec x}-\vec x_2)}<br />
=\frac{(\vec x_3-\vec x_1)*(\vec x_3-\vec x_2)}<br />
{\det(\vec x_3-\vec x_1,\vec x_3-\vec x_2)} \; ,</math><br />
wobei <math>*</math> das hier geeignete [[Skalarprodukt#Definition (Axiomatik)|Skalarprodukt]] <math>\vec u * \vec v=u_xv_x+{\color{blue}q}u_yv_y</math> beschreibt.<br />
<br />
'''Beispiel:'''<br />
<br />
Für <math>P_1=(2,0),\; P_2=(0,1),\; P_3=(0,0)</math> und <math>q=4</math> ergibt sich zunächst die 3-Punkteform<br />
: <math>\frac{(x-2)x+4y(y-1)}{yx-(y-1)(x-2)}=0</math> und schließlich <math>\frac{(x-1)^2}{2}+\frac{(y-1/2)^2}{1/2}=1</math>.<br />
<br />
== {{Anker|Ellipsenzirkel|Konstruktion}}Ellipsen zeichnen ==<br />
[[Datei:Wuerfel-kr-vp.svg|170px|mini|Würfel mit Kreisen in [[Axonometrie|Vogelperspektive]]]]<br />
Ellipsen treten in der darstellenden Geometrie als [[Ellipse (Darstellende Geometrie)|Bilder von Kreisen]] auf.<br />
Es ist also wichtig, geeignete Werkzeuge zur Verfügung zu haben, mit denen man Ellipsen zeichnen kann. Es gibt im Wesentlichen drei Typen von Verfahren, mit denen Ellipsen gezeichnet werden:<br />
* ''einzelne Punkte,'' die man mit einem Kurvenlineal zu einer glatten Kurve verbindet,<br />
* ''stetige Konstruktionen,'' die man technisch als ''Ellipsenzirkel'' realisieren kann und<br />
* eine ''Approximation'' einer Ellipse mit Hilfe ihrer Scheitelkrümmungskreise und eines Kurvenlineals.<br />
<br />
Den meisten Ellipsenzirkeln liegen die unten beschriebenen zwei ''Papierstreifenmethoden'' zugrunde. Diese waren schon den Griechen ([[Archimedes]] und [[Proklos]]) bekannt, wie man auch und vieles andere mehr in dem eigenständigen Artikel [[Ellipsograph des Archimedes]] nachlesen kann. Wenn kein Ellipsenzirkel zur Verfügung steht, ist die Approximation mit Hilfe der Scheitelkrümmungskreise die schnellste und beste Methode, eine Ellipse zu zeichnen.<br />
<br />
Für jede hier beschriebene Methode ist die Kenntnis der beiden (Symmetrie-) Achsen und der Halbachsen <math>a,b</math> erforderlich.<br />
Ist dies nicht der Fall, was in der darstellenden Geometrie oft vorkommt, so muss man wenigstens den Mittelpunkt und zwei [[konjugierte Halbmesser]] kennen. Mit Hilfe der [[Rytzsche Achsenkonstruktion|Rytz-Konstruktion]] lassen sich dann die Scheitel und damit die Achsen und Halbachsen ermitteln. Nur die Parallelogramm-Methode (s.&nbsp;unten) bietet die Möglichkeit, zu zwei konjugierten Halbmessern direkt (ohne Rytz) einzelne Punkte einer Ellipse zu konstruieren.<br />
<br />
[[Datei:Elliko-g.svg|hochkant=1.2|mini|Ellipse: Gärtnerkonstruktion]]<br />
=== Gärtnerkonstruktion ===<br />
Die definierende Eigenschaft einer Ellipse – die Summe der Abstände zu zwei Punkten ist konstant – nutzt die [[Gärtnerkonstruktion]] als einfache Möglichkeit, eine Ellipse zu zeichnen. Hierzu benötigt man einen Faden der Länge <math>2a</math> und zwei [[Reißbrettstift]]e (oder Nägel, Stifte,&nbsp;…), um die beiden Enden des Fadens in den Brennpunkten der zu zeichnenden Ellipse zu befestigen. Führt man einen Stift mit Hilfe des gespannten Fadens (s.&nbsp;Bild) über die Zeichenfläche, so entsteht die durch die Länge des Fadens und die Lage der Brennpunkte definierte Ellipse. Diese einfache Methode gibt Gärtnern die Möglichkeit, ellipsenförmige Beete anzulegen, was der Methode den Namen gab.<br />
<br />
Eine Variation der Gärtnerkonstruktion zur Konstruktion [[Konfokale Kegelschnitte#Satz von Graves: Fadenkonstruktion konfokaler Ellipsen|konfokaler Ellipsen]] geht auf den irischen Bischof [[Charles Graves]] ([[:en:Charles Graves (bishop)|en]]) zurück.<br />
{{Absatz}}<br />
<br />
=== Antiparallelogramm ===<br />
[[Datei:Antiparallelogram1 Ellipses.gif|mini|Konstruktion über das Antiparallelogramm]]<br />
Beim Abrollen eines [[Antiparallelogramm]]s zeichnet der [[Schnittpunkt]] der beiden langen Stäbe eine Ellipse (blau im Bild). Die Enden des kurzen statischen Stabs definieren die Brennpunkte der Ellipse. Durch die [[Symmetrie (Geometrie)|symmetrische]] Geometrie ergibt sich theoretisch auch um den kurzen umlaufende Stab eine Ellipse (im Bild grün). Diese Konstruktionsvariante ist mit der Gärtnerkonstruktion verwandt. Betrachtet man nur den Anteil innerhalb der statischen Ellipse und ersetzt die beiden inneren Teilstücke der Stäbe mit einer Schur ergibt sich die äquivalente Gärtnerkonstruktion. Die Mechanik des begewegten Antiparallelogramms ist ein [[Koppelgetriebe]]. Die innere Ellipse entspricht der [[Rastpolbahn]] die äußere Ellipse ist die [[Gangpolbahn]] des umlaufenden kurzen Stabs.<br />
<br />
=== Ellipsenzirkel des Frans van Schooten ===<br />
[[Datei:Frans van Schooten - Ellipsenzirkel.png|hochkant=1.2|mini|Ellipsenzirkel des Frans van Schooten<br /> [/media/wikipedia/commons/2/26/01-Ellipsenzirkel-van_Schooten-1.gif (▶ Animation ansehen)] ]]<br />
Im Jahr [[1657]] veröffentlichte [[Frans van Schooten]] in seinem Werk ''EXERCITATIONUM MATHEMATICARUM LIBRI QUINQUE''<ref>Frans van Schooten: ''EXERCITATIONUM MATHEMATICARUM LIBRI QUINQUE.'' Lugdunum Batavorum [= [[Leiden (Stadt)|Leiden]]]: Johannes Elsevirius, 1656–1657, Inhaltsübersicht, S.&nbsp;7 [https://books.google.de/books?id=bctZAAAAcAAJ&printsec=frontcover#v=onepage&q&f=false Online-Kopie (Google)].</ref> in ''LIBER IV''<ref>Frans van Schooten: ''EXERCITATIONUM MATHEMATICARUM, LIBER IV. SIVE DE ORGANICA CONICARUM SECTIONUM IN PLANO DESCRIPTIONE,&nbsp;…'' Titelseite, S.&nbsp;293 [https://books.google.de/books?id=bctZAAAAcAAJ&pg=PA293 Online-Kopie (Google)].</ref> die Methode ''Gärtnerkonstruktion''<ref>Frans van Schooten: ''EXERCITATIONUM MATHEMATICARUM LIBER IV&nbsp;…'' Gärtnerkonstruktion, S.&nbsp;325–326 [https://books.google.de/books?id=bctZAAAAcAAJ&pg=PA326 Online-Kopie (Google)].</ref> und ein paar Seiten weiter einen Ellipsenzirkel.<ref>Frans van Schooten: ''EXERCITATIONUM MATHEMATICARUM LIBER IV&nbsp;…'' Ellipsenzirkel, S.&nbsp;341–343 [https://books.google.de/books?id=bctZAAAAcAAJ&pg=PA342 Online-Kopie (Google)].</ref> Basis für den Ellipsenzirkel ist die ''Gärtnerkonstruktion''.<br />
[[Datei:01-Ellipsenzirkel-van Schooten-3.svg|hochkant=1.4|mini|Prinzipskizze, Ellipsenzirkel des Frans van Schooten.<br />Die Kurve ist eine exakte Ellipse.]]<br />
Die Hauptelemente des rautenförmigen Ellipsenzirkels sind die fünf gleich langen Stäbe mit ihren Gelenkpunkt-Abständen <math>|OI|</math>, <math>|IP|</math>, <math>|PG|</math>, <math>|GO|</math> und <math>|GH|</math> sowie der deutlich längere Diagonalstab ab <math>O</math> durch <math>P</math> mit dem Klemmelement <math>Q</math> für den Spielausgleich. Der Stab mit dem Gelenkpunkt-Abstand <math>|GH|</math> und der Diagonalstab überkreuzen sich im Punkt <math>E</math> und sind über Führungsnuten mithilfe eines sogenannten [[Gleitstein]]s dreh- und schiebbar verbunden. In diesem Gleitstein ist auch der Zeichenstift und ggf. der Handgriff montiert. Der zweite Gleitstein befindet sich im Gelenkpunkt <math>P</math>. In den Gelenkpunkten <math>H</math> und <math>I</math> des Ellipsenzirkels sind die [[Zirkel]]nadeln befestigt.<br />
<br />
Die Länge z.&nbsp;B. des Stabes <math>|IO|</math> ist gleich der Länge der Hauptachse <math>|KL|</math>. Der Abstand der Gelenkpunkte <math>H</math> und <math>I</math> bestimmt die Länge der Nebenachse. Je kleiner dieser Abstand ist, umso mehr ähnelt die Ellipse einem Kreis.<br />
<br />
Betrachtet man eine Hälfte der Raute <math>OIPG</math>, d.&nbsp;h. das gleichschenklige Dreieck <math>IGO</math>, so ist der Diagonalstab ab <math>O</math> durch <math>P</math> als [[Mittelsenkrechte]] <math>M_S</math> des Gelenkpunkt-Abstandes <math>|GI|</math> erkennbar, die den Stab mit Gelenkpunkt-Abstand <math>|GH|</math> in <math>E</math> schneidet. Dadurch entsteht das zweite gleichschenklige Dreieck <math>EIG</math> mit den Schenkeln <math>|EG|</math> und <math>|EI|</math>. Wird nun der Ellipsenzirkel von Hand bewegt, durchläuft der Punkt <math>G</math> den Kreis <math>k_1</math> um den Punkt <math>H</math> mit dem Radius <math>|GH|</math> (gleich <math>|KL|</math>), dabei wirkt der Diagonalstab mit seinem Gelenkpunkt-Abstand <math>|OP|</math> konstant als Mittelsenkrechte der sich kontinuierlich verändernden gleichschenkligen Dreiecke <math>IGO</math> und <math>EIG</math>. Daraus folgt: In jeder gedrehten Stellung des Ellipsenzirkels gilt<br />
<br />
: <math>|GH| = |EH| + |EG| = |EH| + |EI|.</math><br />
<br />
Werden in die weiter oben beschriebene ''Definition einer Ellipse als geometrischer Ort'' die Bezeichnungen der betreffenden Punkte, u.&nbsp;a. die Brennpunkte <math>H</math> und <math>I</math>, aus der Darstellung des Ellipsenzirkels eingesetzt, ergibt sich<br />
<br />
: <math>Def_E = \{E \mid |EH| + |EI| = |GH|\}.</math><br />
<br />
Damit wird aufgezeigt: Die mit dem rautenförmigen Ellipsenzirkel gezogenen Kurven sind exakte Ellipsen.<br />
<br />
Um eine Ellipse zu zeichnen, sticht man zuerst zur Lagefixierung des Ellipsenzirkels die Zirkelnadeln der Gelenkpunkte <math>H</math> und <math>I</math> in die Brennpunkte der Ellipse und zieht anschließend mithilfe des Handgriffs oder ggf. nur mit dem Zeichenstift die Ellipsenlinie.<br />
<br />
=== Parameterdarstellung mit Sinus und Kosinus ===<br />
Die übliche Parameterdarstellung einer Ellipse verwendet die [[Sinus und Kosinus|Sinus- und Kosinusfunktion]]. Wegen <math>\cos^2 t +\sin^2 t =1</math> beschreibt<br />
: <math>(a \cos t, b \sin t),\ 0\le t<2\pi</math><br />
die Ellipse <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}= 1\ .</math><br />
Mit Hilfe dieser Darstellung lassen sich die folgenden Ellipsenkonstruktionen leicht verstehen.<br />
<br />
=== Punktkonstruktion nach de La Hire ===<br />
Die auf [[Philippe de La Hire|de La Hire]]<ref>K. Strubecker: ''Vorlesungen über Darstellende Geometrie.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, S. 26.</ref> zurückgehende Punktkonstruktion benutzt die beiden Scheitelkreise, das sind die Kreise um den Mittelpunkt der Ellipse mit den Halbachsen <math>a,\; b</math> als Radien. Der Parameter <math>t</math> wird hier als der Steigungswinkel eines von <math>M</math> ausgehenden Strahls interpretiert. Mit der in der Zeichnung angegebenen Methode wird ein Punkt mit den Koordinaten <math>(a \cos t, b \sin t)</math>, also ein Ellipsenpunkt, konstruiert.<br />
<gallery widths="250" heights="250" class="float-left"><br />
Elliko-sk.svg|Ellipse nach de La Hire<br />
Parametric ellipse.gif|Animation der de-La-Hire-Methode<br />
</gallery><br />
{{Absatz}}<br />
<br />
=== Papierstreifenmethoden ===<br />
Die beiden Papierstreifenmethoden verwenden zwei weitere Möglichkeiten der geometrischen Interpretation des Parameters <math>t</math> der obigen Parameterdarstellung einer Ellipse. Sie liefern die Grundlagen der meisten Ellipsenzirkel.<br />
<br />
'''1. Methode'''<br />
<br />
Die erste Methode verwendet einen Papierstreifen der Länge <math>a+b</math>. Der Punkt, in dem sich die Halbachsen treffen, wird mit <math>P</math> markiert. Wenn der Streifen nun so bewegt wird, dass die beiden Enden jeweils auf einer Achse gleiten, überstreicht der Punkt <math>P</math> die zu zeichnende Ellipse. Der Beweis ergibt sich aus der Parameterdarstellung <math>(a\cos t,\;b\sin t)</math> und der Interpretation des Parameters als Winkel des Papierstreifens mit der <math>x</math>-Achse (s.&nbsp;Bild).<br />
<br />
Eine weitere technische Realisierung des gleitenden Streifens kann man auch mit Hilfe eines Paares [[Cardanische Kreise|cardanischer Kreise]] erreichen (s. Animation). Der große Kreis hat den Radius <math>a+b</math>.<br />
<gallery widths="250" heights="250" class="float-left"><br />
Ellipse-papsm.svg|Ellipse: 1. Papierstreifenmethode<br />
Tusi couple vs Paper strip plus Ellipses horizontal.gif|Ellipsen (rot, cyan) mit cardanischen Kreisen<br />
</gallery><br />
{{Absatz}}<br />
<br />
Eine ''Variation der 1. Papierstreifenmethode''<ref>J. van Mannen: ''Seventeenth century instruments for drawing conic sections.'' In: ''The Mathematical Gazette.'' Vol. 76, 1992, S. 222–230.</ref> geht von der Beobachtung aus, dass der Mittelpunkt <math>N</math> des Papierstreifens sich auf dem Kreis mit Mittelpunkt <math>M</math> und Radius <math>\tfrac{a+b}{2}</math> bewegt. Man kann also den Papierstreifen in der Mitte (Punkt <math>N</math>) trennen und an dieser Stelle ein Gelenk einfügen und den zuvor auf der <math>y</math>-Achse gleitenden Punkt in den Mittelpunkt der Ellipse verlegen. Nach dieser Operation bleibt das abgeknickte Ende des Papierstreifens fest (im Punkt <math>M</math>) und der unveränderte Teil des Streifens samt dem Punkt <math>P</math> bewegt sich wie zuvor. Der Vorteil dieser Variation ist: Man benötigt nur ''einen'' technisch anspruchsvollen Gleitschuh. Auch gegenüber der cardanischen Realisierung der 1.&nbsp;Papierstreifenmethode ist diese Variation technisch einfacher.<br /><br />
Man beachte, dass immer dasjenige Ende des Streifens, das auf der ''Nebenachse'' gleitet, in den Mittelpunkt verlegt wird!<br />
<br />
<gallery widths="300" heights="200" class="float-left"><br />
Ellipse-papsm-1a.svg|Abgeknickter Papierstreifen<br />
Ellipses with SliderCrank inner Ellipses.gif|Animation mit abgeknicktem Papierstreifen<br />
</gallery><br />
{{Absatz}}<br />
<br />
[[Datei:Elliko-pap2.svg|250px|mini|Ellipse: 2. Papierstreifenmethode]]<br />
'''2. Methode:'''<br />
<br />
Die zweite Papierstreifenmethode geht von einem Papierstreifen der Länge <math>a</math> aus. Man markiert den Punkt, der den Streifen in zwei Teile der Längen <math>b</math> und <math>a-b</math> zerlegt. Der Streifen wird so auf den Achsen positioniert, wie im Bild zu sehen ist. Der Teil, der die Länge <math>a-b</math> besitzt, liegt zwischen den Achsen. Das freie Ende <math>P</math> beschreibt dann die zu zeichnende Ellipse. Der Beweis ergibt sich aus der Zeichnung: Der Punkt <math>P</math> kann durch die Parameterdarstellung <math>(a\cos t,\;b\sin t)</math> beschrieben werden. Dabei ist <math>t</math> der Steigungswinkel des Papierstreifens.<br />
<br />
Diese Methode benötigt zu ihrer technischen Realisierung auch zwei Gleitschuhe, ist aber flexibler als die erste Papierstreifenmethode. Sie ist die Grundlage für viele Ellipsenzirkel (s. [[#Weblinks|Weblink]] Ellipsenzirkel).<br />
<br />
''Bemerkung:'' Auch hier ist eine Variation durch Abknicken des Streifenteils zwischen den Achsen möglich. Es ist dann, wie bei der ersten Methode, nur ''ein'' Gleitschuh nötig.<br />
<gallery widths="200" heights="150" class="float-left"><br />
Archimedes Trammel.gif|Animation der 2. Papierstreifenmethode<br />
L-Ellipsenzirkel.png|Ellipsenzirkel von [[Benjamin Bramer]]<br />
Ellipses with SliderCrank Ellipses at Slider Side.gif|Abgeknickter Papierstreifen<br />
</gallery><br />
{{Absatz}}<br />
[[Datei:Ellipse-skm.svg|250px|mini|Approximation einer Ellipse mit Hilfe der Scheitelkrümmungskreise]]<br />
<br />
=== Approximation mit Scheitelkrümmungskreisen ===<br />
Aus der Formelsammlung (s. unten) ergibt sich:<br />
: Der Krümmungsradius für die Hauptscheitel <math>S_1,\; S_2</math> ist <math>\tfrac{b^2}{a}\ ,</math><br />
: der Krümmungsradius für die Nebenscheitel <math>S_3,\; S_4</math> ist <math>\tfrac{a^2}{b}\ .</math><br />
Die Zeichnung zeigt eine einfache Methode, die Krümmungsmittelpunkte <math>M_1=(a-\tfrac{b^2}{a},0),\; M_3=(0,b-\tfrac{a^2}{b})</math> des Scheitels <math>S_1</math> und des Nebenscheitels <math>S_3</math> zeichnerisch zu bestimmen:<br />
# Markiere den Hilfspunkt <math>H=(a,b)</math> und zeichne die Gerade <math>S_1S_3</math>.<br />
# Zeichne die Gerade durch <math>H</math>, die senkrecht zur Geraden <math>S_1S_3</math> verläuft.<br />
# Die Schnittpunkte <math>M_1,\; M_3</math> dieser Geraden mit den Ellipsenachsen sind die gesuchten Krümmungsmittelpunkte (Beweis: einfache Rechnung).<br />
<br />
Die Krümmungsmittelpunkte der restlichen Scheitel ergeben sich aus Symmetrie. Man zeichnet die beiden restlichen Scheitelkrümmungskreise. Mit Hilfe eines [[Kurvenlineal]]s lässt sich dann eine gute Näherung der Ellipse zeichnen.<br />
<br />
=== Steiner-Erzeugung einer Ellipse (Parallelogramm-Methode) ===<br />
[[Datei:Ellipse-steiner.svg|mini|Ellipse: Steiner-Erzeugung]]<br />
[[Datei:Ellipse construction - parallelogram method.gif|mini|Steiner-Erzeugung als Animation]]<br />
Die folgende Idee, einzelne Punkte einer Ellipse zu konstruieren, beruht auf der [[Satz von Steiner (Geometrie)|Steiner-Erzeugung eines Kegelschnitts]] (nach dem Schweizer Mathematiker [[Jakob Steiner]]):<br />
: Hat man für zwei Geradenbüschel in zwei Punkten <math>S_1,\; S_2</math> (alle Geraden durch den Punkt <math>S_1</math> bzw. <math>S_2</math>) eine ''projektive,'' aber nicht perspektive Abbildung <math>\pi</math> des einen Büschels auf das andere, so bilden die Schnittpunkte zugeordneter Geraden einen nichtausgearteten Kegelschnitt.<ref name="hartmann">Erich Hartmann: [http://www.mathematik.tu-darmstadt.de/~ehartmann/progeo.pdf ''Projektive Geometrie.''] (PDF; 180&nbsp;kB). Kurzskript, TU Darmstadt, S.&nbsp;12–16.</ref><ref name="books-jCgPAAAAQAAJ-">''Jacob Steiner’s Vorlesungen über synthetische Geometrie.'' B. G. Teubner, Leipzig 1867. 2.&nbsp;Teil, S.&nbsp;96. ({{Google Buch|BuchID=jCgPAAAAQAAJ}}).</ref><br />
<br />
Für die Erzeugung einzelner Punkte der Ellipse <math>\tfrac{x^2}{a^2}+\tfrac{y^2}{b^2}=1</math> gehen wir von den Geradenbüscheln in den Scheiteln <math>S_1,\; S_2</math> aus. Sei nun <math>P=(0,b)</math> der obere Nebenscheitel der Ellipse und <math>A=(-a,2b), B=(a,2b)</math>. Dann ist <math>P</math> der Mittelpunkt des Rechtecks <math>S_1,\; S_2,\; B,\; A</math>. Wir unterteilen die Rechteckseite <math>\overline{AB}</math> in <math>n</math> gleiche Stücke, übertragen diese Unterteilung mittels einer Parallelprojektion in Richtung der Diagonalen <math>AS_2</math> auf die Strecke <math>\overline{S_2B}</math> (s. Bild) und nummerieren die Unterteilungen wie im Bild. Die benutzte Parallelprojektion zusammen mit der Umkehrung der Orientierung vermittelt die nötige projektive Abbildung der Büschel in <math>S_1</math> und <math>S_2</math>. Die Schnittpunkte der zugeordneten Geraden <math>S_1B_i</math> und <math>S_2A_i</math> liegen dann auf der durch die Vorgaben (3&nbsp;Punkte, 2&nbsp;Tangenten) eindeutig bestimmten Ellipse. Mit Hilfe der Punkte <math>C_1, \dotsc</math> lassen sich Punkte auf dem 2.&nbsp;Viertel der Ellipse bestimmen. Analog erhält man Punkte der unteren Hälfte der Ellipse.<br />
<br />
''Bemerkung:''<br ><br />
a) Benutzt man statt der Scheitel zwei Punkte eines anderen Durchmessers, so muss man für <math>P</math> einen Punkt des konjugierten Durchmessers wählen und arbeitet dann mit einem Parallelogramm statt eines Rechtecks. Daher rührt auch der manchmal gebräuchliche Name ''Parallelogramm-Methode.''<br /><br />
b) Den ''Beweis'' dieser Methode kann man auch am Einheitskreis nachrechnen. Da Teilverhältnisse und Parallelität bei affinen Abbildungen invariant bleiben, ist der Beweis dann auch allgemeingültig. (Eine Ellipse ist ein affines Bild des Einheitskreises!)<br />
<br />
Auch für [[Parabel (Mathematik)#Steiner-Erzeugung einer Parabel und der zu ihr dualen Parabel|Parabel]] und [[Hyperbel (Mathematik)#Steiner-Erzeugung einer Hyperbel|Hyperbel]] gibt es Steiner-Erzeugungen.<br />
<br />
=== Ellipsen in der Computergrafik ===<br />
Besonders in der [[Computergrafik]] lohnt sich die Ableitung einer Ellipse aus einer Kreisform. Eine achsenparallele Ellipse ist dabei einfach ein Kreis, der in einer der Koordinatenrichtungen gestaucht oder gedehnt, mit anderen Worten: anders [[Skalierung (Computergrafik)|skaliert]] wurde. Eine allgemeine, in beliebigem Winkel gedrehte Ellipse kann man aus so einer achsenparallelen Ellipse durch [[Scherung (Geometrie)|Scherung]] erhalten, s.&nbsp;a. [[Bresenham-Algorithmus]]. Die Punkte werden also numerisch berechnet und gezeichnet.<br />
<br />
== Beispiele ==<br />
* Schaut man schräg auf einen Kreis (beispielsweise auf die Deckfläche eines [[Zylinder (Geometrie)|Kreiszylinders]]), so erscheint dieser Kreis als Ellipse; präziser: Eine [[Parallelprojektion]] bildet Kreise im Allgemeinen auf Ellipsen ab.<br />
<br />
* In der [[Astronomie]] kommen Ellipsen häufig als Bahnen von [[Himmelskörper]]n vor. Nach dem ersten [[Keplersche Gesetze|Keplerschen Gesetz]] bewegt sich jeder [[Planet]] auf einer Ellipse um die [[Sonne]], wobei diese in einem der beiden Brennpunkte ruht. Entsprechendes gilt für die Bahnen von wiederkehrenden (periodischen) [[Komet]]en, [[Mond (Trabant)|Planetenmonden]] oder [[Doppelstern]]en. Allgemein ergeben sich bei jedem [[Zweikörperproblem]] der [[Gravitation]]skraft je nach [[Energie]] Ellipsen-, Parabel- oder Hyperbelbahnen.<br />
<gallery widths="150" heights="150" class="float-right"><br />
Steiner-inellipse-1.svg|mini|Steiner-Inellipse (blau) mit Steiner-Ellipse (rot)<br />
File:Inellipse-1.svg|mini|Beispiel einer Inellipse<br />
</gallery><br />
* Für jeden [[Dimension (Mathematik)|zwei- oder dreidimensionalen]] [[Harmonischer Oszillator|harmonischen Oszillator]] erfolgt die Bewegung auf einer Ellipsenbahn. So [[Schwingung|schwingt]] etwa der Pendelkörper eines [[Sphärisches Pendel|Fadenpendels]] näherungsweise auf einer elliptischen Bahn, falls die Bewegung des Pendelfadens nicht nur in einer Ebene erfolgt.<br />
<br />
* In der [[Dreiecksgeometrie]] gibt es [[Steiner-Ellipse]]n, [[Inellipse]]n ([[Steiner-Inellipse]], [[Mandart-Ellipse]]).<br />
<br />
== Formelsammlung (Ellipsengleichungen) ==<br />
=== Ellipsengleichung (kartesische Koordinaten) ===<br />
Mittelpunkt <math>(0|0)</math>,<br />
<br />
:<math>\frac{x^2}{a^2} + \frac{y^2}{b^2} = 1.</math><br />
<br />
Aufgelöst nach <math>y^2</math>:<br />
<br />
:<math>y^{2}=b^{2}\left(1-\frac{x^{2}}{a^{2}}\right)=\frac{(a^{2}-x^{2})(a^{2}-e^{2})}{a^{2}}=(a^{2}-x^{2})(1-\varepsilon^{2})</math><br />
<br />
Die letzte Form ist praktisch, um eine Ellipse mit Hilfe der beiden Bahnelemente, numerische Exzentrizität und große Halbachse, darzustellen.<br />
<br />
Mittelpunkt <math>(x_0|y_0)</math>, Hauptachse parallel zur <math>x</math>-Achse:<br />
<br />
:<math>\frac{(x-x_0)^2}{a^2} + \frac{(y-y_0)^2}{b^2} = 1.</math><br />
<br />
=== Ellipsengleichung (Parameterform) ===<br />
Mittelpunkt <math>(0|0)</math>, Hauptachse als <math>x</math>-Achse:<br />
<br />
:<math><br />
\begin{pmatrix}<br />
x\\<br />
y<br />
\end{pmatrix}=\begin{pmatrix}<br />
a\cos t\\<br />
b\sin t<br />
\end{pmatrix} \quad \text{mit} \quad 0\le t< 2\pi.</math><br />
<br />
Mittelpunkt <math>(x_0|y_0)</math>, Hauptachse parallel zur <math>x</math>-Achse:<br />
<br />
:<math><br />
\begin{pmatrix}<br />
x\\<br />
y<br />
\end{pmatrix}=\begin{pmatrix}<br />
x_0+a\cos t\\<br />
y_0+b\sin t<br />
\end{pmatrix}<br />
\quad \text{mit} \quad 0\le t< 2\pi.</math><br />
<br />
Mittelpunkt <math>(x_0|y_0)</math>, Hauptachse um <math>\alpha</math> bezüglich <math>x</math>-Achse rotiert:<br />
<br />
:<math><br />
\begin{pmatrix}<br />
x\\<br />
y<br />
\end{pmatrix}=\begin{pmatrix}<br />
x_0 + a\cos t\,\cos\alpha - b\sin t\,\sin\alpha\\<br />
y_0 + a\cos t\,\sin\alpha + b\sin t\,\cos\alpha<br />
\end{pmatrix}<br />
\quad \text{mit} \quad 0\le t< 2\pi.</math><br />
<br />
Dabei bezeichnet <math>t</math> den [[Parameterdarstellung|Parameter]] dieser Darstellung. Dieser entspricht ''nicht'' dem Polarwinkel <math>\varphi</math> zwischen der <math>x</math>-Achse und der Geraden, die durch den Ursprung und den jeweiligen Ellipsenpunkt führt, sondern z.&nbsp;B. dem Polarwinkel <math>t</math> zwischen der <math>x</math>-Achse und der Geraden, die durch den Ursprung und den Punkt mit gleicher <math>y</math>-Koordinate wie der Ellipsenpunkt jedoch auf dem Kreis mit Radius <math>b</math> führt (vgl. Konstruktion nach de la Hire). In der Astronomie heißt dieser Parameter bei [[Keplerellipse]]n die [[exzentrische Anomalie]], bei Meridianellipsen in der [[Geodäsie]] heißt er parametrische oder reduzierte Breite, vgl. [[Referenzellipsoid]].<br />
<br />
Für nicht rotierte Ellipsen, also <math>\alpha=0</math>, hängt der Polarwinkel <math>\varphi</math>, der durch <math>\tan\varphi=y/x</math> definiert ist, mit dem Parameter <math>t</math> zusammen über:<br />
<br />
:<math>\tan\varphi=\frac{b}{a}\tan t=\sqrt{1-\varepsilon^{2}}\,\tan t</math><br />
<br />
Diese Beziehung erlaubt eine anschauliche Interpretation des Parameters <math>t</math>: Streckt man die <math>y</math>-Koordinate eines Ellipsenpunktes <math>P=(x,y)</math> um den Faktor <math>a/b</math>, so liegt dieser neue Punkt <math>P'=(x,y')</math> auf einem Kreis mit Radius <math>a</math> und demselben Mittelpunkt wie die Ellipse. Der Parameter <math>t</math> ist nun der Winkel zwischen der <math>x</math>-Achse und der Verbindungslinie <math>\overline{MP'}</math>:<br />
<br />
:<math>y'=\frac{a}{b}y=x\frac{a}{b}\tan\varphi=x\tan t=a\sin t\quad\Longrightarrow\quad\begin{pmatrix}x\\ y' \end{pmatrix}=a\begin{pmatrix}\cos t\\ \sin t \end{pmatrix}</math><br />
<br />
=== Ellipsengleichung (Polarkoordinaten bzgl. des Mittelpunkts) ===<br />
Hauptachse waagrecht, Mittelpunkt als Pol, Polarachse längs Hauptachse nach rechts:<br />
<br />
:<math>r(\varphi)=\frac{ab}{\sqrt{a^{2}\sin^{2}\varphi+b^{2}\cos^{2}\varphi}}=\frac{b}{\sqrt{1-\varepsilon^{2}\cos^{2}\varphi}} \in[b,a]\quad\text{mit} \quad 0\le\varphi<2\pi</math><br />
<br />
[[Datei:Ellipse Angles Relation.svg|mini|Exzentrische Anomalie <math>t</math> und wahre Anomalie <math>\varphi {\mathrm{R}}</math> bzgl. des rechten Brennpunkts sowie wahre Anomalie <math>\varphi {\mathrm{L}}</math> bzgl. des linken Brennpunkts als Funktion des Polarwinkels <math>\varphi</math> für verschiedene numerische Exzentrizitäten <math>\varepsilon</math>]]<br />
<br />
In kartesischen Koordinaten ausgedrückt, parametrisiert durch den Winkel der Polarkoordinaten, wobei der Mittelpunkt der Ellipse bei <math>(0|0)</math> und ihre Hauptachse entlang der <math>x</math>-Achse liegt:<br />
<br />
:<math>\begin{pmatrix}x\\ y \end{pmatrix}=<br />
\frac{b}{\sqrt{1-\varepsilon^{2}\cos^{2}\varphi}}<br />
\begin{pmatrix}\cos\varphi\\ \sin\varphi \end{pmatrix}<br />
\quad\text{mit}\quad 0\le\varphi< 2\pi</math><br />
<br />
;Herleitung<br />
Aus der Ellipsengleichung in kartesischen Koordinaten <math>(x/a)^2+(y/b)^2=1</math> und der Parametrisierung der kartesischen in Polarkoordinaten <math>x=r\cos\varphi</math> und <math>y=r\sin\varphi</math> folgt:<br />
<br />
:<math>\frac{r^{2}\cos^{2}\varphi}{a^{2}}+\frac{r^{2}\sin^{2}\varphi}{b^{2}}=1\quad\Longrightarrow\quad r^{2}\left(b^{2}\cos^{2}\varphi+a^{2}\sin^{2}\varphi\right)=a^{2}b^{2}</math><br />
<br />
Umstellen und Radizieren liefert den Radius abhängig vom Polarwinkel.<br />
<br />
=== Ellipsengleichung (Polarkoordinaten bzgl. eines Brennpunkts) ===<br />
Hauptachse waagrecht, rechter Brennpunkt als Pol, Polarachse längs Hauptachse nach rechts (Halbparameter <math>p=b^2/a</math>):<br />
<br />
:<math>r_{\mathrm{R}}(\varphi_{\mathrm{R}})=\frac{a^{2}-e^{2}}{a+e\cos\varphi_{\mathrm{R}}}=\frac{p}{1+\varepsilon\cos\varphi_{\mathrm{R}}} \in[r_{\mathrm{peri}},r_{\mathrm{apo}}]<br />
\quad\text{mit}\quad 0\le\varphi_{\mathrm R}< 2\pi</math><br />
<br />
Hauptachse waagrecht, linker Brennpunkt als Pol, Polarachse längs Hauptachse nach rechts:<br />
<br />
:<math>r_{\mathrm{L}}(\varphi_{\mathrm{L}})=\frac{a^{2}-e^{2}}{a-e\cos\varphi_{\mathrm{L}}}=\frac{p}{1-\varepsilon\cos\varphi_{\mathrm{L}}} \in[r_{\mathrm{peri}},r_{\mathrm{apo}}]<br />
\quad\text{mit}\quad 0\le\varphi_{\mathrm L}< 2\pi</math><br />
<br />
Der Wertebereich der Radien erstreckt sich von der [[Periapsisdistanz]] <math>r_{\mathrm{peri}}</math> bis zur [[Apoapsisdistanz]] <math>r_{\mathrm{apo}}</math>, die folgende Werte haben:<br />
<br />
:<math>r_{\mathrm{peri}}=\frac{p}{1+\varepsilon}=a(1-\varepsilon)\ ,\qquad r_{\mathrm{apo}}=\frac{p}{1-\varepsilon}=a(1+\varepsilon)</math><br />
<br />
In kartesischen Koordinaten ausgedrückt, parametrisiert durch den Winkel <math>\varphi_{\mathrm R}</math> bzw. <math>\varphi_{\mathrm L}</math> der Polarkoordinaten, wobei der rechte Brennpunkt der Ellipse bei <math>(e|0)</math>, der linke Brennpunkt bei <math>(-e|0)</math> liegt:<br />
<br />
:<math>\begin{pmatrix}x\\ y \end{pmatrix}=<br />
\begin{pmatrix}e\\ 0 \end{pmatrix} +<br />
\frac p{1 + \varepsilon \cos \varphi_{\mathrm R}}<br />
\begin{pmatrix}\cos\varphi_{\mathrm R}\\ \sin\varphi_{\mathrm R} \end{pmatrix}<br />
\quad\text{mit}\quad 0\le\varphi_{\mathrm R}< 2\pi</math><br />
<br />
:<math>\begin{pmatrix}x\\ y \end{pmatrix}=<br />
\begin{pmatrix}-e\\ 0 \end{pmatrix} +<br />
\frac p{1 - \varepsilon \cos \varphi_{\mathrm L}}<br />
\begin{pmatrix}\cos\varphi_{\mathrm L}\\ \sin\varphi_{\mathrm L} \end{pmatrix}<br />
\quad\text{mit}\quad 0\le\varphi_{\mathrm L}< 2\pi</math><br />
<br />
Der Winkel <math>\varphi_{\mathrm{R}}</math> bzw. <math>\varphi_{\mathrm{L}}</math>, je nachdem welcher Pol Bezugspunkt ist, heißt in der Astronomie die [[wahre Anomalie]].<br />
<br />
;Herleitung<br />
Man betrachtet ein Dreieck, das von den beiden Fixpunkten <math>F_{\mathrm L}</math>, <math>F_{\mathrm R}</math> und einem beliebigen Punkt <math>P</math> auf der Ellipse aufgespannt wird.<br />
<br />
Die Abstände zwischen diesen Punkten betragen: <math>\overline{F_{\mathrm L} F_{\mathrm R}}=2e</math> sowie <math>\overline{F_{\mathrm L} P}=r_{\mathrm L}</math> und nach der Definition der Ellipse <math>\overline{F_{\mathrm R} P}=2a-r_{\mathrm L}</math>. Der Winkel bei <math>F_{\mathrm L}</math> sei <math>\varphi_{\mathrm L}=\angle F_{\mathrm R}F_{\mathrm L}P</math>. Mit dem [[Kosinussatz]] gilt nun:<br />
<br />
:<math>(2a-r_{\mathrm{L}})^{2}=(2e)^{2}+r_{\mathrm{L}}^{2}-2(2e)r_{\mathrm{L}}\cos\varphi_{\mathrm{L}}\quad\Longrightarrow\quad r_{\mathrm{L}}(a-\underbrace{e}_{a\varepsilon}\cos\varphi_{\mathrm{L}})=\underbrace{a^{2}-e^{2}}_{pa}</math><br />
<br />
Analog verläuft die Herleitung für den rechten Pol. Die Abstände lauten <math>\overline{F_{\mathrm L} F_{\mathrm R}}=2e</math> und <math>\overline{F_{\mathrm R} P}=r_{\mathrm R}</math> und <math>\overline{F_{\mathrm L} P}=2a-r_{\mathrm R}</math>. Der Winkel bei <math>F_{\mathrm R}</math> sei <math>\pi-\varphi_{\mathrm R}=\angle PF_{\mathrm R}F_{\mathrm L}</math>, da <math>\varphi_{\mathrm R}= \angle (S_{\mathrm R},F_{\mathrm R},P)</math> definiert ist, wobei <math>S_{\mathrm R}</math> den rechten Hauptscheitel markiert.<br />
<br />
:<math>(2a-r_{\mathrm{R}})^{2}=(2e)^{2}+r_{\mathrm{R}}^{2}-2(2e)r_{\mathrm{R}}\underbrace{\cos(\pi-\varphi_{\mathrm{R}})}_{-\cos\varphi_{\mathrm{R}}}\quad\Longrightarrow\quad r_{\mathrm{R}}(a+\underbrace{e}_{a\varepsilon}\cos\varphi_{\mathrm{R}})=\underbrace{a^{2}-e^{2}}_{pa}</math><br />
<br />
;Alternative Herleitung<br />
Durch Gleichsetzen der zweier Darstellungen von <math>r_{\mathrm{L}}^{2}-r_{\mathrm{R}}^{2}</math> erhält man:<br />
<br />
:<math>\left.\begin{array}{l}<br />
r_{\mathrm{L}}^{2}-r_{\mathrm{R}}^{2} =\left[y^{2}+(x+e)^{2}\right]-\left[y^{2}+(x-e)^{2}\right]=4ex=4a\varepsilon x\\<br />
r_{\mathrm{L}}^{2}-r_{\mathrm{R}}^{2} =(r_{\mathrm{L}}+r_{\mathrm{R}})(r_{\mathrm{L}}-r_{\mathrm{R}})=2a(r_{\mathrm{L}}-r_{\mathrm{R}})<br />
\end{array} \right\}<br />
\implies r_{\mathrm{L}}-r_{\mathrm{R}}=2\varepsilon x</math><br />
<br />
Dies entspricht einerseits mit <math>r_{\mathrm{R}}=2a-r_{\mathrm{L}}</math> und <math>x=r_{\mathrm{L}}\cos\varphi_{\mathrm{L}}-e</math><br />
<br />
:<math>2r_{\mathrm{L}}-2a=2\varepsilon(r_{\mathrm{L}}\cos\varphi_{\mathrm{L}}-e)\quad\Longrightarrow\quad r_{\mathrm{L}}(1-\varepsilon\cos\varphi_{\mathrm{L}})=a-\varepsilon e\equiv p</math><br />
<br />
und andererseits mit <math>r_{\mathrm{L}}=2a-r_{\mathrm{R}}</math> und <math>x=r_{\mathrm{R}}\cos\varphi_{\mathrm{R}}+e</math>:<br />
<br />
:<math>2a-2r_{\mathrm{R}}=2\varepsilon(r_{\mathrm{R}}\cos\varphi_{\mathrm{R}}+e)\quad\Longrightarrow\quad r_{\mathrm{R}}(1+\varepsilon\cos\varphi_{\mathrm{R}})=a-\varepsilon e\equiv p</math><br />
<br />
== Formelsammlung (Kurveneigenschaften) ==<br />
=== Tangentengleichung (kartesische Koordinaten) ===<br />
Mittelpunkt <math>(0|0)</math>, Hauptachse als <math>x</math>-Achse, Berührpunkt <math>(x_B|y_B)</math>:<br />
<br />
:<math>\frac{x_{B}x}{a^{2}}+\frac{y_{B}y}{b^{2}}=1\quad\iff\quad\frac{x_{B}(x-x_{B})}{a^{2}}+\frac{y_{B}(y-y_{B})}{b^{2}}=0</math><br />
<br />
Mittelpunkt <math>(x_0|y_0)</math> Hauptachse parallel zur <math>x</math>-Achse, Berührpunkt <math>(x_B|y_B)</math>:<br />
<br />
:<math>\frac{(x_B - x_0) (x - x_0)}{a^2} + \frac{(y_B - y_0) (y - y_0)}{b^2} = 1</math><br />
<br />
=== Tangentengleichung (Parameterform) ===<br />
Ein (unnormierter) Tangentenvektor an die Ellipse hat die Gestalt:<br />
<br />
:<math>\vec{T}=\frac{\mathrm{d}}{\mathrm{d}t}\begin{pmatrix}a\cos t\\ b\sin t \end{pmatrix}=\begin{pmatrix}-a\sin t\\ b\cos t \end{pmatrix}=\begin{pmatrix}-ay/b\\ bx/a \end{pmatrix}</math><br />
<br />
Die Tangentengleichung lautet in vektorieller Darstellung mit Mittelpunkt bei <math>(0|0)</math>, Hauptachse als <math>x</math>-Achse und Berührpunkt bei <math>(x_B|y_B)</math>:<br />
<br />
:<math>\begin{pmatrix}x\\ y \end{pmatrix}=\begin{pmatrix}x_{B}\\ y_{B} \end{pmatrix}+\mu\begin{pmatrix}-ay_{B}/b\\ bx_{B}/a \end{pmatrix}\quad\text{mit}\quad\mu\in\mathbb{R}</math><br />
<br />
=== Beziehung zwischen Polar- und Normalenwinkel ===<br />
[[Datei:Tangente an ellipse winkel.svg|mini|Die Winkel der Ellipsentangente]]<br />
<br />
Zwischen Polarwinkel <math>\varphi</math> und Normalenwinkel <math>\beta</math> und Ellipsenparameter <math>t</math> besteht folgender Zusammenhang (siehe nebenstehende Grafik)<br />
<br />
:<math>\tan\varphi=\frac{b}{a}\tan t=\frac{b^2}{a^2}\tan\beta=(1-\varepsilon^{2})\tan\beta</math><br />
<br />
;Herleitung<br />
Der Zusammenhang des Polarwinkels <math>\varphi</math> und dem Steigungswinkel der Normalen <math>\beta</math> (siehe Grafik rechts) lässt sich z.&nbsp;B. so finden:<br />
<br />
Auflösen der Tangentengleichung nach <math>y</math><br />
<br />
:<math>y=\frac{b^{2}}{y_{B}}-\frac{b^{2}x_{B}}{a^{2}y_{B}}x</math><br />
<br />
ergibt die Tangentensteigung <math>\tan(\alpha)=-\tan(\pi-\alpha)=\Delta y/\Delta x</math> als Koeffizient von <math>x</math> zu<br />
<br />
:<math>\tan\alpha=-\frac{b^{2}}{a^{2}}\frac{x_{B}}{y_{B}}=-\frac{b^{2}}{a^{2}}\frac{1}{\tan\varphi}.</math><br />
<br />
Mit <math>\tan\alpha=\tan(\beta+\pi/2)=-1/\tan\beta</math> erhält man den gesuchten Zusammenhang zwischen <math>\beta</math> und <math>\varphi</math>.<br />
<br />
=== Normalengleichung (kartesische Koordinaten) ===<br />
Mittelpunkt <math>(0|0)</math>, Hauptachse als <math>x</math>-Achse, Berührpunkt <math>(x_B|y_B)</math>:<br />
<br />
:<math> \left( 1-{\frac {y}{y_B}} \right) \frac {b^2}{a^2}+{\frac {x}{x_B}}=1</math><br />
<br />
oder auch<br />
<br />
:<math> b^2 \left( \frac {y}{y_B} - 1 \right) = a^2 \left( \frac {x}{x_B} - 1 \right)</math><br />
<br />
=== Normalengleichung (Parameterform) ===<br />
Ein (unnormierter) Normalenvektor an die Ellipse hat die Gestalt:<br />
<br />
:<math>\vec{N}=\begin{pmatrix}b\cos t\\ a\sin t \end{pmatrix}=\begin{pmatrix}bx/a\\ ay/b \end{pmatrix}</math><br />
<br />
Die Normalengleichung lautet in vektorieller Darstellung mit Mittelpunkt bei <math>(0|0)</math>, Hauptachse als <math>x</math>-Achse und Berührpunkt bei <math>(x_B|y_B)</math>:<br />
<br />
:<math>\begin{pmatrix}x\\ y \end{pmatrix}=\begin{pmatrix}x_{B}\\ y_{B} \end{pmatrix}+\mu\begin{pmatrix}bx_{B}/a\\ ay_{B}/b \end{pmatrix}\quad\text{mit}\quad\mu\in\mathbb{R}</math><br />
<br />
=== Krümmungsradien und -mittelpunkte ===<br />
Krümmungsradius im Punkt <math>(x_p|y_p)</math>:<br />
:<math>r = a^2 b^2 \left(\frac{x_{p}^{2}}{a^4} + \frac{y_{p}^{2}}{b^4}\right)^{3/2} = \frac{1}{a^4 b^4} \sqrt{\left(a^4 y_{p}^{2} + b^4 x_{p}^{2}\right)^3}</math><br />
<br />
Mittelpunkt des Krümmungskreises, Krümmungsmittelpunkt <math>M(\xi|\eta)</math>:<br />
:<math>\xi = \frac{e^2 x_{p}^{3}}{a^4} \qquad \eta = -\frac{e^2 y_{p}^{3}}{b^4} \qquad \vert\, e^2 = a^2 \varepsilon^2 = a^2 - b^2</math><br />
<br />
Krümmungsradius und -mittelpunkt in einem der beiden Hauptscheitel <math>(\pm a|0)</math>:<br />
:<math>r_\mathrm{H} = \frac{b^2}{a} \qquad M_\mathrm{H}\left(\xi = \pm\frac{e^2}{a}\,\bigg|\,\eta = 0\right)</math><br />
<br />
Krümmungsradius und -mittelpunkt in einem der beiden Nebenscheitel <math>(0|\pm b)</math>:<br />
:<math>r_\mathrm{N} = \frac{a^2}{b} \qquad M_\mathrm{N}\left(\xi = 0\,\bigg|\,\eta = \pm\frac{e^2}{b}\right)</math><br />
<br />
== Formelsammlung (Flächeninhalt und Umfang) ==<br />
=== Flächeninhalt ===<br />
Mit den Halbachsen <math>a</math> und <math>b</math>:<br />
<br />
:<math>A = \pi a b = \pi a^2 \sqrt{1-\varepsilon^2}</math><br />
<br />
Ist die Ellipse durch eine implizite Gleichung<br />
<br />
:<math>\alpha x^2+ \beta x y + \gamma y^2 + 1 = 0</math><br />
<br />
gegeben, dann beträgt ihr Flächeninhalt<br />
<br />
:<math>A=\frac{2\pi}{\sqrt{ 4 \alpha \gamma - \beta^2 }}.</math><br />
<br />
;Ellipsensektor<br />
Für eine Ellipse mit den Halbachsen <math>a</math> und <math>b</math> und einen Sektor, der mit der großen Halbachse den Winkel <math>\varphi \in \left]0, \frac{\pi}{2} \right[</math> einschließt, gilt:<br />
:<math>A_{\mathrm{Sektor}}= \frac{ab}{2} \arctan \left(\frac{a}{b} \tan(\varphi) \right)</math><br />
<br />
Beschreibt man den Ellipsensektor statt durch den Polarwinkel durch den Parameter <math>t</math> aus der Parameterdarstellung <math>(x,y) = (a \cos t, b \sin t)</math>, so erhält man die Formel<br />
<br />
:<math>A_{\mathrm{Sektor}} = \frac{a b}{2} t.</math><br />
<br />
=== Umfang ===<br />
<br />
==== Formel ====<br />
Der Umfang <math>U</math> einer Ellipse mit großer Halbachse <math>a</math> und kleiner Halbachse <math>b</math> berechnet sich zu<br />
:<math>U = 4a\cdot E(\varepsilon)</math>,<br />
<br />
wobei <math>E(k)</math> für das vollständige [[Elliptisches Integral|elliptische Integral]] zweiter Art steht. Die [[Exzentrizität (Mathematik)|numerische Exzentrizität]] <math>\varepsilon</math> berechnet sich bei Ellipsen als<br />
<br />
:<math>\varepsilon = \sqrt{1-\frac{b^2}{a^2}}</math>.[[Datei:Ellipsenumfang.svg|mini|Diagramm zur Berechnung des Ellipsenumfangs <math>U = k \cdot a</math> mit <math>k = 4 E(\varepsilon)</math>]]<br />
<br />
==== Herleitung ====<br />
Der Umfang <math>U</math> einer Ellipse kann nicht exakt durch [[elementare Funktion]]en ausgedrückt werden. Er kann aber mithilfe eines Integral dargestellt werden, das daher [[elliptisches Integral]] genannt wird.<br />
<br />
Die Formel für die [[Bogenlänge]] <math>L</math> einer [[Kurve (Mathematik)|Kurve]] <math>\mathcal C</math> lautet<br />
<br />
:<math>L = \int\limits_{\mathcal C} |\gamma'(t)|\;\mathrm dt </math>.<br />
<br />
Für die Ellipse mit der Parameterdarstellung <math>\;(a\cos t,b\sin t),\; 0\le t \;<2\pi,\;</math> ergibt sich unter Berücksichtigung der Symmetrie für den Umfang <math>U</math><br />
:<math>U=4\int_{0}^{\pi/2}\sqrt{a^2 \cdot \sin^2t + b^2 \cdot \cos^2 t}\; \mathrm dt</math>.<br />
Ausklammern von <math>a^2</math>, Verwendung von <math>\; \sin^2t=1-\cos^2t\; </math> und <math>\;\varepsilon^2 = 1-\frac{b^2}{a^2}\;</math> führt zu<br />
<br />
:<math>U = 4a \cdot \int_{0}^{\frac{\pi}{2}} \sqrt{1 -\varepsilon^2\cdot \cos^2t}\;\mathrm dt\ .</math><br />
<br />
Durch die [[Integration durch Substitution|Substitution]] <math>\vartheta = \frac{\pi}{2} - t,\;\mathrm dt = -\mathrm d\vartheta</math> erhalten wir die folgende Form.<ref>Das Minuszeichen wird durch die Substitution der Integrationsgrenzen eliminiert.</ref> Das Integral auf der rechten Seite nennt man vollständiges [[elliptisches Integral]] zweiter Art <math>E(\varepsilon)</math><br />
<br />
:<math>E(\varepsilon) = \int_{0}^{\frac{\pi}{2}} \sqrt{1 - \varepsilon^2\cdot \sin^2\vartheta}\;\mathrm d\vartheta </math>.<br />
<br />
Der Umfang <math>U</math> der Ellipse ist damit<br />
<br />
:<math>U = 4a \cdot E(\varepsilon),\quad \varepsilon= \sqrt{1-\frac{b^2}{a^2}}</math>.<br />
<br />
Der Umfang <math>U</math> hängt also von der [[Numerische Exzentrizität|numerischen Exzentrizität]] <math>\varepsilon</math> und der großen Halbachse <math>a</math> ab. Mithilfe des nebenstehenden Diagramms kann bei gegebener Exzentrizität <math>\varepsilon</math> der Wert des Faktors <math>k = 4 E(\varepsilon)</math> für den Umfang <math>U = k \cdot a</math> abgelesen werden. <math>k</math> liegt für jede Ellipse zwischen den Extremfällen <math>k = 4</math> (<math>\varepsilon = 1</math>, entartete Ellipse als Linie) und <math>k = 2\pi</math> (<math>\varepsilon = 0</math>, Ellipse wird zum Kreis).<br />
<br />
==== Reihenentwicklung ====<br />
: <math>\begin{align}<br />
U &= 2 a \pi \left( 1 - \sum_{i=1}^\infty \left( \prod_{j=1}^i \frac{2j-1}{2j} \right)^2 \frac{\varepsilon^{2i}}{2i-1} \right)\\<br />
& = 2a \pi \left[1 - \left(\frac 12\right)^2 \varepsilon^2 - \left(\frac{1 \cdot 3}{2 \cdot 4}\right)^2 \frac{\varepsilon^4}3 - \ldots - \left(\frac{1 \cdot 3 \cdot 5 \dotsm (2n-1)}{2 \cdot 4 \cdot 6 \dotsm 2n}\right)^2 \frac{\varepsilon^{2n}}{2n-1} - \ldots \right]<br />
\end{align}</math><br />
<br />
Für <math>\varepsilon</math> nahe 1 konvergiert diese Reihenentwicklung extrem langsam. Es empfiehlt sich daher eine numerische Integration, z.&nbsp;B. nach dem [[Romberg-Verfahren]].<br />
<br />
Eine Reihe, die schneller konvergiert, beruht auf der Gauß-Kummer-Reihe.<ref>Eine von der hier aufgeführten Formel abweichende Form (die natürlich die gleichen Werte erzeugt) ist auf [http://mathworld.wolfram.com/Gauss-KummerSeries.html math.wolfram.com] angeführt.</ref> Für eine Ellipse mit den Halbachsen <math>a</math> und <math>b</math> (mit <math>a>b</math>) wird <math>\lambda = \tfrac{a-b}{a+b}</math> definiert. Dann ergibt sich:<ref>Gérard P. Michon: [http://www.numericana.com/answer/ellipse.htm#elliptic ''Perimeter of an Ellipse.''] Abschnitt ''Very Precise Fast Computations.'' Auf: ''numericana.com.'' Abgerufen am 26. Juli 2015.</ref><br />
:<math>\begin{align}<br />
U &= \pi (a+b) \left( 1 + \sum_{n=0}^{\infty}<br />
\left( \frac{ \binom{2n}{n} }{ (n+1) 2^{2n+1} }\right)^2\ \lambda^{2n+2}\right)<br />
\\ &= \pi (a+b) \left( 1 + \frac{\lambda^2}{4} + \frac{\lambda^4}{64} + \frac{\lambda^6}{256}<br />
\ + \frac{25\lambda^8}{16\,384} + \frac{49\lambda^{10}}{65\,536} +<br />
\frac{441\lambda^{12}}{1\,048\,576} + \frac{1\,089\lambda^{14}}{4\,194\,304} + \dotsb +<br />
\ \left(\frac{ 1 \cdot 3 \cdot 5 \dotsm (2n-1) }<br />
{ 2 \cdot 4 \cdot 6 \cdot 8 \dotsb (2n+2) }\right)^2 \lambda^{2n+2}<br />
+ \dotsb \right)<br />
\end{align}</math><br />
<!-- weitere Summanden in der Klammer: + \frac{184\,041\lambda^{16}}{1\,073\,741\,824}<br />
+ \frac{511\,225\lambda^{18}}{4\,294\,967\,296} + \frac{5\,909\,761\lambda^{20}}{68\,719\,476\,736}<br />
+ \frac{17\,631\,601\lambda^{22}}{274\,877\,906\,944} + \frac{863\,948\,449\lambda^{24}}{17\,592\,186\,044\,416} --><br />
<br />
==== Näherungen ====<br />
===== Näherung mit Hilfe des [[Arithmetisches Mittel|arithmetischen Mittels]] der Halbachsen =====<br />
:<math>U \approx \pi (a + b)</math><br />
:; Genauigkeit dieser Formel:<br />
{| class="wikitable"<br />
! Exz. ε !! q = b / a !! Fehler<br />
|-<br />
| = 0,000 || 1,000 || 0 (Kreis: exakt)<br />
|-<br />
| < 0,051 || > 0,9987 || < 10<sup>−7</sup><br />
|-<br />
| < 0,090 || > 0,996 || < 10<sup>−6</sup><br />
|-<br />
| < 0,1582 || > 0,9874 || < 10<sup>−5</sup><br />
|-<br />
| < 0,277 || > 0,961 || < 0,01 %<br />
|-<br />
| < 0,46 || > 0,885 || < 0,1 %<br />
|-<br />
| < 0,75 || > 0,66 || < 1 %<br />
|-<br />
| < 0,83 || > 0,55 || < 2 %<br />
|-<br />
| < 0,927 || > 0,37 || < 5 %<br />
|-<br />
| < 0,978 || > 0,21 || < 10 %<br />
|-<br />
| < 0,999 || > 0,044 || < 18,3 %<br />
|-<br />
| < 1,000 || > 0,000 || < 21,46 %<br />
|}<br />
<br />
===== Näherung mit Hilfe des [[Quadratisches Mittel|quadratischen Mittels]] der Halbachsen =====<br />
:<math>U \approx 2 \pi {\sqrt {\frac{1}2 (a^2+b^2)}} = \pi {\sqrt {2 (a^2+b^2)}}</math><br />
<br />
:; Genauigkeit dieser Formel:<br />
{| class="wikitable"<br />
! Exz. ε !! q = b / a !! Fehler<br />
|-<br />
| = 0,000 || = 1,0000 || 0 (Kreis: exakt)<br />
|-<br />
| < 0,016 || > 0,9999 || < 10<sup>−9</sup><br />
|-<br />
| < 0,026 || > 0,9997 || < 10<sup>−8</sup><br />
|-<br />
| < 0,047 || > 0,9989 || < 10<sup>−7</sup><br />
|-<br />
| < 0,084 || > 0,9965 || < 10<sup>−6</sup><br />
|-<br />
| < 0,149 || > 0,9888 || < 10<sup>−5</sup><br />
|-<br />
| < 0,262 || > 0,9651 || < 0,01 %<br />
|-<br />
| < 0,450 || > 0,8930 || < 0,1 %<br />
|-<br />
| < 0,720 || > 0,6937 || < 1 %<br />
|-<br />
| < 0,808 || > 0,5891 || < 2 %<br />
|-<br />
| < 0,914 || > 0,4037 || < 5 %<br />
|-<br />
| < 0,977 || > 0,2104 || < 10 %<br />
|-<br />
| < 1,000 || > 0,000 || < 14,91 %<br />
|}<br />
<br />
===== Näherungsformel nach [[S. Ramanujan|Ramanujan]] =====<br />
:<math>U \approx \pi \left( (a+b) \, + \, \frac{3 (a-b)^2}{10(a+b)+\sqrt{a^2+14ab+b^2}} \right)</math><br />
: bzw.<br />
:<math>U \approx \pi (a+b) \left(1+ \frac{3\lambda^2}{10+\sqrt{4-3\lambda^2}} \right)</math>, wobei <math>\quad \lambda = \frac{a-b}{a+b}</math>.<br />
<br />
Diese Näherung ist in einem weiten <math>\varepsilon</math>-Bereich von <math>0 \leq \varepsilon \leq 0{,}9</math> sehr genau und ergibt im gesamten Bereich stets einen etwas zu kleinen Wert, der monoton mit <math>\varepsilon</math> zunimmt.<br />
<br />
Der relative Fehler beträgt:<br />
{| class="wikitable" style="text-align:center"<br />
|-<br />
! Bereich<br />
! rel. Fehler<br />
|-<br />
| 0,0000 ≤ ε ≤ 0,8820<br />
| &lt; 10<sup>−9</sup><br />
|-<br />
| 0,8820 &lt; ε ≤ 0,9242<br />
| &lt; 10<sup>−8</sup><br />
|-<br />
| 0,9242 &lt; ε ≤ 0,9577<br />
| &lt; 10<sup>−7</sup><br />
|-<br />
| 0,9577 &lt; ε ≤ 0,9812<br />
| &lt; 10<sup>−6</sup><br />
|-<br />
| 0,9812 &lt; ε ≤ 0,9944<br />
| &lt; 10<sup>−5</sup><br />
|-<br />
| 0,9944 &lt; ε ≤ 0,9995<br />
| &lt; 10<sup>−4</sup><br />
|-<br />
| 0,9995 &lt; ε ≤ 1,0000<br />
| &lt; 0,000403<br />
|}<br />
Für <math>\varepsilon=\lambda=1</math> erhält man statt 4 den minimal zu kleinen Wert <math>\tfrac {14}{11} \pi</math>.<br />
<br />
{{Siehe auch|Meridianbogen}}<br />
<br />
== Schriftzeichen ==<br />
{{Zeichen|[[Datei:Ellipses-Symbola.svg|120px]]}}<br />
<br />
[[Unicode]] enthält im Block [[Unicodeblock Verschiedene Symbole und Pfeile|Verschiedene Symbole und Pfeile]] vier Ellipsensymbole, die als [[Grafikzeichen]] oder [[Schmuckzeichen]] in beliebigem Text (auch [[Fließtext]]) verwendet werden können:<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|-<br />
! Unicode !! Zeichen !! Name !! [[LaTeX]]<ref name="LSym">{{LaTeX Symbol List|135}}</ref><br />
|-<br />
| U+2B2C || &#x2B2C; || {{Kapitälchen|black horizontal ellipse}} (Vollflächige horizontale Ellipse) || <code>\EllipseSolid</code><br />
|-<br />
| U+2B2D || &#x2B2D; || {{Kapitälchen|white horizontal ellipse}} (Hohle horizontale Ellipse) || <code>\Ellipse</code><br />
|-<br />
| U+2B2E || &#x2B2E; || {{Kapitälchen|black vertical ellipse}} (Vollflächige vertikale Ellipse) || {{FN|Anm.|gruppe=latex}}<br />
|-<br />
| U+2B2F || &#x2B2F; || {{Kapitälchen|white vertical ellipse}} (Hohle vertikale Ellipse) || {{FN|Anm.|gruppe=latex}}<br />
|}<br />
<br />
{{FNZ|Anm.|gruppe=latex|<small>Durch Rotation der horizontalen Variante mit Hilfe des Paketes ''rotating,'' das bei den üblichen LaTeX-Distributionen vorinstalliert ist.</small>}}<br />
<br />
LaTeX kennt außerdem noch eine hohle horizontale Ellipse mit Schatten rechts: <code>\EllipseShadow</code>.<ref name="LSym" /><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Steiner-Ellipse]]<br />
* [[Konfokale Kegelschnitte]]<br />
* [[Gabriel Lamé]] verallgemeinerte die Ellipse zur laméschen Kurve ([[Superellipse]]).<br />
* [[Ellipsoid]]<br />
* Der [[Rotationskörper]] mit einem elliptischen Querschnitt ist ein [[Rotationsellipsoid]].<br />
* [[Homöoid]]<br />
* [[Fokaloid]]<br />
* [[Feynmans verschollene Vorlesung: Die Bewegung der Planeten um die Sonne]]<br />
* [[Mittlere Bewegung]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary}}<br />
{{Commonscat|Ellipses|Ellipsen}}<br />
* {{MathWorld|id=Ellipse|title=Ellipse}}<br />
* [http://www.mathematische-basteleien.de/ellipse.htm mathematische-basteleien.de]<br />
<br />
'''Berechnungen'''<br />
* [http://www.mathematik-online.de/F57.htm#Ellipse Formeln zum ''Ellipsenumfang'' mit Beispielrechnung]<br />
* [http://www.mathematik.ch/anwendungenmath/ellipsenumfang/ Website zum Berechnen eines ''Ellipsenumfangs'']<br />
* [http://krottbrand.bplaced.net/filemanager/javas/ellipse9.html Tangenten und Schnitt mit einer Geraden] ([[JavaScript]])<br />
* [http://arndt-bruenner.de/mathe/scripts/ellipsenrechner.htm Ellipsenberechnung aus zwei Größen bzw. aus zwei, vier oder fünf Punkten; Tangenten, Normalen]<br />
<br />
'''Konstruktion'''<br />
<br />
Für alle folgenden Links wird ein [[Java Runtime Environment|Java]]-[[Plug-in]] benötigt.<br />
* [http://www-hm.ma.tum.de/cinderella/Daten/Akrebi.html Webseite mit der Möglichkeit, Ellipsenkonstruktionen interaktiv auszuprobieren]<br />
* [http://www.history.didaktik.mathematik.uni-wuerzburg.de/ausstell/ellipsenzirkel/index.html Ellipsenzirkel]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* C. Leopold: ''Geometrische Grundlagen der Architekturdarstellung.'' Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2005, ISBN 3-17-018489-X, S.&nbsp;55–66.<br />
* Peter Proff: ''Die Deutung der Begriffe „Ellipse“, „Parabel“ und „Hyperbel“ nach Apollonios v. Perge.'' In: ''„Gelêrter der arzeniê, ouch apotêker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift zum 70. Geburtstag von Willem F. Daems.'' Hrsg. von [[Gundolf Keil]], Horst Wellm Verlag, Pattensen/Hannover 1982 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, 24), ISBN 3-921456-35-5, S. 17–34.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4194779-4}}<br />
<br />
[[Kategorie:Kurve (Geometrie)]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Spektralsatz&diff=192498913Spektralsatz2019-09-23T00:28:57Z<p>Udo.bellack: /* Projektionsversion des Spektralsatzes */ fix index d_k</p>
<hr />
<div>Unter dem Begriff '''Spektralsatz''' versteht man verschiedene miteinander verwandte [[Satz (Mathematik)|mathematische Aussagen]] aus der [[Lineare Algebra|Linearen Algebra]] und der [[Funktionalanalysis]]. Die einfachste Variante macht eine Aussage über die [[Diagonalisierbarkeit]] einer bestimmten Klasse von [[Matrix (Mathematik)|Matrizen]]. Die weiteren hier betrachteten Spektralsätze übertragen dieses Prinzip auf Operatoren zwischen unendlichdimensionalen Räumen. Der Name leitet sich vom „Spektrum“ der [[Eigenwert]]e her.<br />
<br />
== Spektralsatz für Endomorphismen endlichdimensionaler Vektorräume ==<br />
=== Aussage ===<br />
Für einen [[Dimension (Vektorraum)|endlichdimensionalen]] [[Unitärer Raum|unitären]] <math>\mathbb{K}</math>-Vektorraum (<math>\mathbb{K}=\mathbb{R}</math> oder <math>\mathbb{K}=\mathbb{C}</math>) existiert genau dann eine [[Orthonormalbasis]] von [[Eigenvektor]]en eines [[Endomorphismus]], wenn dieser [[Normaler Operator|normal]] ist und alle Eigenwerte zu <math>\mathbb{K}</math> gehören.<br />
<br />
In Matrixsprechweise bedeutet dies, dass eine Matrix genau dann unitär diagonalisierbar ist, wenn sie [[Normale Matrix|normal]] ist und nur Eigenwerte aus <math>\mathbb{K}</math> hat. Eine weitere gebräuchliche Formulierung ist, dass eine Matrix <math>A</math> genau dann normal ist, wenn sie unitär diagonalisierbar ist, also eine [[unitäre Matrix]] <math>U</math> (gleicher Dimension) existiert, so dass<br />
::<math>U^*AU=D</math><br />
<br />
mit <math>D:=\text{diag}(\lambda_1,\ldots,\lambda_n)</math>, eine Diagonalmatrix mit den Eigenwerten <math>\lambda_1,\ldots,\lambda_n</math> von <math>A</math> auf der [[Hauptdiagonale]]n, ist.<br />
<br />
=== Bemerkungen ===<br />
* Für <math>\mathbb{K}=\mathbb{C}</math> ist die Bedingung, dass alle Eigenwerte in <math>\mathbb{K}</math> liegen, stets erfüllt (<math>\mathbb{C}</math> ist [[algebraisch abgeschlossen]] nach dem [[Fundamentalsatz der Algebra]]), also sind hier alle normalen Matrizen unitär diagonalisierbar. Für <math>\mathbb{K}=\mathbb{R}</math> gilt dies nicht.<br />
<br />
* Ein [[selbstadjungiert]]er Endomorphismus bzw. eine [[hermitesche Matrix]] hat nur reelle Eigenwerte. Der Spektralsatz besagt also, dass alle hermiteschen Matrizen diagonalisierbar sind und ein Endomorphismus genau dann selbstadjungiert ist, wenn es eine Orthonormalbasis von Eigenvektoren gibt und alle Eigenwerte reell sind. Insbesondere sind reelle [[Symmetrische Matrix|symmetrische Matrizen]] stets diagonalisierbar.<br />
<br />
== Spektralsatz für kompakte Operatoren ==<br />
=== Aussage ===<br />
Sei <math>H</math> ein <math>\mathbb{K}</math>-[[Hilbertraum]] und <math>T \colon H \to H</math> ein [[Kompakter Operator|linearer kompakter Operator]], der im Fall <math>\mathbb{K} = \Complex</math> [[Normaler Operator|normal]] beziehungsweise im Fall <math>\mathbb{K} = \R</math> [[Selbstadjungierter Operator|selbstadjungiert]] ist. Dann existiert ein (eventuell endliches) [[Orthonormalsystem]] <math>e_1 , e_2, \ldots </math> sowie eine [[Nullfolge]] <math>(\lambda_k)_{k \in \mathbb{N}}</math> in <math>\mathbb{K} \backslash \{0\}</math>, so dass<br />
:<math>H = \ker(T) \oplus \overline{\operatorname{span}(\{e_1, e_2, \ldots \})}</math><br />
sowie<br />
:<math>Tx = \sum_{k = 1}^\infty \lambda_k \langle e_k, x \rangle e_k</math><br />
für alle <math>x \in H</math> gilt. Die <math>\lambda_k</math> sind für alle <math>k \in \N</math> [[Eigenwert]]e von <math>T</math> und <math>e_k</math> ist ein [[Eigenvektor]] zu <math>\lambda_k</math>. Außerdem gilt <math>\textstyle \|T\| = \sup_{k \in \N} |\lambda_k|</math>, wobei <math>\|\cdot\|</math> die Operatornorm ist.<br />
<br />
=== Projektionsversion des Spektralsatzes ===<br />
Man kann den Spektralsatz für kompakte Operatoren mit Hilfe von [[Orthogonalprojektion]]en umformulieren. Sei <math>H</math> wieder ein <math>\mathbb{K}</math>-Hilbertraum und <math>T \colon H \to H</math> ein linearer kompakter Operator, der im Fall <math>\mathbb{K} = \Complex</math> normal beziehungsweise im Fall <math>\mathbb{K} = \R</math> selbstadjungiert ist. Mit <math>E_k</math> wird die Orthogonalprojektion auf den zu <math>\lambda_k</math> gehörenden [[Eigenraum]] <math>\operatorname{ker}(\lambda_k \mathrm{id}_H - T)</math> bezeichnet. Der Operator <math>E_k</math> hat also die Darstellung <math>\textstyle E_kx = \sum_{i = 1}^{d_k}\langle e^k_i, x \rangle e_i^k</math>, wobei <math>d_k</math> die Dimension des Eigenraums <math>\operatorname{ker}(\lambda_k \mathrm{id}_H - T)</math> und <math>\{e_1^k, \ldots , e_{d_k}^k\}</math> eine Orthonormalbasis des Eigenraums ist. Dann kann der Spektralsatz umformuliert werden: Es existiert eine Nullfolge von Eigenwerten <math>(\lambda_k)_{k \in \mathbb{N}}</math> in <math>\mathbb{K} \backslash \{0\}</math>, sodass<br />
:<math>Tx = \sum_{k = 1}^\infty \lambda_k E_k x</math><br />
für alle <math>x \in H</math> gilt. Diese Reihe [[Punktweise Konvergenz|konvergiert nicht nur punktweise]], sondern auch bezüglich der Operatornorm.<br />
<br />
== Spektralsatz für beschränkte Operatoren ==<br />
=== Aussage ===<br />
Sei <math>H</math> ein Hilbertraum und <math>T \colon H \to H</math> ein selbstadjungierter stetiger [[linearer Operator]]. Dann existiert ein eindeutig bestimmtes [[Spektralmaß]] <math>E \colon \Sigma \to L(H,H)</math> mit kompaktem Träger in <math>\R</math> mit<br />
:<math>T = \int_{\sigma(T)} \lambda \, \mathrm{d} E_\lambda .</math><br />
Dabei bezeichnet <math>\Sigma</math> die [[borelsche σ-Algebra]] von <math>\R</math>, <math>L(H,H)</math> die Menge der beschränkten Operatoren auf <math>H</math> und <math>\sigma(T)</math> das [[Spektrum (Operatortheorie)|Spektrum]] von <math>T</math>.<br />
<br />
=== Zusammenhang zu den vorigen Spektralsätzen ===<br />
* Ist <math>H</math> endlichdimensional, gilt also <math>H \cong \Complex^n</math>, so besitzt der selbstadjungierte Operator <math>T</math> die paarweise verschiedenen Eigenwerte <math>\mu_1, \ldots , \mu_m</math> und es gilt wie im Artikel schon dargestellt<br /><math style="margin-left:2em">T = \sum_{i=1}^m \mu_i E_{\{\mu_i\}},</math><br />wobei <math>E_{\{\mu_i\}}</math> die Orthogonalprojektion auf den Eigenraum <math>\operatorname{ker}(\mu_i - T)</math> von <math>\mu_i</math> ist. Das Spektralmaß von <math>T</math> ist dann für alle <math>A \in \Sigma</math> durch<br /><math style="margin-left:2em">E_A = \sum_{\{i: \mu_i \in A\}} E_{\{\mu_i\}}</math><br />gegeben. Daher reduziert sich der Spektralsatz für beschränkte Operatoren mit <math>\textstyle T = \sum_{i=1}^m \mu_i E_{\{\mu_i\}}</math> auf den Spektralsatz aus der linearen Algebra.<br />
* Sei <math>T \colon H \to H</math> ein linearer kompakter Operator, so wurde im Artikel ebenfalls dargestellt, dass für solche Operatoren ein Spektralsatz existiert. Sei <math>(\mu_i)_{i \in \N}</math> die Folge der Eigenwerte von <math>T</math> und wählt man wieder <math>\textstyle E_A = \sum_{\{i: \mu_i \in A\}} E_{\{\mu_i\}}</math> als Spektralmaß, wobei die Summe dann im Allgemeinen abzählbar viele Summanden hat und punktweise, aber nicht bezüglich der [[Operatornorm]], konvergiert, dann vereinfacht sich der Spektralsatz für beschränkte Operatoren zu<br /><math style="margin-left:2em">T = \sum_{i =1}^\infty \mu_i E_{\{\mu_i\}}.</math><br />Daher umfasst der Spektralsatz für beschränkte Operatoren auch den Spektralsatz für kompakte Operatoren.<br />
<br />
=== Beispiel ===<br />
Der Operator <math>T \colon L^2([0,1]) \to L^2([0,1])</math> definiert durch <math>T(x)(t) = t \cdot x(t)</math> ist selbstadjungiert mit <math>\sigma(T) \subset [0,1]</math> und besitzt keine Eigenwerte. Das Spektralmaß <math>E_Ax = \chi_{A \cap [0,1]} x</math> mit <math>A \in \Sigma</math> ist ein Spektralmaß mit kompaktem Träger. Es stellt <math>T</math> dar, denn es gilt<br />
:<math>\int \lambda \, \mathrm{d} \langle E_\lambda x,y\rangle = \int_{[0,1]} \lambda x(\lambda) \overline{y(\lambda)} \, \mathrm{d} \lambda = \langle Tx,y\rangle_{L^2([0,1])}.</math><br />
<br />
=== Messbarer Funktionalkalkül ===<br />
{{Hauptartikel|Beschränkter Borel-Funktionalkalkül}}<br />
Sei <math>T \in L(H,H)</math> ein selbstadjungierter Operator. Der messbare Funktionalkalkül ist ein eindeutig bestimmter, stetiger, involutiver Algebrenhomomorphismus <math>\hat{\Phi} \colon \mathcal B(\sigma(T)) \to L(H,H)</math>. Mit Hilfe der Spektralzerlegung erhält man eine einfache Darstellung dieser Abbildung. Es gilt nämlich<br />
:<math>\hat{\Phi}(f) = f(T) = \int_{\sigma(T)} f(\lambda) \mathrm{d} E_\lambda.</math><br />
<br />
== Spektralsatz für unbeschränkte Operatoren ==<br />
Ist <math>A</math> ein [[Unbeschränkter Operator#Unbeschränkte lineare Operatoren|dicht definierter]] [[Normaler Operator|normaler]] Operator auf einem [[Komplexe Zahlen|komplexen]] [[Hilbertraum]] <math>H</math>,<br />
so existiert ein eindeutig bestimmtes Spektralmaß <math>E</math><br />
auf den [[Borel-Menge]]n von <math>\mathbb{C}</math>, so dass folgendes gilt (<math>\sigma(A)</math> sei das Spektrum von <math>A</math>):<br />
* <math>A = \int_{z \in \sigma(A)} z \,\mathrm{d}E(z)</math><br />
* Für eine Menge <math>M \subseteq \mathbb{C}</math> mit <math>M \cap \sigma(A) = \emptyset</math> gilt <math>E(M) = 0</math>.<br />
* Für eine offene Menge <math>M \subseteq \mathbb{C}</math> mit <math>M \cap \sigma(A) \neq \emptyset</math> gilt <math>E(M) \neq 0</math>.<br />
<br />
Ein selbstadjungierter Operator ist normal mit reellem Spektrum; man kann das obige Integral also auf reelle Zahlen beschränken.<br />
<br />
Der Definitionsbereich ist gegeben durch<br />
<br />
:<math>D(A) = \left\{ x\in H \left| \int_{\sigma(A)} |\lambda|^2 \mathrm{d} \langle E_\lambda x, x\rangle < \infty \right.\right\}</math><br />
<br />
und der quadratische Formenbereich durch<br />
<br />
:<math>Q(A) = \left\{ x\in H \left| \int_{\sigma(A)} |\lambda| \mathrm{d} \langle E_\lambda x, x\rangle < \infty \right.\right\}</math>.<br />
<br />
Letzterer ist offensichtlich der maximale Definitionsbereich für die zugehörige [[quadratische Form]] <math>\langle A x, x \rangle</math> die in der Quantenmechanik besonders wichtig ist.<br />
<br />
Eine äquivalente Formulierung des Spektralsatzes lautet, dass <math>A</math> [[Unitärer Operator|unitär]] äquivalent zu einem Multiplikationsoperator über einem Raum <math>L_2(\Omega)</math> (für einen [[Maßtheorie|Maßraum]] <math>\Omega</math>) mit einer komplexwertigen [[Maßtheorie|messbaren Funktion]] <math>f \colon \Omega\to \mathbb{C}</math> ist; ist <math>A</math> selbstadjungiert, so ist <math>f</math> reellwertig.<br />
<br />
Ein normaler Operator im Komplexen kann in der Regel als ''Summe zweier mit der reellen bzw. der imaginären Einheit multiplizierter, miteinander vertauschbarer selbstadjungierter Operatoren'' geschrieben werden (''„Realteil“ + <math>i\,</math>„Imaginärteil“''), <math>A=\hat W_1+i \hat W_2\,,\hat W_i\equiv\hat W_i^\dagger \,, \,\hat W_1\hat W_2=\hat W_2\hat W_1\,.</math> Ferner gilt – wegen der Vertauschbarkeit der <math>\hat W_i</math> – , dass der Operator <math>\hat W_2\,</math> und der Operator <math>\hat W_1</math> dieselben ''Eigenvektoren'' haben (trotz ggf. verschiedener ''Eigenwerte''). So könnte <math>W_2</math> eine ''Funktion'' des selbstadjungierten Operators <math>\hat W_1</math> sein, <math>\hat W_2\equiv f_2(\hat W_1)\,,</math> mit geeignetem <math>f_2</math>. Dann käme es letztlich nur auf eine einzige (reelle!) Spektraldarstellung an, etwa die von <math>\hat W_1\,\,(=\frac{A+A^\dagger}{2})</math>, und es würde zum Beispiel gelten, dass<br /> <math>\textstyle\hat W_1= \int_{x \in \sigma(\hat W_1)} \,x \,\mathrm{d}E(x)</math> &nbsp;&nbsp;und&nbsp;&nbsp; <math>\textstyle\hat W_2\,\,(=\frac{A-A^\dagger}{2i})= \int_{x \in \sigma(\hat W_1)} \,f_2(x) \,\mathrm{d}E(x)</math> ist.<br />
<br />
== Rolle in der Quantenmechanik ==<br />
<br />
In der [[Quantenmechanik]] hat der Spektralsatz („Entwicklungssatz“) eine zentrale Bedeutung, da messbare physikalische Größen, sogenannte „[[Observable]]n“, durch ''selbstadjungierte Operatoren'' auf einem Hilbertraum dargestellt werden.<br />
Die möglichen Messwerte einer Observablen entsprechen ihrem Spektrum, welches in Punktspektrum (oder „diskretes Spektrum“) und kontinuierliches<br />
Spektrum zerfällt. Die Elemente des Punktspektrums werden auch Eigenwerte genannt. Für eine diskrete Observable, d.&nbsp;h. eine Observable ohne kontinuierliches Spektrum, ist die Wahrscheinlichkeit, für einen gegebenen [[Zustand (Quantenmechanik)|quantenmechanischen Zustand]] <math>|\psi\rangle</math><br />
den Messwert <math>\lambda_j</math> zu erhalten, gegeben durch das [[Betragsquadrat]] des Skalarproduktes <math>\langle \phi_j|\psi\rangle</math>, wobei<br />
<math>\phi_j</math> die Eigenfunktion zum Eigenwert <math>\lambda_j</math> ist.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
Der Spektralsatz für kompakte selbstadjungierte Operatoren und der für beschränkte selbstadjungierte Operatoren gehen insbesondere auf Arbeiten von [[David Hilbert]] zurück. Er veröffentlichte 1906 in seiner 4. Mitteilung einen Beweis für diese Aussagen. Hilberts Darstellung der Sätze unterscheidet sich freilich stark von der heutigen Darstellung. Anstatt des Spektralmaßes verwendete er das [[Stieltjes-Integral]], das [[Thomas Jean Stieltjes]] erst 1894 zur Untersuchung von [[Kettenbruch|Kettenbrüchen]] eingeführt hatte. Nach Hilbert wurden für den Spektralsatz für beschränkte und unbeschränkte Operatoren Beweise unter anderem von [[Frigyes Riesz|Riesz]] (1930–1932) und Lengyel und [[Marshall Harvey Stone|Stone]] (1936) und für den unbeschränkten Fall auch von Leinfelder (1979) gefunden.<ref>Dirk Werner: ''Funktionalanalysis'', Springer-Verlag, Berlin, 2007, ISBN 978-3-540-72533-6, Kapitel VII.6</ref><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Hauptachsentransformation]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Gerd Fischer: ''Lineare Algebra'', Vieweg-Verlag, ISBN 3-528-03217-0<br />
* John B. Conway: ''A Course in Functional Analysis'' (Springer, 2. Aufl. 1990)<br />
* Michael Reed, [[Barry Simon]]: Methods of Modern Mathematical Physics, 4 Bände, Academic Press 1978, 1980<br />
* [[Dirk Werner (Mathematiker)|Dirk Werner]]: ''Funktionalanalysis'', Springer-Verlag, Berlin, 2007, ISBN 978-3-540-72533-6<br />
* [[Gerald Teschl]]: Mathematical Methods in Quantum Mechanics; With Applications to Schrödinger Operators, American Mathematical Society, 2009 ([http://www.mat.univie.ac.at/~gerald/ftp/book-schroe/ Freie Online-Version])<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Lineare Algebra]]<br />
[[Kategorie:Funktionalanalysis]]<br />
[[Kategorie:Satz (Mathematik)]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Separabler_Raum&diff=192463603Separabler Raum2019-09-21T18:18:05Z<p>Udo.bellack: /* Beispiele */ format L^p</p>
<hr />
<div>{{Begriffsklärungshinweis|Separable Räume sind nicht identisch mit [[Hausdorffraum|separierten Räumen]].}}<br />
Der [[Mathematik|mathematische]] Begriff '''separabel''' bezeichnet in der [[Topologie (Mathematik)|Topologie]] und verwandten [[Teilgebiete der Mathematik|Gebieten]] eine häufig benutzte [[Abzählbarkeit]]seigenschaft von [[Topologischer Raum|topologischen Räumen]]. Der Begriff ist dabei von besonderer Bedeutung in der [[Funktionalanalysis]]. Hier kann man beispielsweise zeigen, dass es in einem separablen [[Hilbertraum]] stets abzählbare [[Orthonormalbasis|Orthonormalbasen]] gibt.<br />
<br />
== Definition ==<br />
Ein [[topologischer Raum]] heißt ''separabel'', wenn es eine [[Abzählbare Menge|höchstens abzählbare]] [[Teilmenge]] gibt, die in diesem Raum [[Dichte Teilmenge|dicht]] liegt.<br />
<br />
== Kriterien für separable Räume ==<br />
* Besitzt ein topologischer Raum eine (höchstens) [[abzählbare Basis]], so ist er separabel. (Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht.)<ref name="TC-SK-GR-001">Thorsten Camps, Stefan Kühling, Gerhard Rosenberger: ''Einführung in die mengentheoretische und die algebraische Topologie.'' 2006, S. 34.</ref><br />
* Für einen [[Metrischer Raum|metrischen Raum]] <math>X</math> gilt sogar:<ref name="PSA-001">P. S. Alexandroff: ''Einführung in die Mengenlehre und in die allgemeine Topologie.'' 1984, S. 121.</ref><br />
** Dafür, dass <math>X</math> eine abzählbare Basis besitzt, ist es notwendig und hinreichend, dass <math>X</math> separabel ist.<br />
* Ein [[Totalbeschränktheit|total beschränkter]] [[metrischer Raum]] <math>X</math> ist stets separabel.<ref name="JM-001">Joseph Muscat: ''Functional Analysis.'' 2014, S. 68.</ref><br />
* Insbesondere ist jeder [[kompakter Raum|kompakte]], [[metrischer Raum|metrisierbare]] Raum separabel. Genauer gilt:<ref name="LG-NSP-001">Leszek Gasiński, Nikolaos S. Papageorgiou: ''Exercises in Analysis. Part 1.'' 2014, S. 8.</ref><br />
** Ist <math>X</math> ein metrisierbarer topologischer Raum, so sind die drei Eigenschaften,<br />
*** (1) eine abzählbare Basis zu besitzen,<br />
*** (2) [[Lindelöf-Raum|lindelöfsch]] zu sein,<br />
*** (3) separabel zu sein,<br />
*: äquivalent.<ref>Da Kompaktheit ein Spezialfall der Lindelöf-Eigenschaft ist, ergibt sich die zuvor genannte Aussage aus dieser Äquivalenz als Folgerung.</ref><br />
* Ein [[topologischer Vektorraum]] ist genau dann separabel, wenn es eine abzählbare Teilmenge gibt, sodass der davon [[lineare Hülle|erzeugte Untervektorraum]] dicht liegt.<br />
* Ist <math>X</math> ein Hilbertraum von [[unendlich]]er [[Dimension (Mathematik)#Hamel-Dimension|Dimension]], so sind stets die folgenden drei Bedingungen gleichwertig:<ref name="JH-001">Jürgen Heine: ''Topologie und Funktionalanalysis.'' 1970, S. 261.</ref><ref name="DW-001">Dirk Werner: ''Funktionalanalysis.'' 2007, S. 235.</ref><br />
** (1) <math>X</math> ist separabel.<br />
** (2) Alle Orthonormalbasen von <math>X</math> sind abzählbar.<br />
** (3) In <math>X</math> gibt es eine abzählbare Orthonormalbasis.<br />
* Für eine unendliche und mit der [[Ordnungstopologie]] versehene [[linear geordnete Menge]] <math>X</math> sind die folgenden drei Bedingungen stets gleichwertig:<ref name="LF-001">Lutz Führer: ''Allgemeine Topologie mit Anwendungen.'' 1977, S. 129.</ref><br />
** (1) <math>X</math> ist separabel und [[Zusammenhängender Raum|zusammenhängend]].<br />
** (2) <math>X</math> ist [[Ordnungsisomorphismus|ordnungsisomorph]] zu einem [[Intervall (Mathematik)#Bezeichnungs-und Schreibweisen|Intervall]] von <math>\mathbb{R}</math>.<br />
** (3) <math>X</math> ist [[homöomorph]] zu einem Intervall von <math>\mathbb{R}</math>.<br />
* Ist ein metrischer Raum <math>X</math> [[zusammenhängend]] und [[lokal euklidisch]], so ist er lindelöfsch und damit separabel.<ref name="COC-WLV-001">Charles O. Christenson, William L. Voxman: ''Aspects of Topology.'' 1998, S. 420.</ref><br />
<br />
== Beispiele ==<br />
Beispiele für separable Räume sind etwa:<br />
* Die Räume <math>\mathbb{R}^n</math> sind für <math>n\in\mathbb{N}</math> separabel, da <math>\mathbb{Q}^n</math> abzählbar ist und dicht in <math>\mathbb{R}^n</math> liegt.<ref name="JH-002">Heine, op. cit., S. 72.</ref><br />
* Die Räume [[Lp-Raum|<math>L^ p(\Omega</math>)]] mit einer beschränkten, offenen Teilmenge <math>\Omega\subset\mathbb{R}^n</math> und <math>1\leq p<\infty</math> sind separabel.<br />
* Die [[Folgenraum|Folgenräume]] <math>\ell^p</math> für <math>1\leq p<\infty</math> sind separabel.<ref name="JH-002" /><br />
* Der Raum <math>c_0</math> der ([[reell]]en oder [[Komplexe Zahl|komplexen]]) [[Nullfolge]]n ist mit der [[Supremumsnorm]] ein separabler [[Banachraum]].<ref name="GJOJ-001">G. J. O. Jameson: ''Topology and Normed Spaces.'' 1970, S. 159.</ref><br />
* Der Raum <math>c_{00}</math> der abbrechenden Folgen (<math>\forall x \in c_{00} \exist N \in \mathbb{N}: \forall n \geq N x_n = 0</math>) ist mit der <math>\ell^p</math>-Norm für <math>1 \leq p < \infty</math> separabel.<br />
* Für [[offene Teilmenge]]n <math>\Omega \subseteq \mathbb{R}^n</math> und [[natürliche Zahl]]en <math>k</math> sind die Räume <math>C^k(\Omega)</math> stets separabel.<br />
* Jede unendliche Menge mit [[Kofinite Topologie|kofiniter Topologie]] ist separabel, weil eine beliebige abzählbar unendliche Teilmenge als einzige abgeschlossene Obermenge den gesamten Raum hat.<ref name="TC-SK-GR-002">Camps/Kühling/Rosenberger, op. cit., S. 18.</ref><br />
* Die [[Niemytzki-Raum|Niemytzki-Ebene (oder Moore-Ebene)]] ist ein separabler Raum, da die enthaltene abzählbare (!) Teilmenge der [[Punkt (Geometrie)|Punkte]] mit [[Rationale Zahl|rationalen]] [[Koordinatenraum|Koordinaten]] darin dicht liegt.<ref name="LAS-JAS-001">Lynn A. Steen, J. Arthur Seebach, Jr.,: ''Counterexamples in Topology.'' 1970, S. 7, S. 100–103.</ref><ref name="JH-003">Heine, op. cit., S. 86.</ref><br />
<br />
== Gegenbeispiele ==<br />
Es gibt einige bekannte Beispiele für nicht-separable Räume:<br />
* Der [[Banachraum]] <math>\ell^{\infty}</math> der [[Beschränkte Folge|beschränkten (reellen oder komplexen) Folgen]] ist nicht-separabel.<ref name="JH-004">Heine, op. cit., S. 72.</ref><br />
* Allgemein gilt, dass für eine [[unendliche Menge]] <math>S</math> der Banachraum <math>B(X, \mathcal P(S))</math> der [[Beschränkte Funktion|beschränkten (reell- oder komplexwertigen) Funktionen]] nie separabel ist.<ref name="GJOJ-002">Jameson, op. cit., S. 158.</ref><br />
* Der Raum <math>\mathrm{AP}^2</math> der [[Hilbertraum#Beispiele für Hilberträume|fast-periodischen Funktionen]] ist ein nicht-separabler [[Hilbertraum]].<br />
* Versieht man die [[Ordinalzahl#Topologische Eigenschaften|kleinste überabzählbare Ordinalzahl]] <math>\omega_1</math> mit ihrer Ordnungstopologie, so erhält man einen nicht-separablen Raum.<ref name="SW-001">Stephen Willard: ''General Topology.'' 1970, S. 114.</ref><br />
<br />
== Permanenzeigenschaften ==<br />
* [[Bildmenge|Bilder]] von separablen Räumen unter stetigen Funktionen sind wieder separabel.<ref>Als dichte Teilmenge im Bild dient einfach das Bild der dichten Teilmenge im Definitionsbereich.</ref><br />
* [[Offene Teilmenge|Offene]] [[Topologischer Unterraum|Unterräume]] separabler Räume sind stets ebenfalls separabel.<ref name="LF-002">Führer, op. cit., S. 128.</ref><br />
* Im Allgemeinen sind Unterräume separabler Räume nicht separabel. So enthält die erwähnte separable (!) Niemytzki-Ebene beispielsweise einen nicht-separablen Unterraum.<ref name="LAS-JAS-001" /><br />
* Es gilt aber, dass Unterräume separabler [[Metrischer Raum|metrischer Räume]] wieder separabel sind.<ref>Dies folgt aus der oben genannten Äquivalenz, denn letztere überträgt sich offensichtlich auf die metrischen Unterräume.</ref><br />
* [[Separabilitätssatz von Marczewski]]: Ist <math>(X_i)_{i\in I}</math> eine Familie separabler Räume und ist die Mächtigkeit von <math>I</math> höchstens gleich der Mächtigkeit des Kontinuums <math>\mathbb R</math>, so ist <math>\textstyle \prod_{i\in I}X_i</math> mit der [[Produkttopologie]] ebenfalls separabel. Um dieses Resultat einzusehen, genügt es, die Separabilität von <math>{\mathbb N}^{\mathbb R} = \{f\mid f\colon {\mathbb R}\rightarrow {\mathbb N}\}</math> zu beweisen. Dazu überlegt man sich leicht, dass die abzählbare Menge der endlichen Summen von Funktionen aus <math>\{n\cdot\chi_{[a,b]}; n\in{\mathbb N}, a,b\in {\mathbb Q}\}</math> dicht liegt, wobei <math>\chi_{[a,b]}</math> die [[Indikatorfunktion|charakteristische Funktion]] des Intervalls <math>[a,b]</math> ist.<br />
<br />
== Zusammenhang mit anderen Begriffen ==<br />
* In der englischen Fachliteratur wird ein topologischer Raum <math>X</math> mit (höchstens) abzählbarer Basis von manchen Autoren als ''completely separable'' oder ''perfectly separable'', also als ''vollständig separabel'' bzw. als ''vollkommen separabel'' bezeichnet.<ref name="LAS-JAS-002">Steen/Seebach, op. cit., S. 162.</ref><br />
* Lässt sich die Topologie eines separablen Raumes <math>X</math> durch eine [[Vollständiger Raum|vollständige]] [[Metrischer Raum|Metrik]] erzeugen, so nennt man <math>X</math> einen [[polnischer Raum|polnischen Raum]].<ref name="LG-NSP-002">Gasiński/Papageorgiou, op. cit., S. 226.</ref><br />
* Der Begriff des separablen Raumes steht in keiner Beziehung zum Begriff des [[Hausdorffraum|separierten Raums]].<ref name="HS-001">Horst Schubert: ''Topologie.'' 1975, S. 58.</ref><br />
<br />
== Zur Historie ==<br />
* Das Konzept des separablen Raumes geht zurück auf [[Maurice René Fréchet]] und seine Publikation ''Sur quelques points de calcul fonctionnel'' aus dem Jahre 1906.<ref name="SW-002">Willard, op. cit., S. 303.</ref><br />
* P. S. Alexandroff zufolge ist der Terminus ''separabel'' eine ''höchst unglückliche Bezeichnung ... , die sich bedauerlicherweise jedoch eingebürgert hat und allgemeine Verbreitung fand.''<ref name="PSA-002">Alexandroff, op. cit., S. 120–121.</ref><br />
* Wie [[Horst Schubert (Mathematiker)|Horst Schubert]] im Jahre 1975 schrieb, bestanden ''... Tendenzen, ihn [den Terminus ''separabel''] abzuschaffen''.<ref name="HS-001" /><ref>Was jedoch offenbar nicht geschah.</ref><br />
<br />
== Literatur ==<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=[[Pavel Aleksandrov|P. S. Alexandroff]]<br />
|Titel=Einführung in die Mengenlehre und in die allgemeine Topologie<br />
|Reihe=Hochschulbücher für Mathematik<br />
|BandReihe=85<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=[[VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften]]<br />
|Ort=Berlin <br />
|Datum=1984<br />
|ISBN=}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Thorsten Camps, Stefan Kühling, Gerhard Rosenberger<br />
|Titel=Einführung in die mengentheoretische und die algebraische Topologie<br />
|Reihe=Berliner Studienreihe zur Mathematik<br />
|BandReihe=15<br />
|Verlag=Heldermann Verlag<br />
|Ort=Lemgo<br />
|Datum=2006<br />
|ISBN=3-88538-115-X}}<br />
*{{Literatur<br />
|Autor=Charles O. Christenson, William L. Voxman<br />
|Titel=Aspects of Topology<br />
|Auflage=2.<br />
|Verlag=BCS Associates<br />
|Ort=Moscow, Idaho, U. S. A.<br />
|Datum=1998<br />
|ISBN=0-914351-08-7}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=[[Lutz Führer]]<br />
|Titel=Allgemeine Topologie mit Anwendungen<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=[[Vieweg Verlag]]<br />
|Ort=Braunschweig<br />
|Datum=1977<br />
|ISBN=3-528-03059-3}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Leszek Gasiński, Nikolaos S. Papageorgiou<br />
|Titel=Exercises in Analysis. Part 1<br />
|Reihe=Problem Books in Mathematics<br />
|Band=<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=[[Springer Science+Business Media|Springer-Verlag]]<br />
|Ort=Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London<br />
|Datum=2014<br />
|ISBN=978-3-319-06175-7<br />
|DOI=10.1007/978-3-319-06176-4}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Jürgen Heine<br />
|Titel=Topologie und Funktionalanalysis<br />
|TitelErg=Grundlagen der Abstrakten Analysis mit Anwendungen<br />
|Reihe=<br />
|Band=<br />
|Auflage=2., verbesserte<br />
|Verlag=[[Oldenbourg Verlag]]<br />
|Ort=München<br />
|Datum=2011<br />
|ISBN=978-3-486-70530-0}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=G. J. O. Jameson<br />
|Titel=Topology and Normed Spaces<br />
|Verlag=Chapman and Hall<br />
|Ort=London<br />
|Datum=1974<br />
|ISBN=0-412-12880-2}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=[[Joseph Muscat (Mathematiker)|Joseph Muscat]]<br />
|Titel=Functional Analysis<br />
|TitelErg=An Introduction to Metric Spaces, Hilbert Spaces, and Banach Algebras<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=Springer-Verlag<br />
|Ort=Cham, Heidelberg, New York, Dordrecht, London<br />
|Datum=2014<br />
|ISBN=978-3-319-06727-8<br />
|DOI=10.1007/978-3-319-06728-5}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor= [[Mark Neumark]]<br />
|Titel=Normierte Algebren<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=[[Verlag Harri Deutsch]]<br />
|Ort=Thun und Frankfurt / Main<br />
|Datum=1990<br />
|ISBN=3-8171-1001-4}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Horst Schubert<br />
|Titel=Topologie<br />
|Reihe=Mathematische Leitfäden<br />
|Auflage=4.<br />
|Verlag=[[B. G. Teubner]]<br />
|Ort=Stuttgart<br />
|Datum=1975<br />
|ISBN=3-519-12200-6}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=[[Lynn Arthur Steen|Lynn A. Steen]], J. Arthur Seebach, Jr., <br />
|Titel=Counterexamples in Topology <br />
|Reihe=<br />
|Auflage=2.<br />
|Verlag=Springer-Verlag<br />
|Ort=New York, Heidelberg, Berlin<br />
|Datum=1978<br />
|ISBN=0-387-90312-7}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=[[Dirk Werner (Mathematiker)|Dirk Werner]]<br />
|Titel=Funktionalanalysis<br />
|TitelErg=<br />
|Reihe=Springer-Lehrbuch<br />
|Band=<br />
|Auflage=6., korrigierte<br />
|Verlag=Springer-Verlag<br />
|Ort=Berlin, Heidelberg, New York<br />
|Datum=2007<br />
|ISBN=978-3-540-72533-6}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Stephen Willard<br />
|Titel=General Topology<br />
|TitelErg=<br />
|Reihe=Addison-Wesley Series in Mathematics<br />
|Band=<br />
|Auflage=<br />
|Verlag=[[Addison-Wesley]]<br />
|Ort=Reading, Massachusetts (u.&nbsp;a.)<br />
|Datum=1970<br />
|ISBN=}}<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Abzählbare Menge]]<br />
* [[Hausdorffraum]]<br />
* [[Hilbertraum]]<br />
* [[Metrischer Raum]]<br />
* [[Kompakter Raum]]<br />
* [[Polnischer Raum]]<br />
* [[Zweites Abzählbarkeitsaxiom]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
<br />
[[Kategorie:Topologischer Raum]]<br />
[[Kategorie:Funktionalanalysis]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Shemar_Moore&diff=191437396Shemar Moore2019-08-17T16:03:43Z<p>Udo.bellack: /* Leben */ add Moderation Soultrain</p>
<hr />
<div>[[Datei:Shemar Moore Cannes 2012.jpg|miniatur|Shemar Moore (2012)]]<br />
'''Shemar Franklin Moore''' (* [[20. April]] [[1970]] in [[Oakland (Kalifornien)|Oakland]], [[Kalifornien]]) ist ein [[Vereinigte Staaten|US-amerikanischer]] [[Schauspieler]].<br />
<br />
== Leben ==<br />
Moore wurde in [[Oakland (Kalifornien)|Oakland, Kalifornien]], als Sohn eines afro-amerikanischen Vaters und einer weißen Mutter geboren. Zu Beginn der 1970er Jahre waren in den USA noch starke Vorbehalte gegen gemischtrassige Beziehungen spürbar. Seine Mutter zog ihn allein auf und wollte ihn in einem weniger rassistischen Umfeld aufwachsen sehen. Sie ging mit ihm nach Übersee und lehrte dort Mathematik und Englisch.<br />
<br />
Moore lebte an vielen Orten. Die ersten sechs Jahre seines Lebens verbrachte Moore im Ausland. Bis zum Alter von drei Jahren lebte er in Dänemark, danach drei Jahre in Bahrain. Als Kleinkind sprach er Dänisch. Englisch lernte er erst, als er fünf oder sechs Jahre alt war. Seine Mutter schickte ihn auf eine britische Privatschule, um ihm die Möglichkeit der Rückkehr in die USA zu erleichtern. <br />
<br />
Im Alter von ungefähr sieben Jahren kehrte Moore zusammen mit seiner Mutter in deren Heimatstadt [[Boston]] zurück, danach zog er nach [[Chico (Kalifornien)|Chico, Kalifornien]], und dann nach [[Palo Alto|Palo Alto, Kalifornien]], wo er einen Großteil seiner Highschool-Zeit verbrachte.<ref>{{internetquelle | hrsg=Ability Magazine | url=http://abilitymagazine.com/Shemar_moore.html | sprache=englisch | titel=Interview mit dem Ability Magazine | zugriff=2012-08-23}}</ref><ref>{{internetquelle | hrsg=[[Internet Movie Database]] | url=http://www.imdb.com/name/nm0005245/bio | sprache=englisch | titel=Shemar Moore – Biography | zugriff=2011-01-02}}</ref><br />
<br />
Bekannt wurde der vormals als Fotomodell arbeitende [[Emmy|Emmy Award]]-Gewinner mit der Rolle des ''Malcolm Winters'' in der [[Seifenoper]] ''[[Schatten der Leidenschaft]]'' sowie durch die Serie ''[[Soul Train]]'', die er von 1999 bis 2003 moderierte. Von 2005 bis 2016 war er elf Staffeln lang als Agent ''Derek Morgan'' in der Fernsehserie ''[[Criminal Minds]]'' zu sehen. Er setzt sich intensiv für den Kampf gegen [[Multiple Sklerose]] ein, an der auch seine Mutter erkrankt ist.<br />
<br />
== Filmografie ==<br />
'''Filme'''<br />
* 1998: Tod eines Showgirls ''(Never 2 Big)''<br />
* 2000: How to Marry a Billionaire: A Christmas Tale<br />
* 2001: The Brothers – Auf der Suche nach der Frau des Lebens ''(The Brothers)''<br />
* 2004: Motives – Wenn Begierde zerstört ''(Motives)''<br />
* 2004: Scott Turow’s Reversible Errors<br />
* 2005: Das verrückte Tagebuch ''(Diary of a Mad Black Woman)''<br />
* 2007: Motives 2<br />
* 2015: Kill Me, Deadly<br />
* 2016: The Bounce Back<br />
<br />
'''Serien'''<br />
* 1994–2001, 2004–2005, 2014: [[Schatten der Leidenschaft]] (''The Young and the Restless'', Seifenoper)<br />
* 2002: [[Birds of Prey#Fernsehserie|Birds of Prey]]<br />
* 2005–2017: [[Criminal Minds]] (252 Episoden)<br />
* seit 2017: [[S.W.A.T. (Fernsehserie)|S.W.A.T.]] (Fernsehserie)<br />
<br />
== Auszeichnungen ==<br />
Moore wurde siebenmal mit dem [[Image Award]] ausgezeichnet und insgesamt zehnmal hierfür nominiert.<ref>{{internetquelle<br />
| hrsg=[[Internet Movie Database]]<br />
| url=http://www.imdb.com/name/nm0005245/awards<br />
| sprache=englisch<br />
| titel=Shemar Moore – Awards<br />
| zugriff=2011-01-02<br />
}}</ref><br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{commonscat}}<br />
* {{IMDb|nm0005245}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|LCCN=no/2007/151142|VIAF=167004190|GNDName=138342490|GNDCheck=2018-01-06}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Moore, Shemar}}<br />
[[Kategorie:Filmschauspieler]]<br />
[[Kategorie:US-Amerikaner]]<br />
[[Kategorie:Geboren 1970]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Moore, Shemar<br />
|ALTERNATIVNAMEN=Moore, Shemar Franklin (vollständiger Name)<br />
|KURZBESCHREIBUNG=US-amerikanischer Schauspieler<br />
|GEBURTSDATUM=20. April 1970<br />
|GEBURTSORT=[[Oakland (Kalifornien)|Oakland]], [[Kalifornien]], Vereinigte Staaten<br />
|STERBEDATUM=<br />
|STERBEORT=<br />
}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gap_Junction&diff=190199604Gap Junction2019-07-07T08:51:30Z<p>Udo.bellack: /* Beispiel Uterus */ fun</p>
<hr />
<div>{{Infobox GO-Terminus<br />
| Typ = C<br />
| GO = 0005921<br />
| Eltern = [[Zell-Zell-Kontakt]]<br />
| Kinder = [[Connexon]]<br/>[[Pannexon]]<br />
}}<br />
[[Datei:Gap cell junction-de.svg|mini|Gap Junctions]]<br />
[[Datei:Connexin-Cx26 2ZW3.png|mini|Connexin-26 Hexamer (von der Seite und von vorn)]]<br />
[[Datei:ConnexonHalbkanal.png|mini|Connexon-Halbkanal]]<br />
'''Gap Junctions''' sind Ansammlungen („plaques“ oder „cluster“) von Zell-Zell-Kanälen, die die [[Zellmembran]]en zweier benachbarter Zellen durchqueren. Sie verbinden das [[Cytoplasma]] benachbarter Zellen direkt miteinander. Dabei werden die Membranen der Zellen in einem Abstand von nur 2 bis 4 [[Meter#Gebräuchliche dezimale Vielfache|Nanometer]] zueinander fixiert, lassen zwischen sich aber eine elektronenmikroskopisch erkennbare Lücke (engl.: gap) frei (im Gegensatz zu den [[Tight Junction]]s). Die Kanäle der Gap Junction werden aus zwei Halbkanälen (Hemichannels, [[Connexon]]e) gebildet, von denen jede Zelle jeweils einen beisteuert. Jedes Connexon besteht aus [[Protein]]komplexen aus (in der Regel) sechs membrandurchspannenden Proteinen, die sich in einer sechseckigen Anordnung so zusammenlagern, dass in der Mitte zwischen ihnen eine Pore frei bleibt. Zwei solche Proteinkomplexe der benachbarten Zellmembranen zweier Zellen lagern sich schließlich so zusammen, dass sie gemeinsam einen Kanal bilden.<br />
<br />
Aufgabe der Gap Junctions ist die Kommunikation (Austausch von Signalen) zwischen benachbarten Zellen. Dabei werden [[Ion]]en oder kleine Moleküle durch [[Diffusion]] direkt von einer Zelle auf die Nachbarzelle übertragen. Dies können z.&nbsp;B. als Signalgeber dienende Kalium- oder Calcium-Ionen, sekundäre Botenstoffe ([[Second Messenger]]) wie [[Cyclisches Adenosinmonophosphat|cAMP]], [[Cyclisches Guanosinmonophosphat|cGMP]] oder [[Second Messenger#Inositol-1,4,5-trisphosphat (IP3) als second messenger|IP3]], oder kleine Stoffwechselprodukte ([[Metabolit]]e) wie [[Glucose]] sein. Je nach dem speziellen Aufbau des Zellkanals ist der Übergang mehr oder weniger selektiv, er kann durch Signalgeber wie z.&nbsp;B. das [[Membranpotential]] gesteuert werden. Einige Typen von Kanälen leiten auch bestimmte Stoffe selektiv nur in eine Richtung weiter.<br />
<br />
Die Kanäle der Gap Junctions werden bei verschiedenen Tierarten von zwei verschiedenen [[Proteinfamilie]]n aufgebaut. Ausschließlich bei den [[Chordatiere]]n (Wirbeltiere und Verwandte) bestehen sie aus [[Connexin]]en genannten Proteinen. Bei allen anderen [[Gewebetiere]]n erfüllt diese Aufgabe eine andere Proteinfamilie, die [[Innexin]]e genannt werden. Beide sind funktional ähnlich aufgebaut, besitzen aber keine homologen Basensequenzen, sind also nicht nahe miteinander verwandt. Inzwischen wurde bei den Wirbeltieren eine Proteinfamilie neu entdeckt, die [[Pannexin]]e, die in ihrer Sequenz größere Ähnlichkeit mit den Innexinen aufweisen, also vermutlich homolog zu ihnen sind. Allerdings sind Pannexine äußerstenfalls sehr selten an der Bildung von Gap Junctions beteiligt (wahrscheinlich sogar überhaupt nicht), sie erfüllen andere Aufgaben in der Zelle. Weitere verwandte, membrandurchspannende Proteine sind die an der Bildung der Tight Junctions beteiligten [[Claudin]]e und [[Occludin]].<br />
<br />
Bei [[Pflanzen]] erfüllen die [[Plasmodesmos|Plasmodesmata]] ähnliche Aufgaben, unterscheiden sich vom Aufbau jedoch deutlich von den aus Innexinen und Connexinen aufgebauten Kanälen.<br />
<br />
== Forschungsgeschichte ==<br />
Die ersten Hinweise auf die Zellkopplung stammten von elektrophysiologischen Untersuchungen an spezifischen Paaren interagierender Nervenzellen im Rückenmark des Flusskrebses. Die Messung der elektrischen Kopplung dieser benachbarten Riesenneuronen wurde zuerst von Fursphan und Potter 1959 durchgeführt (Fursphan und Potter 1959).<br />
<br />
Geprägt wurde der Begriff der Gap Junctions durch [[Jean-Paul Revel]] und [[Morris Karnovsky]] 1967, die als erste zeigten, dass sich im elektronenmikroskopischen Bild der Abstand zwischen zwei benachbarten Plasmamembranen im Bereich der Gap Junctions von 20–30&nbsp;nm auf 2–4&nbsp;nm verengt, wodurch der optische Eindruck einer Lücke (engl.: ''gap'') in der Kontinuität benachbarter Plasmamembranen entsteht.<br />
<br />
== Aufbau ==<br />
[[Datei:ConnexonVollkanal.png|mini|Gap Junction-Kanal]]<br />
[[Datei:ConnexonGruppe.png|mini|Anordnung von mehreren Kanälen zu Feldern]]<br />
Sechs [[Connexin]]e (mit je vier Transmembran-Regionen) lagern sich zum sogenannten [[Connexon]] (oder Halbkanal) zusammen. Ein Connexon kann homomer (Zusammensetzung aus einer Art von Connexinen) oder heteromer (aus verschiedenen Connexinen) aufgebaut werden. Je nach Zusammensetzung der Connexone kann die Permeabilität des Kanals variieren.<br />
<br />
Je ein Halbkanal verbindet sich mit einem ihm gegenüberliegenden Halbkanal der Nachbarzelle zu einer durchgehenden Pore (interzellulärer Kanal, Gap Junction). Der interzelluläre Kanal kann homotypisch (aus zwei gleichen Connexonen) oder heterotypisch (aus unterschiedlichen Connexonen) aufgebaut werden, wobei nicht alle Connexone gleich gut zusammenlagern.<br />
Die Pore hat einen Durchmesser von 1,5 bis 2&nbsp;nm und lässt deshalb Moleküle oder Ionen von maximal ≈1000 [[Dalton (Einheit)|Dalton]] relativer Molekülmasse passieren. Der Aufbau einer Gap Junction (früher: Nexus) kann innerhalb weniger Sekunden erfolgen, wenn zwei Zellen miteinander in Kontakt treten.<br />
<br />
Eine Connexon-Untereinheit hat einen Durchmesser von 2,5&nbsp;nm und ist 7,5&nbsp;nm lang. Sie ragt 0,7&nbsp;nm in das [[Zytosol]] und 1,7&nbsp;nm in den [[Extrazellularraum]].<br />
<br />
Die Connexone sind in der Biomembran in Feldern in einem regelmäßigen [[hexagonal]]en Muster (Abstand der Kanal-Mittelpunkte 8,5&nbsp;nm) mit einer Dichte von einigen wenigen bis zu 28.000 Kanälen pro Quadratmikrometer angeordnet, sie bilden sogenannte Plaques.<br />
<br />
Gap Junctions unterscheiden sich von anderen Kanalsystemen der Zelle:<br />
* Sie durchziehen zwei benachbarte Membranen (statt nur einer).<br />
* Sie verbinden Zytosol mit Zytosol (statt Zytosol mit Extrazellulärraum oder Organellinnenraum).<br />
*Die Connexine werden von zwei verschiedenen Zellen synthetisiert (statt nur von einer).<br />
*In der Regel sind sie im Ruhezustand geöffnet und schließen nur, wenn bestimmte Bedingungen eintreten (siehe weiter unten)<br />
<br />
== Vorkommen und Funktion ==<br />
Gap Junctions treten erst bei den [[Eumetazoa]] auf. Während im Embryonalstadium Gap Junctions weit verbreitet sind, kommen sie beim Adulten v.&nbsp;a. im [[Herzmuskel]], in Epithel- und [[Gliazelle]]n sowie in der [[Netzhaut|Retina]] vor.<br />
<br />
Die allgemeinen Funktionen der GJs sind<br />
*direkte elektrische Kommunikation zwischen Zellen (wobei verschiedene Connexine verschiedene Leitfähigkeiten bedingen)<br />
*direkte chemische Kommunikation zwischen Zellen über second messenger (z.&nbsp;Bsp. IP3, Ca<sup>2+</sup>) (wobei verschiedene Connexine unterschiedliche Selektivität für kleine Moleküle aufweisen)<br />
*Austausch von Molekülen bis ≈1&nbsp;kDa zwischen Zellen (wobei verschiedene Connexine GJs mit unterschiedlichen Durchmessern bilden können und unterschiedliche Präferenzen für geladene Teilchen besitzen)<br />
*verhindern, dass Moleküle oder Ladungen beim Austausch in den Extrazellularraum verloren gehen.<br />
<br />
Beispiele für die Funktion der GJs:<br />
* In schwach durchbluteten Geweben (zum Beispiel [[Augenlinse]] und [[Knochen]]) dienen sie dem [[Transport (Biologie)|Nahtransport]] von Nährstoffen: Rand-Zellen nehmen die Nährstoffe auf und geben sie über die Gap Junctions an ihre Nachbarzellen bis ins unterversorgte Zentrum weiter.<br />
* In [[Drüse]]n wie [[Leber]] und [[Bauchspeicheldrüse]] helfen sie bei der [[Sekretion]].<br />
* Im [[Herzmuskel]] und im [[Nervensystem]] sind sie an der schnellen Weiterleitung von [[Aktionspotential]]en beteiligt.<br />
* Gap Junctions scheinen auch an der Kontrolle des Zellwachstums beteiligt zu sein (zum Beispiel während der [[Embryonalentwicklung]]).<br />
* Eines der Connexin-Gene wurde als [[Tumorsuppressor]]-Gen identifiziert.<br />
<br />
Die Poren durch eine Gap Junction können sehr schnell geschlossen werden wenn bestimmte Faktoren eintreten, die auf eine Schädigung der benachbarten Zelle hindeuten. Dadurch wird die geschädigte Zelle von ihren Nachbarn abgekoppelt, sodass die gesunden Nachbarzellen in ihrer Zellchemie unbeeinflusst bleiben. Das Schließen wird durch eine hohe cytosolische [[Kalzium]]ionenkonzentration oder einen niedrigen cytosolischen pH-Wert (also bei hoher [[Proton (Chemie)|Protonenkonzentration]]) ausgelöst. Beides sind Zeichen für baldigen Zelltod der Nachbarzelle.<br />
<br />
Seit einigen Jahren ist bekannt, dass durch alle drei Proteinfamilien (Connexine, Innexine und Pannexine) gebildete Halbkanäle sich nicht immer zu Gap Junctions zusammenschließen müssen. In zahlreichen Zellen und Zelltypen erfüllen sie zusätzliche Funktionen als einfache Membrankanäle ohne Koppelung an andere Zellen. Wahrscheinlich kommen die Pannexine ausschließlich in dieser Form vor.<br />
<br />
== Gap Junctions als elektrische Synapsen ==<br />
Gap Junctions fungieren in Neuronen, in der Retina und im [[Herz]]en, aber auch bei [[Invertebraten]] als spannungsgesteuerte, transmitterfreie [[Synapse]]n. Sie werden auch als ''Elektrische Synapsen'' bezeichnet. Sie ermöglichen eine schnelle und synchrone Ausbreitung von [[Aktionspotential]]en. In den [[Glanzstreifen]] zwischen den Herzmuskelzellen können sie eine Fläche bis zu einem Quadratmikrometer bedecken. Die Leitfähigkeit der Gap Junctions variiert mit der Zusammensetzung aus verschiedenen Connexinen. An Neuronen treten sie nicht so zahlreich auf wie chemische Synapsen, sie wurden aber auch bei [[Glia]]zellen gefunden, deren Beteiligung am neuronalen Geschehen über die Versorgung der Nervenzellen hinaus gerade erforscht wird. Die Hauptaufgabe der elektrischen Synapsen scheint die Synchronisierung von Nervenzellgruppen zu sein, die als [[Oszillator]]en und Rhythmusgeber dienen. Möglicherweise spielen Sie auch bei [[Epilepsie|epileptischen]] Anfällen eine Rolle.<br />
<br />
=== Funktionsweise der elektrischen Synapse ===<br />
Die Depolarisation der präsynaptischen [[Zelle (Biologie)|Zelle]] führt zu einem Potentialgefälle zwischen beiden durch Gap Junctions verbundenen Zellen, so dass [[Kation]]en von der präsynaptischen Zelle in Richtung postsynaptische Zelle fließen und [[Anion]]en von der post- zur präsynaptischen Zelle.<br />
<br />
Wird der Schwellenwert an der postsynaptischen Membran überschritten, folgt hier ein [[Aktionspotential]], und das Signal kann praktisch ohne Zeitverzögerung (10<sup>−5</sup>&nbsp;s) weitergeleitet werden (macht Synchronisation vieler Zellen z.&nbsp;B. im Herzmuskel aufgrund geringer Zeitverzögerung möglich!).<br />
<br />
=== Vergleich zwischen elektrischer und chemischer Synapse ===<br />
Neben der viel geringeren Zeitverzögerung unterscheiden sich elektrische Synapsen von chemischen Synapsen auch darin, dass bei diesen die Erregungsübertragung i.&nbsp;d.&nbsp;R. in beide Richtungen erfolgen kann.<br />
<br />
Allerdings können auch Gap Junctions einiger Zellen in ihrer Stromrichtung reguliert werden, entweder von Ca<sup>2+</sup> abhängig oder Membranpotential-abhängig.<br />
Allerdings hat die Anwendung von Gap Junctions im Körper auch einige Nachteile: Eine direkte Erregungsübertragung auf weit entfernte Zellen ist nicht möglich, vor allem aber kann eine Erregung nicht zur Hemmung einer anderen Zelle genutzt werden. Elektrische Synapsen haben im ZNS der Säugetiere geringere Bedeutung im Vergleich zu chemischen Synapsen.<br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|&nbsp;<br />
!elektrische Synapse<br />
!chemische Synapse mit direkter Signalübertragung<br />
!chemische Synapse mit indirekter Signalübertragung<br />
|-<br />
|Spaltbreite||3,5&nbsp;nm||30 bis 50&nbsp;nm||30 bis 50&nbsp;nm<br />
|-<br />
|Kanalproteine<br />
|Gap Junction-Kanäle in prä- und postsynaptischer Membran<br />
|postsynaptische, transmittergesteuerte Ionenkanäle<br />
|Rezeptoren des [[Second Messenger|Second-Messenger]]-Systems ([[G-Protein]]e)<br />
|-<br />
|Synaptische Verzögerung||keine||0,1 bis 0,5&nbsp;ms||mehr als 10&nbsp;ms<br />
|-<br />
| [[Neurotransmitter|Transmitter]]<br />
|&nbsp;<br />
| [[Acetylcholin]], [[Gamma-Aminobuttersäure]] (GABA), [[Glycin]], [[Glutamate|Glutamat]], [[Aspartat]]<br />
| [[Noradrenalin]], [[Dopamin]], [[Serotonin]], [[Acetylcholin]], [[Neuropeptid]]e <br />
|-<br />
|Vorkommen<br />
|Herzmuskel, [[Zentralnervensystem|ZNS]], auch bei Invertebraten<br />
| [[Motorische Endplatte]]n, zentrales und peripheres Nervensystem<br />
|zentrales und peripheres Nervensystem<br />
|}<br />
<br />
=== Beispiel Uterus ===<br />
Mit Beginn der [[Geburt]] werden die Muskelzellen des [[Uterus]] mit Gap Junctions ausgestattet, die die Zellen zu einem funktionellen [[Synzytium]] verbinden, die sich [[synchron]] [[Muskelkontraktion|kontrahieren]] können.<br />
<br />
== Quellen ==<br />
*Daisuke Fushiki, Yasuo Hamada, Ryoichi Yoshimura, Yasuhisa Endo (2010): ''Phylogenetic and bioinformatic analysis of gap junction-related proteins, innexins, pannexins and connexins.'' In: ''Biomedical Research'' Vol. 31 No. 2: 133-142. {{doi|10.2220/biomedres.31.133}} <br />
*Daniel A. Goodenough & David L. Paul (2009): Gap Junctions. Cold Spring Harbour Perspectives in Biology 2009;1:a002576 {{doi|10.1101/cshperspect.a002576}}<br />
*Gülistan Mese, Gabriele Richard, Thomas W. White (2007): ''Gap Junctions: Basic Structure and Function''. In: ''[[Journal of Investigative Dermatology]]'' Volume 127: 2516-2524. {{doi|10.1038/sj.jid.5700770}} <br />
*Silvia Penuela, Ruchi Gehi, Dale W. Laird (2013): ''The biochemistry and function of pannexin channels''. In: ''[[Biochimica et Biophysica Acta]]'' 1828: 15–22. {{doi|10.1016/j.bbamem.2012.01.017}}<br />
*Alberto E. Pereda, Sebastian Curti, Gregory Hoge, Roger Cachope, Carmen E. Flores, John E. Rash (2013): ''Gap junction-mediated electrical transmission: Regulatory mechanisms and plasticity''. In: ''Biochimica et Biophysica Acta Biomembranes'' Volume 1828, Issue 1: 134–146 {{doi|10.1016/j.bbamem.2012.05.026}}<br />
*Eliana Scemes, David C. Spray, Paolo Meda (2009): ''Connexins, pannexins, innexins: novel roles of “hemi-channels”''. In: ''[[Pflügers Arch]]''. 457 (6): 1207–1226. {{doi|10.1007/s00424-008-0591-5}}<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Gap junctions}}</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Koinzidenz&diff=190175784Koinzidenz2019-07-06T10:36:58Z<p>Udo.bellack: /* Farbfernsehtechnik */ add links</p>
<hr />
<div>'''Koinzidenz''' (aus [[Latein|lat.]] ''con'', ‚gemeinsam‘, und ''incidere'', ‚vorfallen‘) ist ein zeitliches und/oder räumliches Zusammenfallen von [[Ereignis#Ereignis in der Ontologie|Ereignissen]] oder Zusammentreffen von Objekten.<br />
<br />
Von der Koinzidenz zweier oder mehrerer Ereignisse auf einen [[Kausalität|kausalen]] (ursächlichen) Zusammenhang zu schließen, stellt [[Logik|logisch]] betrachtet einen [[Fehlschluss]] dar, der ''[[cum hoc ergo propter hoc]]'' (lat.) genannt wird. Dessen ungeachtet wird der Begriff im allgemeinen [[Sprachgebrauch]] manchmal dazu verwendet, einen vermuteten kausalen Zusammenhang koinzidenter Ereignisse anzudeuten.<br />
<br />
== Sinneswahrnehmung ==<br />
In der [[Wahrnehmung#Exemplarischer Exkurs zum Sehvermögen: Sinnesphysiologie und Sinnespsychologie|physiologischen Wahrnehmung]] werden zwei Signale als ein einziges empfunden (und heißen dann koinzident), wenn ihr zeitlicher Unterschied geringer als eine vom Sinnesorgan abhängige Zeitspanne ist. Beim [[Sehen]] beträgt diese Zeitspanne 20–30 ms. Beim Hören können schon Reize, die mehr als 3–4 ms auseinanderliegen, getrennt werden. Die ''Reihenfolge'' hingegen kann bei jedem Sinnesorgan erst bestimmt werden, wenn die Reize mindestens 30–40 ms auseinanderliegen.<br />
<br />
== Organisation ==<br />
In der Organisationswissenschaft ist Koinzidenz ein Kriterium für das Erfüllen eines Auftrags oder eines Dienstes. Dabei läuft das Feststellen von Koinzidenz in mehreren zusammenhängenden Schritten ab:<br />
<br />
* Es wird die Identität der betreffenden Objekte oder der Personen festgestellt.<br />
* Es werden die Identitäten mit den bekannten Vorgaben verglichen.<br />
* Es wird die Zeit des Zusammenfallens festgestellt. <br />
* Es wird der Ort des Zusammentreffens dokumentiert.<br />
<br />
Diese Feststellungen können mit entsprechenden Hilfsmitteln vollautomatisch erfolgen. Besteht kein Zusammenhang in Ort, Zeit oder weichen die Identitäten von den Vorgaben ab, oder wird solcher Zusammenhang nicht erkannt, dann liegt keine Koinzidenz vor und der Auftrag ist nicht erfüllt oder der Dienst nicht erbracht. Das gilt entsprechend beispielsweise im Gesundheitswesen oder in der Logistik.<br />
<br />
== Strahlungsmessungen ==<br />
=== Experimentalphysik ===<br />
Bei physikalischen Messungen bezeichnet Koinzidenz das „gleichzeitige“ Auftreten der Signale von zwei (oder mehr) [[Teilchendetektor|Teilchen-]] oder [[Strahlungsdetektor]]en (genauer: den Fall, dass ihr Zeitunterschied unterhalb einer vorgegebenen ''Auflösungszeit'' liegt). Registriert man nur diejenigen Signale, die einer solchen Koinzidenzbedingung genügen, lassen sich auf diese Weise die Ereignisse einer bestimmten, interessierenden Art von dem „Untergrund“ nicht interessierender, aber unter Umständen viel häufigerer Ereignisse trennen. Bothe und Geiger wiesen mit dieser Methode als Erste den [[Compton-Effekt]] nach (ausführliche Darstellung: siehe [[Koinzidenzmessung]]).<br />
<br />
Die jeweils gesuchten Koinzidenzereignisse werden als ''wahre'' Koinzidenzen bezeichnet im Unterschied zu eventuellen [[Zufall|zufälligen]] Koinzidenzen. Bei einer wahren Koinzidenz ist ein einziger physikalischer Vorgang Ursache beider Detektorsignale, bei einer zufälligen zwei verschiedene und voneinander unabhängig eintretende Vorgänge. Deshalb treten die beiden Detektorsignale der wahren Koinzidenz zeitlich korreliert, d.&nbsp;h. in einem bestimmten Zeitabstand voneinander auf; bei anderen Zeitabständen findet man nur zufällige Koinzidenzen. Dies wird ausgenutzt, um die beiden Koinzidenzarten zu unterscheiden, so dass der getrennt gemessene Untergrund an zufälligen Koinzidenzen vom Messergebnis abgezogen werden kann. <br />
<br />
In manchen Fällen werden die interessierenden Ereignisse statt durch Koinzidenz durch '''Antikoinzidenz''' identifiziert. Die Bedingung für die Registrierung ist dann beispielsweise, dass ein Signal in Detektor 1 ''nicht'' von einem Signal in Detektor 2 begleitet wird.<br />
<br />
=== Positronen-Emissions-Tomographie ===<br />
Die [[Positronen-Emissions-Tomographie]] (PET), ein bildgebendes Untersuchungsverfahren der Medizin, nutzt Koinzidenzen ebenfalls zur Unterdrückung unerwünschter Detektionsereignisse und zugleich zur genauen Ortsbestimmung der Strahlungsquelle. Mit einer großen Zahl gleichzeitig arbeitender Detektoren wird durch Feststellung, welche Detektoren wie oft in Koinzidenz ansprechen, die räumliche Verteilung einer radioaktiven Substanz im Untersuchungsvolumen gemessen.<br />
<br />
== Farbfernsehtechnik == <br />
In der (analogen) [[Farbfernsehen|Farbfernsehtechnik]] bezeichnet Koinzidenz die '''zeitliche''' Übereinstimmung der Signalflanken im [[Leuchtdichte-Signal]] und in den [[Farbdifferenzsignal]]en. <br />
<br />
Wegen der geringeren Bandbreite in den Farbdifferenzsignalkanälen sind dort die [[Signalflanke|Flanken]] weniger steil und werden stärker verzögert. Auf der Senderseite wird das Leuchtdichtesignal soweit verzögert, dass im gesendeten Signal die im modulierten Farbdifferenzsignal erkennbaren Flanken mit denen des Leuchtdichtesignals übereinstimmen. Auf der Empfängerseite wird die Übereinstimmung der Signalflanken im Leuchtdichtesignal und in den Farbdifferenzsignalen durch einen Laufzeitausgleich in der Größenordnung von 1000 ns erreicht. <br />
<br />
Die '''räumliche''' Übereinstimmung der drei Farbkanäle wird insbesondere bei Bildröhren als [[Konvergenz (Bildschirm)|Konvergenz]] bezeichnet.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Koinzidenzstereofonie]]<br />
* [[Koinzidenzdemodulator]]<br />
* [[Coincidentia oppositorum]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Wiktionary}}<br />
<br />
[[Kategorie:Wahrnehmung]]<br />
[[Kategorie:Metrologie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hilbertscher_Syzygiensatz&diff=189793059Hilbertscher Syzygiensatz2019-06-23T09:58:49Z<p>Udo.bellack: /* Theorem III */ math format</p>
<hr />
<div>Der '''hilbertsche Syzygiensatz''' ist ein mathematischer Satz der [[Invariantentheorie]], den [[David Hilbert]] 1890 in seiner Abhandlung „Ueber die Theorie der algebraischen Formen“ (Mathematische Annalen, Band 36, 1900, Seiten 473–534) veröffentlicht hat. Die Fundstelle wird im Folgenden mit MA36 zitiert. Der Syzygiensatz spielt (in den verschiedenen Variationen, die er inzwischen erfuhr) eine wichtige Rolle in der [[Algebraische Geometrie|algebraischen Geometrie]], der [[Kommutative Algebra|kommutativen Algebra]] und der [[Computeralgebra]]. Er ist der mittlere der drei berühmten Sätze aus Hilberts Königsberger Zeit ([[Hilbertscher Basissatz|Basissatz]], Syzygiensatz und [[Hilbertscher Nullstellensatz|Nullstellensatz]]).<br />
<br />
== Einführung ==<br />
Hilbert hat keinen seiner Sätze Syzygiensatz genannt. Je nach Forschungsschwerpunkt wird man das Theorem III in MA36 oder den Satz (den er nicht weiter bezeichnet) auf der letzten Seite in MA36 als den Syzygiensatz auffassen. Der letzte Satz ist der einzige in der Abhandlung, der den Begriff [[Syzygie (Mathematik)|Syzygie]] enthält. Das Theorem III hingegen kommt dem modernen Verständnis mehr entgegen. Hilberts Abhandlung in MA36 umfasst 61 Seiten und besteht aus fünf Abschnitten. Im ersten wird der hilbertsche Basissatz wiederholt (Theorem I) und im zweiten erweitert (Theorem II). Der dritte enthält den Syzygiensatz (in seiner „modernen“ Fassung, Theorem III), der vierte handelt von Hilbertfunktionen (Theorem IV) und der fünfte enthält den Syzygiensatz in seiner invariantentheoretischen Ausprägung (er ist spezieller als das Theorem V, das „nur“ die Endlichkeit des vollen Invariantensystems behauptet).<br />
<br />
== Wortlaut ==<br />
=== Theorem III ===<br />
MA36, Seite 492: „Ist ein Gleichungssystem von der Gestalt (13) vorgelegt [<math>F_{t1}X_1 + ... + F_{tm}X_m = 0, (t = 1, ..., m)</math>], wobei die Glieder algebraische Formen sind, so führt die Aufstellung der Relationen zwischen den Lösungen desselben [Syzygien] zu einem zweiten Gleichungssysteme von der nämlichen Gestalt; aus diesem zweiten abgeleiteten Gleichungssysteme entspringt in gleicher Weise ein drittes abgeleitetes Gleichungssystem. Das so begonnene Verfahren erreicht bei weiterer Fortsetzung stets ein Ende und zwar ist spätestens das n-te Gleichungssystem jener Kette [n = Zahl der Variablen des Polynomrings] ein solches, welches keine [nicht trivialen] Lösungen mehr besitzt.“ Die [ ]-Zusätze gehören nicht zum Originaltext.<br />
<br />
=== Syzygiensatz (invariantentheoretisch) ===<br />
MA36, Seite 534: „Die Systeme der irreduciblen Syzygien erster Art, zweiter Art etc. bilden eine Kette abgeleiteter Gleichungssysteme. Diese Syzygienkette bricht im Endlichen ab und zwar giebt [sic] es keinenfalls Syzygien von höherer als der <math>(m + 1)</math>–ten Art, wenn ''m'' die Zahl der Invarianten des vollen Systems bezeichnet.“<br />
<br />
== Erläuterungen ==<br />
Hilbert versteht unter einer algebraischen Form ein homogenes [[Polynom]] in ''n'' Variablen über einem [[Körper (Algebra)|Körper]] (gelegentlich auch ein homogenes Polynom mit nur ganzzahligen Koeffizienten), aber auch Summen von Produkten der Koeffizienten des Körpers, ´Variable´ als Parameter aufgefasst (z.&nbsp;B. Determinanten).<br />
<br />
Eine Invariante ist eine ganze homogene Funktion der Koeffizienten einer zugrundegelegten algebraischen Form, die gegenüber allen linearen Transformationen der Variablen unverändert bleibt.<br />
<br />
Eine [[Syzygie (Mathematik)|Syzygie]] (aus dem Griechischen sysygia = Paar) ist ein m-Tupel <math>(X_1, ..., X_m)</math> in einer Relationen-Gleichung der Form <math>A_1X_1 + ... + A_mX_m = 0</math>, so dass Syzygie eigentlich nicht „Paar“, sondern „Paargenosse“ bedeutet (nämlich nur ein m-Tupel von zweien, die in Relation treten). Hilbert verwendet Syzygien in Theorem III (die Lösungen seiner Gleichungssysteme), ohne sie so zu nennen. Der Begriff Syzygie besitzt außerhalb der Mathematik noch viele andere Bedeutungen.<br />
<br />
== Moderne Formulierungen (Beispiele) ==<br />
* [[Klaus Altmann (Mathematiker)|Klaus Altmann]]:<ref>Kommutative Algebra, FU Berlin, 2006</ref> „Jeder endlich erzeugte <math>C[x_1,...,x_n]</math>-Modul hat eine [[projektive Auflösung]] der Länge n.“<br />
* [[Uwe Nagel (Mathematiker)|Uwe Nagel]]:<ref>Algebraische Geometrie, Kai Gehrs nach den Vorlesungen von Uwe Nagel, Universität Paderborn, 2007</ref> „Ist M ein endlich erzeugter Modul über dem Polynomring <math>K[x_o,...,x_n]</math>, so besitzt M eine endlich freie Auflösung der Länge <math> \leq\ </math> n+1.“<br />
* [[David Eisenbud]]<ref>Lectures on the Geometry of Syzygies, University of California</ref>: „Let S be the polynomial ring in r+1 variables over a field K. Any finitely generated graded S-modules M has a finite free resolution of length at most r+1.“<br />
* „gldim(<math>k[X_1,...,X_n]</math>) = n“ (gldim steht für „globale Dimension“, einen Begriff, der sich auf den Begriff der „projektiven Dimension“ stützt, der seinerseits etwas mit projektiven Auflösungen zu tun hat).<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* David Hilbert: ''Ueber die Theorie der algebraischen Formen'', Mathematische Annalen, 36, 1890, S. 473–534, [https://eudml.org/doc/157506 Digitalisat]<br />
*Roger Wiegand: ''What is a Syzygy ?'', Notices of the AMS, 2006, Nr. 4, [http://www.ams.org/notices/200604/index.html Online]<br />
*David Eisenbud: ''The geometry of syzygies. A second course in commutative algebra and algebraic geometry''. Springer-Verlag 2005,<br />
== Weblinks ==<br />
*[https://www.encyclopediaofmath.org/index.php/Hilbert_theorem V. I. Danilov, Hilbert's syzygies theorem, Encyclopedia of Mathematics, Springer]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references/><br />
<br />
[[Kategorie:Satz (Mathematik)]]<br />
[[Kategorie:Kommutative Algebra]]<br />
[[Kategorie:David Hilbert als Namensgeber]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Simplizialkomplex&diff=189792897Simplizialkomplex2019-06-23T09:52:04Z<p>Udo.bellack: /* Simpliziale Abbildungen */ Bd with operatorname</p>
<hr />
<div>Ein '''Simplizialkomplex''' ist ein Begriff der [[algebraische Topologie|algebraischen Topologie]]. Bei einem Simplizialkomplex handelt es sich um ein rein [[Kombinatorik|kombinatorisch]] beschreibbares Objekt, mit dessen Hilfe die entscheidenden Eigenschaften von bestimmten, als [[Triangulierung (Topologie)|triangulierbar]] bezeichneten [[Topologischer Raum|topologischen Räumen]] algebraisch charakterisiert werden können. Insbesondere werden Simplizialkomplexe dazu verwendet, für den zugrundeliegenden topologischen Raum [[Invariante (Mathematik)|Invarianten]] zu definieren.<br />
<br />
Die Idee des Simplizialkomplexes besteht darin, einen topologischen Raum dadurch zu untersuchen, dass – sofern möglich – durch Zusammenfügen von [[Simplex (Mathematik)|Simplizes]] eine Menge im ''d''-dimensionalen [[Euklidischer Raum|euklidischen Raum]] konstruiert wird, die [[Homöomorphismus|homöomorph]] ist zum gegebenen topologischen Raum. Die „Anleitung zum Zusammenbau“ der Simplizes, das heißt die Angaben darüber, wie die Simplizes zusammengefügt sind, wird dann in Form einer Sequenz von [[Gruppenhomomorphismus|Gruppenhomomorphismen]] rein algebraisch charakterisiert.<br />
<br />
== Definitionen ==<br />
=== Abstrakter Simplizialkomplex ===<br />
[[Datei:DreidimensionalerSimplizialerKomplex.PNG|miniatur|Ein dreidimensionaler Simplizialkomplex]]<br />
<br />
Ein ''abstraktes Simplex'' <math>\sigma</math> ist eine endliche nichtleere Menge. Ein Element eines abstrakten Simplexes nennt man ''Ecke'' von <math>\sigma</math>, eine nichtleere Teilmenge von <math>\sigma</math> ist wieder ein abstraktes Simplex und wird ''Facette'' (oder ''Seite'') von <math>\sigma</math> genannt.<br />
<br />
Ein ''abstrakter'' oder auch ''kombinatorischer Simplizialkomplex'' <math>\mathcal{K}</math> ist eine Menge von Simplizes mit der Eigenschaft, dass jede Facette <math>\sigma'\subseteq\sigma</math> eines Simplexes <math>\sigma\in\mathcal{K}</math> wieder zu <math>\mathcal{K}</math> gehört, also <math>\sigma'\in\mathcal{K}</math>. Die Vereinigungsmenge aller Ecken von Simplizes des Simplizialkomplexes <math>\mathcal{K}</math> wird ''Eckenmenge'' oder ''Eckpunktbereich'' genannt und mit <math>V(\mathcal{K})</math> bezeichnet.<ref>[[Heinz Hopf|H. Hopf]], [[Pawel Sergejewitsch Alexandrow|P. Alexandroff]]: ''Topologie'', Berlin, 1935, S. 158 ([http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN379157292 online])</ref><br />
<br />
Die Dimension eines abstrakten Simplex, das <math>k+1</math> Ecken enthält, ist definiert als <math>k</math> und die Dimension des Simplizialkomplexes <math>\mathcal{K}</math> ist definiert als das Maximum der Dimension von allen Simplizes. Falls die Dimension der Simplizes nicht beschränkt ist, dann heißt <math>\mathcal{K}</math> unendlichdimensional.<br />
<br />
Der Simplizialkomplex <math>\mathcal{K}</math> heißt endlich, falls er eine endliche Menge ist, und lokal endlich, falls jede Ecke nur zu endlich vielen Simplizes gehört.<br />
<br />
Das <math>n</math>-Skelett <math>\mathcal{K}_n</math> eines Simplizialkomplexes <math>\mathcal{K}</math> ist die Menge aller seiner Simplizes der Dimension <math>\le n</math>.<br />
<br />
=== Geometrischer Simplizialkomplex ===<br />
Ein ''geometrischer Simplizialkomplex'' <math>\mathcal{S}</math> ist eine Menge von [[Simplex (Mathematik)|Simplizes]] in einem euklidischen Raum <math>\R^d</math> mit der Eigenschaft, dass jede Facette <math>\sigma'\subseteq\sigma</math> eines Simplexes <math>\mathcal{S}</math> wieder zu <math>\mathcal{S}</math> gehört und dass für alle Simplizes <math>\sigma,\tau\in \mathcal{S}</math> der [[Schnittmenge|Durchschnitt]] <math>\sigma\cap\tau</math> entweder [[Leere Menge|leer]] oder eine gemeinsame Facette von <math>\sigma</math> und <math>\tau</math> ist. Mit <math>|\mathcal{S}|</math> wird die Vereinigung aller Simplizes des geometrischen Komplexes bezeichnet.<br />
<br />
=== Geometrische Realisierung ===<br />
Ein geometrischer Simplizialkomplex <math>\mathcal{S}</math>, dessen Ecken einem gegebenen abstrakten Simplizialkomplex <math>\mathcal{K}</math> entsprechen, heißt ''geometrische Realisierung'' des Simplizialkomplexes <math>\mathcal{K}</math>. Sie wird mit <math>\vert \mathcal{K}\vert</math> bezeichnet. Alle geometrischen Realisierungen eines abstrakten Simplizialkomplexes sind zueinander [[homöomorph]].<br />
<br />
Zu einem Punkt <math>x\in\vert\mathcal{K}\vert</math> gibt es einen eindeutigen Simplex aus <math>\mathcal{K}</math>, in dessen Innerem <math>x</math> liegt. Dieser Simplex wird als ''Trägersimplex'' von <math>x</math> bezeichnet.<br />
<br />
=== Triangulierung ===<br />
Ein topologischer Raum heißt [[Triangulierung (Topologie)|triangulierbar]], wenn er homöomorph zu einem geometrischen Simplizialkomplex ist.<br />
<br />
== Simpliziale Abbildungen ==<br />
Eine simpliziale Abbildung <math>f\colon \mathcal{K}\to \mathcal{L}</math> ist eine Abbildung zwischen den Eckenmengen <math>f\colon V(\mathcal{K})\to V(\mathcal{L})</math>, bei der für jedes Simplex aus <math>\mathcal{K}</math> dessen Ecken unter der Abbildung <math>f</math> auf die Ecken eines Simplex in <math>\mathcal{L}</math> abgebildet werden.<ref>H. Hopf, P. Alexandroff: ''Topologie'', Berlin, 1935, S. 172 ([http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN379157292 online])</ref><br />
<br />
Eine simpliziale Abbildung <math>f\colon \mathcal{K}\to \mathcal{L}</math> induziert eine stetige Abbildung <math>\vert f\vert\colon\vert \mathcal{K}\vert\to\vert \mathcal{L}\vert</math>. Dazu wird im Inneren jedes geometrischen Simplex eine [[Affine Abbildung|affin lineare]] Fortsetzung konstruiert.<br />
<br />
Umgekehrt lässt sich eine stetige Abbildung <math>g\colon \vert \mathcal{K}\vert\to\vert \mathcal{L}\vert</math> nach endlich vielen [[baryzentrische Unterteilung]]en durch eine simpliziale Abbildung <math>f\colon \operatorname{Bd}^m(\mathcal{K})\to \mathcal{L}</math> approximieren, siehe [[simplizialer Approximationssatz]]. Hierbei steht <math>\operatorname{Bd}</math> für die baryzentrische Unterteilung.<br />
<br />
Eine simpliziale Abbildung die [[bijektion|bijektiv]] ist, das heisst die [[Umkehrabbildung]] ist auch eine simpliziale Abbildung, nennt man einen simplizialen [[Isomorphismus]].<br />
<br />
== Der Simplizialkomplex als Kettenkomplex ==<br />
Sei <math>\mathcal{K}</math> ein endlicher Simplizialkomplex. Die <math>p</math>-te simpliziale Gruppe von <math>\mathcal{K}</math> ist die [[freie abelsche Gruppe]], die von der Menge der Simplizes mit Dimension <math>p</math> erzeugt wird, sie wird mit <math>C^\Delta_p(\mathcal{K})</math> notiert. Die Elemente der Gruppe heißen simpliziale <math>p</math>-Ketten. Wählt man eine [[totale Ordnung]] für alle Ecken, die in irgendeinem Simplex von <math>\mathcal{K}</math> liegen, so erhält man durch Einschränkung auch eine Ordnung für jedes einzelne p-Simplex. Ein [[Randoperator]] <math>\partial \colon C^\Delta_p(\mathcal{K}) \to C^\Delta_{p-1}(\mathcal{K})</math> wird dann definiert durch<br />
:<math>\partial(\langle v_{k_0}, \ldots , v_{k_p} \rangle) := \sum_{i=0}^p (-1)^i \langle v_{k_0}, \ldots , v_{k_{i-1}}, v_{k_{i+1}} , \ldots , v_{k_p} \rangle ,</math><br />
wobei <math>\langle v_{k_0}, \ldots , v_{k_p} \rangle</math> das aus den Ecken erzeugte Gruppenelement meint. Für den Randoperator gilt <math>\partial (\partial c)= 0</math> für alle simplizialen <math>p</math>-Ketten <math>c</math>. Daher ist <math>(C^\Delta_p(\mathcal{K}),\partial)</math> ein [[Kettenkomplex]] und man kann auf gewohnte Weise auf diesem eine [[Homologie (Mathematik)|Homologie]] erklären. Diese Homologie wird [[simpliziale Homologie]] genannt.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
Triangulierungen und ein in Matrixschreibweise formuliertes Äquivalent zu dem daraus gebildeten Kettenkomplex wurden von [[Henri Poincaré]] gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts untersucht. Simplizale Abbildungen wurde erstmals 1912 von [[Luitzen Egbertus Jan Brouwer|Brouwer]] verwendet. In den 1920er-Jahren entstand dann die Sichtweise, die zum Begriff des Kettenkomplexes führte.<ref>Jean Dieudonné: ''A History of Algebraic and Differential Topology 1900-1960'', S. 4–6, Boston 1989, Reprint 2009, ISBN 978-0-8176-4906-7, {{DOI|10.1007/978-0-8176-4907-4}}</ref><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Simpliziale Menge]]<br />
* [[Simpliziale Homologie]]<br />
* [[CW-Komplex]] – ein allgemeinerer Begriff, der Simplizialkomplexe als Spezialfall umfasst.<br />
* [[Fahnenkomplex]]<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
== Quellen ==<br />
* John M. Lee: ''Introduction to Topological Manifolds.'' Springer-Verlag, New York NY u. a. 2000, ISBN 0-387-98759-2 (''Graduate Texts in Mathematics'' 202), Seiten 96, 323–324<br />
* {{EoM<br />
| Titel = Simplicial complex<br />
| Autor = S. N. Malygin & M. M. Postnikov<br />
| Url = http://eom.springer.de/S/s085360.htm<br />
}}<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [[Jörg Bewersdorff]]: [http://www.galois-theorie.de/pdf/algebraische-topologie-fixpunkte.pdf Algebraische Topologie und Fixpunkte]. Einführender Überblicksartikel (PDF-Datei; 179&nbsp;kB).<br />
* Jie Wu: [http://www.math.nus.edu.sg/~matwml/courses/Graduate/MA5209%20Algebraic%20Topology/References/WuJie.pdf Lecture Notes on Algebraic Topology: Simplicial Complexes] (PDF; 713&nbsp;kB).<br />
<br />
[[Kategorie:Algebraische Topologie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Simpliziale_Approximation&diff=189792808Simpliziale Approximation2019-06-23T09:48:44Z<p>Udo.bellack: /* Existenz simplizialer Approximationen */ ost mit \operatorname</p>
<hr />
<div>In der [[Mathematik]], speziell der [[Algebraische Topologie|algebraischen Topologie]] ist die '''simpliziale Approximation''' einer stetigen Abbildung ein wichtiges Hilfsmittel, um kombinatorische und stetige Methoden miteinander zu verbinden. Der '''simpliziale Approximationssatz''' besagt, dass man jede stetige Abbildung zwischen Simplizialkomplexen (nach hinreichend feiner Unterteilung) durch simpliziale Abbildungen approximieren kann. Er wurde um 1910 von [[Luitzen Brouwer]] bewiesen, der ihn benutzte, um die topologische Invarianz der [[Simpliziale Homologie|simplizialen Homologie]] zu beweisen und damit die Grundlagen der damaligen Homologietheorie zu sichern.<br />
<br />
== Definition: Simpliziale Approximation ==<br />
Gegeben seien [[Simplizialkomplex]]e <math>K</math> und <math>L</math> und eine [[stetige Abbildung]]<br />
:<math>f\colon\vert K\vert\to\vert L\vert.</math><br />
Eine ''simpliziale Approximation'' von <math>f</math> ist eine [[simpliziale Abbildung]]<br />
:<math>\phi\colon K\to L</math><br />
mit der Eigenschaft, dass für alle <math>x\in\vert K\vert</math> der Punkt <math>\vert\phi\vert(x) \in\vert L\vert</math> im abgeschlossenen [[Trägersimplex]] von <math>f(x)</math> liegt.<br />
<br />
== Existenz simplizialer Approximationen ==<br />
Zu einer stetigen Abbildung muss es im Allgemeinen keine simpliziale Approximation geben. Es gibt aber eine simpliziale Approximation nach hinreichend feiner [[Unterteilung (Simplizialkomplex)|Unterteilung]] des Urbild-Komplexes <math>K</math>.<br />
<br />
'''Simplizialer Approximationssatz''': Zu jeder stetigen Abbildung <math>f\colon\vert K\vert\to\vert L\vert</math> gibt es eine natürliche Zahl <math>q</math>, so dass <math>f\colon\vert K^{(q)}\vert\to\vert L\vert</math> eine simpliziale Approximation hat.<br />
<br />
Hierbei bezeichnet <math>K^{(q)}</math> die <math>q</math>-te [[baryzentrische Unterteilung]] und es gilt bekanntlich <math>\vert K^{(q)}\vert=\vert K\vert</math>.<br />
<br />
Ein wichtiger Beweisschritt ist das folgende Kriterium: wenn es zu jeder Ecke <math>x\in<br />
K^{(q)}</math> eine Ecke <math>x^\prime\in L</math> mit <br />
:<math>f(\operatorname{ost}(x))\subset \operatorname{ost}(x^\prime)</math> <br />
gibt, dann ist die durch die Zuordnung <math>x\to x^\prime</math> definierte simpliziale Abbildung <math>\phi</math> eine simpliziale Approximation von <math>f</math>. Hierbei bezeichnet <math>\operatorname{ost}(x)</math> den [[Stern (Topologie)|offenen Stern]] einer Ecke <math>x</math>.<br />
<br />
== Homotopie ==<br />
Eine simpliziale Approximation einer stetigen Abbildung <math>f</math> ist zu <math>f</math> [[Homotopie|homotop]]. Man kann nämlich innerhalb jedes abgeschlossenen Simplex die affin-lineare Homotopie zwischen <math>f</math> und <math>\vert\phi\vert</math> durchführen und diese Homotopien stimmen auf den gemeinsamen Seitenflächen abgeschlossener Simplizes überein.<br />
<br />
== Anwendungen ==<br />
Mittels simplizialer Approximation erhält man die [[Funktorialität]] der simplizialen Homologie bezüglich stetiger (statt nur simplizialer) Abbildungen. Insbesondere erhält man, dass [[Homöomorphismus|homöoomorphe]] Simplizialkomplexe dieselben [[Homologiegruppe]]n haben.<br />
<br />
Brouwer benutzte den Approximationssatz, um rigorose [[Beweis (Mathematik)|Beweise]] für den [[Jordan-Brouwer-Zerlegungssatz]] und den [[Satz von der Invarianz der Dimension]] zu geben.<br />
<br />
Weiterhin folgt aus dem simplizialen Approximationssatz die [[Gruppenisomorphismus|Isomorphie]] von [[Singuläre Homologie|singulärer]] und [[Simpliziale Homologie|simplizialer Homologie]].<br />
<br />
== Literatur ==<br />
*Kapitel 3.2 in: Ralph Stöcker, [[Heiner Zieschang]]: Algebraische Topologie. Teubner, Stuttgart 1988, ISBN 3-519-02226-5<br />
<br />
[[Kategorie:Algebraische Topologie]]</div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Retraktion_und_Koretraktion&diff=189792455Retraktion und Koretraktion2019-06-23T09:31:31Z<p>Udo.bellack: link duale Kategorie</p>
<hr />
<div>{{Dieser Artikel|befasst sich mit dem mathematischen Begriff ''Retraktion''. Ein Artikel über den gleichnamigen medizinischen Begriff befindet sich unter [[Retraktion (Medizin)]].}}<br />
<br />
In der [[Kategorientheorie]] versteht man unter einer '''Retraktion''' einen [[Morphismus]] <math>f</math>, der ein Rechtsinverses besitzt, das heißt, zu dem es einen Morphismus <math>g</math> gibt mit <math>f \circ g = \operatorname{id}</math>. Der [[Kategorientheorie#Duale_Kategorie|duale]] Begriff einer Retraktion ist der der '''Koretraktion''' (oder '''Schnitt'''), das heißt ein Morphismus, der ein Linksinverses besitzt. Das Rechtsinverse einer Retraktion ist eine Koretraktion und umgekehrt.<br />
<br />
Ein Objekt <math>X</math> einer [[Kategorientheorie|Kategorie]] <math>\mathcal{C}</math> heißt ''Retrakt'' eines Objekts <math>Y\in \mathcal{C}</math>,<br />
wenn es in <math>\mathcal{C}</math> einen Morphismus <math>f\colon X\to Y</math> und eine Retraktion <math>r\colon Y\to X</math> zu <math>f</math>, also einen Morphismus <math>r</math> mit <math>r\circ f=\operatorname{id}_X</math>, gibt.<br />
<br />
Jede Retraktion ist ein [[extremer Epimorphismus|extremer]] und sogar [[Regulärer Monomorphismus und Epimorphismus|regulärer]] [[Epimorphismus]]. Ebenso ist jede Koretraktion extremer und sogar regulärer [[Monomorphismus]] und sogar [[Differenzkern]].<ref name="pumplün">{{Literatur | Autor= [[Dieter Pumplün]] | Titel= Elemente der Kategorientheorie | Verlag= [[Spektrum Akademischer Verlag]] | Ort= Heidelberg | Auflage= 1. | Jahr= 1999|Seiten=64|ISBN=3-86025-676-9}}</ref><br />
<br />
== Spezielle Kategorien ==<br />
=== Topologische Räume ===<br />
Der Begriff der Retraktion findet Anwendung in der [[algebraische Topologie|algebraischen Topologie]]. In der Kategorie <math>\mathbf{Top}</math> der topologischen Räume sind alle [[extremer Monomorphismus|extremen Monomorphismen]] und damit auch alle Koretraktionen [[topologische Einbettung]]en.<ref>{{nLab|extremal+monomorphism|2=extremal monomorphism}}</ref> Dies ermöglicht im Falle topologischer Räume eine andere Sichtweise und Definition: Eine Retraktion ist ein stetiges Linksinverses einer topologischen Einbettung. Oder konkret formuliert: Eine Retraktion ist eine stetige Abbildung von einem topologischen Raum in sich selbst, sodass jedes Element der [[Bildmenge]] [[Fixpunkt (Mathematik)|Fixpunkt]] ist.<ref name="fulton">{{Literatur | Autor= [[William Fulton]] | Titel= Algebraic Topology | Verlag= [[Springer Science+Business Media|Springer]] | Ort= New York | Auflage= 1. | Jahr= 1995 }} Abschnitt 4b, ISBN 0-387-94327-7</ref><br />
<br />
Dies erlaubt auch eine konkrete Definition des Retrakts: Ein Teilraum <Math>A</Math> eines [[topologischer Raum|topologischen Raums]] <Math>X</Math> heißt Retrakt von <Math>X</Math>, wenn es eine Retraktion <Math>r</Math> zur Einbettung <math>i\colon A\to X</math> gibt.<br />
<br />
<math>A</Math> ist genau dann Retrakt von <Math>X</Math>, wenn jede stetige Abbildung <math>f\colon A\to Y</math> stetig zu einer Abbildung <math>g\colon X\to Y</math> fortgesetzt werden kann:<br />
* Gibt es eine Retraktion <math>r\colon X\to A</math>, so ist <math>g := f \circ r</math> [[stetige Fortsetzung]].<br />
* Eine Fortsetzung von <math>\operatorname{id}_A</math> zu einer stetigen Abbildung <math>r\colon X\to A</math> ist eine Retraktion.<br />
<br />
In einem [[Hausdorffraum]] ist jedes Retrakt abgeschlossen: Sei <math>A\subset X</math> Retrakt mit Retraktion <math>r\colon X\to A</math>. Betrachte nun ein konvergentes [[Netz (Topologie)|Netz]] <math>N_i\to a</math> auf <math>A</math>. Das Bildnetz <math>r(N_i)</math> konvergiert gegen <math>r(a)</math> (da <math>r</math> stetig) und ist gleich dem ursprünglichen Netz. Da der Grenzwert eines Netzes in Hausdorffräumen eindeutig ist, gilt somit <math>r(a)=a\in A</math> und <math>A</math> ist abgeschlossen. In Nicht-Hausdorffräumen gilt dies nicht: In Nicht-[[T1-Raum|T₁-Räumen]] existieren nicht-abgeschlossene einelementige Mengen, die aber offensichtlich Retrakte sind. Als Beispiel für einen T₁-Raum mit nicht-abgeschlossenem Retrakt betrachte die [[kofinite Topologie]] auf <math>\N</math>: <math>r\colon \N\to\N\setminus\{0\}</math> mit <math>r(0)=1</math> und <math>r(n)=n</math> für <math>n\neq 0</math> ist eine Retraktion, das Bild ist jedoch nicht abgeschlossen.<br />
<br />
==== Deformationsretrakt ====<br />
<math>A</math> heißt ''Deformationsretrakt'' von <math>X</Math>, wenn <math>i\circ r</math> homotop zu <math>\operatorname{id}_X</math> relativ <Math>A</Math> ist.<br />
<br />
Deformationsretraktionen sind spezielle [[Homotopie#Homotopieäquivalenz|Homotopieäquivalenzen]], die diese [[Äquivalenzrelation]] erzeugen.<br />
<br />
==== Beispiele ====<br />
===== Elementares Beispiel =====<br />
Die folgende Abbildung ist ein anschauliches Beispiel für eine Retraktion in den [[reelle Zahl|reellen Zahlen]]:<br />
::<math>f\colon \R \to [0,1], x \mapsto \begin{cases}<br />
0 & \mbox{für } x<0 \\<br />
x & \mbox{für } 0\leq x \leq 1 \\<br />
1 & \mbox{für } x>1<br />
\end{cases}</math><br />
<br />
===== Fixpunktsatz von Brouwer im eindimensionalen Fall =====<br />
Der [[Fixpunktsatz von Brouwer]] besagt, dass jede stetige Abbildung einer [[Vollkugel]] in sich selbst einen Fixpunkt besitzt. Eine eindimensionale Vollkugel entspricht topologisch gesehen gerade einem abgeschlossenen Intervall, etwa <math>\left[-1,1\right]</math>. Gäbe es nun eine stetige, fixpunktfreie Abbildung <math>f\colon \left[-1, 1\right] \to \left[-1,1\right]</math>, so ergäbe sich dadurch eine Retraktion <math>g\colon \left[-1, 1\right] \to \{-1, 1\}</math> mittels <math>g(x)=\sgn(x-f(x))=\textstyle \frac{x-f(x)}{\left|x-f(x)\right|}</math> (da der Nenner nie verschwinden würde), d.&nbsp;h. <math>\left\{-1,1\right\}</math> müsste Retrakt von <math>\left[-1, 1\right]</math> sein. Eine solche Retraktion kann aber nicht existieren, da [[Zusammenhängender Raum|Zusammenhang]] unter stetigen Abbildungen erhalten ist.<ref name="fulton"/><br />
<br />
===== Abgeschlossene Teilräume des Baire-Raums =====<br />
{{Hauptartikel|Baire-Raum (speziell)}}<br />
Im Baire-Raum <math>\mathcal{N}</math> gilt: Für jedwede abgeschlossene Teilräume (dies sind stets [[Polnischer Raum|polnische]] Teilräume) <math>X\subset Y\subset \mathcal{N}</math> ist <math>X</math> Retrakt von <math>Y</math>. Man beachte, dass der Baire-Raum [[total unzusammenhängend]] ist, und daher der Zusammenhangsbegriff keinerlei Einschränkungen für Retrakte liefert.<br />
<br />
=== Pfeilkategorie ===<br />
Sei <math>\mathcal{C}</math> eine Kategorie, die zugehörige [[Pfeilkategorie]] ist dann die Kategorie der [[Funktor (Mathematik)|Funktor]]en von der Kategorie mit zwei Objekten und drei Morphismen in die Kategorie <math>\mathcal{C}</math>. Diese werden Pfeile genannt und können mit den Morphismen in <math>\mathcal{C}</math> identifiziert werden. Ein Pfeil <math>f</math> ist Retrakt eines Pfeils <math>g</math>, wenn es eine [[natürliche Transformation]] (d.&nbsp;h. ein kommutierendes Quadrat) <math>\eta\colon f\to g</math> und eine Retraktion <math>r\colon g\to f</math> gibt, also das folgende Diagramm kommutiert:<br />
<br />
:[[Datei:Retrakt.svg|170px]]<br />
<br />
=== Mengenlehre ===<br />
In der Kategorie <math>\mathbf{Set}</math> aller [[Menge (Mathematik)|Mengen]] und den [[Funktion (Mathematik)|Funktionen]] zwischen ihnen ist ein Morphismus (das heißt eine Funktion zwischen zwei Mengen) genau dann eine Retraktion, wenn er [[surjektiv]] ist. Diese Aussage ist äquivalent zum [[Auswahlaxiom]] der [[Mengenlehre]]. Entsprechend ist ein Morphismus genau dann eine Koretraktion, wenn er [[Injektivität|injektiv]] ist und es einen Morphismus in der Gegenrichtung gibt. Diese Aussage benötigt jedoch nicht das Auswahlaxiom. Aus diesen Aussagen folgt, dass in jeder [[konkrete Kategorie|konkreten Kategorie]] die Retraktionen surjektiv und die Koretraktionen injektiv sein müssen, was für allgemeine Epi- bzw. Monomorphismen, welche in der Kategorie der Mengen mit den Retraktionen bzw. Koretraktionen übereinstimmen, im Allgemeinen nicht gilt.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references/><br />
<br />
[[Kategorie:Kategorientheorie]]<br />
[[Kategorie:Algebraische Topologie]]<br />
<!-- Topologisch, mit Deformation --><br />
<!-- Nur kategoriell --><!-- Deformation --><!-- Nur kategoriell --><!-- topologisch, mit Deformation --><br />
<!-- Nur kategoriell --><br />
[[pl:Retrakcja (topologia)]] <!-- Topologisch --><!-- Deformation --><!-- Deformation --><!-- topologisch, mit Deformation --></div>Udo.bellackhttps://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Exakte_Sequenz&diff=189792410Exakte Sequenz2019-06-23T09:28:25Z<p>Udo.bellack: /* Erweiterungen */</p>
<hr />
<div>Der Begriff der '''exakten Sequenz''' oder ''exakten Folge'' spielt eine zentrale Rolle im [[Mathematik|mathematischen]] Teilgebiet der [[homologische Algebra|homologischen Algebra]]. Besonders wichtig sind die '''kurzen exakten Sequenzen'''.<br />
<br />
== Definition ==<br />
Eine Sequenz<br />
:<math>A'\longrightarrow A\longrightarrow A''</math><br />
von Objekten und Morphismen in einer geeigneten [[Kategorientheorie|Kategorie]]<br />
heißt ''exakt an der Stelle'' <math>A</math>, wenn<br />
:<math>\mathrm{im}(A'\to A)=\ker(A\to A'')</math><br />
gilt, d.&nbsp;h. wenn das [[Bild (Mathematik)|Bild]] eines Pfeils gleich dem [[Kern (Algebra)|Kern]] des nächsten ist. Eine längere Sequenz<br />
:<math>A_1\longrightarrow A_2\longrightarrow A_3\longrightarrow A_4\longrightarrow A_5</math><br />
heißt ''exakt'', wenn sie exakt an den Stellen <math>A_2</math>, <math>A_3</math> und <math>A_4</math> ist (analog für kürzere oder längere Sequenzen).<br />
<br />
Geeignet in diesem Sinne ist eine Kategorie offenbar nur dann, wenn sinnvoll von Kern und Bild gesprochen werden kann.<br />
Dies ist der Fall für alle [[abelsche Kategorie|abelschen Kategorien]], aber auch beispielsweise für die Kategorie ''Grp'' der [[Gruppe (Mathematik)|Gruppen]] und [[Gruppenhomomorphismus|Gruppenhomomorphismen]].<br />
<br />
== Beispiele ==<br />
* Ist <math> f\colon A' \to A </math> ein Homomorphismus zwischen [[Abelsche Gruppe#Homomorphismen|abelschen Gruppen]], dann ist <math> \operatorname{im}(A' \to A)= \operatorname{Bild}(f):=\{f(a') |a'\in A'\} </math> und <math> \operatorname{ker}(A'\to A)=\operatorname{Kern}(f):=\{a'|a'\in A', f(a')=0 \} </math>. Die Folge <math> A'\overset{f}{\longrightarrow}A \overset{g}{\longrightarrow}A'' </math> ist daher exakt an der Stelle <math> A </math>, wenn <math> \operatorname{Bild}(f)= \operatorname{Kern}(g) </math> ist.<br />
* Eine Sequenz <math>0\longrightarrow A' \;\overset{f}{\longrightarrow} \; A</math> ist genau dann exakt, wenn <math>f \colon A'\to A</math> ein [[Monomorphismus]], d.h. [[Injektive Funktion|injektiv]] ist. Unter Verwendung eines Hakenpfeils kann dies auch mit 2 Termen geschrieben werden:<math>A' \;\overset{f}{\hookrightarrow}\; A</math><br />
* Eine Sequenz<br />
::<math>A\;\overset{g}{\longrightarrow} \; A''\longrightarrow 0</math> ist genau dann exakt, wenn <math>g \colon A\to A''</math> ein [[Epimorphismus]], d.h. [[Surjektive Funktion|surjektiv]] ist. Unter Verwendung eines Zweispitzenpfeils kann dies auch mit 2 Termen geschrieben werden:<br />
::<math>A \;\overset{g}{\twoheadrightarrow}\; A''</math><br />
* Für jeden Homomorphismus <math>f\colon A\to B</math> von [[Vektorraum|Vektorräumen]] ([[Abelsche Gruppe|abelschen Gruppen]], [[Modul (Mathematik)|Moduln]], jeden Morphismus einer abelschen Kategorie) existiert eine exakte Sequenz, wie folgt:<br />
::<math>0\longrightarrow\ker f\longrightarrow A\longrightarrow B\longrightarrow\mathrm{coker}\,f\longrightarrow0</math><br />
:In ''Grp'' ist die Sequenz jedoch bei <math>B</math> nur exakt, wenn das Bild von <math>f</math> ein Normalteiler in <math>B</math> ist. Auch in [[additive Kategorie|additiven]], aber nicht abelschen Kategorien ist die Exaktheit nicht notwendigerweise gegeben. Dabei bezeichnet <math>\operatorname{coker} f</math> den [[Kokern]] von <math>f</math>.<br />
* Für eine Gruppe <math>G</math> seien<br />
** <math>Z(G)\,</math> das [[Zentrum (Algebra)|Zentrum]],<br />
** <math>\mathrm{Aut}\,G</math> die Gruppe der [[Automorphismus|Automorphismen]],<br />
** <math>\mathrm{Inn}\,G</math> die Gruppe der inneren Automorphismen und<br />
** <math>\mathrm{Out}\,G=\mathrm{Aut}\,G/\mathrm{Inn}\,G</math> die Gruppe der äußeren Automorphismen<br />
:von <math>G</math>. Dann ist die Sequenz<br />
::<math>1\longrightarrow Z(G)\longrightarrow G\longrightarrow\mathrm{Aut}\,G\longrightarrow\mathrm{Out}\,G\longrightarrow1</math><br />
:exakt. Der mittlere Pfeil ist dabei durch<br />
::<math>g\mapsto(h\mapsto ghg^{-1})\in\mathrm{Inn}\,G\subseteq\mathrm{Aut}\,G</math><br />
:gegeben.<br />
<br />
== Kurze exakte Sequenzen ==<br />
=== Definition ===<br />
Eine exakte Sequenz der Form<br />
:<math>0\longrightarrow A'\longrightarrow A\longrightarrow A''\longrightarrow0</math><br />
heißt ''kurze exakte Sequenz''.<br />
<br />
=== Zerfallende kurze exakte Sequenzen ===<br />
Eine kurze exakte Sequenz ''zerfällt'', wenn<br />
<math>A\to A''</math> einen [[Retraktion und Koretraktion|Schnitt]] hat. Vereinzelt wird anstatt ''zerfällt'' auch die Bezeichnung ''spaltet auf'' benutzt, die auf eine nicht ganz korrekte Übersetzung des englischen Begriffs ''split'' zurückzuführen ist.<br />
<br />
In einer additiven Kategorie folgt hieraus auch, dass <math>A'\to A</math> eine [[Retraktion und Koretraktion|Retraktion]] hat,<br />
dass die entstehende Sequenz<br />
:<math>0\longleftarrow A'\longleftarrow A\longleftarrow A''\longleftarrow 0</math><br />
ebenfalls exakt ist und dass diese Sequenzen [[Isomorphismus|isomorph]] zu <br />
:<math>0\longrightarrow A'\longrightarrow A'\oplus A''\longrightarrow A''\longrightarrow0</math><br />
bzw.<br />
:<math>0\longleftarrow A'\longleftarrow A'\oplus A''\longleftarrow A''\longleftarrow 0</math><br />
sind.<br />
<br />
Zerfällt eine kurze exakte Sequenz in der Kategorie der Gruppen, ergibt sich daraus lediglich<br />
eine Operation von <math>A''</math> auf <math>A'</math>, und <br />
dass <math>A</math> [[semidirektes Produkt]] von <math>A'</math> und <math>A''</math><br />
bezüglich dieser [[Gruppenoperation|Operation]] ist. Beispielsweise ist die [[zyklische Gruppe]] <math>\mathbb{Z}/3\mathbb{Z}</math> Untergruppe der [[symmetrische Gruppe|symmetrischen Gruppe]] <math>S_3</math>, woraus sich die kurze exakte Sequenz<br />
:<math>0\longrightarrow \mathbb{Z}/3\mathbb{Z}\longrightarrow S_3 \longrightarrow \mathbb{Z}/2\mathbb{Z}\longrightarrow0</math><br />
ergibt; indem man das nicht-neutrale Element der <math>\mathbb{Z}/2\mathbb{Z}</math> auf ein Element der Ordnung 2 in <math>S_3</math> abbildet, erhält man eine Spaltung.<br />
<br />
=== Aufteilung einer langen exakten Sequenz ===<br />
Jede lange exakte Folge lässt sich in kurze exakte Folgen zerlegen, indem man [[Kern (Algebra)|Kerne]] und [[Kern (Algebra)#Kokern|Kokerne]] einfügt: Ist<br />
:<math>A_1\longrightarrow A_2\longrightarrow A_3\longrightarrow A_4\longrightarrow A_5</math><br />
eine exakte Sequenz, so sei<br />
:<math>Z_n:=\ker(A_n\to A_{n+1})=\mathrm{im}(A_{n-1}\to A_n)=\mathrm{coker}(A_{n-2}\to A_{n-1}).</math><br />
Dann gibt es kurze exakte Sequenzen<br />
:<math>0\longrightarrow Z_n\longrightarrow A_n\longrightarrow Z_{n+1}\longrightarrow0.</math><br />
Ist <math>(A_*)</math> ein [[Kettenkomplex]], so ist die Exaktheit all dieser kurzen Sequenz äquivalent zur Exaktheit der langen Sequenz.<br />
<br />
=== Erweiterungen ===<br />
Im Kontext einer kurzen exakten Sequenz<br />
:<math>0\longrightarrow A'\longrightarrow A\longrightarrow A''\longrightarrow0</math><br />
sagt man auch, dass <math>A</math> eine ''Erweiterung'' von <math>A''</math> durch <math>A'</math> ist.<br />
<br />
Ist zum Beispiel <math>N</math> ein [[Normalteiler]] in der [[Gruppe (Mathematik)|Gruppe]] <math>G</math> und <math>G/N</math> die [[Faktorgruppe]], so erhält man eine kurze, exakte Sequenz<br />
:<math>0\longrightarrow N\longrightarrow G\longrightarrow G/N\longrightarrow0</math>,<br />
wobei der zweite Pfeil die Einbettung von <math>N</math> in <math>G</math> und der dritte die [[Quotientenabbildung]] ist. Damit ist <math>G</math> eine Erweiterung von <math>N</math> und <math>G/N</math> und man kann die Frage nach einer Klassifikation aller möglichen Erweiterungen von <math>N</math> und <math>G/N</math> stellen. Entsprechende Fragestellungen erhält man etwa in der [[Kategorientheorie|Kategorie]] der [[Ring (Algebra)|Ringe]] oder Moduln über einem festen Ring. Dies führt zu mathematischen Begriffen wie [[Ext (Mathematik)|Ext]] oder [[Gruppenkohomologie]].<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Exakter Funktor]]<br />
* [[Kettenkomplex]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* [[Siegfried Bosch]]: ''Lineare Algebra''. Springer Verlag, 2008, ISBN 978-3-540-76437-3, S. 77–79.<br />
<br />
[[Kategorie:Homologische Algebra]]<br />
[[Kategorie:Kategorientheorie]]</div>Udo.bellack