https://de.wikipedia.org/w/api.php?action=feedcontributions&feedformat=atom&user=Mazij Wikipedia - Benutzerbeiträge [de] 2025-11-26T00:47:08Z Benutzerbeiträge MediaWiki 1.46.0-wmf.3 https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kiewer_Rus&diff=234795302 Kiewer Rus 2023-06-21T06:07:27Z <p>Mazij: </p> <hr /> <div>[[Datei:KiewerRus.jpg|mini|Kiewer Rus um das Jahr 1000]]<br /> <br /> Die '''Kiewer Rus''' ({{ukS-Cyrl|Київська Русь}}, {{beS|Кіеўская Русь}}, {{ruS|Киевская Русь}}), auch '''Altrussland''',&lt;ref&gt;[[Gottfried Schramm (Historiker)|Schramm, Gottfried]]: ''Altrusslands Anfang. Historische Schlüsse aus Namen, Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert.'' (= Rombach Wissenschaften. Reihe Historiae. Bd. 12). Rombach, Freiburg im Breisgau 2002, ISBN 3-7930-9268-2.&lt;/ref&gt; '''Kiewer Russland'''&lt;ref&gt;[[Erich Donnert]]: ''Das Kiewer Russland – Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert.'' 1. Auflage. Urania-Verlag, Leipzig u.&amp;nbsp;a. 1983.&lt;/ref&gt; bzw. '''Kiewer Reich''',&lt;ref&gt;{{Internetquelle |url=https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/kiewer-reich |titel=Kiewer Reich, Brockhaus Enzyklopädie |abruf=2021-09-06}}&lt;/ref&gt; war ein [[mittelalter]]liches [[Ostslawen|altostslawisches]] Großreich. Die heutigen Staaten [[Ukraine]], [[Russland]] und [[Belarus]] sehen in der Kiewer Rus ihren Vorläufer. Der im 19. und 20. Jahrhundert geprägte Begriff kann auch als Bezeichnung der Epoche in der Geschichte der [[Rus]] verstanden werden, in der [[Kiew]] als [[Fürstentum Kiew|Großfürstensitz]] das politische und kulturelle Zentrum der [[Rurikiden]]-[[Dynastie]] war.<br /> <br /> == Begriff ==<br /> Die Bezeichnung „Rus“ erhielten die Herrschaftsgebiete des Geschlechts der [[Rurikiden]], das nach ihrem Stammesfürsten [[Rjurik]] benannt ist. Entlang des [[Weg von den Warägern zu den Griechen|Weges von den Warägern zu den Griechen]] bildete sich eine Handelskette zwischen Ostseeraum, Schwarzem Meer und Bosporus.&lt;ref&gt;Jürgen Hartman: ''Russland: Einführung in das politische System und Vergleich mit den postsowjetischen Staaten.'' Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-658-00174-2, S. 19&amp;nbsp;f.&lt;/ref&gt; Dieses Gebiet wurde unter der Herrschaft der Rurikiden und des namensgebenden Stammes Rus vereinigt. Der Begriff „Kiewer Rus“ wurde im 19. Jahrhundert vom russischen Historiker [[Nikolai Karamsin]] geprägt, um die Kiewer Epoche in der Geschichte der Rus politisch und zeitlich von den späteren Epochen der [[Fürstentum Wladimir-Susdal|Wladimirer Rus]] und [[Großfürstentum Moskau|Moskauer Rus]] abzugrenzen. Ukrainische nationalistische Historiker wie [[Mychajlo Hruschewskyj]] vermieden den Begriff zunächst, weil sie die [[Rus]] nur für die Ukraine vereinnahmten und die Präzisierung „Kiewer“ als überflüssig betrachteten (Hruschewskyj sprach lieber vom Kiewer Reich). Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff Kiewer Rus unter [[Josef Stalin]] vom führenden Sowjethistoriker [[Boris Dmitrijewisch Grekow|Boris Grekow]] für das [[Mongolische Invasion der Rus|prämongolische]] Reich der Rurikiden etabliert und später aus dem [[Russische Sprache|Russischen]] in andere Sprachen übernommen. Die modernere russische und belarussische Wissenschaft tendiert dazu, den Begriff „Altrussischer Staat“ ({{lang|ru|Древнерусское государство}}) zu verwenden. Der Grund dafür ist, dass der Begriff „Kiewer Rus“ den Beginn der Staatlichkeit in [[Nowgorod]] unter Rurik vor der Verlegung der Hauptstadt nach [[Kiew]] im Jahre 882 traditionell zwar mit umfasst, aber vom Namen her nicht berücksichtigt. Gleichzeitig enthalten Termini wie „Altrussland“ oder „Kiewer Russland“ russische Geschichtsdeutungen, die von einer direkten Kontinuität zwischen der Kiewer Rus' und dem heutigen Russland ausgehen, und sollten dementsprechend nicht unkritisch übernommen werden.&lt;ref&gt;Kappeler, Andreas: Ungleiche Brüder - Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2023, S. 34.&lt;/ref&gt;<br /> <br /> == Geschichte ==<br /> === Waräger in Gardarike ===<br /> Seit dem 8. Jahrhundert fuhren skandinavische Fernhändler ([[Waräger]]) die Flüsse [[Dnepr]] und [[Don (Asowsches Meer)|Don]] entlang auf dem [[Weg von den Warägern zu den Griechen|Weg ins Byzantinische Reich]].<br /> Um 750 gründeten sie die erste Siedlung in [[Staraja Ladoga|Ladoga]]. In skandinavischen Texten und Runensteinen wird das Gebiet als [[Gardarike]] (Reich der Burgen) bezeichnet. Das Gebiet wurde in dieser Zeit von [[Slawen|slawischen]], [[Finno-ugrische Völker|finno-ugrischen]] und [[Balten|baltischen]] Stämmen bewohnt.<br /> <br /> === Gründung des Rurikiden-Staates in Nowgorod ===<br /> [[Datei:VolkhovRiverMounds.jpg|mini|Grabhügel der Rus-Krieger entlang des [[Wolchow]] bei Nowgorod]]<br /> <br /> Der [[Nestorchronik]] zufolge riefen die miteinander verfeindeten Stämme der [[Ilmenslawen]] (Slowenen), [[Kriwitschen]], [[Tschuden]] und [[Wes (Stamm)|Wes]] einen Edelmann namens [[Rjurik]] und seine Brüder [[Truwor]] und [[Sineus]] „von der anderen Seite des Meeres“, um ihre Fürsten zu sein. Durch ihre neutrale Herkunft erwartete man dauerhaften Frieden. Rjurik begann im Jahr 862 in [[Weliki Nowgorod|Nowgorod]] zu herrschen, seine Brüder jeweils in [[Isborsk]] und [[Belosersk|Beloosero]]. Rjurik wurde zum Begründer der [[Rurikiden]]-Dynastie, die Russland bis ins Jahr 1598 (bzw. bis 1610 als Seitenzweig [[Schuiski (Adelsgeschlecht)|Schuiski]]) regieren sollte.<br /> {{Hauptartikel|Normannentheorie}}<br /> Die neuen Herrscher gehörten dem Stamm „[[Rus (Volk)|Rus]]“ (Русь) an, den die Nestorchronik als einen Teil der Waräger ansah. Andere Thesen zur Herkunft der Rus geben unter anderen eine slawische Herkunft an,&lt;ref&gt;{{Literatur |Autor=[[Omeljan Pritsak]] |Titel=The Origin of ‘Rus’ |Sammelwerk=[[The Russian Review]] |Band=Vol. 36 |Nummer=No. 3 |Datum=1977-07 |Seiten=249–273 |Verlag=Wiley |Online={{Webarchiv |wayback=20190628194841 |url=https://www2.stetson.edu/~psteeves/classes/pritsak.html |text=Textkopie}} |DOI=10.2307/128848}}&lt;/ref&gt; werden aber in der Forschung mehrheitlich nicht vertreten. Das anfängliche Herrschaftsgebiet der Rurikiden umfasste neben den bereits erwähnten Städten auch [[Rostow (Jaroslawl)|Rostow Jaroslawski]], [[Murom]], [[Smolensk]] und [[Polozk]]. Der Name [[Rus]] wurde mit der Zeit zu einem geografischen Begriff.<br /> <br /> === Verlegung des Zentrums nach Kiew ===<br /> 882 eroberte Ruriks Feldherr [[Oleg (Kiewer Rus)|Oleg]] Kiew, das bis dahin von [[Askold und Dir]] beherrscht worden war. Er verlegte die Hauptstadt dorthin. Kiew empfahl sich als Standort aufgrund seiner strategischen Lage in der Mitte des Handelsweg zwischen der Ostsee und dem [[Schwarzes Meer|Schwarzen Meer]] und seiner guten Ost-West-Verbindung. Damit begann eine neue Form der Besiedlung ostslawischer Gebiete durch die Waräger, da eine Rückkehr ins angestammte Gebiet von hier aus nicht mehr leicht möglich war. Die Rus kontrollierten nun den gesamten Handelsweg zwischen der Ostsee und dem [[Schwarzes Meer|Schwarzen Meer]]. Um diese Hauptader herum wuchs von nun an ihr Staat.<br /> <br /> [[Datei:Oleg tsargrad.jpg|mini|Olegs Feldzug gegen Konstantinopel 907]]<br /> <br /> Die Kiewer Fürsten vereinigten bald alle ostslawischen Gebiete unter ihrer Herrschaft. Ihr Staat wurde zum größten Staat Europas. Im Norden grenzte die Kiewer Rus an die [[Ostsee]] und das [[Weißes Meer|Weiße Meer]], bedeutende Städte waren hier [[Nowgorod]], [[Pskow]], [[Alt-Ladoga]], [[Beloosero]] und [[Tartu|Jurjew]] (Tartu). Im Westen grenzte sie an die baltischen Stämme und Polen mit wichtigen Grenzstädten [[Hrodna|Grodno]], [[Wolodymyr (Stadt)|Wladimir-Wolynsk]], [[Przemyśl|Peremyschl]] (Przemysl) und [[Halytsch|Galitsch]]. Im Südwesten erstreckte sich der Einflussbereich der Kiewer Fürsten entlang des [[Pruth]] und des [[Dnister]] zeitweise bis ans Schwarze Meer. Die Süd- und Südostgrenze des Reiches verlief lange Zeit unweit von Kiew entlang der Flüsse [[Ros (Dnepr)|Ros]] und [[Sula (Dnepr)|Sula]]. Hier grenzte die sesshafte ostslawische Zivilisation an das sogenannte [[Wildes Feld|Wilde Feld]]. Unter diesem Namen waren die Steppengebiete bekannt, aus denen immer wieder Angriffe der turkstämmigen Reiternomaden erfolgten. Im Nordosten drangen slawische Siedler immer weiter in dünn besiedelte finno-ugrische Gebiete vor, gründeten neue Städte und assimilierten die lokale Bevölkerung. Hier entstanden Städte wie [[Rjasan]], [[Murom]], [[Wladimir (Russland)|Wladimir]], [[Susdal]], [[Jaroslawl]], [[Moskau]] und [[Nischni Nowgorod]]. Zum östlichen Nachbarn der Kiewer Rus wurde das Reich der [[Wolgabulgaren]]. Außerhalb ihres großen zusammenhängenden Gebiets kontrollierten die rurikidischen Fürsten mehrere südliche Exklaven: [[Tmutarakan]], [[Oleschje]], [[Beresan (Insel)|Beresan]] und [[Belaja Wescha]] (Sarkel).<br /> <br /> Die Rus stellten zunächst den Großteil der Adels-, Händler- und Kriegerschicht des Staates. Die dominierende Kultur und Sprache war slawisch ([[Altostslawische Sprache]]).<br /> <br /> === Blüte ===<br /> [[Datei:Vladimir by klodt.jpg|mini|Wladimir-Statue in [[Kiew]] (1853) am Ufer des [[Dnepr]], wo der Legende nach die christlich-orthodoxe Taufe der [[Rus]] stattfand]]<br /> <br /> Das 10. Jahrhundert kennzeichnete den Höhepunkt der Kiewer Macht: [[Oleg (Kiewer Rus)|Oleg von Kiew]] konnte nach einem erfolgreichen [[Russisch-Byzantinischer Krieg (907)|Feldzug gegen Konstantinopel]] 907 dem [[Byzantinisches Reich|Byzantinischen Reich]] einen Diktatfrieden mit zahlreichen Handelsprivilegien für Kiew aufzwingen. Fürst [[Swjatoslaw I.|Swjatoslaw]] zerstörte das [[Chasaren]]-Reich und eroberte vorübergehend weite Teile des [[Balkanhalbinsel|Balkans]], unter anderem das [[Geschichte Bulgariens#Erstes Bulgarisches Reich|Donaubulgarische Reich]].<br /> <br /> Durch den hauptsächlich auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es, trotz anfänglicher Eroberungsversuche seitens der Rus, zu engen Kontakten mit Byzanz, die zur [[Christianisierung|christlichen Missionierung]] und schließlich im Jahre 988 in der Herrschaftszeit [[Wladimir der Heilige|Wladimirs des Heiligen]] zum Übertritt der Rus zum [[Orthodoxe Kirchen|orthodoxen Glauben]] führten (siehe [[Christianisierung der Rus]]).<br /> <br /> Die Kiewer [[Knjas|Fürsten]] waren hoch angesehen und heirateten in ganz [[Europa]]; so schlossen sie [[Dynastie|dynastische]] Verbindungen unter anderem mit [[Norwegen]], [[Schweden]], [[Königreich Frankreich (987–1791)|Frankreich]], [[Königreich England|England]], [[Königreich Polen|Polen]], [[Königreich Ungarn|Ungarn]], dem [[Byzantinisches Reich|Byzantinischen Reich]] und dem [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reich]]. Eine kulturelle Blütezeit erreichte die Kiewer Rus unter den [[Großfürst]]en [[Wladimir I.|Wladimir dem Heiligen]] (Herrschaftszeit 978–1015) und [[Jaroslaw der Weise|Jaroslaw dem Weisen]] (1019–1054). Letzterer ließ im ganzen Reich nach byzantinischem Vorbild viele Kirchen, Klöster, Schreibschulen und [[Festung]]sanlagen errichten, reformierte die ostslawische Gesetzgebung, hielt sie erstmals schriftlich fest ''([[Russkaja Prawda]])'' und gründete in Kiew die erste ostslawische [[Bibliothek]].<br /> <br /> [[Datei:Софійський собор 43.jpg|mini|Ein Modell des ursprünglichen Aussehens der [[Sophienkathedrale (Kiew)|Kiewer Sophienkathedrale]], 11.&amp;nbsp;Jahrhundert]]<br /> <br /> Die Kiewer Rus war jedoch ähnlich wie das [[Heiliges Römisches Reich|Heilige Römische Reich]] kein einheitlicher Staat, sondern bestand aus einer Vielzahl von relativ selbstständigen Teilfürstentümern, die von den [[Rurikiden]] regiert wurden. Einer von ihnen erbte jeweils nach dem [[Senioratsprinzip]] die [[Großfürst]]enwürde und zog zum Regieren nach Kiew. Andere Fürsten rückten währenddessen in der Regierungshierarchie nach und übernahmen die Macht in den einzelnen unterschiedlich wichtigen Teilfürstentümern. Zu solchen Teilfürstentümern der Rus zählten im 11. und 12. Jahrhundert [[Fürstentum Kiew|Kiew]], [[Fürstentum Tschernigow|Tschernigow]], [[Fürstentum Perejaslaw|Perejaslaw]], [[Fürstentum Smolensk|Smolensk]], [[Fürstentum Polozk|Polozk]], [[Fürstentum Turow-Pinsk|Turow-Pinsk]], [[Fürstentum Wladimir-Susdal|Rostow-Susdal]], [[Fürstentum Rjasan|Murom-Rjasan]] und [[Halytsch-Wolhynien|Galizien-Wolhynien]] sowie die [[Republik Nowgorod]]. Auf dem [[Fürstentag von Ljubetsch]] 1097 verzichtete man auf das Nachrückprinzip, so dass einzelne Rurikidenlinien von nun an dauerhafte Herren ihrer Ländereien wurden. Dies legte den Grundstein für das System des feudalen Großgrundbesitzes.<br /> <br /> === Zerfall ===<br /> Die Kiewer Rus litt während ihres gesamten Bestehens an der geographischen Randlage in Europa an der Grenze zum sogenannten [[Wildes Feld|Wilden Feld]]. Wegen des Fehlens natürlicher Barrieren kamen aus den südlichen und südöstlichen Steppen immer neue Reitervölker wie [[Alanen]], [[Petschenegen]] oder [[Kyptschaken]] (Polowzer), die das Reich mit ihren Überfällen immer im Kriegszustand hielten. Um sich gegen die Nomaden zu schützen, wurden an der Südgrenze neue Festungen gegründet und Verteidigungslinien wie die [[Schlangenwälle]] genutzt. Die turkstämmigen [[Schwarze Klobuken|Schwarzen Klobuken]] halfen als Vasallen der Kiewer Fürsten beim Schutz der Grenzen. Nicht selten war jedoch die aus Berufskriegern zusammengestellte [[Druschina]] des Großfürsten gegen die riesigen Reiterheere machtlos. Von einem solchen unglücklichen Feldzug gegen die Polowzer handelt das altrussische [[Igorlied]].<br /> <br /> [[Datei:Principalities of Kievan Rus' (1054-1132).jpg|mini|Teilfürstentümer der Rus zwischen 1054 und 1132]]<br /> <br /> Ein anderes großes Problem war die Erbfolgeregelung nach dem [[Senioratsprinzip]], die bei fast jedem Thronwechsel in Kiew zu kriegerischen Feudalfehden unter den rurikidischen Anwärtern und ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zur zunehmenden Unabhängigkeit der einzelnen Fürstentümer sowie zum Herabsinken der führenden Rolle Kiews führten. Nach dem Tod der einflussreichen Großfürsten [[Wladimir Wsewolodowitsch Monomach|Wladimir Monomach]] (1125) und seines Sohnes [[Mstislaw I. (Russland)|Mstislaw&amp;nbsp;I.]] (1132), die die zerstrittenen Fürsten noch einmal unter der Oberherrschaft Kiews einen konnten, kam es zum endgültigen Zerfall der Kiewer Rus. Zugleich setzte die Migration großer Teile der Bevölkerung in den Nordosten ein, um den sich häufenden Überfällen der Steppennomaden sowie den tobenden Feudalkriegen um den Kiewer Großfürstenthron zu entgehen. Unter [[Juri Dolgoruki]] wurden in dieser „Salessje“ („Land hinter dem Wald“) genannten Region zahlreiche Städte gegründet, das politische Gewicht der neubesiedelten Gebiete stieg rasant. Sein Sohn [[Andrei Bogoljubski]], Fürst von [[Wladimir-Susdal]], konnte 1169 Kiew einnehmen und die Großfürstenwürde an sich reißen. Als erster Großfürst löste er diese vom Standort Kiew und regierte fortan aus [[Wladimir (Russland)|Wladimir]].<br /> <br /> Die feudale Zersplitterung der Region erleichterte ab 1223 die [[mongolische Invasion der Rus]].<br /> <br /> == Zeittafel ==<br /> * ca. 750: Skandinavische Siedlung in Staraja Ladoga ([[Alt-Ladoga]]).<br /> * ca. 838: Entstehung eines Staates [[Rus]] am [[Dnepr]]/[[Dnepr|Dnipro]].<br /> * 844: [[Ibn Chordadhbeh]] schreibt nieder, dass die Rus „Eunuchen, männliche Sklaven, weibliche Sklaven, [[Biberfell|Biber]]- und [[Marderfell]]e sowie andere Pelze“ verkaufen.<br /> * 854–856: Wahrscheinliche Ankunft von ‚Fürst‘ [[Rjurik]] aus [[Skandinavien]] in [[Rurikowo Gorodischtsche]].<br /> * ca. 858: Rjurik erobert das Gebiet um [[Kiew]], das zu der Zeit unter [[Magyaren|magyarischer]] und [[Chasaren|chasarischer]] Oberherrschaft stand.<br /> * 859: Laut [[Nestorchronik]] erheben die [[Waräger]] Zins von den [[Slawen]], [[Finnen]] und [[Esten]].<br /> * 860: Erster Angriff der Rus auf Konstantinopel.<br /> * 862: Laut [[Nestorchronik]] kommt es zu Kämpfen zwischen Einheimischen und Warägern, die zur Vertreibung der Waräger führen. Danach reist eine Delegation der Slawen, Finnen und Esten nach [[Schweden]] und lädt die warägischen Rus dazu ein, über die zerstrittenen Stämme zu herrschen. Gründung der Kiewer Rus mit dem Beginn von Rjuriks Herrschaft.<br /> * 864–883: Die Rus überfällt und plündert islamische Städte am [[Kaspisches Meer|Kaspischen Meer]].<br /> * 865: Erneuter Angriff der Rus auf Konstantinopel.<br /> * ca. 868: Die Rus unter [[Askold (Waräger-Fürst)|Askold]] und Dir übernimmt die Kontrolle über die slawische Stadt Kiew.<br /> * 882: [[Oleg (Kiewer Rus)|Oleg]]/Helgi wird Fürst von Kiew: Vereinigung der Warägerherrschaften im Norden (um [[Weliki Nowgorod|Nowgorod]]) mit denen im Süden (um Kiew) und Verlegung der Hauptstadt der Kiewer Rus von Nowgorod nach Kiew.<br /> * 902: 700 Söldner aus der Rus sind in byzantinischen Diensten an einer Militäraktion auf [[Kreta]] beteiligt.<br /> * 907–913: Feldzüge der Rus gegen das Byzantinische Reich sowie gegen islamische Länder. [[Ahmad ibn Rustah]] verzeichnet den Titel Kagan für die Rus-Fürsten.<br /> * 907: Flottenangriff der Rus auf Konstantinopel, der byzantinische [[Kaiser]] zahlt Tribut und bietet Handelsprivilegien an.<br /> * 920: Der [[Araber|arabische]] Handelsreisende [[Ibn Fadlan]] trifft die Rus in [[Bolgar]] an der [[Wolga]] und schreibt seinen berühmten Bericht über die [[Wikinger]] der Rus.<br /> <br /> [[Datei:Ostromirovo.jpg|mini|Das [[Ostromir-Evangelium]] aus [[Nowgorod]] (1056/1057) ist das älteste erhaltene Literaturdenkmal der Kiewer Epoche]]<br /> <br /> * ca. 930: [[Igor]], Fürst der Wolga-Rus, übernimmt die Herrschaft in Kiew.<br /> * 944: Friedensvertrag zwischen der Kiewer Rus und dem Byzantinischen Reich.<br /> * ca. 945: Der aufständische Stamm der [[Drewljanen]] tötet Igor. [[Olga (Russland)|Olga]] wird Fürstin von Kiew.<br /> * 955: [[Swjatoslaw I.|Swjatoslaw]], der Sohn von Igor/Ingvarr und Olga/Helga lässt sich [[taufe]]n, bleibt aber nur oberflächlich christianisiert.<br /> * 957: ernst gemeinte Taufe von Fürstin Olga durch byzantinische Priester.<br /> * 965–969: Die Rus unter Swjatoslaw zerstört die [[Festung]] [[Sarkel (Festung)|Sarkel]] und [[Itil (Stadt)|Itil]], die Hauptstadt des [[Chasaren]]reichs, überfällt islamische Gebiete, erobert Küstengebiete an der [[Ostsee]] und führt Krieg gegen die [[Wolga-Bulgaren]], um die östlichen Handelswege in den [[Orient]] unter ihre Kontrolle zu bekommen.<br /> * 967–969: Feldzug der Rus unter Swjatoslaw quer durch den ganzen [[Balkanhalbinsel|Balkan]]. In [[Bulgarien]] nimmt Swjatoslaw 80 Städte an der [[Donau]] ein und legt sich den [[Zar]]entitel des bulgarischen Herrschers zu, der zum Vasall des Großfürsten der Rus degradiert wurde. Swjatoslaw verkündet die geplante Verlegung seiner Hauptstadt von Kiew nach [[Weliki Preslaw|Preslaw]] an der Donau, weil dort „der Mittelpunkt seines Reiches läge“.<br /> * 969: Die Rus vernichtet das Reich der Chasaren, kann es jedoch nicht effektiv unterwerfen.<br /> * 971: nach einer verheerenden Niederlage gegen die byzantinische Armee trifft Swjatoslaw an der Donau mit dem byzantinischen Kaiser [[Johannes Tsimiskes]] zusammen und schließt mit ihm einen Friedensvertrag, der ihn zum Verzicht auf Bulgarien und zur Rückkehr in die Kiewer Rus verpflichtet. Der byzantinische [[Chronist]] [[Leo Diaconus]] schreibt daraufhin sein berühmtes Porträt von Swjatoslaw nieder (‚blond, blauäugig, Schnurrbart, rasiertes Haar bis auf zwei Haarlocken‘).<br /> * 972: Swjatoslaw wird auf dem Rückweg in sein Reich an den Dnjepr-Stromschnellen von [[Petschenegen]] getötet.<br /> * 972–980: [[Jaropolk I.]] ist Fürst von Kiew.<br /> * 980–982: [[Wladimir I.|Wladimir Swjatoslawitsch]] wird [[Großfürst]] von Kiew und schlägt Aufstände slawischer Stämme nieder.<br /> * 987: Wladimir Swjatoslawitsch lässt sich von byzantinischen Priestern in Kiew taufen. Daraufhin heiratet er die [[purpurgeboren]]e byzantinische Prinzessin Anna. Damit wird dem Fürsten der Rus als bis dato einzigem europäischen Herrscher die Ehre zuteil, eine Tochter eines Kaisers von Byzanz zu ehelichen. Dem deutschen Kaiser [[Otto II. (HRR)|Otto&amp;nbsp;II.]] ist diese Ehre kurz zuvor verwehrt worden.<br /> * 988: Großfürst Wladimir I. (der Heilige) bekehrt die Rus zum [[Orthodoxe Kirchen|orthodoxen Glauben]]. In Kiew werden heidnische Tempel zerstört und slawische Götzenbilder in den Dnjepr geworfen (siehe auch [[Slawische Mythologie]]).<br /> * 990–1015: Krieg zwischen der Rus und den Petschenegen.<br /> <br /> [[Datei:Igorsvyat.jpg|mini|[[Igorlied]]: ''Nach der Schlacht Igors gegen die Kumanen''. Gemälde von [[Wiktor Wasnezow]], 1880]]<br /> <br /> * 1024: [[Schlacht von Listwen]]: Im Kampf der Söhne Wladimirs um die Nachfolge unterliegt [[Jaroslaw der Weise|Jaroslaws]] [[Waräger]]truppe unter Jakun den [[Slawen|slawischen]] Kontingenten seines Bruders [[Mstislaw]].<br /> * 1043: Letzter Flottenangriff der Kiewer Rus auf Konstantinopel, der erfolglos endet.<br /> * 1093: [[Kumanen]] ([[Kiptschak (Volk)|Kiptschaken]]) überrennen kurzzeitig Kiew unter Tugorkhan, dieser fällt jedoch 1096 gegen die Rus.<br /> * 1097: auf dem [[Fürstenrat von Ljubetsch]] wird das [[Senioratsprinzip]] durch die [[Primogenitur]] ersetzt.<br /> * 1113–1125: Wiedererstarkung der zentralisierten Macht in Kiew durch [[Wladimir Wsewolodowitsch Monomach|Wladimir Monomach]].<br /> * 1169: eine Koalition mehrerer Fürsten der Rus unter der Führung von [[Andrei Bogoljubski]] plündert Kiew. Die Großfürsten von Wladimir-Susdal werden zu den Einflussreichsten in der Rus.<br /> * 1185: Feldzug des Fürsten [[Igor Swjatoslawitsch]] von [[Nowgorod-Sewersk]] gegen die Kumanen, der im [[Igorlied]] beschrieben ist.<br /> * 1223: Zum ersten Mal erscheinen die [[Mongolen]] in der Rus; die [[Schlacht an der Kalka]] endet mit einer bitteren Niederlage für die Rus.<br /> * 1237–1239: Erster Zug der Mongolen unter [[Batu Khan|Batu]] durch die nördliche Rus.<br /> * 1240–1242: Zweiter Zug der Mongolen unter Batu durch die südliche Rus und Zerstörung von Kiew am 6. Dezember 1240 nach [[Belagerung von Kiew (1240)|siebentägiger Belagerung]]. Dieses Ereignis betrachten manche als Ende der Kiewer Rus.<br /> <br /> == Bevölkerung ==<br /> Eine [[nationalstaat]]liche Sichtweise auf mittelalterliche Vielvölkerreiche wie das Kiewer Reich wird ihrer multiethnischen Zusammensetzung nicht gerecht. Die Kiewer Rus war kein ethnisch relativ einheitlicher Nationalstaat, aus dem sich im Zuge der weiteren Expansion das spätere polyethnische und multireligiöse Russland entwickelte, sondern ein dynastischer Herrschaftsverband, in dem neben Slawen auch [[Finno-ugrische Sprachen|finno-ugrisch-]], baltisch- und turksprachige ([[Tataren]]) Stämme lebten.&lt;ref&gt;Andreas Kappeler: ''Rußland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall''. München 1992, ISBN 3-406-36472-1, S.&amp;nbsp;19–24 [Neuaufl. 2001: ISBN 3-406-47573-6]. Sowie ders.: ''Kleine Geschichte der Ukraine''. München 1994, ISBN 3-406-37449-2 [Neuaufl. 2000: ISBN 3-406-45971-4], S.&amp;nbsp;37: „Das Kiever Reich war kein ukrainischer oder russischer Nationalstaat, sondern wie die meisten vormodernen Herrschaftsbildungen ein Vielvölkerreich, das nicht nur von Slawen, sondern auch von finnisch-, baltisch- und turksprachigen Stämmen bewohnt war. In der Elite spielten zunächst Skandinavier, dann auch Griechen und Südslawen eine bedeutende Rolle.“&lt;/ref&gt; In der Elite spielten zunächst Normannen, dann auch Griechen und Südslawen eine bedeutende Rolle.&lt;ref&gt;Andreas Kappeler: ''Rußland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall''. München 1992, ISBN 3-406-36472-1, S.&amp;nbsp;19–24 [Neuaufl. 2001: ISBN 3-406-47573-6]. Sowie ders.: ''Kleine Geschichte der Ukraine''. München 1994, ISBN 3-406-37449-2 [Neuaufl. 2000: ISBN 3-406-45971-4], S.&amp;nbsp;37.&lt;/ref&gt; Ethnische Gruppen im modernen Sinne begannen erst im 15. Jahrhundert sich zu formieren, weshalb die Idee eines einheitlichen Volkes eine Rückprojektion moderner Vorstellungen darstellt.&lt;ref&gt;Kappeler, Andreas: Revisionismus und Drohung. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in Osteuropa 7 (2021), S. 70.&lt;/ref&gt; Weiterhin ist es unbekannt, ob die Ostslawen des Mittelalters eine gemeinsame Umgangssprache hatten.&lt;ref&gt;Kappeler, Andreas: Revisionismus und Drohung. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in Osteuropa 7 (2021), S. 71.&lt;/ref&gt;<br /> <br /> In der russischen historiographischen Tradition geht man hingegen davon aus, dass es ein relativ einheitliches altrussisches Volk gab, zu welchem ab dem 12. Jahrhundert die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Kiewer Rus verschmolzen waren.&lt;ref&gt;А. А. Горский: ''История России с древнейших времен до 1914 года.'' АСТ — Астрель, 2008, S. 50.&lt;/ref&gt; Dazu wird unter anderem angeführt, dass der Anteil nicht-ostslawischer Bevölkerung relativ klein war und relativ rasch assimiliert wurde, und dass es in der Kiewer Rus keine nichtslawische Enklaven oder Territorien gab, die langfristig ihre Sprache, Glauben oder gesellschaftliche Struktur erhalten hätten.&lt;ref&gt;П. П. Толочко: ''Древнерусская народность : воображаемая или реальная.'' СПб. : Алетейя, 2005, S. 25, 59.&lt;/ref&gt; Dass ab dem 12. Jahrhundert in den Quellen die Differenzierung nach einzelnen ostslawischen Stämmen zugunsten eines gemeinsamen Ethnonyms: ''rus'' (русь) als [[Kollektivum]] bzw. ''russin'' (русин) oder ''russitsch'' (русич) als Bezeichnung für einen einzelnen Angehörigen des Ethnos verschwindet, wird ebenso als Beweis für ein einheitliches Volk interpretiert. Die deutschsprachige Forschung widerspricht dem jedoch. Neue Publikationen gehen davon aus, dass die Vorstellung eines einheitlichen Volkes in der Kiewer Rus' auf das 17. Jh. zurückgeht und dann in der russischen Geschichtsschreibung des 19. Jh. verfestigt wurde.&lt;ref&gt;Vulpius, Ricarda: Konkurrenz, Konflikt, Repression. Russland und die Ukrainische Nationsbildung, in: Osteuropa 6–8 (2022), S. 107.&lt;/ref&gt;&lt;ref&gt;Kappeler, Andreas: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2022, S. 29–31.&lt;/ref&gt;<br /> <br /> Auf der Basis der [[Russkaja Prawda]], dem Gesetzeskodex Jaroslaws des Weisen, werden verschiedene soziale Gruppen in der Kiewer Rus unterschieden. Der Adel setzte sich hauptsächlich aus den Vertretern der [[Rurikiden]]-Dynastie zusammen, die die ursprüngliche ostslawische Führungsschicht verdrängt hatte, sich aber dann vergleichsweise schnell unter den Ostslawen assimilierte. Die Fürsten wurden von einer [[Druschina]] begleitet, einer persönlichen Garde, aus der später die [[Bojaren]] hervorgingen. Zur reichen Schicht gehörten Kaufleute, einige Handwerker sowie die Großgrundbesitzer. Der Großteil der Bevölkerung bestand aus freien Bauern ''(Ljudin)'', wobei mit der Zeit immer mehr von ihnen rechtlich von den Fürsten abhängig wurden ''(Smerd)''. Ein Kriegsgefangener oder jemand, der seine Schulden nicht abbezahlen konnte, wurde ein ''Cholop'' oder ''Tscheljadin'', im Grunde ein rechtloser Sklave.<br /> <br /> Die Bevölkerungszahl der Kiewer Rus betrug in ihrer Spätzeit nach Schätzungen 7,5 Mio. Menschen, davon ca. 1&amp;nbsp;Mio. in den Städten. Aus den Chroniken sind etwa 340 Städte bekannt, von denen die meisten in den südlichen Teilfürstentümern lagen.&lt;ref&gt;Г. В. Вернадский: ''Золотой век Киевской Руси.'' Алгоритм, 2012, S. 120.&lt;/ref&gt;<br /> <br /> == Kultur ==<br /> === Schriftliche Kultur ===<br /> [[Datei:MAntokolsky Nestor.JPG|mini|hochkant|[[Nestor von Kiew]]]]<br /> <br /> Mit der [[Christianisierung der Rus]] verbreitete sich in der Kiewer Rus die [[kyrillische Schrift]], die aus dem südslawischen Raum stammte und slawische Laute gut abbildete. Die Tatsache, dass die orthodoxe Kirche im Gegensatz zur katholischen Kirche Gottesdienste in Landessprachen erlaubte, förderte die Entwicklung einer ostslawischen Schriftkultur. Fürst Wladimir I. organisierte erste Schulen und lud südslawische und griechische Lehrer ein.<br /> <br /> Älteste bekannte ostslawische Schriftstücke sind Verträge mit Byzanz aus dem 10. Jahrhundert. Zu den weiteren ältesten Schriften zählen der [[Nowgoroder Kodex]], das [[Ostromir-Evangelium]] und zwei [[Isbornik Swjatoslawa|Isbornik]] des Fürsten [[Swjatoslaw II.|Swjatoslaws&amp;nbsp;II.]] Die hohe Professionalität, mit der diese Werke hergestellt wurden, zeugt davon, dass bereits im 11. Jahrhundert eine entwickelte Manuskript-Tradition bestand. Die [[Russisch-Orthodoxe Kirche#Geschichte|Orthodoxe Kirche]] wurde jedoch kein Monopolist im Bereich der Bildung und der schriftlichen Kultur. Die Lese- und Schreibfertigkeit beschränkte sich nicht nur auf die Oberschicht, sie durchdrang zum Teil auch die Schichten einfacher Bürger. Von der Verbreitung der schriftlichen Bildung zeugen Funde von [[Birkenrindenurkunde]]n in [[Nowgorod]] und anderen Städten der Rus, die bis ins 11. Jahrhundert zurückgehen. Es handelt sich dabei meistens um private Briefe, Mitteilungen oder Rechnungen, die Einblicke in das städtische Alltagsleben bieten.<br /> <br /> Die Hauptzentren der Erstellung von Büchern waren Klöster und große Kathedralen, in denen spezielle Buch-Werkstätten bestanden. Ihre Mannschaften waren nicht nur mit dem Kopieren der Manuskripte beschäftigt, sondern führten auch Chroniken, schrieben originelle Literaturwerke oder übersetzten ausländische Bücher. Eins der führenden Zentren war das [[Kiewer Höhlenkloster]], wo sich eine besondere Literaturrichtung entwickelte. In vielen Städten entstanden Bibliotheken, die mehrere Hundert Bücher beinhalteten. Die Bildung wurde in der altrussischen Gesellschaft sehr geschätzt, wie zahlreiche überlieferte [[Panegyrikus|Panegyrika]] über den Nutzen von Büchern und Bildung zeigen.<br /> <br /> Durch den orthodoxen Glauben wurde die Kiewer Rus schnell integraler Bestandteil der [[Slavia Orthodoxa]], wie heute die Literaturgemeinschaft der orthodoxen Slawen vom 9. Jahrhundert bis zur Neuzeit genannt wird. Die Nutzung des [[Kirchenslawisch]]en ermöglichte den Zugriff auf einen großen gemeinsamen Bücherbestand. Dabei übernahm die Kiewer Rus nur die asketische byzantinische Tradition und mied hauptstädtische byzantinische Einflüsse. Auch beschränkte man sich nur auf christliche Werke im Gegensatz zu den antiken, die als heidnisch und schädlich für die menschliche Seele angesehen wurden. Die [[altrussische Literatur]] ist geprägt von der moralisch-belehrenden Stilrichtung, die sich sogar auf Chroniken erstreckte.<br /> <br /> Zu den bekanntesten altrussischen Literaturwerken zählen die [[Rede über das Gesetz und die Gnade]], die [[Nestorchronik]], die [[Belehrung (Wladimir Monomach)|Belehrung]], das [[Igorlied]] etc.<br /> <br /> === Architektur ===<br /> [[Datei:Saint Dmitry Cathedral in Vladimir.jpg|mini|hochkant|Demetrius-Kirche in [[Wladimir (Russland)|Wladimir]] (1195–1197)]]<br /> <br /> Bis zum 10. Jahrhundert gab es in der Kiewer Rus keine monumentalen Bauwerke aus Stein, aber es gab eine entwickelte Holzbau-Tradition. Nach der Annahme des Christentums begann der Bau von steinernen Kirchen, der vielfach auf [[Byzantinische Architektur|byzantinischem Vorbild]] beruhte. Die erste steinerne Kirche wurde die [[Desjatynna-Kirche]] in Kiew (ca. 989), später folgten die [[Sophienkathedrale (Kiew)|Sophienkathedralen von Kiew]] und [[Sophienkathedrale (Nowgorod)|von Nowgorod]]. In den einzelnen Fürstentümern begannen sich mit der Zeit, eigene Architekturrichtungen und -schulen zu entwickeln, etwa in [[Grodno]], Polozk, Pskow, Nowgorod, Smolensk oder Wladimir-Susdal. Die gut erhaltenen [[Weiße Monumente von Wladimir und Susdal|Weißen Monumente von Wladimir und Susdal]] gehören heute zum [[Weltkulturerbe]]. Auch weltliche steinerne Bauten wie Fürstenpaläste sind überliefert. Eine besondere Stellung hatte der Bau von Befestigungen und Türmen.<br /> <br /> === Bildende Kunst ===<br /> [[Datei:Oranta-Kyiv.jpg|mini|hochkant|links|Die Gottesmutter Oranta in Kiew (11.&amp;nbsp;Jhdt.)]]<br /> <br /> Aus Byzanz übernahm die Kiewer Rus die Tradition der Mosaik und der Fresken sowie die [[Ikone]]nkunst. Die Kirche wachte streng über die Erhaltung des Kanon in der religiösen Kunst. Die ältesten überlieferten Kunstwerke sind religiöser Natur und stammen aus Kiew, [[Staraja Ladoga]], [[Susdal]] und Nowgorod. Erhalten sind jedoch nicht nur religiöse, sondern auch weltliche Motive, etwa die Abbildungen von Fürsten und ihren Familien, aber auch Motive aus der Natur.<br /> <br /> === Folklore ===<br /> Die Folklore der Kiewer Rus behielt vielfach Bräuche aus der heidnischen Zeit. Dazu gehörten Lieder, Gedichte, Festspiele etc. Die Kirche führte einen verbissenen Kampf gegen die Überreste des Heidentums, allerdings verschmolzen die heidnischen Kulturelemente oft mit der christlichen Tradition und blieben bis in unsere Zeit bestehen.<br /> <br /> Legenden über die Ereignisse aus dem 2. bis 6. Jahrhundert (Kriege, Stadtgründungen, Heldensagen) wurden mündlich überliefert und sind beispielsweise ins Igorlied eingeflossen. Ein besonderes Genre waren die [[Bylina|Bylinen]], die von [[Bogatyr]]en und deren Heldentaten erzählten. Als Prototyp für die Bogatyre dienten oftmals reale historische Persönlichkeiten. Am Hofe der Fürsten gab es eine eigene Dichtung und Musiktradition, in der das altostslawische Saiteninstrument [[Gusli]] verwendet wurde.<br /> <br /> == Aktuelle unterschiedliche Interpretationen ==<br /> Das Erbe der Kiewer Rus ist heute in der russischen, ukrainischen und belarussischen [[Historiographie]] teilweise umstritten. Dabei handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht um eine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage.<br /> <br /> === Russische Darstellung ===<br /> [[Datei:Yaroslav the Wise.jpg|mini|hochkant|Darstellung des Kiewer Großfürsten [[Jaroslaw der Weise|Jaroslaw des Weisen]] im russischen ''Titularbuch der Zaren'' aus dem Jahr 1672]]<br /> [[Datei:1000 Rurik.JPG|mini|hochkant|links|[[Rjurik|Rurik]] auf dem Nationaldenkmal [[Tausend Jahre Russland]]]]<br /> <br /> In der russischen historiografischen Tradition wird Russland als direkte Fortsetzung der Kiewer Rus angesehen, die russische Staatlichkeit wird ab 862 geführt (Rurik in Nowgorod). Die russische Historiografie beruft sich zum einen auf eine direkte dynastische Herrschaftsfolge zwischen dem Kiewer und [[Großfürstentum Moskau|Moskauer Reich]]. Die [[Rurikiden|rurikidischen]] Moskauer Großfürsten und Zaren sahen sich als die einzig verbliebenen legitimen Erben der Kiewer Fürsten, nachdem in anderen Teilfürstentümern der ehemaligen Kiewer Rus, die vom [[Großfürstentum Litauen]] und [[Königreich Polen]] einverleibt wurden, eine eigene Staatlichkeit sowie die Dynastie der Rurikiden erloschen waren. Zum anderen verlegte Metropolit [[Maximos (Metropolit)|Maximos]] 1299 nach einer abermaligen Verwüstung Kiews durch die Mongolen den Hauptsitz der [[Russisch-Orthodoxe Kirche|Russisch-Orthodoxen Kirche]] von [[Kiew]] nach [[Wladimir (Russland)|Wladimir]], wenig später im Jahr 1325 kam dieser nach Moskau.<br /> <br /> In der russischen Historiografie wird die Kiewer Rus traditionell als ein einheitliches [[Ostslawen|ostslawisches]] (russisches) Reich verstanden. In der Zarenzeit herrschte die Ansicht vor, dass es sich bei den [[Großrussen|Groß-]], [[Kleinrussen|Klein-]] und [[Belarussen]] um [[Dreieiniges russisches Volk|drei Linien]] des russischen Volkes handelt, das schon zur Zeit der Kiewer Rus bestand. In der Sowjetunion hatten die Ukrainer und die Belarussen im Gegensatz dazu den Status eigenständiger Völker, die sich jedoch, wie auch das russische, aus einem zwischenzeitlich vollständig herausgebildeten [[Altrussisches Volk|altrussischen Volk]] entwickelt haben sollen. Sowohl das [[Russisches Kaiserreich|Russische Kaiserreich]] als auch die Sowjetunion hatten das Selbstverständnis eines „gemeinsamen Staates der Ostslawen“ und sahen sich nicht nur dazu berechtigt, sondern auch in der historischen Pflicht, alle ostslawisch geprägten, ehemaligen Gebiete der Kiewer Rus in sich zu vereinen („Sammlung der russischen Erde“). In diesem Kontext standen die [[Teilungen Polens|polnischen Teilungen]] von Katharina der Großen, die Einnahme [[Galizien]]s im Ersten Weltkrieg, die [[sowjetische Besetzung Ostpolens]] im Zweiten Weltkrieg und der [[Russisch-Ukrainischer Krieg|Russisch-Ukrainische Krieg]]. Das Begründungsmuster der Einheit der russischen Völker dient im aktuellen Russisch-Ukrainischen Krieg auch als Legitimation für den russischen Angriff, wie sich an der Rede Putins vom 21. Februar anlässlich der Invasion in die Ukraine und an Putins Text „[[Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern|Über die Historische Einheit der Russen und Ukrainern]]“ nachvollziehen lässt.&lt;ref&gt;Deutsche Übersetzung in Osteuropa 7 (2021) S. 51—66; Wissenschaftliche Einordnung bei Kappeler, Andreas: Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: Osteuropa 7 (2021), S. 67—76.&lt;/ref&gt;<br /> <br /> === Ukrainische Darstellung ===<br /> Die moderne ukrainische Historiographie beansprucht das Erbe der Kiewer Rus vor allem für die Ukraine und verweist darauf, dass das Gebiet um Kiew deren Kernland war. Die ersten im 18. und 19. Jahrhundert tätigen ukrainischen Historiker bestritten zwar nicht die enge Verwandtschaft der Klein- und Großrussen, kritisierten jedoch den vorherrschenden Moskau-Zentrismus bei der Frage des kulturellen und politischen Erbes der Kiewer Rus. Spätere Historiker wie [[Mychajlo Hruschewskyj]] versuchten hingegen, in teilweiser Anlehnung an die traditionelle polnische Historiographie, die Beziehung der Großrussen zur Kiewer Rus auf ein Minimum zu reduzieren und die Ukrainer (Ruthenen) als die einzig legitimen Erben der Kiewer Rus darzustellen. Die Fortführung der Kiewer Staatlichkeit sahen sie vor allem im [[Fürstentum Galizien-Wolhynien]]. Vor allem seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 wird die Kiewer Rus in den Werken vieler Publizisten als ukrainischer Staat dargestellt.<br /> <br /> &lt;gallery&gt;<br /> Coin of Yaroslav the Wise (reverse).png|Siegel Jaroslaws des Weisen<br /> Lesser Coat of Arms of Ukraine.svg|[[Trysub|Das Wappen der Ukraine]] geht auf die Rurikiden zurück<br /> &lt;/gallery&gt;<br /> <br /> === Belarussische Darstellung ===<br /> In der belarussischen Historiographie gibt es verschiedene Sichtweisen auf die Kiewer Rus. Während in der akademischen Geschichtswissenschaft überwiegend die russische und sowjetische Interpretation vertreten wird, messen nationalpatriotische Publizisten der Kiewer Rus eher eine geringe Bedeutung für die belarussischen Geschichte bei. Die Ethnogenese der Belarussen wird von ihnen als ein unabhängiger Prozess auf der Basis der lokalen slawischen und baltischen Stämme angesehen. Politisch und kulturell identifizieren sie sich vor allem mit dem [[Großfürstentum Litauen]], in dem Belarus sein [[Goldenes Zeitalter (Belarus)|Goldenes Zeitalter]] erlebt habe und dessen Errungenschaften sie vor allem den Belarussen zuschreiben.<br /> <br /> == Siehe auch ==<br /> * [[Rus]]<br /> * [[Rus (Volk)]]<br /> * [[Altostslawische Sprache]]<br /> * [[Liste der Fürstentümer der Kiewer Rus]]<br /> * [[Liste der Großfürsten von Kiew]]<br /> * [[Liste von Personennamen in der Kiewer Rus]]<br /> * [[Liste von Warägern in Gardarike]]<br /> * [[Waräger-Runensteine]]<br /> * [[Geschichte Russlands]]<br /> * [[Geschichte der Ukraine]]<br /> * [[Geschichte von Belarus]]<br /> <br /> == Literatur ==<br /> * {{RGA|16|482|487|Kiew|[[Helmut Castritius]], [[Jürgen Udolph]]}}<br /> * [[Erich Donnert]]: ''Das Kiewer Russland – Kultur und Geistesleben vom 9. bis zum beginnenden 13. Jahrhundert.'' 1. Auflage. Urania-Verlag, Leipzig u.&amp;nbsp;a. 1983.<br /> * Simon Franklin, Jonathan Shepard: ''The Emergence of Rus. 750–1200.'' 1. edition, 2. imprint. Longman, London u.&amp;nbsp;a. 1998, ISBN 0-582-49091-X (''Longman history of Russia;'' englisch).<br /> * [[Ernst Kunik]]: ''Die Berufung der schwedischen Rodsen durch die Finnen und Slawen. Eine Vorarbeit zur Entstehungsgeschichte des russischen Staates.'' W. Graeff’s Erben, St. Petersburg u.&amp;nbsp;a. 1844.<br /> * Janet Martin: ''Medieval Russia. 980–1584'' (= Cambridge medieval textbooks). 2nd edition. Cambridge University Press, Cambridge u.&amp;nbsp;a. 2007, ISBN 978-0-521-85916-5 (englisch).<br /> * [[David Nicolle]], Angus McBride: ''Armies of medieval Russia. 750–1250.'' Osprey, Oxford 2001, ISBN 1-85532-848-8 (''Osprey military men-at-arms series'' 333; englisch).<br /> * [[Gottfried Schramm (Historiker)|Gottfried Schramm]]: ''Altrusslands Anfang. Historische Schlüsse aus Namen, Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert.'' Rombach, Freiburg 2002, ISBN 3-7930-9268-2 (''Rombach Wissenschaft – Reihe Historiae'' 12).<br /> * Eva Verma: ''Heiratspolitik in der Kiewer Rus.'' In: Eva Verma: ''„… wo du auch herkommst“. Binationale Paare durch die Jahrtausende.'' dipa, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-7638-0196-0, S. 35–40: Historische Karte.<br /> <br /> == Weblinks ==<br /> {{Commonscat|Kievan Rus|Kiewer Rus}}<br /> {{Wiktionary}}<br /> <br /> == Einzelnachweise ==<br /> &lt;references /&gt;<br /> <br /> {{Navigationsleiste Regierungssysteme und Vorgängerstaaten Russlands}}<br /> {{Navigationsleiste Regierungssysteme und Vorgängerstaaten der Ukraine}}<br /> {{Normdaten|TYP=g|GND=4073393-2|LCCN=n91052954|VIAF=138321696}}<br /> <br /> [[Kategorie:Kiewer Rus| ]]<br /> [[Kategorie:Historischer Staat in Europa]]<br /> [[Kategorie:Staat (Mittelalter)]]<br /> [[Kategorie:Geschichte Kiews]]<br /> [[Kategorie:Waräger]]<br /> [[Kategorie:Russische Geschichte (Mittelalter)]]<br /> [[Kategorie:Ukrainische Geschichte]]<br /> [[Kategorie:Belarussische Geschichte]]<br /> [[Kategorie:Historischer Kulturraum]]</div> Mazij