https://de.wikipedia.org/w/api.php?action=feedcontributions&feedformat=atom&user=ImageUploader12345Wikipedia - Benutzerbeiträge [de]2025-05-11T13:50:11ZBenutzerbeiträgeMediaWiki 1.44.0-wmf.28https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benutzer_Diskussion:3mnaPashkan&diff=255913275Benutzer Diskussion:3mnaPashkan2025-05-11T11:14:06Z<p>ImageUploader12345: </p>
<hr />
<div>{{Freundlicher Umgangston}}<br />
{| class="wikitable" <br />
! <big>''[[Benutzer:3mnaPashkan/Archiv 2010–2012|Archiv 2010–2012]]'' </big><br />
! <big>''[[Benutzer:3mnaPashkan/Archiv 2012–2014|Archiv 2012–2014]]''</big><br />
! <big>''[[Benutzer:3mnaPashkan/Archiv 2015–2017|Archiv 2015–2017]]''</big><br />
|}<br />
==Hallo, bitte hinterlasse mir hier deine Nachricht...==<br />
<br />
== Slowakischer Nationalaufstand. ==<br />
<br />
'''Fet''Kursiver Text''ter Text'''Hallo Trimnma. habe Deine vorhin eingregangene Mail, in der Sache aus versehen gelöschtr<br />
<br />
Bitte um Wiedxerholung und verlange Empfayngsbestätigung.'''Fetter Tex'''t''''''<br />
<br />
Gruß Hans Chr. R. {{unsigniert|84.152.136.147|13:46, 25. Feb. 2020 (CET)}}<br />
<br />
:Freut mich sehr das du dich meldest! Habe dir die Nachricht noch einmal geschickt. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 14:25, 25. Feb. 2020 (CET)<br />
<br />
== Einordnung von Kulanu ==<br />
<br />
Hallo Trimna, in [[Kabinett Benjamin Netanjahu IV]] ist mir aufgefallen, daß Kulanu (mittlerweile offenbar wieder in den Likud zurückgekehrt?) von Dir als „Sozialkonservative“ bezeichnet worden sind, obwohl die Artikel [[Kulanu]] und [[:en:Kulanu]] die Partei als sozialliberal bezeichnen, und ihre Positionen eine Beschreibung als eher liberal denn konservativ auch nahelegen – auch wenn die Fusion mit dem nationalkonservativen Likud dann zugegeben überrascht. Gewiß ist es oft schwierig, Parteien ideologisch einzuordnen, aber für mich und sicher auch andere, die das lesen, ist das doch einigermaßen verwirrend. --[[Benutzer:Florian Blaschke|Florian Blaschke]] ([[Benutzer Diskussion:Florian Blaschke|Diskussion]]) 02:39, 29. Feb. 2020 (CET)<br />
:Hallo Florian! Ich muss ehrlich gestehen, dass ich gar nicht mehr weiß wie ich auf die Beurteilung von Kulanu gekommen bin. Grundsätzlich stufe ich Parteien nicht anhand von Zeitungsartikeln ein, sondern nur anhand von Einstufungen wissenschaftlicher Arbeiten von Politologen und Historikern. Hier war das aber offensichtlich nicht der Fall. Ich habe jetzt eine Quelle im [[Kulanu]] Artikel hinzugefügt und die Ausrichtung der Partei im Artikel zu Netanjahus Kabinett angepasst. Falls du eine wiss. Quelle zur ''sozialliberalen'' Ausrichtung findest, füge sie einfach hinzu. Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 09:38, 29. Feb. 2020 (CET)<br />
<br />
== Fußball ==<br />
Hallo Trimna. Ich sehe, dass du fleißig am Abschnitt Fußball im Artikel [[Slowakei]] arbeitest. Bitte vergiss aber nicht, dass ich schon etwas Geschichte zuvor geschrieben habe, also führe die Textabschnitte zusammen, sodass nichts dupliziert ist. Mit solchen Informationen kannst du auch den Artikel [[Fußball in der Slowakei]] ausbauen, der ist noch ohne Geschichte. Gruß, --[[Benutzer:MarkBA|MarkBA]] ([[Benutzer Diskussion:MarkBA|Diskussion]]) 22:59, 17. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
:Und noch was: -jkb- hat vielleicht Recht, dass der Artikel zu lang geworden ist. Ich habe versucht, mich übersichtsmäßig zu halten, doch gerade bei Eishockey und Fußball ist das etwas nun zu lang. Kannst du vielleicht die Details in die jeweiligen Hauptartikel auslagern und im Artikel Slowakei nur die Übersicht lassen? --[[Benutzer:MarkBA|MarkBA]] ([[Benutzer Diskussion:MarkBA|Diskussion]]) 23:09, 17. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
::Passt, ich mache das heute noch (bzw. heute Nacht), sobald ich mit dem Fußballabschnitt fertig bin. --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 23:20, 17. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Publikumspreis ==<br />
<br />
Hi,<br />
<br />
deine Stimmen habe ich erhalten und verbucht. LG -- [[Benutzer:Hephaion|ɦeph]] 17:47, 22. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Eritrea und Somalia ==<br />
<br />
Hallo,<br />es ist erfreulich, wie gut Du den Artikel über die Wiedereroberung Libyens ausgebaut hast. Ich hätte dazu noch eine Karte mit Feldzugspfeilen und ein paar Erläuterungen in der deutschen Übersetzung eines italienischen Geschichtsatlasses... aber die wird Dir wohl keine neuen Infos mehr bieten. Unabhängig davon aber meine Frage: Mussten Somaliland und Eritrea nicht auch erst im Zuge ähnlicher Kampagnen wiedergewonnen werden? Parallel zum Aufstand des [[Mohammed Abdullah Hassan|"Mad Mullah"]] in Britisch-Somaliland gab es doch auch in Italienisch-Somaliland Aufstände bis 1921, und die von Sultan Yassin Haysama geführten Afar in Eritrea sollen noch bis 1931 Widerstand geleistet haben. Wirst Du auch dazu Ergänzungen in den bestehenden Artikeln machen oder vielleicht sogar Extra-Artikel anlegen? Thematisch gehört das ja schon irgendwie mit der Wiedereroberung Libyens zusammen... LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 09:01, 26. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
: Servus Roxana! Danke für die Info, deine Karte würde mich sehr interessieren; vielleicht könnte [[Benutzer:NordNordWest|NordNordWest]] im Laufe des Sommers die Feldzugpfeile noch in seiner [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karte_Zweiter_Italienisch-Libyscher_Krieg.svg Libyenkarte] einarbeiten. <br />
: Zu den „Pazifizierungskriegen“: In den nächsten zwei Jahren plane ich tatsächlich neben meinem slowakischen Hauptthemenbereich auch an den faschistischen Kolonialkriegen in Afrika zu arbeiten. Nach der „Wiedereroberung Libyens“ kommt ab Herbst der [[Abessinienkrieg]] dran (im Oktober jährt sich die italienische Invasion zum 85. Mal). Zu Somaliland habe ich vor kurzem einen [[Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland|Miniartikel]] angelegt, die Quellenlage hierzu ist derzeit leider äußerst dürftig. Bei Eritea kenne ich mich noch gar nicht aus. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 12:33, 26. Apr. 2020 (CEST)<br />
<br />
Kein Problem, ein bißchen was ist doch auch schonmal gut. Die Karte kann ich Dir in den nächsten Tagen zumailen. LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 16:30, 26. Apr. 2020 (CEST)<br />
:Ich schulde Dir ja noch eine Karte. Schick mal bitte einfach eine Mail an meinen Kontakt (Link-Leiste links), dann kann ich Dir antworten. LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 11:57, 13. Mai 2020 (CEST)<br />
<br />
::Habs dir geschrieben. Aber sieht man meine Mail nicht auf meiner Seite? --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 15:06, 13. Mai 2020 (CEST)<br />
:Nein, die soll man aus Privatsphärenschutzgründen ja auch nicht sehen. Bis bald. LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 18:01, 13. Mai 2020 (CEST)<br />
<br />
::{{ping|Roxanna}} Danke! Habe mir die Karten gerade angeschaut. Die Darstellung des italienische Vormarsches sowie die eingezeichneten Oasen sind sehr hilfreich. Momentan feile ich hauptsächlich am Text, bis zur geplanten Auszeichnungskandidatur Ende Juni werde ich mich dann für eine Berücksichtigung des Materials in der aktuellen Libyenkarte einsetzen. Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 22:56, 14. Mai 2020 (CEST)<br />
:::übrigens hätte ich Dir die gar nicht extra mailen müssen, siehe [http://www.guidoscuderi.it/libri/storia/atlante_storico/files/basic-html/page165.html dort]. LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 18:44, 1. Jun. 2020 (CEST)<br />
::::Deine Karte war soweit ich weiß auf Deutsch. Das ist für mich, der kein Italienisch spricht, ein klarer Mehrwert ;-) --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 21:02, 1. Jun. 2020 (CEST)<br />
:::Die deutsche Version ist aber auch nur die Übersetzung der italienischen Originalausgabe. LG --[[Benutzer:Roxanna|Roxanna]] ([[Benutzer Diskussion:Roxanna|Diskussion]]) 21:19, 1. Jun. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Fehlerhafte ISBN ==<br />
<br />
Moin 3mnaPashkan, im Artikel [[Slowakischer Nationalsozialismus]] hattest Du [https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Slowakischer_Nationalsozialismus&type=revision&diff=201037584&oldid=200996182 mit diesem Edit] die Literatur „Fašizmus“ eingeführt und dabei die ISBN 978-80-8189-781-7 angegeben. Diese scheint einen Fehler zu enthalten [https://tools.wmflabs.org/isbn/IsbnCheckAndFormat?ISBN=978-80-8189-781-7&Language=English&FormatOnlyRaw=no&Test=]. Da das in slowakisch ist, konnte ich das nicht aus der DNB oder ähnlichen Bibliotheken korrigieren. Auch die Artikel [[Jakub Drábik]] und [[Kotlebovci – Ľudová strana Naše Slovensko]] enthalten diese Einträge. Könntest Du Dir das mal ansehen? Danke und VG --[[User:Bicycle Tourer|Bicycle Tourer]] 08:15, 19. Jun. 2020 (CEST)<br />
<br />
:Habe den Code jetzt korrigiert. Danke für den Hinweis! Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 09:50, 19. Jun. 2020 (CEST)<br />
<br />
:: Vielen Dank, sollte jetzt passen. Damit erledigt. VG --[[User:Bicycle Tourer|Bicycle Tourer]] 10:56, 28. Jun. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Vorlagenaktualisierung ==<br />
<br />
[[File:Vorlage-Danke.png|250px|right|thumb|Vorschau der Babel-Vorlage [[Benutzer:FNDE/Vorlage/Danke|→ Danke]]]]Hallo 3mnaPashkan! Schön, dass du die [[Benutzer:FNDE/Vorlage/Danke|'''Vorlage''']] zur Auswertung deiner persönlichen „Danke“-Statistik verwendest. Die Freigabe zur automatischen Aktualisierung wurde ordnungsgemäß erteilt. Deine Statistik wird nun, sofern die entsprechende [[Benutzer:3mnaPashkan/Thanks|Unterseite]] angelegt wurde, ein Mal pro Tag aktualisiert. Sollte etwas nicht funktionieren, schau einfach noch mal in die [[Benutzer:FNDE/Vorlage/Danke|Dokumentation]] oder auf die dazugehörige Diskussionsseite. Viel Freude bei der Verwendung!<br />
<code><small>--[[Benutzer:FNBot|FNBot]] 20:06, 13. Jul. 2020 (CEST)</small></code><br />
<br />
== herzlichen glückwunsch ==<br />
<br />
zu deiner platzierung in der gesamtwertung des schreibwettbewerbs! gerne stelle ich dir mein review zur verfügung, entweder auf KALP oder auf der artikeldiskussionsseite, wie es dir lieber ist. lg,--[[Benutzer:Poupou l'quourouce|poupou]] <small>[[Benutzer:Poupou l'quourouce/Review|review?]]</small> 16:58, 21. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
: {{ping|Poupou l'quourouce}} Hallo und vielen Dank für dein freundliches Angebot! Gerne mache ich davon Gebrauch! Den Artikel habe ich seit März noch stark ausgebaut und betrachte ihn als fertig für dein Review. Dieses kannst du jederzeit auf der Diskussionsseite des Artikels hinterlassen. Abarbeiten können werde ich deine Anmerkungen aber erst in drei Wochen, da ich bis dahin im Urlaub bin. Die geplante KALP werde ich aus selbigem Grund erst Mitte August vornehmen. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 21:26, 21. Jul. 2020 (CEST)<br />
::ist auf der artikeldiskussionsseite! lg,--[[Benutzer:Poupou l'quourouce|poupou]] <small>[[Benutzer:Poupou l'quourouce/Review|review?]]</small> 21:30, 21. Jul. 2020 (CEST)<br />
:::Mit leichter Verspätung auch von mir herzlichen Glückwunsch, ich habe ebenfalls einen Kommentar auf der Disk hinterlassen. Weiterhin einen schönen Urlaub wünscht --[[Benutzer:Ameisenigel|Ameisenigel]] ([[Benutzer Diskussion:Ameisenigel|Diskussion]]) 14:30, 31. Jul. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg ==<br />
<br />
Ciao Trimma,<br />
<br />
beim Ausbau des Artikels Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg auf URV achten. Einige eingefügte Bilder werden den wachsamen Augen der URV-Schützer nicht verborgen bleiben und wohl entfernt werden. Mir aufgefallen bei Renzo de Felice und Terruzzi, habe die anderen aber nicht durchgecheckt. Habe noch ein paar brauchbare italienische Titel in der Literatur ergänzt. Warum schreibst Du in der Infbox Amadeus von Apulien? Sollte unter Amadeus von Savoyen bekannter sein, außer es gibt einen spezifischen mit dem Artikel verbundenen Grund, der sich mir leider entzieht. SG aus Italien --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 12:18, 31. Aug. 2020 (CEST)<br />
<br />
: Servus Robert und danke für den Tipp bezüglich der Bilder und deine Literaturergänzung! Ich denke darüber nach die im Artikel nicht direkt zitierte italienische Literatur in einem eigenen Unterpunkt im Literaturabschnitt anzuführen. Das wäre dann für den kritischen Leser wohl nachvollziehbarer. Falls du zu Giuseppe Scutos Arbeit eine italienische Rezension finden würdest, kannst du diese von meiner Seite aus gerne im Abschnitt ''Formierung der kritischen Forschung'' einen Satz dazu ergänzen. Ich bin ja zu meinem großen Bedauern dieses modernen lateinischen Dialekts nicht mächtig ;-) Zum Herzog von Aosta: Das Bild stammt von der offiziellen deutschen Übersetzung von Rodolfo Grazianis Buch ''Pace romana in Libia'' (1937), und wird dort folgendermaßen beschrieben: ''Der Herzog von Apulien an der Spitze seiner Saharareiter.'' Dies ist meines Wissens nach historisch korrekt, da Amadeus seit seiner Geburt den Titel zu Apulien trug, aber erst 1931 den Titel von Aosta erlangte. Entsprechend stammt das Bild von 1929 oder 1930, da Amadeus von 1929 bis 1931 in Libyen gekämpft hat. Habe jetzt bei Wiki Commons die Beschreibung geändert und eine Namensänderung der Datei beantragt. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 12:48, 31. Aug. 2020 (CEST)<br />
<br />
::{{ping|Robertk9410}} Vielen Dank für die Recherche und die Ergänzungen! Bei einem Teil braucht es jedoch eine Umformulierung: ''Mythos eines angeblichen Unterschiedes zwischen faschistischer und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft.'' Steht das wirklich genau so in der Quelle? Denn dass es einen Unterschied zwischen der Gewaltpraxis des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland gab, gilt als relativ unbestritten (Vgl. Abschnitt ''Parallelen und Unterschiede zum NS-Regime''). Es geht eher um die Frage, von wie grundsätzlicher Art diese Unterschiede waren. --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 19:05, 31. Aug. 2020 (CEST)<br />
:::Der exakte sinngemäße Wortlaut ist, dass die Deportation von libyschen Frauen und Kindern in Konzentrationslagern keine schutzbietenden Stereotype zulässt, im Vergleich zur in den Vernichtungslagern, wie Auschwitz herrschenden Gewalt, sowie im Vergleich zur rassistischen Gewalt. --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 19:34, 31. Aug. 2020 (CEST){ping|<br />
::::{{ping|Robertk9410}} Folgender Formulierungsvorschlag:<br />
Er stellte dabei die italienischen Konzentrationslager in der Cyrenaika auf eine Stufe mit den vom „Dritten Reich“ betriebenen Vernichtungslagern und lehnte die Konstruierung eines grundsätzlichen Unterschiedes zwischen faschistischer und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft ab.<br />
::::Trifft das den Punkt? Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 00:55, 2. Sep. 2020 (CEST)<br />
:::::Buon giorno! Fast... nach Studium einiger weiterer Rezensionen würde ich es so formulieren:<br />
Er stellte dabei die italienischen Konzentrationslager in der Cyrenaika auf eine Stufe mit den vom „Dritten Reich“ betriebenen Vernichtungslagern und deckt den konstruierten Mythos des „braven Italieners“ auf, der schützend dem Stereotyp eines kalten, mechanischen und unsensiblen Deutschen gegenüber gestellt wurde.<br />
Und? Im Falle wäre im Artikel im voranstehenden Satz dann das Wort falsch zu streichen. LG --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 07:42, 2. Sep. 2020 (CEST)<br />
: Sehr gut! Das fügt sich auch schön in die Thesen Del Bocas, die mir auf Deutsch und Englisch zur Verfügung stehen. Du kannst es gerne einfügen. --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 09:08, 2. Sep. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Abessinienkrieg ==<br />
<br />
Was hältst Du davon das Template {{in use} zu setzen? Ansonsten weiter so, sieht gut aus. Eventuell könnten einige italienische Quellen mehr genutzt werden, da Mattioli mehr oder weniger auch nur die bekannten italienischen Werke nutzt. Den Ausbau Zeret hab ich nicht vergessen, bin aber im Moment an einer anderen Geschichte dran, die ich vorher schon angefangen hatte und fertig bringen möchte. --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 11:31, 28. Sep. 2020 (CEST)<br />
<br />
: Servus Robert! Du, da mir momentan eh niemand beim Artikelausbau Steine in den Weg legt, ist das Template überflüssig. Mit Zeret brauchst dir keinen Stress machen, der Abessinienkrieg ist auch noch lange nicht fertig. Die italienische Literatur hätte ich sehr gerne drinnen, aber in erster Linie bei der Rezeption. Anfang Oktober möchte ich erst einmal nach einigen letzten Änderungen die Exzellent-Kandidatur vom [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg]] starten. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 11:59, 28. Sep. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Abessinienkrieg - Aufarbeitung ==<br />
<br />
Ich habe noch ein paar Zeile zur Aufarbeitung zusammengefasst, die ich noch einfügen würde, wenn es Dir Recht ist? --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 11:51, 1. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
Einen ersten entscheidenden Schritt zu einer breiten kritischen Aufarbeitung des Abessinienkrieges, stellte die Annäherung zwischen Angelo Del Boca und Indro Montanelli dar. Die Veröffentlichung der von Boca verfassten vielbeachteten Biografie über den Negus 1995, die von Montanelli positiv rezensiert wurde, entfachte die Debatte über den Einsatz von Giftgas in Äthiopien neu und führte zu mehreren parlamentarischen Anfragen. Am 7. Februar 1996 gab der damalige parteilose Verteidigungsminister [[Domenico Corcione]] offiziell zu, dass es im Abessinienkrieg zu Giftgaseinsätzen gekommen war. Bereits vorher war zugesichert worden, die Archive des Verteidigungs- und des ehemaligen Kolonialministeriums zu öffnen. Infolgedessen gestand Montanelli ein, sich bezüglich des von ihm verleugneten Giftgaseinsatzes geirrt zu haben und entschuldigte sich öffentlich für sein Angriffe auf Del Boca.<ref>Angelo Del Boca: ''Il mio Novecento''. Neri Pozza, Vicenza, 2008 S. 341-356.</ref><br />
<br />
Das Eingeständnis stellte den ersten Schritt zu einem allgemeinen Umdenken im Bezug einer kritischen, ideologiefreien Auseinandersetzung mit dem Abessinienkrieg und der italienischen Besatzungszeit dar. Allerdings handelte es sich dabei immer noch um einen zaghaften Schritt, da Montanelli zwar den Einsatz von Giftgas nicht mehr leugnete, aber weiterhin davon überzeugt war, dass der italienische Kolonialismus der humanste von allen gewesen sei.<ref>Angelo Del Boca: ''Il mio Novecento''. Neri Pozza, Vicenza, 2008 S. 356.</ref><br />
<br />
Ende der 1990er Jahre begannen auch die italienischen Teilstreitkräfte mit einer historischen Aufarbeitung des Abessinenkonfliktes und veröffentlichten jeweils Monografien über den Einsatz des Heeres, der Luftstreitkräfte und der Marine in Äthiopien. Zwar konnte der Einsatz von chemischen Kampfstoffen nicht mehr verschwiegen werden, so widmet sich das 2005 in zwei Bänden erschiene Generalstabswerk „La campagna italo-etiopica (1935–1936)“ ausführlich mit dem Gaskrieg in Abessinien, aber, so der Historiker Nicola Labanca in seiner Rezension, werde in dem Werk der Mythos des anständigen Italieners nicht in Frage gestellt.<ref>{{Internetquelle|url=https://www.sissco.it/recensione-annale/luigi-emilio-longo-la-campagna-italo-etiopica-1935-1936-2005/|werk= sissco.it|autor=Nicola Labanca|titel= La campagna italo-etiopica (1935–1936)|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><br />
<br />
Gerade Labanca zählt zu den italienischen Historikern, die in die Fußstapfen von Del Boca und Rochat getreten sind, und ab den 2000er Jahren kritisch die italienische Kolonialgeschichte durchleuchtet haben. Darunter zählen aber auch beispielsweise die Historiker wie Matteo Dominioni oder Paolo Borruso, die sich mit spezifischen Arbeiten wie der italienischen Besatzungszeit und dem äthiopischen Widerstandskampf (Dominioni) oder dem Massaker von Debre Libanos (Borruso) beschäftigen. <br />
<br />
Dass sich die italienische Öffentlichkeit mit einer kritischen Aufarbeitung immer noch schwer tut, zeigt das Beispiel Debre Libanos. Nachdem 2016 in einem Dokumentarfilm von Antonello Carvigiani das Massaker an Vertretern der koptischen Kirche einem breiten Publikum bekannt gemacht wurde, wurde die Einrichtung einer Historikerkommission durch das Verteidigungsministerium zwar angekündigt, aber nicht umgesetzt. Dabei hatte noch der italienischen Präsident [[Sergio Mattarella]] bei seinem Staatsbesuch in Äthiopien im März 2016 einen Kranz im Gedenken an die äthiopischen Opfer der italienischen Besatzungszeit niedergelegt.<ref> Paolo Borruso: Debre Libanos 1937: Il più grave crimine di guerra dell’Italia [= Debre Libanos 1937: Das größte Kriegsverbrechen Italiens]. Laterza, Bari 2020, ISBN 978-88-581-3963-9 S. XVII–XVIII.</ref><ref>{{Internetquelle|url= https://www.lastampa.it/politica/2016/03/16/news/mattarella-in-piazza-arat-kilo-stretta-di-mano-ai-partigiani-etiopi-e-una-corona-in-ricordo-dei-caduti-1.36577239|werk= lastampa.it|autor=Ugo Magri|titel= Mattarella in piazza Arat Kilo, stretta di mano ai partigiani etiopi e una corona in ricordo dei caduti|datum=2019-07-08|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><br />
<br />
Andererseits zeigt die Umbenennung von Straßennamen , die dem faschischtischen General Pietro Maletti, Befehlshaber der italienischen Truppen während des Massakers von Debre Libanos, gewidmet waren in seinem Geburtsort [[Castiglione delle Stiviere]] im Jahr 2017 sowie 2020 in [[Cocquio Trevisago]], dass ein Umdenkungsprozess über die Historiker hinaus eingesetzt hat.<ref>{{Internetquelle|url= https://gazzettadimantova.gelocal.it/mantova/cronaca/2017/02/26/news/via-maletti-addio-strada-alla-montessori-1.14942796 |werk= gazzettadimantova.gelocal.it|titel= Via Maletti addio, strada alla Montessori|datum=2017-02-26|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><ref>{{Internetquelle|url= https://www.varesenews.it/2020/02/non-vogliamo-piu-ricordare-via-la-strada-dedicata-al-generale-pietro-maletti/898001/|werk= varesenews.it|autor= Andrea Camurani|titel= “Non vogliamo più ricordare”: via la strada dedicata al generale Pietro Maletti|datum=2020-02-07|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><br />
<br />
<references/><br />
<br />
:Servus Robert! Vielen Dank für die Info und deine Arbeit! Den Text der Fußnoten 3 bis 7 kannst du sehr gerne ergänzen. Die Debatte Montanelli/Del Boca der 1990er Jahre wird auch in meinen deutschsprachigen Quellen ausgiebig behandelt. Das mache ich dann später. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 17:29, 1. Okt. 2020 (CEST)<br />
:: Ist mit einer weiteren Ergänzung ab Fußnote 3 ergänzt worden. In der Zwischenzeit auch die Biografie von [[Pietro Maletti]] angelegt worden. SG --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 14:56, 2. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
::: Große Klasse lieber Kollege! Da geht echt was weiter :-) --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 15:12, 2. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Deine Einfügungen in Kritische Theorie ==<br />
<br />
Siehe auf KALP meine Fragen. Falls sie nicht nachvollziehbar geklärt werden, werde ich sie löschen.--[[Benutzer:FelMol|FelMol]] ([[Benutzer Diskussion:FelMol|Diskussion]]) 19:19, 5. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
:Habe sie gesehen, keine Angst. Ich werde mich heute noch dazu äußern. Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 19:32, 5. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg II ==<br />
<br />
Ciao Trimma,<br />
Danke für Deine „Einladung“ zur Bewertung. Da der Artikel relativ lang ist, wird es dauern mit dem Durchlesen. Bin gerade am Abschließen der Ausarbeitung über Zeret dran. Ist umfangreicher geworden, als ich eigentlich dachte. Zurück zu Libyen. Vorab, beim Überfliegen aufgefallen ist mir, der etwas schwammige Teil zwischen Übergang liberaler und faschistischer Libyenpolitik. Mussolini hatte sich zunächst nicht für Kolonialpolitik interessiert, was sich auch darin niederschlug, dass das für die faschistischen Interessen unbedeutende Kolonialministerium dem Nationalisten Luigi Federzoni anvertraut wurde. Ab wann von einer eigenen faschistischen Kolonialpolitik gesprochen werden kann, ist umstritten und nicht exakt festzulegen. Der Abschnitt bedarf sicher der einen oder anderen Ergänzung. Der Rest müsste noch von mir vertieft werden. SG --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 12:12, 19. Okt. 2020 (CEST)<br />
: {{ping|Robertk9410}} Sehr schön, freue mich schon auf den Artikel! Momentan bin ich im Artikel mit der Diskussion über die Bilderrechte beschäftigt. Für ein zunächst mangelndes Interesse Mussolinis an den Kolonien habe ich derzeit keine Belege, zumal die Einleitung der Generaloffensive ab 1923 durch Mussolinis Regierung von der Literatur belegt ist. Wenn du zusätzliche Quellen hast, bin ich für Änderungsdiskussionen natürlich offen. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 21:26, 19. Okt. 2020 (CEST)<br />
:: Bzgl. Mussolini/Faschismus und Anfänge der Kolonialpolitik siehe u.a. Labanca: ''Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana''. (2002) S. 129 ff. insbesondere bzgl. Libyen und der Rolle Federzonis ab S. 143 f. SG --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 07:36, 20. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Wikiläum ==<br />
<br />
{{Wikiläum|Silber|3mnaPashkan| [[Benutzer:WolfgangRieger|Wolfgang Rieger]] [[Benutzer Diskussion:WolfgangRieger|(Diskussion)]] 09:14, 21. Okt. 2020 (CEST)}}<br />
Hallo Trimna! Am 21. Oktober 2010, also vor genau 10 Jahren, hast Du hier zum ersten Mal editiert und daher gratuliere ich Dir heute zum zehnjährigen Wikiläum. Seitdem hast Du über 23.300 Edits gemacht und 62 Artikel erstellt, wofür Dir heute einmal gedankt sei. Besondere Anerkennung verdienen Deine Beiträge zur (slowakischen) Geschichte. Ich hoffe, dass Du weiter dabei bist und dabei bleibst und dass die Arbeit hier Dir weiterhin Spaß macht. Beste Grüße, frohes Schaffen + bleib gesund -- [[Benutzer:WolfgangRieger|Wolfgang Rieger]] [[Benutzer Diskussion:WolfgangRieger|(Diskussion)]] 09:14, 21. Okt. 2020 (CEST) PS: Wenn Du es wünschst, kann Dir auch eine Wikiläums-Medaille zugeschickt werden. Details siehe [[WP:Wikiläum#Medaillen|hier]].<br />
<br />
: Lieber {{ping|Wolfgang Rieger}}, herzlichen Dank für diese freundliche und motivierende Überraschung :o) Der Laden hier macht mir – trotz gelegentlich harschem Ton in den Debatten – großen Spaß und leitet mich immer wieder zu weiterer Fortbildung und dem Vertiefen von Inhalten an. Auch gibt es hier viele Experten (von der Ausbildung her oder Autodidakten), die einem von Mal zu Mal neue Aspekte bei unterschiedlichsten Thematiken aufzeigen zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen. Ich freue mich, ein Teil dieses großartigen Projektes sein zu dürfen. Beste Grüße und ebenfalls viel Gesundheit, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 19:38, 21. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
== Publikumspreis ==<br />
<br />
Deine Stimmen habe ich erhalten und verbucht. LG -- [[Benutzer:Hephaion|ɦeph]] 16:48, 22. Okt. 2020 (CEST)<br />
<br />
== SW-Preis ==<br />
<br />
Hallo Trimna, Glückwunsch zu deiner Platzierung beim Schreibwettbewerb! Ich habe meinen Preis gewählt, nun bist du an der Reihe. Bitte informiere anschließend den Nächstplatzierten. -- Grüße [[Datei:Icone chateau renaissance 02.svg|18px|verweis=Portal:Burgen und Schlösser]]&nbsp;[[Benutzer:Sir Gawain|Sir Gawain]] <small>[[Benutzer Diskussion:Sir Gawain|Disk.]]</small> 17:50, 3. Nov. 2020 (CET)<br />
<br />
== Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg exzellent==<br />
<br />
Lieber Trimna,<br />
<br />
herzlichen Glückwunsch zur verdienten Auszeichnung! Das war gewiss nicht leicht für dich, aber du hast dich mit bewunderungswürdiger Contenance und Kompetenz geschlagen. Nunc est bibendum.<br />
<br />
Bleib gesund und viele Grüße --[[Benutzer:Phi|Φ]] ([[Benutzer Diskussion:Phi|Diskussion]]) 19:42, 14. Nov. 2020 (CET)<br />
<br />
:Dankeschön lieber Phi und auf unsere Gesundheit, Prost ;-) --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 20:34, 14. Nov. 2020 (CET)<br />
<br />
::Hab des ebens zum ersten Mal gesehen/gelesen und bin begeistert. Tolle Arbeit! Lass Dich von Phi weiter beraten, der weiß, was er schreibt! VG--[[Benutzer:MAGISTER|Magister]] 22:15, 29. Mai 2021 (CEST)<br />
<br />
::: {{ping|MAGISTER}} Vielen Dank, dein Lob motiviert mich erheblich! Wenn dich das Thema interessiert Magister: Ich möchte jetzt jedes Jahr einen Artikel zum italienischen Faschismus zur Auszeichnung führen: Heuer sollte auch der [[Abessinienkrieg]] fertig werden und kandidieren, zum SW im Herbst werde ich außerdem einen Artikel zum chronologisch nächsten Krieg des Mussolini-Regimes anfangen – Mussolinis Militärintervention in den Spanischen Bürgerkrieg. Wenn du Tipps und Anmerkungen hast, einfach jederzeit melden :o) --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 02:09, 31. Mai 2021 (CEST)<br />
::::Ich bleib dran, versprochen. Dieses (fast) vergessene Thema interessiert mich auch! VG--[[Benutzer:MAGISTER|Magister]] 23:09, 31. Mai 2021 (CEST)<br />
<br />
== AUGURI ==<br />
<br />
Auguri e Buon Anno! --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 20:09, 1. Jan. 2021 (CET)<br />
<br />
== ital. Wappen ==<br />
<br />
Bevor ich jetzt noch eine Weile an dem allgemeinen Wappen bzw. den 43-45 Wappen arbeite, wollen wir erst einmal die angehen die du für den Schreibkontest brauchst, damit sie zu Sep. für dich nutzbar sind? -- [[Benutzer:Gunnar.offel|Gunnar]] <sup>[[Benutzer Diskussion:Gunnar.offel|💬]]</sup> 19:55, 20. Aug. 2021 (CEST)<br />
<br />
: {{ping|Gunnar.offel}} Gute Idee! Auf welche Art soll ich dir die Scans denn zukommen lassen? Eine Wiki-Mail habe ich bei dir noch nicht gesehen. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 20:36, 20. Aug. 2021 (CEST)<br />
<br />
Hmm, wenn es schon gesammelte Dateien sind :) , mach ich dir einen [http://cloud.go-designs.de/s/mFQ4TLwpmALY9sZ temporären Ordner wo du alles reinschmeißen kannst]. Ich habe den Zwischenstand vom Capo angemerkt und in der Diskussion verlinkt. -- [[Benutzer:Gunnar.offel|Gunnar]] <sup>[[Benutzer Diskussion:Gunnar.offel|💬]]</sup> 21:11, 20. Aug. 2021 (CEST)<br />
<br />
: {{ping|Gunnar.offel}} Die erste Seite habe ich dir jetzt hochgeladen. Umzusetzen wären davon die Divisions-Abzeichen Nr. 4 (''Volontari Fiamme Nerre''), 5 (''Volontari del Littorio''), 7 (''Fiamme Nere – XXIII Marzo'') und 9 (''Divisione d’assalto littorio''), wobei Nr. 9 wie bereits in der Wappenwerkstatt erwähnt bereits [https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Distintivo_Divisione_d%27assalto_Littorio.svg hier] umgesetzt wurde. Da würde mich deine Fachmeinung interessieren, ob man das schon so nehmen, verbessern/ergänzen oder neumachen soll, um den historischen Vorlagen am ehesten gerecht zu werden. Zur Nr. 7 muss ich noch suchen, ob es etwas bessere Darstellungen gibt, aber da scheint es auch real eher ungenau gewesen zu sein. So, das ist fürs erste September-Arbeitspaket einmal genug denke ich :o) BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 21:35, 20. Aug. 2021 (CEST)<br />
:: {{ping|Gunnar.offel}} Das mit der Nr. 9 hat sich erledigt. Habe da jetzt noch eine weitere Darstellung in der Literatur gefunden, mit der sich das schon so belegen lässt, wie es der andere Kollege dargestellt hat. Kannst dich fürs Erste auf die Nummern 4 und 5 konzentrieren. Zur Nr. 7 kommt noch etwas :o) BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 22:51, 21. Aug. 2021 (CEST)<br />
::: {{ping|Gunnar.offel}} Servus lieber Gunnar! Da der SW nun angefangen hat, wollte ich noch einmal nachfragen, ob du meine Vorlagen eh erhalten hast und damit gut arbeiten kannst. Solltest du irgendwelche zusätzlichen Infos oder Quellmaterial brauchen, gib mir jederzeit bescheid :o) Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 16:14, 1. Sep. 2021 (CEST)<br />
<br />
== Anfrage ==<br />
<br />
Hallo lieber 3mnaPashkan, <br />
darf ich dich eventuell um ein Review des Artikels "Blut und Eisen" bitten? Ich denke du kannst auf jeden Fall hilfreiche Anmerkungen geben oder grammatikalisch etwas im Artikel verbessern. Danke im Voraus und liebe Grüße --[[Benutzer:Vive la France2|Vive la France2]] ([[Benutzer Diskussion:Vive la France2|Diskussion]]) 18:50, 30. Okt. 2021 (CEST)<br />
: {{ping|Vive la France2}} Grüß dich Kollege und Danke der Anfrage! Ich schaue mir den Artikel gerne an, habe aber momentan ziemlich viel zutun. Es wird einige Tage dauern. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 13:13, 31. Okt. 2021 (CET)<br />
:: Das macht gar nichts, lieber 3mnaPashkan. Wir müssen nichts überstürzen. Beste Grüße --[[Benutzer:Vive la France2|Vive la France2]] ([[Benutzer Diskussion:Vive la France2|Diskussion]]) 14:18, 31. Okt. 2021 (CET)<br />
<br />
== [[italienische Intervention in Spanien]] beim Schreibwettbewerb - Danke & Glückwunsch ==<br />
<br />
Hallo Trinma,<br />
<br />
:danke für diesen unsere Enzyklopädie bereichernden und insgesamt gelungenen Beitrag für den aktuellen Schreibwettbewerb und Glückwunsch zum 6. Platz in Geschichte und ebenso 6. Platz vor allen anderen Geschichtsartikeln im Gesamtranking! Da habe ich als Fachjuror deinen Artikel, sorry, nicht so stark eingeschätzt. Es war schwierig, ein Ranking zu bilden, weil alle(!) Artikel – und ich habe das bei meiner sechsmaligen Teilnahme als SW-Juror nun zum ersten Mal so erlebt – trotz unterschiedlicher partieller Schwächen alles in allem betrachtet von guter Qualität und meines Erachtens auch potentiell auszeichnungsfähig sind. Ich schreibe meine Jury-Notizen, die nicht als Laudatio, sondern konstruktive Kritik gedacht sind, auf die Artikeldiskussionsseite.<br />
<br />
Grüße -- [[Benutzer:Miraki|Miraki]] ([[Benutzer Diskussion:Miraki|Diskussion]]) 15:14, 1. Nov. 2021 (CET)<br />
<br />
:: Lieber Miraki,<br />
:: zunächst einmal ein herzliches Dankeschön für deine Benachrichtigung und Klarstellung!<br />
:: Tatsächlich deckt sich meine Eigenwahrnehmung des Artikels mit der Deinigen. Ich habe ihn ebenfalls auf dem 6. Sektionsplatz gesehen, aber definitiv nicht höher und schon gar nicht bei den Gesamtsiegern. Obwohl ich mich jetzt natürlich riesig über diese Auszeichnung freue, kann ich sie dennoch kaum nachvollziehen. Es fehlt ja noch die gesamte Vorgeschichte und der Verlauf, also die eigentliche ''Handlung'' der Intervention selbst. Ich schätze, das frage ich dann einfach auf der SW-Diskussionsseite nach, sobald sich die Jury dort meldet. Beste Grüße und noch ein großes persönliches Dankeschön für deine aufrichtige Wertung, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 17:17, 1. Nov. 2021 (CET)<br />
<br />
::: Hallo Trimna,<br />
::: man wird bei Wikipedia doch auch noch positiv überrascht. Ich habe selten eine so ehrliche (selbst-)kritische Rückmeldung gelesen. Ein anderer Autor hätte das unverhältnismäßige Lob und super Ranking bloß genossen und sich über die angeblich zu schlechte Beurteilung durch die Fachjuroren bitter beklagt. Springt ja schon ins Auge: Platz 6 des Geschichte-Rankings zieht im Gesamtranking an allen(!) anderen vor ihm platzieren Geschichtsartikeln (5,4,3,2,1) vorbei und landet unter den Top Ten. Für einen Außenstehenden muss das befremdlich wirken Als Erklärung habe ich, dass dieses Mal alle sieben Geschichte-Artikel trotz ihrer Unterschiede unterm Strich von ähnlich guter, aber nicht überragender Qualität waren, so dass auch für Pacogo und mich eine Einstufung nicht einfach war – das schrieb ich ja schon in meine Eingangsmitteilung an dich. Dein Artikel hat bei entsprechender Überarbeitung das Potential für eine Auszeichnung. Nochmals danke dafür!<br />
::: Schön, dass du so offen und ehrlich, ja wertschätzend reagiert hast, zumal heute ein besonderer Tag für mich ist: mein 15jähriges Wikiläum. Wenn du magst schau mal auf meine Disku. Die nächsten zwei Tage kann ich wegen persönlicher Verpflichtungen nicht online sein.<br />
::: Kollegiale Grüße -- [[Benutzer:Miraki|Miraki]] ([[Benutzer Diskussion:Miraki|Diskussion]]) 18:22, 1. Nov. 2021 (CET)<br />
<br />
== La partecipazione italiana alla guerra civile spagnola ==<br />
Mittlerweile alle drei Bände Online verfügbar [https://issuu.com/rivista.militare1/docs/la_partecipazione_italiana_alla_guerra_spagnola_vo] SG--[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 15:10, 7. Feb. 2022 (CET)<br />
: Besten Dank für deinen freundlichen Hinweis lieber Robert! Die italienische Militärintervention werde ich mir allerdings erst nächstes Jahr wieder vornehmen, davor sind noch meine früheren unvollendeten SW-Beiträge mit der Fertigstellung dran. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 17:29, 7. Feb. 2022 (CET)<br />
<br />
== Anfrage 2 ==<br />
<br />
Hallo lieber 3mnaPashkan, darf ich dich vielleicht nochmal um ein Review bitten? Diesmal geht es um ein Gemälde, die [[Aufbahrung der Märzgefallenen]]. Wäre schön, wenn es klappt. Viele Grüße --[[Benutzer:Vive la France2|Vive la France2]] ([[Benutzer Diskussion:Vive la France2|Diskussion]]) 10:35, 30. Apr. 2022 (CEST)<br />
: Klar gerne. Wird aber ein bisschen dauern. BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 18:06, 1. Mai 2022 (CEST)<br />
<br />
== NR / KR ==<br />
<br />
Hallo, bin auf folgende Edits von Dir gestoßen: [https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Othmar_Spann&diff=prev&oldid=223675636&diffmode=schnark eins] und [https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Konservative_Revolution&curid=208665&diff=223692178&oldid=223692089&diffmode=schnark zwei] und möchte nur anmerken, dass Du und ich das Verteckspiel von Rechtsextremen oder Faschisten durchaus durchschauen [https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:KarlV/Faschismus_und_Antifaschismus_in_der_Wikipedia#Die_Strategie und vor allem die Strategie dahinter kennen]. Aber man sollte trotzdem Vorsicht walten lassen (siehe auch der ewige Streit um den Einleitungssatz „Politikwissenschaftler ordnen sie einem „Grenzbereich zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus“ zu und bezeichnen sie als „Sprachrohr der Neuen Rechten“ im Artikel [[Junge Freiheit]]) - wenn, dann immer referenziert attribuieren. Viele Grüße, --[[Benutzer:KarlV|<span style="color:black">'''KarlV'''</span>]] 14:18, 14. Jun. 2022 (CEST)<br />
: Hallo KarlV, ich habe jetzt die Belege hinzugefügt. Bei der KR ist das Urteil der wissenschaftlichen Fachwelt bezogen auf Rechtsextemismus und Ultranationalismus eindeutig (ich habe da schon einen ordentlichen Stapel an Literatur). Umstritten ist noch ihre Einordnung als faschistisch. --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 15:24, 14. Jun. 2022 (CEST)<br />
<br />
== Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland ==<br />
<br />
Hallo Trimna, ich bin auf den Artikel [[Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland]] und die dazugehörige Diskussion in der Qualitätssicherung der Redaktion Geschichte ([[Wikipedia:Redaktion Geschichte/Qualitätssicherung#Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland]]) gestoßen. Denkst du, dass der Artikel nach deiner Überarbeitung im Jahr 2020 seriös genug ist, um den Qualitätssicherungs-Baustein zu entfernen? Das heißt, dass die Literaturliste so einigermaßen passt und keine groben inhaltlichen Fehler mehr zu finden sind? Den "Lückenhaft"-Baustein würde ich unabhängig davon mal drinlassen, denn angesichts des Möglichen ist der Artikel immer noch ziemlich knapp. Aber du kannst den Zustand des Artikels sicherlich deutlich besser beurteilen als ich. Viele Grüße, [[Benutzer:DerMaxdorfer|DerMaxdorfer]] <small>([[Benutzer Diskussion:DerMaxdorfer|Diskussion]])</small> 12:56, 13. Aug. 2022 (CEST)<br />
<br />
: Ich kenne mich zu wenig bei den Normen aus, ab wann genau ein Artikel gemäß Wikipedia-Regelungen ein Existenzrecht hat. IMHO reicht es aber aus, und ich würde deinem Vorschlag voll zustimmen. BG und einen hoffentlich entspannenden und schönen Sommer, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 13:18, 14. Aug. 2022 (CEST)<br />
<br />
:: Alles klar, wenn du sagst, dass man den Artikel in dieser Form dem Leser einigermaßen zumuten kann, kann der Qualitätssicherungs-Baustein weg. Der Umfang ist immer noch recht knapp, aber genau dafür bleibt ja erstmal der Lückenhaft-Baustein im Artikel. Mit einem ent-spannenden Sommer rechne ich aktuell nicht, hoffe dafür aber zumindest auf einen spannenden! Dir auch einen schönen Sommer, ob spannungs- oder entspannungsgeladen, und Grüße zurück, [[Benutzer:DerMaxdorfer|DerMaxdorfer]] <small>([[Benutzer Diskussion:DerMaxdorfer|Diskussion]])</small> 20:15, 14. Aug. 2022 (CEST)<br />
<br />
== [[Ultrarechte]] ==<br />
<br />
Hallo,<br />
<br />
gegen den im Betreff genannten, von Dir angelegten oder erheblich ausgebauten Artikel wurde gestern ein Löschantrag gestellt (nicht von mir). Bitte entnimm den Grund dafür der Löschdiskussion - zu erreichen über den Link im Löschhinweis oben im Artikel. Ob der Artikel tatsächlich gelöscht wird, wird sich im Laufe der siebentägigen Löschdiskussion entscheiden. <br />
<br />
Du bist herzlich eingeladen, Dich an der Löschdiskussion zu beteiligen. Wenn Du möchtest, dass der Artikel behalten wird, kannst Du dort die Argumente, die für eine Löschung sprechen, entkräften, indem Du Dich beispielsweise zur [[Wikipedia:Relevanzkriterien|enzyklopädischen Relevanz]] des Artikels äußerst. Du kannst auch während der Löschdiskussion Artikelverbesserungen vornehmen, die die Relevanz besser erkennen lassen und die [[Wikipedia:Artikel#Mindestanforderungen|Mindestqualität]] sichern.<br />
<br />
Da bei Wikipedia jeder Löschanträge stellen darf, sind manche Löschanträge auch offensichtlich unbegründet; solche Anträge kannst du ignorieren.<br />
<br />
Vielleicht fühlst Du Dich durch den Löschantrag vor den Kopf gestoßen, weil durch den Antrag die Arbeit, die Du in den Artikel gesteckt hast, nicht gewürdigt wird. [[WP:Sei tapfer|Sei tapfer]] und [[Wikipedia:Wikiquette|bleibe dennoch freundlich]]. Der andere meint es [[WP:Geh von guten Absichten aus|vermutlich auch gut]].<br />
<br />
Leider erfolgt aktuell nicht immer die automatische Information per Bot. Daher der Hinweis in dieser Form.<br />
<br />
Freundl. Grüsse --[[Benutzer:Nordprinz|Nordprinz]] ([[Benutzer Diskussion:Nordprinz|Diskussion]]) 01:02, 22. Nov. 2023 (CET)<br />
== Hinweis zur Löschung der Seite Ultrarechte ==<br />
Hallo 3mnaPashkan, <br />
<br />
die am 9. Juni 2022 um 23:43:34 Uhr von Dir angelegte Seite [https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Spezial:Logbuch&page=Ultrarechte Ultrarechte] (Logbuch der Seite [[Ultrarechte]]) wurde soeben um 09:12:14 Uhr gelöscht. Der die Seite ''Ultrarechte'' löschende [[Wikipedia:Administratoren|Administrator]] Karsten11 hat die Löschung wie folgt begründet: „Entscheidung nach [[WP:LK|Löschdiskussion]] (siehe → [[Spezial:Linkliste/Ultrarechte|Links]]): [[Wikipedia:Löschkandidaten/21._November_2023#Ultrarechte_%28gelöscht%29]]“.<br /><br />
Wie Du der Löschbegründung entnehmen kannst, wurde der Artikel nach einem [[Wikipedia:Löschregeln#Löschantrag|Löschantrag]] und einer nachfolgenden [[Wikipedia:Löschregeln#Löschdiskussion|Löschdiskussion]] gelöscht. Dort konnten alle Benutzer der Wikipedia Argumente für oder gegen die Löschung einbringen. Nach Abschluss der Löschdiskussion hat Karsten11 auf Basis der vorgebrachten Argumente, des Seiteninhalts und der Richtlinien (z.B. [[WP:RK|Relevanzkriterien]]) auf Löschung entschieden.<br />Wenn Du mit der Löschung der Seite nicht einverstanden bist, dann lies Dir in aller Ruhe die oben verlinkte Löschdiskussion und die dortige Löschbegründung von Karsten11 durch. Wenn Du dann mit der Löschung der Seite immer noch nicht einverstanden bist oder weitergehende Fragen dazu hast, solltest Du zuerst Karsten11 auf [[Benutzer Diskussion:Karsten11|seiner Diskussionsseite]] kontaktieren. Er wird Dir gerne weitere Gründe für die Löschentscheidung nennen. Hilft Dir das nicht weiter, so kannst Du bei der [[WP:LP|Löschprüfung]] eine Überprüfung der Löschung beantragen.<br />
<br />
Beste Grüße vom --[[Benutzer:TabellenBot|TabellenBot]] • [[Benutzer Diskussion:Kuebi|Diskussion]] 09:13, 28. Nov. 2023 (CET)<br />
<br />
== Lenin-fiúk ==<br />
<br />
Guten Abend, ich habe zwei Fragen zu dem oben genannten Artikel. Dort ist zu lesen: „Die zu einem Großteil aus ehemaligen Matrosen bestehende Einheit“ und später im Artikel dann „Geographisch stammten etwa zwei Drittel der Lenin-Jungs aus Budapest“. Um welche ehemaligen Matrosen handelt es sich bei den Genannten? Sind Donauschiffer damit gemeint oder eher Angehörige der Kriegsmarine? Wenn die Kriegsmarine gemeint ist, welche ehemaligen Matrosen und warum stammten dann etwa zwei Drittel aus Budapest? Für mich sind diese Angaben ohne eine weitere Erläuterung nicht verständlich. Die zweite Frage bezieht sich auf den Namen des Artikels. Der Artikel wurde mir im ''Portal Ungarn'' im Bereich ''Neue Artikel'' angezeigt und ich rätselte, um welches Thema es gehen könnte. Zunächst vermutete ich eine [[Popgruppe]] wie etwa die [[Leningrad Cowboys]]. Das war natürlich weit gefehlt. Wäre es nicht sinnvoll den Artikel '''Lenin-fiúk''' zu nennen entsprechend [[WP:NK]]? Sind in diesem Fall bundesdeutsche oder österreichische Übersetzungen wirklich zielführend? Gruß, --[[Benutzer:JasN|JasN]] ([[Benutzer Diskussion:JasN|Diskussion]]) 23:43, 3. Feb. 2024 (CET)<br />
: Hallo lieber JasN,<br />
: die aktuellen Widersprüchlichkeiten mit den Matrosen kann ich gut nachvollziehen. Ich werde mich noch bis nächste Woche Mittwoch intensiv dem Artikel widmen, und anschließend sollte das im Fließtext klar verständlich erklärt sein (-;<br />
: Zu deiner zweiten Anfrage: Die gesamte deutschsprachige wie auch die englischsprachige Literatur verwenden durchgehend Übersetzungen von ''Lenin-fiúk''. In der englischsprachigen Foschung sind das einheitlich die ''Lenin Boys'', in der neueren deutschsprachigen Forschung dominiert die Bezeichnung ''Lenin-Jungs'', die Alternativen werden seltener verwendet. Die ungarische Orginalbezeichnung kommt aber de facto nicht vor. Von daher das Lemma ''Lenin-Jungs'' hier für mich ähnlich zulässig wie z. B. jenes der ''[[Hlinka-Jugend]]''. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 23:54, 3. Feb. 2024 (CET)<br />
<br />
== Das große "Geschichte Ungarns"-Duell ==<br />
<br />
Hallo lieber Trimna, ich sehe gerade, dass wir beide ein Thema aus der Geschichte Ungarns beim diesmonatigen Schreibwettbewerb rausgesucht haben. Witziger Zufall! Das erinnert mich an ein Spielkonzept, das es vor (ach du meine Güte) 18 Jahren mal bei Wikipedia gab: das Wikipedia-Duell. Zwei Autoren traten gegeneinander an, ein dritter suchte ein beliebiges Überthema aus und die beiden Kontrahenten mussten möglichst schnell einen lesenswerten Artikel zu einem Artikel aus diesem Themenbereich verfassen. Siehe [[Wikipedia Diskussion:Kandidaten für lesenswerte Artikel/Archiv/2006#Spiel des Monats: WP-Duell]] - immerhin drei Duelle wurden beendet. Ich bin jedenfalls gespannt auf deinen Beitrag zum SW! (Und auf meinen auch...) Liebe Grüße, [[Benutzer:DerMaxdorfer|DerMaxdorfer]] <small>([[Benutzer Diskussion:DerMaxdorfer|Diskussion]])</small> 00:32, 2. Mär. 2024 (CET)<br />
:{{ping|DerMaxdorfer}} Servus mein lieber Kollege! Ja echt ein lustiger Zufall. Die Thematik Räte-Ungarns habe ich tatsächlich erst seit Jänner so richtig auf dem Schirm. Bin draufgekommen, dass sie für die das tiefere Verständnis einiger Aspekte des [[Rodobrana]]-Artikels sehr wichtig ist. Es ist mein erster Beitrag zu einem linksradikalen Thema, habe bisher immer nur über die Rechtsradikalen geschrieben (o; Ich freue mich jedenfalls sehr dass du auch mitmachst und fühle mich dadurch zusätzlich motiviert! Alles Gute für die Arbeit an deinem SW-Beitrag! BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 12:53, 3. Mär. 2024 (CET)<br />
::Gleiches zurück, auch Dir alles Gute! Ich bin zwar noch einen Tag in Budapest diesen Monat, aber das wird nicht für weitergehende Recherchen oder Fototouren reichen... Viele Grüße, [[Benutzer:DerMaxdorfer|DerMaxdorfer]] <small>([[Benutzer Diskussion:DerMaxdorfer|Diskussion]])</small> 15:49, 3. Mär. 2024 (CET)<br />
<br />
== [[Wolfgang Mueller (Historiker)]] ==<br />
<br />
Hallo 3mnaPashkan,<br><br />
was ist richtig 1970 oder 1974? Und kannst Du noch 1-2 Sätze Biographie ergänzen? Z. B. hat er doch sicher studiert? Vielen Dank, Grüße, [[Benutzer:Aspiriniks|Aspiriniks]] ([[Benutzer Diskussion:Aspiriniks|Diskussion]]) 14:48, 24. Aug. 2024 (CEST)<br />
<br />
: {{Erl.}} Danke für den Hinweis, habe es korrigiert und ergänzt! BG und noch ein schönes Wochenende, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 22:28, 24. Aug. 2024 (CEST)<br />
<br />
== koord nebenlager ==<br />
<br />
Wie besprochen, wenn du was hast für mich, wäre ich dir sehr verbunden. --[[Benutzer:Herzi Pinki|Herzi Pinki]] ([[Benutzer Diskussion:Herzi Pinki|Diskussion]]) 22:41, 22. Sep. 2024 (CEST)<br />
: Danke dir für die Erinnerung, werde mich kommende Woche mal erkundigen :o) BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 22:53, 22. Sep. 2024 (CEST)<br />
::Deinen Usernamen herauszubekommen war schon eine Herausforderung. lg --[[Benutzer:Herzi Pinki|Herzi Pinki]] ([[Benutzer Diskussion:Herzi Pinki|Diskussion]]) 23:32, 22. Sep. 2024 (CEST)<br />
::: Sehr gut, dann habe ich es mit dem Namen wohl richtig gemacht (o; --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 23:34, 22. Sep. 2024 (CEST)<br />
<br />
== SW ==<br />
<br />
Grüße! Du hast in der Sektion II mehr als zwei Stimmen abgegeben, was nicht geht. Bestes, --[[Benutzer:Aalfons|Aalfons]] ([[Benutzer Diskussion:Aalfons|Diskussion]]) 16:21, 20. Feb. 2025 (CET)<br />
: Danke lieber Aalfons, habe es korrigiert! BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 16:29, 20. Feb. 2025 (CET)<br />
<br />
== Hlinka-Garde ==<br />
<br />
Hallo 3mnaPashkan,<br />
<br />
die [[Hlinka-Garde]] ist zwar keine direkte Partei gewesen, das war aber somit die [[Rodobrana]] auch nicht, dessen Vorgängerorganisation sie darstellt. Diese ist jedoch in der Tabelle der faschistischen Parteien die '''kein Regime''' aufstellen konnten aufgelistet. Desweiteren wurde das Regime im Slowakischen Staat nicht allein von der Hlinka-Garde geführt, jedoch waren sie aktiv (als Teil der Ludaken) daran mitbeteiligt. Die Falange in Spanien wurde 1937 Teilfraktion der franquistischen Staatspartei, laut Auflistung war sie bis 1977 am Regime beteiligt. Die [[Ustascha]] ist streng genommen ebenfalls keine direkte Partei sondern viel mehr ein militärischer Verband der im Unabhänigen Kroatien die Funktion der Staatspartei übernommen hat, dies tat die Hlinka-Garde ebenfalls, so war ihr Oberkommandant Alexander Mach Innenminister sowie Vize-Ministerpräsident. Meiner Meinung nach erfüllt die Hlinka-Garde alle Kriterien was auch die anderen Organisationen in der Auflistung erfüllen. Grüße --[[Benutzer:Caligulo|Caligulo]] ([[Benutzer Diskussion:Caligulo|Diskussion]]) 00:30, 8. Mär. 2025 (CET)<br />
<br />
: Hallo lieber Caligulo. Ich kann deine Gedankengänge durchaus nachvollziehen, und der Vergleich mit Franco-Spanien macht in vielerlei Hinsicht Sinn. Aber: Die Falangisten waren nun einmal von Anfang an eine eigenständige Partei, die Rodobrantzen und die Hlinka-Gardisten nie. Zudem ist auch die Situation mit der Hlinka-Garde deutlich komplizierter, weil die HG zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche ideologische Gruppen umfasste: 1938–1940 etwa die Nástup-Rechtsradikalen um [[Ferdinand Ďurčanský]], die polonophilen Nationalkonservativen um [[Karol Sidor]] und die germanophilen slowakischen Nationalsozialisten um [[Vojtech Tuka]] und [[Alexander Mach]]. Diese Gruppen haben sich dann auch durchaus intensiv untereinander politisch bekämpft. Und zuletzt: Du müsstest erst einmal eine Quelle in der Fachliteratur finden, die das von dir oben beschriebene auch so sieht und formuliert. Denn bei der Wikipedia interpretieren wir selber niemals. Wir legen nur die Urteile des aktuellen Forschungsstandes offen und stellen in einer Forschungsgeschichte vergangene Urteile dar. Ich verfüge de facto über die GESAMTE Fachliteratur zum Slowakischen Staat in deutscher, englischer und slowakischer Sprache, und ich kenne wirklich keine einzige Quelle, die von der Hlinka-Garde als mitregierender Organisation in der Ludaken-Slowakei sprechen würde. Im Gegensatz zu den Falangisten in Franco-Spanien, befand sich die Hlinka-Garde von Anfang an und durchgehend in der politischen Opposition zur Einheitspartei der Ludaken, in der die Faschisten eben nicht dominierten, auch wenn sie einzelne Politiksegmente, etwa im Bereich der genozidialen Judenpolitik, maßgeblich bestimmten. Beste Grüße, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 23:01, 10. Mär. 2025 (CET)<br />
::Lieber Trimna, danke für deine ausführliche Erklärung. Ich denke dass generell die Bezeichnung '''Faschistische Parteien, die ein Regime errichten oder sich an einem beteiligen konnten''' für diese tabellarische Auflistung etwas irritierend ist, da wie vorher schon gesagt die [[Ustascha]] dort aufgelistet wird, obwohl diese streng genommen auch keine eigentliche Partei war. Auch bei der Auflistung der '''Parteien, die überwiegend als „faschistisch“ eingestuft werden, aber kein eigenes Regime aufbauen konnten''' wird die [[Rodobrana]] aufgelistet, die wie du schon gesagt hast keine eigentliche Partei war. Aber auch andere Paramilitärische Organisationen wie zum Beispiel der litauische Kampfbund [[Eiserner Wolf]] wird auch in dieser Liste aufgelistet. Meiner Meinung nach sollte man vielleicht die Bezeichnung von '''Parteien''' in '''Organisationen''' oder in '''Parteien/Organisationen''' ändern was auf jeden fall zutreffender im Hinblick der gesamten Liste wäre. So würde auch die Hlinka-Garde ohne Zweifel in die obere Liste passen. Wie du gesagt hast, waren sie zwar den Ludaken untergeordnet, hatten aber auch politischen Einfluss, so war ihr Oberkommandat [[Alexander Mach]] Innenminister und Vize-Ministerpräsident. So wie ich es verstanden habe ist es auch nicht zwangsläufig notwendig für diese Liste das die Partei/Organisation alleine das Regime, maßgeblich oder domminierend führte, sondern allein das sie an diesem beteiligt war (was sie auch durch Ministerposten und Beteiligung an der Innenpolitik eindeutig gewesen war). Viele Grüße --[[Benutzer:Caligulo|Caligulo]] ([[Benutzer Diskussion:Caligulo|Diskussion]]) 12:58, 12. Mär. 2025 (CET)<br />
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== Potočnik ==<br />
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Ciao Trimma, in Deiner Literaturliste zu Rab/Arbe fehlt der 1978 von der ANPI herausgegebene Franc Potočnik, der selbst in Rab interniert war. Da lässt sich, auch wenn es politisch eingefärbt ist, noch einiges, vor allem zur bislang im Artikel eher vernachlässigten Lagergeschichte entnehmen. Franc Potočnik: ''Il campo di sterminio fascista: l'isola di Rab.'' ANPI 1978. Steht als PDF im Download [https://www.diecifebbraio.info/2023/10/frank-potocnik-il-campo-di-sterminio-fascosta-lisola-di-rab-1979/ hier] zur Verfügung. LG --[[Benutzer:Robertk9410|Robertk9410]] ([[Benutzer Diskussion:Robertk9410|Diskussion]]) 06:31, 22. Mär. 2025 (CET)<br />
: Vielen Dank für den nützlichen Hinweis und den Link mein lieber {{ping|Robertk9410}} :o) Ich werde den Artikel zum SW leider eh nicht fertig bekommen, da bei mir beruflich und privat gerade viel los ist. Für den Ausbau im Laufe des Jahres werde ich dann sehr gerne darauf zurückgreifen! BG, --[[Benutzer:3mnaPashkan|Trimna]] ([[Benutzer Diskussion:3mnaPashkan|Diskussion]]) 10:25, 22. Mär. 2025 (CET)<br />
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== Apology for my conduct on the Wikipedia websites about the flag of the National Fascist Party of Italy ==<br />
I posted this on the English language Wikipedia and did not get a response from you so I am posting here on the German language Wikipedia. I apologize for using the English language here and not your native language of German but I am not fluent in German. <br />
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I want to apologize for my conduct regarding the image of the flag of the National Fascist Party. I was irrational in thinking that the flag design I liked was the best one to use as I disliked the other design. But that is completely irrational because ''it doesn't matter what I like'', it matters what version of the flag is backed up by evidence as the most used flag. The flag that you have supported is backed up with that evidence.<br />
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I have been doing very bad in my personal life recently and it has been passing over into things I do where I have been behaving impulsively and not thinking through my actions. I went on an impulsive rampage across multiple language versions of Wikipedia and removed the version of the flag I disliked for no rational reason. There was no reason to replace that flag and I am fully responsible for causing the mayhem that you have had to do of undoing my edits, which you should never have been forced to do by my actions. I am getting help with the problems in my personal life that have led to this behaviour and recognize that my behaviour was unacceptable. The mess I created should not be yours to clean up, I have gone over and will go over the places I went to change the flag and put back the flag that you have been restoring to the pages where I changed it. However the Italian language Wikipedia has requested that I stop editing as I have been using the English language in the description box of my edits. I could have the text translated from English to Italian through online translation services, but I cannot continue to replace the version of the flag that I imposed on Wikipedia on Italian Wikipedia as long as I use the English language in the description box.<br />
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I imposed an immense and unnecessary burden upon you in you having to revert my edits involving the flag, I am taking responsibility by reverting my own edits to undo what I did. I hope you can accept my apology. --[[Benutzer:ImageUploader12345|ImageUploader12345]] ([[Benutzer Diskussion:ImageUploader12345|Diskussion]]) 13:13, 11. Mai 2025 (CEST)</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_Italiens&diff=255901653Geschichte Italiens2025-05-10T21:29:17Z<p>ImageUploader12345: /* Faschismus und Zweiter Weltkrieg (1922–1945) */ I apologize for writing this in English on this German language article edit description but I am not fluent in German. Restoring to the flag made before I stupidly decided out of impulse to replace with a different version of the flag without consulting others and without evidence demonstrating clearly why it should be shown, so I'm reversing the poor decision I made.</p>
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<div>Die '''Geschichte Italiens''' umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der [[Italien|Italienischen Republik]] von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Sie lässt sich 1,3 bis 1,7 Millionen Jahre zurückverfolgen, wobei der [[Cro-Magnon-Mensch|''moderne'' Mensch]] vor etwa 43.000 bis 45.000 Jahren in [[Italien]] auftrat und noch mehrere Jahrtausende neben dem [[Neandertaler]] lebte. Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen seiner Existenz. Etwa 6100 v.&nbsp;Chr. brachten erste Gruppen von außerhalb der [[Apenninhalbinsel]] – wohl über See aus Süd[[anatolien]] und dem [[Naher Osten|Nahen Osten]] – die [[Neolithikum|Landwirtschaft]] mit; die [[Jäger und Sammler]] verschwanden. Im 2.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. setzte eine Entwicklung ein, die aus den Dörfern frühe stadtähnliche Siedlungen machte. Die Gesellschaften wiesen um diese Zeit erstmals deutliche Spuren von [[Hierarchie]]n auf.<br />
<br />
[[Datei:Targa unesco na.jpg|mini|Tafel der UNESCO zur Bezeichnung als Weltkulturerbe, hier Neapel. Die mehr als 50 in Italien befindlichen Stätten reichen von einzelnen Gebäuden über ganze Kernstädte bis zu thematisch übergreifenden Gruppen wie den [[Felsbilder des Valcamonica|Felsbildern des Valcamonica]], prähistorischen [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Pfahlbauten]], den mit der Herrschaft der [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Langobarden]] verbundenen Orten oder einer Gruppe [[Spätbarocke Städte des Val di Noto|spätbarocker Städte]].]]<br />
<br />
Die durch [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Schriftquellen]] belegte Geschichte Italiens beginnt erst nach der Besiedlung durch [[Italiker|italische Völker]]. Neben ihnen erlebte die Kultur der [[Etrusker]], deren Herkunft ungeklärt ist, um 600 v.&nbsp;Chr. ihre Blütezeit. Im 8.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr. hatte die [[griechische Kolonisation]] des süditalienischen Festlandes und [[Sizilien]]s begonnen, an der Westküste der Insel siedelten [[Phönizier]]. Diese Kolonien gehörten später zu [[Karthago]]. Die meisten Gebiete Norditaliens wurden von [[Gallier]]n besiedelt.<br />
<br />
Ab dem 4. Jahrhundert v.&nbsp;Chr. setzte die Expansion [[Rom]]s ein, 146 v.&nbsp;Chr. wurden [[Korinth (antike Stadt)|Korinth]] und Karthago zerstört, die Eroberung des Mittelmeerraums, später auch von Teilen Mittel- und Nordeuropas brachte kulturelle Einflüsse und Menschen aus dem gesamten Reich und den angrenzenden Gebieten nach Italien. Die Halbinsel bildete das Zentrum des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] und blieb es mit Einschränkungen bis zum Untergang Westroms um 476. Dabei verwandelte sich die agrarische Wirtschaftsbasis, die anfangs aus Bauern bestanden hatte, zu einem System weiträumiger [[Latifundium|Latifundien]] auf der Basis von [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklavenarbeit]]. Ein dichtes [[Römerstraße|Straßennetz]] verband die expandierenden Städte, dank dessen der Warenaustausch, aber auch die Abhängigkeit von externen Gütern, wie Weizen und [[Olivenöl]] aus Nordafrika, anwuchsen. In der [[Spätantike]] erschienen neben der Sklaverei und den freien Bauern auf dem Land Formen der Bindung an den Boden, wie das [[Kolonat (Recht)|Kolonat]], wenngleich noch um 500 zwischen freien und unfreien Kolonen unterschieden wurde ([[Kolonenedikt des Anastasius]]). Im 4.&nbsp;Jahrhundert wurde das Christentum als Staatsreligion durchgesetzt.<br />
<br />
Ab dem 5. Jahrhundert kam Italien unter die Herrschaft [[Germanen|germanischer Stämme]], die Bevölkerung ging bis um 650 drastisch zurück, kurzzeitig eroberte [[Byzantinisches Reich|Ostrom]] im 6.&nbsp;Jahrhundert das ehemalige Kerngebiet des Reiches. Die Städte schrumpften drastisch, das Straßensystem verfiel, fast nur der Handel über die Gewässer bestand fort. Im 8.&nbsp;Jahrhundert wurde der von den [[Langobarden]] etwa zwei Jahrhunderte lang beherrschte Norden dem [[Fränkisches Reich|Frankenreich]] angegliedert, später dem [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reich]], während im Süden Araber und Byzantiner herrschten, ab dem 11. Jahrhundert [[Normannen]]. In den meisten Regionen setzte sich im [[Frühmittelalter]] der [[Feudalismus]] durch, dessen Zusammenhänge mit dem spätrömischen [[Kolonat (Recht)|Kolonat]] äußerst komplex sind. Die oberitalienischen Kommunen, die sich etwa im [[Lombardenbund]] zusammenfanden, konnten sich im 12. und 13. Jahrhundert vom Einfluss des Reichs lösen und eigene Territorien errichten. Von dieser Vielzahl an Territorien waren die bedeutendsten [[Mailand]], die Seemächte [[Republik Genua|Genua]] und [[Republik Venedig|Venedig]], [[Florenz]] und Rom sowie der Süden Italiens, der teils französisch, teils spanisch war. Eine zentrale Rolle spielte die Tatsache, dass der Bischof von Rom zum [[Papst]] der westlichen Kirche aufstieg, es 1054 zur Trennung von der östlichen Kirche kam und der Papst in langwierige Auseinandersetzungen mit den [[Heiliges Römisches Reich|römisch-deutschen Königen]], dann mit dem französischen König [[Philipp IV. (Frankreich)|Philipp IV.]] geriet. Letzterer zwang den Papst 1309 ins [[Avignonesisches Papsttum|Exil nach Avignon]], das bis 1378 andauerte. Die Rückkehr der Päpste nach Rom beschleunigte den Aufbau des [[Kirchenstaat]]s in Mittelitalien, der bis 1870 die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel erheblich beeinflusste.<br />
<br />
Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert war Italien das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der [[Renaissance]]. Fünf führende Mächte hatten sich herauskristallisiert, wobei der Kirchenstaat eine ganz eigene Rolle spielte. Ab dem späten 15., vor allem aber im 16. und 17. Jahrhundert mischten sich die europäischen Großmächte – Frankreich, Spanien und Österreich – immer wieder in die italienische Politik ein. Sie schotteten dabei in verschiedenem Maße ihre Märkte gegen auswärtige Waren ab. Gleichzeitig übte das [[Osmanisches Reich|Osmanische Reich]] ab dem späten 14. Jahrhundert starken militärischen Druck insbesondere auf die [[Republik Venedig]] aus. Dennoch strahlten die italienischen Kulturmetropolen, allen voran Rom, Florenz und Venedig, weit über Italien und Europa aus.<br />
<br />
Nach vier Jahrhunderten der Zersplitterung und Fremdherrschaft wurde die Halbinsel im Zuge der Nationalbewegung des [[Risorgimento]] politisch vereint. Der moderne italienische Staat besteht seit 1861, 1866 kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] hinzu, nach dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] [[Julisch Venetien]] (Triest und Görz), das [[Trentino]] und [[Südtirol]]. [[Kolonialismus|Kolonialkriege]] führte Italien vor allem in [[Libyen]] (1951 unabhängig) und [[Äthiopien]] ([[Schlacht von Adua]] 1896, [[Abessinienkrieg]] 1935/36). 1922 bis 1943 regierten die [[Italienischer Faschismus|Faschisten]] unter [[Benito Mussolini]] in Italien, in den letzten beiden Kriegsjahren kontrollierten die deutschen [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] weite Teile des Landes, bis dieses von den [[Alliierte]]n und Partisanengruppen befreit wurde.<br />
<br />
1946 entschied sich das italienische Volk für die Abschaffung der [[Königreich Italien (1861–1946)|Monarchie]] zugunsten der [[Republik]]. Erstmals durften auch Frauen wählen. Seither prägen häufige Regierungswechsel die politische Kultur, bis Anfang der 1990er Jahre unter durchgehender Beteiligung der [[Democrazia Cristiana]]. Dabei verweisen bis zum Ende des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] Auseinandersetzungen um den [[Eurokommunismus]], teils militant geführte politische Auseinandersetzungen, der Gegensatz zwischen Nord- und Süditalien, der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche|katholischen Kirche]], aber auch [[Korruption]] bis in die politischen Führungsgruppen und [[organisierte Kriminalität]] auf einige der zentralen [[Cleavage-Theorie|Konfliktlinien]] der Gesellschaft. Der Zusammenbruch des alten Parteiensystems und eine Verfassungsänderung im Zuge der [[Tangentopoli]]-Affäre zu Beginn der 1990er Jahre markierte einen politischen Einschnitt und den Übergang zur sogenannten Zweiten Republik.<br />
<br />
== Ur- und Frühgeschichte ==<br />
{{Hauptartikel|Urgeschichte Italiens}}<br />
<br />
=== Paläolithikum: Jäger, Sammler, Fischer (1,3 Millionen Jahre) ===<br />
[[Datei:Caverna delle Arene Candide-ritrovamenti Piccolo Principe-museo archeologia ligure.jpg|mini|Menschliche Überreste des „Kleinen Prinzen“, der vor etwa 23.000 Jahren in [[Ligurien]] beigesetzt wurde. Ihm war ein Pelzumhang beigegeben worden, der aus 400 Vertikalstreifen aus Eichhörnchenfellen bestand.<ref>Art. ''Mantel.'' In: [[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], Band 19, hier: S. 239.</ref> Museo di archeologia ligure von Genua Pegli]]<br />
<br />
Die [[Ausgrabung]]en von [[Pirro Nord]] in [[Apulien]], wo sich die ältesten menschlichen Spuren Italiens fanden, belegen, dass [[Jäger und Sammler]] dort vor 1,3 bis 1,7 Millionen Jahren lebten.<ref>Marta Arzarello, Federica Marcolini, Giulio Pavia, Marco Pavia, Carmelo Petronio, Mauro Petrucci, Lorenzo Rook, Raffaele Sardella: ''L’industrie lithique du site Pléistocène inférieur de Pirro Nord (Apricena, Italie du sud): une occupation humaine entre 1,3 et 1,7 Ma / The lithic industry of the Early Pleistocene site of Pirro Nord (Apricena South Italy): The evidence of a human occupation between 1.3 and 1.7 Ma'' In: L’Anthropologie 113,1 (2009), S.&nbsp;47–58.</ref> Seit etwa 700.000 Jahren ist Italien wohl durchgehend von Menschen bewohnt.<ref>Margherita Mussi: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic.'' Kluwer Academic/Plenum Publishers, New York 2001, S.&nbsp;18.</ref> Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen der Existenz, wobei sich hüttenartige Strukturen neben Höhlen schon für die Zeit vor 230.000 Jahren nahe der französisch-italienischen Grenze als Wohnstätten nachweisen lassen.<ref>Paolo Villa: ''Terra Amata and the Middle Pleistocene archaeological record of southern France.''University of California Press, Berkeley 1983, S.&nbsp;54f.</ref> Der Gebrauch von Feuer ist seit dieser Zeit archäologisch gesichert nachgewiesen.<ref>[[Wil Roebroeks]], Paola Villa: ''On the earliest evidence for habitual use of fire in Europe.'' In: [[Proceedings of the National Academy of Sciences]] 108,13 (2011), S. 5209–5214.</ref><br />
<br />
Im [[Mittelpaläolithikum]] war ganz Italien bewohnt, mit Ausnahme der Inseln [[Sardinien]] und Sizilien. Vor 45.000 bis 43.000 Jahren sind erstmals [[Cro-Magnon-Mensch]]en nachgewiesen. Zwei Zähne aus der ''[[Grotta del Cavallo]]'' wurden entsprechend datiert und gelten als der älteste Beleg für die Existenz des anatomisch modernen Menschen in Europa.<ref>Stefano Benazzi u. a.: ''Early dispersal of modern humans in Europe and implications for Neanderthal behaviour.'' In: ''[[Nature]].'' Band 479, 2011, S. 525–528, [[doi:10.1038/nature10617]]</ref> Einige Jahrtausende später verschwand der [[Neandertaler]]. Nach dem Ende der [[Würmeiszeit]] nahm die Sesshaftigkeit zu, insbesondere an den Küsten, wo Fischfang dominierte. Daneben entstanden in den Hoch- und Mittelgebirgsregionen Hirtenkulturen. Die erste neolithische Kultur Süditaliens war die [[Cardial- oder Impressokultur]], die etwa um 6200 v. Chr. durch Einflüsse aus dem östlichen Mittelmeerraum entstand. Durch Vergleich mit dem Flächenbedarf ähnlicher Gesellschaften ließ sich als grober Näherungswert eine Zahl von 60.000 menschlichen Bewohnern berechnen.<ref>Fulco Pratesi: ''Storia della natura d’Italia'', Soveria Manelli: Rubbettino Editore, 2010, o. S. (Abschnitt ''Un mondo in equilibrio'').</ref> Die Männer waren im Schnitt 1,66–1,74 m groß, Frauen 1,50–1,54 m.<br />
<br />
=== Neolithikum: Landwirtschaft und Dörfer (ab 6100 v. Chr.) ===<br />
Die ersten Ackerbauern ließen sich zwischen 6100 und 5800 v.&nbsp;Chr. im Süden der Halbinsel nieder.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1. Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;28ff.</ref> Sie kamen über die griechischen Inseln, vor allem über Kreta, aus Südanatolien und dem Nahen Osten.<ref>R. J. King, S. S. Özcan, T. Carter, E. Kalfoğlu, S. Atasoy, C. Triantaphyllidis, A. Kouvatsi, A. A. Lin, C.-E. T. Chow, L. A. Zhivotovsky, M. Michalodimitrakis, P. A. Underhill: ''Differential Y-chromosome Anatolian Influences on the Greek and Cretan Neolithic.'' In: Annals of Human Genetics 72 (2008), S. 205–214.</ref> Im Nordwesten bestanden [[Mesolithikum|mesolithische]] und Keramikkulturen noch um 5500 v. Chr. nebeneinander.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1.&nbsp;Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;32.</ref> Es entstanden verschiedene Dorftypen, Fernhandel bestand etwa mit [[Obsidian]] oder mit Beilen. Dabei fehlen im neolithischen Italien Anzeichen für eine Hierarchisierung der Gesellschaft. Die Männer waren kleiner als im Paläo- und im Mesolithikum, und auch später waren sie nie wieder so klein. So konnte festgestellt werden, dass Frauen im Durchschnitt 1,56&nbsp;m, Männer 1,66&nbsp;m groß waren.<ref>John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy.'' Cambridge University Press, Cambridge 2007, S. 36.</ref><br />
<br />
=== Metallzeitalter: autochthone Bevölkerung, Zuwanderung (Etrusker, Griechen, Karthager), Städte (ab 4200 v. Chr.) ===<br />
{{Linkbox Völker im Italien der Eisenzeit}}<br />
<br />
Um 4200 v. Chr. wurde in [[Ligurien]] als erstes Metall [[Kupfer]] verarbeitet;<ref>Im Val Petronio, östlich von Sestri Levante; vgl. Nadia Campana, Roberto Maggi, Mark Pearce: ''ISSEL DIXIT.'' In: ''La nascità della Paletnologia in Liguria. Atti del Convegno'', Bordighera 2008, S. 305–311. Der Titel bezieht sich auf [[Arturo Issel]] (1842–1922), der schon 1879 ein so hohes Alter des Kupferbergbaus vermutete.</ref> die [[Bronzezeit]] setzte im späten 3. Jahrtausend v. Chr. ein. Es entstanden erstmals proto-urbane Strukturen, in [[Kampanien]] fand sich eine solche „Stadt“ bei [[Poggiomarino]], die vom 17. bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. bestand. Diese „Bronzemetropole“ kam anscheinend ohne Verteidigungsanlagen aus.<ref>[http://www.zeit.de/2003/16/A-Vesuv ''Der Jahrtausendknall''], in: Die Zeit, 10. April 2003. Vgl. C. Albore Livadie: ''Territorio e insediamenti nell’agro Nolano durante il Bronzo antico (facies di Palma Campania): nota preliminare.'' In: ''Actes du colloque L’Eruzione vesuviana delle “Pomici di Avellino” e la facies di Palma Campania (Bronzo antico): Atti del Seminario internazionale di Ravello, 15-17 luglio 1994.'' Edipuglia, Bari 1999, S. 203–245.</ref><br />
<br />
In der Bronzezeit (ca. 2300/2200–950 v. Chr.) sind zahlreiche Kulturen erkennbar, deren Zuordnung zu den Völkern, die in den frühesten Schriftquellen auftauchen, nicht immer gesichert ist. Um 1500 v. Chr. kam es zudem erneut zu starken Zuwanderungen,<ref>[[Harald Haarmann]]: ''Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen'', München: Beck 2010. Ihm folgt die weitere Darstellung.</ref> die Dörfer wurden verstärkt befestigt. Funde wie im sizilianischen La Muculufa (bei [[Butera]]) belegen Weinanbau.<ref>Francesco Carimi, Francesco Mercati, Loredana Abbate, Francesco Sunseri: ''Microsatellite analyses for evaluation of genetic diversity among Sicilian grapevine cultivars'', in: Genet Resources and Crop Evolution 57 (2010) 703–719, hier: S. 704.</ref> Die [[Eisenzeit]], gelegentlich auch die späte Bronzezeit, gilt als Formatierungsphase der Stämme, die in den schriftlichen [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Quellen]] erscheinen. Auf zunehmende Macht einer Kriegerelite deutet die größere Menge an Waffenbeigaben hin. Zugleich wird ein weiträumiger Fernhandel bis in den östlichen Mittelmeerraum erkennbar. Etrusker und Griechen eroberten auf Städten basierende, zusammenhängende Herrschaftsgebiete, eine Entwicklung, die bald ganz Italien erfasste und die in der Herrschaft Roms gipfelte.<br />
<br />
{{Hauptartikel|Etrusker|Magna Graecia}}<br />
[[Datei:Museo guarnacci, tomba del guerriero di poggio alle croci, elmo crestato 01.JPG|mini|Typischer Villanova-Helm aus der römischen Frühzeit, [[Museo Etrusco Guarnacci]] in [[Volterra]]]]<br />
<br />
In Oberitalien lebten im 5. Jahrhundert v. Chr. die gerade eingewanderten [[Kelten]] (lateinisch ''Galli''), dann [[Lepontier]] und [[Ligurer]], im Nordosten [[Veneter (Adria)|Veneter]].<ref>Thomas Urban ''Studien zur mittleren Bronzezeit in Norditalien'', 1993. Allgemein zu den Venetern: Art. ''Veneter.'' In: ''[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]]'', Bd. 32, S. 133–138, ab S. 136 zu den oberitalienischen Venetern.</ref> Mittelitalien war von [[Umbrer]]n (im heutigen Umbrien); [[Latiner]]n, [[Sabiner]]n, [[Falisker]]n, [[Volsker]]n und [[Aequer]]n (im heutigen [[Latium]]) und [[Picener]]n<ref>Grundlegend: Luisa Franchi dell’Orto (Hrsg.): ''Die Picener. Ein Volk Europas. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. 1999'', Rom 1999.</ref> (Marken und nördliche Abruzzen) bewohnt. Im Süden waren [[Samniten]]<ref>Grundlegend: Gianluca Tagliamonte: ''I Sanniti: Caudini, Irpini, Pentri, Carricini, Frentani'', Longanesi, Mailand 1996.</ref> (südliche Abruzzen, [[Molise]] und [[Kampanien]]) ansässig; [[Japyger]] und [[Messapier]] in [[Apulien]]; [[Lukanier]] und [[Bruttium|Bruttii]]. Die [[Sikeler]] besiedelten den Ostteil Siziliens. Viele dieser Völker waren [[Indogermanen|indoeuropäischen]] Ursprungs, einige galten als ''[[Aborigines (Italien)|Aborigines]]''.<br />
Die [[Etrusker]] in Mittelitalien waren keine Indoeuropäer, möglicherweise die [[Sikaner]] auf Sizilien ebenfalls nicht. Auf Sardinien lebten [[Sarden]], die eventuell den [[Scherden]] in ägyptischen Quellen entsprechen.<br />
<br />
Ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. begann die [[griechische Kolonisation]] Süditaliens. Dabei wurden zahlreiche Städte sowohl auf dem Festland (darunter [[Tarent|Taras]], [[Cumae|Kyme]], [[Metapontion]], [[Sybaris]], [[Crotone|Kroton]], [[Reggio Calabria|Rhegion]], [[Paestum]] und [[Neapel]]) als auch auf Sizilien ([[Naxos (Sizilien)|Naxos]], [[Zankle]] und [[Syrakus]]) gegründet. Die griechisch besiedelten Gebiete wurden als ''[[Magna Graecia]]'' (Großgriechenland) bezeichnet. Ein Überbleibsel ist das noch heute gesprochene [[Griko]].<br />
<br />
Die [[Karthago|Karthager]], die sich zu einer bedeutenden See- und Handelsmacht entwickelt hatten, gründeten neben Kolonien auf [[Sizilien]] auch solche auf [[Sardinien]]. Sie gerieten während des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. in anhaltende Konflikte mit den [[Griechische Kolonisation|griechischen Kolonien]], vor allem mit [[Syrakus]]. Hingegen standen sie zeitweise mit den Etruskern im Bündnis. Auch mit Rom pflegte es bis 264 v. Chr. ein gutes Verhältnis. Karthago und Rom schlossen um 508 v. Chr. einen ersten Vertrag, 348 und 279 v. Chr. folgten weitere.<ref>Dazu Barbara Scardigli: ''I Trattati Romano-Cartaginesi. Introduzione, edizione critica, traduzione, commento e indici'', Scuola Normale Superiore, Pisa 1991.</ref><br />
<br />
== Rom ==<br />
=== Italien im expandierenden Römerreich (4. Jahrhundert v. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) ===<br />
{{Hauptartikel|Römisches Reich|Römisches Italien}}<br />
[[Datei:Etruscan civilization map-de.png|mini|Die etruskischen Gebiete zur Zeit ihrer größten Ausdehnung mit den Städten des [[Zwölfstädtebund]]s]]<br />
[[Datei:Lupa Capitolina, Rome.jpg|mini|Die Wölfin stillt Romulus und Remus, die sagenhaften Gründer Roms. Die Wölfin stammt aus dem 13. Jahrhundert, die Zwillinge wurden im 15. Jahrhundert hinzugefügt, wie sich 2007 herausstellte.<ref>[http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7499469.stm ''Famed Roman statue „not ancient“''], BBC, 20. Juli 2008</ref> ]]<br />
[[Datei:Punic wars-fr.svg|mini|Der westliche Mittelmeerraum 279 v.&nbsp;Chr.]]<br />
<br />
Rom<ref>Grundlegend zur Geschichte Roms in der Antike: [[Frank Kolb]]: ''Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike.'' Beck, München 2002.</ref> war im 8.&nbsp;Jahrhundert eine kleine bäuerliche Gemeinde, die aus mehreren Dörfern hervorgegangen war. Der traditionellen Überlieferung nach schüttelte es 509 v.&nbsp;Chr. die Königsherrschaft und die Dominanz der Etrusker ab. In der [[Mythologie|mythischen]] Erinnerung hatte die Expansion zunächst im Kampf mit den [[Sabiner]]n, dann gegen die Stadt [[Alba Longa]] begonnen. Auf diese frühe Phase wird die Entstehung der [[Patriziat (Römisches Reich)|Patrizier]] und der [[Plebejer]] zurückgeführt, ebenso die religiöser Einrichtungen, wie die Priesterschaft der [[Vestalin]]nen. Auf den etruskischen König [[Tarquinius Priscus]] führten die Römer den Bau der [[Cloaca Maxima]] oder des [[Kapitolinischer Tempel|Jupitertempels]] zurück. Mit dem Ende der Monarchie übernahm der [[Römischer Senat|Senat]] die wichtigste Rolle im entstehenden Staatswesen.<br />
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Sein Herrschaftsgebiet dehnte Rom zunächst über Mittelitalien, dann zu einem Imperium über den gesamten [[Mittelmeerraum]] aus, um schließlich bis in den Nordseeraum und an den [[Persischer Golf|Persischen Golf]] zu gelangen. Erst nach drei Kriegen (343–341, 327–304 und 298–290 v. Chr.) gelang es, die [[Samniten]] zu unterwerfen.<ref>Lukas Grossmann: ''Roms Samnitenkriege. Historische und historiographische Untersuchungen zu den Jahren 327 bis 290 v. Chr.'' Wellem, Düsseldorf 2009, S. 115.</ref> Mit dem Sieg über den hellenistischen König von [[Epirus (historische Region)|Epirus]], [[Pyrrhos I.]], im Jahr 275 v. Chr. begann Rom den rein italischen Rahmen zu sprengen und seine Macht weiter auszudehnen.<br />
<br />
Diese Expansion überforderte bereits in den beiden ersten [[Punische Kriege|Punischen Kriegen]], die mit einer Unterbrechung von 264 bis 201 v. Chr. andauerten, die Ressourcen der Stadt, so dass es auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen war. Weitere Kriege führte Rom gegen die hellenistischen Reiche im Osten (200 bis 146 v. Chr.), die [[Gallien|Gallier]] Oberitaliens, deren Gebiet 191 v. Chr. zur Provinz [[Gallia cisalpina]] wurde, aber auch Gebiete in Südgallien. 175 v. Chr. folgte [[Ligurien]], dann die Griechen Süditaliens sowie die [[Numider]] in Nordafrika, nachdem Karthago 146 v. Chr. zerstört worden war. Schließlich folgte die Expansion nach [[Kleinasien]] (ab 133 v. Chr.) und auf die [[Iberische Halbinsel]] (bis 19 v. Chr.). 58 bis 51 v. Chr. wurde [[Gallischer Krieg|Gallien erobert]], die Grenze bis über den Rhein vorgeschoben, schließlich folgte (allerdings erst in der frühen Kaiserzeit) [[Britannien|Britannia]].<br />
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Weder die Zentralisierung auf Rom noch der Macht- und Verwaltungsapparat waren geeignet, einen Flächenstaat dieser Größe zu steuern. Auch die Sozial- und Besitzverhältnisse brachten das Reich vielfach an den Rand des Auseinanderbrechens. Bauern- und [[Sklavenaufstände im Römischen Reich|Sklavenaufstände]] (vor allem 135, 104 und [[Spartacus|73–71]] v. Chr.) waren Folge der grundlegend veränderten Lebensbedingungen und der extremen Ungleichheit in den materiellen und rechtlichen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft. Daneben kam es zu einer Verstärkung des Einflusses [[Hellenismus|hellenistischer Kultur]], später auch der Kulturen des Nahen Ostens, die eine Veränderungen abgeneigte, konservative Senatsgruppe als Werteverfall wahrnahm.<br />
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Hinzu kam ein weiteres Problem: Der Sieg Roms war nur durch Truppen der Verbündeten möglich. Da Rom jedoch seinen Bundesgenossen die rechtliche Gleichstellung verweigerte, kam es Ende des 2. Jahrhunderts zu Unruhen und 90/89 v. Chr. zum [[Bundesgenossenkrieg (Rom)|Bundesgenossenkrieg]]. Trotz ihrer Niederlage erhielten die Gemeinden Italiens das römische Bürgerrecht, 42 v. Chr. erhielten dieses Recht auch die bis dahin ausgeschlossenen Städte der [[Po-Ebene]]. Mit dem [[Zensus (Rom)|Zensus]] von 29/28 v. Chr. wurden schließlich alle [[Italiker]] in die Bürgerlisten eingetragen.<ref>[[Dietmar Kienast]]: ''Augustus, Prinzeps und Monarch.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 480.</ref> Damit wurde Italien zu einem einheitlichen, gegenüber dem übrigen Reich bevorzugten Rechtsraum. Dieser Zustand hielt bis 212 n. Chr. an, als allen Bürgern des Reiches das [[Römisches Bürgerrecht|römische Bürgerrecht]] mit den daran hängenden Pflichten verliehen wurde. Zudem war Italien, insbesondere Rom, ein Wirtschaftsraum, auf den fast alle Provinzen ausgerichtet waren. Zugleich musste es immer weniger die Lasten der Verteidigung des Riesenreichs tragen.<br />
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Bis zur Herrschaft des [[Augustus]] litt Italien jedoch unter schweren Machtkämpfen, die mit dem Kampf zwischen [[Lucius Cornelius Sulla Felix|Sulla]] und [[Gaius Marius|Marius]] begannen, und denen soziale Auseinandersetzungen vorangegangen waren, die mit den [[Gracchische Reform|Gracchischen Reformen]] verbunden sind. Sie reichten ins frühe 5. Jahrhundert zurück, als das Amt des [[Volkstribun]]s geschaffen wurde. Diese Bürgerkriege fanden einen weiteren Höhepunkt mit den Kämpfen, aus denen zunächst [[Gaius Iulius Caesar]], dann Augustus als Sieger hervorgingen.<br />
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=== Pax Romana, Verwaltung und Wirtschaft (1. bis 2. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Meyers b9 s0067b.jpg|mini|Die von Augustus durchgesetzte Einteilung Italias in elf Regionen.]]<br />
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Die sich anschließende lange Friedensphase ([[Pax Romana]]) in Italien ließ Wirtschaft, Künste und Kultur aufblühen. Die Bevölkerungsdichte sollte erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden. Die Errungenschaften Roms im Bereich Recht, Verwaltung und Kunst haben die [[westliche Zivilisation]] zutiefst geprägt.<br />
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Die unzureichend gewordene Organisation von Verwaltung und Militär wurde von den frühen Kaisern grundlegend geändert. [[Augustus]] teilte Italien in elf [[Regio (Italien)|Regionen]] auf. Die republikanischen Institutionen wurden formal überwiegend wieder eingesetzt, doch blieben sie weitgehend von seinen Entscheidungen abhängig und veränderten ihren Charakter zu einer administrativen Tätigkeit. Allerdings behielt der Senat in Italien einige Vorrechte, wie etwa die Verfügung über die Prägung der Bronzemünzen ab 15 v. Chr., die Verfügung über die Tempel oder die Leitung des ''[[Aerarium|aerarium Saturni]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 50.</ref> Die [[Volkstribun]]en behielten ihre Rechte, wurden aber formal in Umkehrung ihrer bisherigen Stellung dem Senat unterstellt, faktisch jedoch dem Kaiser.<br />
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Während es in der Republik nur ansatzweise eine Verwaltung gab – es existierten weder Grundsätze noch Apparate oder ausgebildetes Personal –, änderte sich dies unter den Kaisern. [[Claudius]] setzte in der Verwaltung stark auf [[Freigelassene im Römischen Reich|Freigelassene]] (sie verloren ihren Einfluss unter den [[Flavier]]n), [[Domitian]] und [[Hadrian (Kaiser)|Hadrian]] eher auf vermögende Ritter ''([[Eques|equites]])'', also die Gruppe der Händler, Steuerpächter und der städtischen Mittelklasse, für die die Republik nie eine adäquate Aufgabe gefunden hatte. Schon [[Vespasian]] zog verstärkt Provinzialen hinzu, [[Trajan]] zog Männer aus dem Osten in den Senat. Insbesondere in der Finanzverwaltung kam es zu einer Professionalisierung, vor allem, als der römische ''fiscus'' die Verantwortung für die Einnahmen aus den Provinzen übernahm. Es entstand eine Art Zentralverwaltung.<br />
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Als Vermittlerinstanz fungierte vor allem ab dem 2. Jahrhundert das nicht leicht zu fassende ''consilium principis'', das informell zusammengestellt den Kaiser beriet. Hadrian zog erstmals Juristen hinzu. In der [[Spätantike]] übernahm diese Rolle das ''[[consistorium]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 56.</ref> Daneben übte der [[Prätorianerpräfekt]] großen Einfluss aus, der zunächst mit seiner [[Prätorianergarde]] für die Sicherheit des Kaisers verantwortlich war. Er erhielt bald über den Militärbereich hinausreichende richterliche Befugnisse (unter den [[Severer]]n im Umkreis von 100 römischen Meilen um Rom, also knapp 150&nbsp;km) und agierte vielfach als Feldherr. Für die Truppenversorgung verfügte er seit [[Nero]] über eine eigene Naturalienabgabe, die ''annona''. Um ihn herum entstanden schwer durchschaubare Verwaltungseinheiten. Sonderbereiche wie die Spiele oder die Bibliotheken übernahmen nur hierfür zuständige [[Prokurator]]en. In Rom führte ein ''[[praefectus urbi]]'' die städtischen [[Kohorte]]n und saß Eilgerichten vor. Der ''[[praefectus annonae]]'' war für die Lebensmittelversorgung, für die Marktaufsicht und die Schifffahrt auf dem [[Tiber]] sowie die Bäckereien zuständig. Hinzu kam ein ''[[praefectus vigilum]]'', der Feuerwachen organisierte. Die Aufgaben wurden bald zu komplex, so dass unter Trajan ''subpraefecti'' eingesetzt wurden, an die enger gefasste Aufgaben delegiert wurden.<br />
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In Italien wachten die Prätorianer über die Sicherheit. [[Tiberius]] brachte sie nach Rom, nur die Präfekten, die für die Flotten zuständig waren, blieben in [[Misenum]] und [[Ravenna]]. Städtische Magistrate sprachen Recht, es entwickelte sich ein [[Instanz (Recht)|Instanzenzug]] mit der letzten Instanz in Rom. Für den Straßenbau waren nicht mehr die [[Censor]]en zuständig, sondern ''curatores viarum''. Die oftmals chaotischen Finanzen der Städte unterlagen seit [[Nerva]] den ''curatores civitatis''. Um 120 sollte mit vier ''consulares'' die Rechtsprechung in Italien zentralisiert werden, doch setzte sich das System erst Ende des Jahrhunderts in abgeschwächter Form durch. Insgesamt gelang es, die massive Selbstbereicherung, die in republikanischer Zeit aus der Vermengung politischer, militärischer und verwaltungstechnischer Ämter und der Kurzzeitigkeit der Ämter resultiert hatte, auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden. Es dauerte bis Ende des 2. Jahrhunderts, bis sich eine relativ feste Hierarchie mit entsprechenden Gehältern entwickelt hatte.<br />
<br />
Jede Stadt verwaltete ihr Umland mit. Im Gegensatz zu den meisten Provinzstädten unterlagen die italienischen dabei nicht der Tributpflicht. ''Incolae'', einfache Bewohner oder Fremde, und ''attributi'', die abseits der Städte wohnten, hatten mindere Rechte. Die Verbindung zu den übergreifenden Einrichtungen stellten ''patroni'' her, lokale Notabeln.<br />
<br />
Die größte Entlastung für die Wirtschaft des Reiches war das Ende der [[Römische Bürgerkriege|Bürgerkriege]]. Das stellte sich für Italien jedoch ganz anders dar. Dort hatte die politisch und ökonomisch führende Gruppe sogar erheblich von der Zufuhr an [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklaven]] und den Tributen der Provinzen profitiert, vor allem die großen Landbesitzer. Auch kam die kaiserliche Unterstützung der ''[[Municipium|municipia]]'' und die ausgedehnten kaiserlichen Domänen der Vermögensbildung der führenden Schichten in den Städten zugute. Doch gerade die [[Latifundien]] hatten wiederum zu einer Verdrängung der Bauern, zu einer Entvölkerung des Landes und zur Ausweitung der Weidewirtschaft geführt, was die Verstädterung weiter förderte. Zudem sahen sich Oliven- und Weizenbauern starker Konkurrenz aus [[Gallien]], [[Hispanien]] und [[Africa]] ausgesetzt. Die seit Trajan zunehmend aus den Provinzen stammenden Kaiser förderten ihrerseits die außeritalischen Gebiete zu Lasten Italiens.<br />
<br />
Des Weiteren belastete die italische Wirtschaft, dass immer noch die meisten [[Römische Legion|Legionäre]] aus Italien stammten und Kriege, wie die Trajans, zu hohen Verlusten und zur Ansiedlung in den östlichen Provinzen führten. Bereits [[Nerva]], Trajans Vorgänger, hatte Italien einen besonderen Rang eingeräumt. Trajan verlagerte die Rekrutierungsgebiete auf die hispanischen Gebiete und versuchte damit, der Auszehrung Italiens entgegenzuwirken. Er untersagte daher die Abwanderung aus Italien, verfügte, dass Senatoren aus den Provinzen mindestens ein Drittel ihres Vermögens in Landbesitz in Italien anlegen mussten,<ref>Diesen Anteil reduzierte [[Mark Aurel]] auf ein Viertel (Sabine Panzram: ''Stadtbild und Elite'', Steiner, Stuttgart 2002, S. 67). Bei [[Plinius der Jüngere|Plinius]] (Epistulae 6,19,4) heißt es: „Occurrit; nam sumptus candidatorum, foedos illos et infames, ambitus lege restrinxit; eosdem patrimonii tertiam partem conferre iussit in ea quae solo continerentur, deforme arbitratus — et erat — honorem petituros urbem Italiamque non pro patria sed pro hospitio aut stabulo quasi peregrinantes habere.“</ref> und versorgte Bauern für das Großziehen von Kindern ''(alimenta).'' Diese Alimentarstiftung, die bis ins 3. Jahrhundert bestand, sicherte durch Zinsen und Darlehen, die Trajan Grundbesitzern gewährte, vermutlich hunderttausenden Kindern monatliche Unterstützung.<ref>Gunnar Seelentag: ''Der Kaiser als Fürsorger. Die italische Alimentarinstitution.'' In: Historia 57 (2008) 208–241.</ref> Häfen, Straßen und öffentliche Bauwerke wurden massiv gefördert, insbesondere in Rom.<br />
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Die mangelnde Versorgung der Latifundien mit Sklaven und die niedrige Produktivität der Güter führten im 2. Jahrhundert dazu, dass die großen Güter zunehmend aufgeteilt und an ''coloni'' verpachtet wurden. Für ihr Land leisteten die [[Kolonat (Recht)|Kolonen]] Abgaben in Form von Geld, Naturalien oder Arbeit. Kaiserliche Domänen gab es vor allem im Süden, doch waren die Provinzdomänen bedeutender.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 83.</ref><br />
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Insgesamt scheint es, dass die Latifundien weniger die Ursache des Reichtums als die Früchte der im Handel und in der Produktion erwirtschafteten Gewinne waren. Dabei spielten Minen und Steinbrüche eine wichtige Rolle, die aber auch eher in den Provinzen betrieben wurden und nicht etwa um [[Luna (Italien)|Luna]] bei [[Carrara]], da man in Italien einen Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft fürchtete. Im Produktionsbereich blieb Italien nur bei der Wollspinnerei führend, vor allem in der Po-Ebene, etwa in [[Altinum (Stadt)|Altinum]], und um [[Tarent]]. Glas und Keramik, Lampen und Metallwaren verloren jedoch ihre führende Rolle. Hinzu kam die scharfe Konkurrenz der ökonomisch immer selbstständiger werden Landgüter, der ''[[Villa rustica|villae]]'', gegen die die Kleinhandwerker, die den Löwenanteil der Waren produzierten, kaum ankamen. Immerhin förderten die Kaiser mit ihren Bauprojekten den Handel mit Ziegeln.<br />
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[[Datei:Colonna traiana, veduta notturna 01.JPG|mini|hochkant|Detail der [[Trajanssäule]] mit Szenen aus dem [[Daker]]krieg]]<br />
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Dabei verschwand der Tauschhandel weitgehend, Münzen zirkulierten in jedem Städtchen. Erstmals kam der Münzpolitik größte Bedeutung zu. Bronzemünzen wurden vom Senat geprägt, Gold- und Silbermünzen vom Kaiser. Im Jahr 64 kam es zu einer ersten Abwertung. Trajan konnte das Münzsystem mit [[Daker|dakischem]] Gold unterfüttern, von dem Rom angeblich 5 Millionen römische Pfund erbeutete, also mehr als 1600 Tonnen.<ref>Karl Strobel: ''Untersuchungen zu den Dakerkriegen Trajans.'' Habelt, Bonn 1984, S. 221, gibt (wie die meisten Historiker) 5 Millionen Pfund an. Karl Christ: ''Geschichte der römischen Kaiserzeit: Von Augustus bis zu Konstantin.'' 6. Auflage. Beck, München 2009, S. 300 bezweifelt diese Zahlen, die von [[Johannes Lydos]] stammen, der sich wiederum auf den Leibarzt Trajans, auf T. Statilius Kriton beruft.</ref> Doch wertete er die Kupfermünzen durch Reduzierung des Kupferanteils ab. Hadrians Friedenskurs stabilisierte das System langfristig, doch machte sich schon unter [[Mark Aurel]] eine deutliche Inflation bemerkbar, also eine zunehmende Wertminderung der Münzen. Diese erreichte in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts ihren Höchststand.<ref>[[Hans Kloft]]: ''Die Wirtschaft des Imperium Romanum.'' von Zabern, Mainz 2006, S. 116.</ref> Zudem genügte die Edelmetallgewinnung nicht mehr dem Bedarf, d. h., sie brachte die Wertrelation zwischen Gold und Silber ins Wanken.<br />
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Das Bankensystem ist nur wenig erforscht. Transaktionen von Münzen ließen sich auf dem Papier arrangieren, so dass die Schwierigkeiten und Risiken der Münz- und Barrenübermittlung gemindert wurden.<ref>[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], 25, S. 173.</ref> Der Außenhandel brachte den Randprovinzen erhebliche Einnahmen, doch den größten Umfang besaß der Handel zwischen den Provinzen.<br />
<br />
=== Italien als Provinz im Römischen Reich, Christianisierung (3. bis 5. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Roman provinces trajan 2.svg|mini|hochkant=1.4|Das Römische Reich und seine [[Römische Provinz|Provinzen]] zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Kaiser [[Trajan]] im Jahre 117]]<br />
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Die Durchsetzung des [[Christentum]]s im 4. Jahrhundert bis hin zum Status der [[Staatsreligion]], die Gründung einer zweiten Hauptstadt im Osten und die Teilung des Reichs sowie die Eingliederung Italiens als gewöhnliche Provinz, dazu die politisch-militärische Unsicherheit, die auch vor Italien nicht Halt machte, charakterisierten die sich verändernde Situation des Landes. Weder die Verfolgungen, vor allem unter [[Valerian]] und [[Diokletian]], noch die [[Heidentum|pagane]] Gegenreaktion auf die christenfreundlichere Politik seit Konstantin durch [[Julian (Kaiser)|Kaiser Julian]] konnten die Ausbreitung des Christentums verhindern. Diese, wenn auch vielfach zerklüftete, aber dennoch in wenigen Formen ins Mittelalter mündende Religion wurde mitsamt ihren Organen von zentraler Bedeutung für das [[Frühmittelalter]].<br />
<br />
Die Berechnung der Einwohnerzahl in der Antike bereitet erhebliche Probleme, so dass die Ergebnisse stark divergieren. Um 200 n. Chr. könnte das Römische Reich 46 Millionen Einwohner gehabt haben, Rom mindestens 700.000, andere Schätzungen liegen erheblich höher. So reichen sie für das 1. Jahrhundert von 54 bis zu 100 Millionen für das Reich und liegen um etwa 1,1 Millionen für Rom.<ref>Günter Stangl: ''Antike Populationen in Zahlen. Überprüfungsmöglichkeiten von demographischen Zahlenangaben in antiken Texten.'' Peter Lang, Frankfurt am Main, 2008, S. 86.</ref> Für das 3. Jahrhundert variieren die Annahmen zwischen 50 und 90 Millionen.<ref>Michael E. Jones: ''The End of Roman Britain.'' Cornell University 1998, S. 262.</ref> [[Marc Bloch]] hielt die Berechnung der Einwohnerzahl für unmöglich.<ref>Marc Bloch: ''Les invasions.'' In: Annales, VIII, 1945, S. 18.</ref> Italien hatte nach den älteren Schätzungen von [[Karl Julius Beloch]] 7 bis 8 Millionen Einwohner, hinzu kamen Sizilien mit 600.000 und Sardinien mit 500.000,<ref>Karl Julius Beloch: ''Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt.'' Duncker & Humblot, Leipzig 1886. Seine Schätzungen lagen zunächst niedriger, für Italien bei 6 Millionen, doch erhöhte er später einige Ergebnisse.</ref> doch fiel diese Zahl bis um 500 auf etwa 4 Millionen und bis 650 gar auf 2,5 Millionen.<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philos. Soc, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref><br />
<br />
[[Datei:Aurelian Walls Rome 2011 1.jpg|mini|Abschnitt der [[Aurelianische Mauer|Aurelianischen Mauer]] um Rom]]<br />
<br />
212 erhielten in der ''[[Constitutio Antoniniana]]'' alle Bürger des Reiches das römische Bürgerrecht, die bisherige Bevorzugung Italiens entfiel. In der Zeit der sogenannten [[Reichskrise des 3. Jahrhunderts|Reichskrise]], die von [[Usurpation]]en und zunehmendem Machtgewinn des Militärs geprägt war (siehe auch [[Soldatenkaiser]]), verlor Italien zunehmend seine Rolle als Kernland des Imperiums; diese Entwicklung sollte sich in der [[Spätantike]] fortsetzen. Darüber hinaus musste Rom nach 270 wieder mit [[Aurelianische Mauer|einer Stadtmauer]] militärisch gesichert werden. Zwischen 254 und 259 waren erstmals wieder germanische Stämme auf italischem Boden erschienen, so etwa die [[Alamannen]], die [[Schlacht von Mediolanum|259 bei Mailand]] und [[Schlacht am Lacus Benacus|268 am Gardasee]] zurückgeschlagen wurden.<br />
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[[Datei:AmbroseOfMilan.jpg|mini|Ambrosius von Mailand, Mosaik in [[Sant’Ambrogio (Mailand)|der Mailänder Kirche, die seinen Namen trägt]]. Es entstand möglicherweise zu seinen Lebzeiten.]]<br />
<br />
Analog zum übrigen Reich wurde die Halbinsel unter [[Diokletian]] in Provinzen aufgeteilt ([[Liste der römischen Provinzen ab Diokletian|Liste]]). Die ''[[Dioecesis]] Italiciana'' bildete einen Teil der ''Praefactura praetorio Italia'', zwei ''Vicarii'' residierten in Mailand und Rom. Die von Mailand aus verwalteten ''Regiones annonariae'' im Norden der Halbinsel dienten dem Unterhalt des kaiserlichen Haushalts, die von Rom aus verwalteten ''Regiones suburbicariae'' dienten der Versorgung Roms. Dabei waren die Inseln mit eingeschlossen. Ein politisch weit über Rom hinaus agierender ''[[Praefectus urbi]]'' verwaltete Rom, das seine Funktion als Kaiserresidenz unter [[Konstantin der Große|Konstantin]] weitgehend einbüßte.<br />
<br />
Theologische Auseinandersetzungen nach dem [[Erstes Konzil von Nicäa|Konzil von Nicaea]] (325) zwischen dem athanasischen Westkaiser [[Constans]] und dem [[Arianismus|arianerfreundlichen]] [[Constantius II.]] im Osten gaben den beiden Bischöfen der Metropolen Mailand und Rom bald ebenfalls eine Sonderstellung. Bischof [[Ambrosius von Mailand]] gewann erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik, während der römische Präfekt diesen nach und nach einbüßte, zumal viele der kaiserlichen Amtsinhaber eher zum [[Heidentum|Paganismus]] neigten. Umgekehrt mischten sich Kaiser, etwa [[Valentinian I.]], in die Bischofswahl in Rom ein. Darüber hinaus war der [[Klerus]] von Abgaben und Diensten befreit, ebenso wie vom Kriegsdienst, womit er endgültig zu einem eigenen Stand wurde.<ref>[[Reinhard Blänkner]], [[Bernhard Jussen]]: ''Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, S. 143.</ref><br />
<br />
Zwar lassen sich in Italien erste Juden ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. belegen, eine erste Synagoge entstand jedoch erst um 100 n. Chr. in [[Ostia Antica|Ostia]]. Im 1. Jahrhundert dürfte die Zahl der Gemeindemitglieder bei rund 60.000 gelegen haben, davon 30.000 bis 40.000 in Rom.<ref>Attilio Milano: ''Il ghetto di Roma. Illustrazione storiche.'' Einaudi, Turin 1987, S. 15–18.</ref> Doch um 300 kam es auf dem [[Synode von Elvira|Konzil von Elvira]] (can. 16/78) zu einem ersten Eheverbot zwischen Juden und Christen, mit dem [[Codex Theodosianus]] (III, 7,2; IX, 7,5) galt dieses Verbot im gesamten Reich bei Androhung der Todesstrafe.<ref>Michael Borgolte, Juliane Schiel, Annette Seitz, Bernd Schneidmüller (Hrsg.): ''Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft.'' Akademie, Berlin 2008, S. 446f.</ref> Außerdem wurden den Juden Kleidungsverbote auferlegt, die Sklavenhaltung verboten (damit der Zugang zum Latifundienbesitz und zur Gutsherrschaft verwehrt) und die Übernahme öffentlicher Ämter. Ab 537 mussten sie dennoch zur Finanzierung dieser Ämter beitragen.<br />
<br />
Seit der Gründung [[Konstantinopel]]s als Hauptstadt des Ostens im Jahre 326 und der faktischen Teilung in [[Weströmisches Reich|Weströmisches]] und [[Byzantinisches Reich|Oströmisches Reich]] im Jahr 395 wurde Italien zu einer immer weniger bedeutenden Provinz. Das Westreich löste sich im Verlauf der [[Völkerwanderung]] unter dem Druck von [[Germanen]] und [[Hunnen]], dem Verlust wirtschaftlich bedeutender Provinzen, der vom Kaiser schließlich nicht mehr zu kontrollierenden Armeeführung und einer räumlich wie sozial zersplitterten Gesellschaft auf.<br />
<br />
[[Datei:Prima tetrarchia Diocletianus.PNG|mini|hochkant=1.4|Römisches Reich im [[3. Jahrhundert]].]]<br />
<br />
Im November 401 standen die germanischen Westgoten [[Alarich I.|Alarichs]], die die Römer zu den Skythen zählten, ähnlich wie Alanen und Hunnen,<ref>[[Orosius]]: ''Historiarum adversum paganos'' VII, 37, 9.</ref> erstmals in Italien. Sie scheiterten jedoch vor Aquileia, dann im März 402 vor der Hauptstadt Mailand. [[Flavius Honorius|Honorius]] residierte fortan im sicheren [[Ravenna]]. Am 6. April 402 erlitten die Goten beinahe [[Schlacht bei Pollentia|eine Niederlage]], [[Stilicho]] erreichte ihren Abzug aus Italien, er schlug sie [[Schlacht bei Verona|bei Verona]] und gewann sie später als Verbündete gegen Ostrom. Erst 408, als die Rheingrenze zusammengebrochen war, drohte Alarich erneut, nach Italien zu ziehen, was er nach dem Sturz Stilichos und dessen Hinrichtung am 22. August auch tat. 410 wurde Rom [[Plünderung Roms (410)|geplündert]], doch zogen die Goten 412 nach [[Gallien]] ab.<br />
<br />
Nach Honorius’ Tod im Jahr 423 bestimmte der Ostkaiser die Politik in Italien. Den römischen Bischöfen, insbesondere [[Leo der Große|Leo I.]], gelang es, sowohl am Hof des Westens als auch dem des Ostens Ansehen zu gewinnen. Dies zeigte sich etwa bei der Invasion der Hunnen unter [[Attila]] im Jahr 452. [[Plünderung Roms (455)|455]] plünderten jedoch die [[Vandalen]] Rom und besetzten Sardinien und Sizilien. Der ''[[Magister militum]]'' [[Ricimer]] beherrschte für einige Jahre die Politik im Westen, bevor Konstantinopel [[Julius Nepos]] unterstützte, der von Dalmatien nach Italien marschierte. Dieser wiederum wurde 475 von [[Orestes (Heermeister)|Orestes]] gestürzt, der seinen Sohn [[Romulus Augustulus]] zum Kaiser erhob, der seinerseits im August 476 von [[Odoaker]] gestürzt wurde. Damit endete ''de iure'' das weströmische Kaisertum – spätestens mit der Ermordung des Julius Nepos in Dalmatien 480. Odoaker erkannte die Herrschaft des Ostkaisers formal an und versorgte seine Truppen mit Land in Italien.<br />
<br />
=== Kirchenorganisation, Bistumshierarchie und Römisches Reich ===<br />
{{Hauptartikel|Urchristentum|Christenverfolgungen im Römischen Reich}}<br />
[[Datei:Privil classe.jpg|mini|Kaiser [[Konstantin IV. (Byzanz)|Konstantin IV.]] (Mitte) erhebt Ravenna zum Erzbistum. Von links nach rechts: [[Justinian II.]], die beiden Brüder des Kaisers und er selbst, zwei Erzbischöfe von Ravenna und drei Diakone.]]<br />
<br />
Ohne die Differenzierung zwischen Amtskirche und Gemeinschaft der Gläubigen zu berücksichtigen, lässt sich auf der formalen Ebene bereits im frühen 2. Jahrhundert eine Verfestigung der Ämterstruktur und eine Ausbreitung des [[Bischof]]samts feststellen, die in der Spätantike jede Stadt erfasste. Diese Heraushebung der Stadt gegenüber dem Umland blieb in Italien, im Gegensatz zu vielen ehemaligen Provinzen des Römerreichs, durchgängig kennzeichnend. Die Grenzen zwischen den Municipia bildeten vielfach die späteren Bistumsgrenzen, wobei zuweilen auch [[Kloster|Klöster]], wie [[Nonantola]] oder [[Abtei Bobbio|Bobbio]], ihr Umland integrieren konnten.<br />
<br />
Eine zentrale Rolle spielte die Hauptstadtgemeinde, die sich auf die Apostel [[Simon Petrus|Petrus]] und [[Paulus von Tarsus|Paulus]] zurückführte, und die besonderes Ansehen genoss.<ref>Vgl. Kristina Sessa: ''The Formation of Papal Authority in Late Antique Italy. Roman Bishops and the Domestic Sphere.'' Cambridge University Press 2011.</ref> Zwischen den Bischöfen [[Damasus I.]] (366–381) und [[Leo der Große|Leo I.]] (440–461) entstand die Vorstellung von einer ''Renovatio Urbis'', der Wiederauferstehung Roms als nunmehr christliche Hauptstadt. So weist bereits [[Cyprian von Karthago]] auf die rechtliche Kontinuität hin, die auf der Kirchenebene auf den Stuhl Petri verweist. Den Anspruch zu den ältesten, auf die Apostel zurückreichenden Bischofssitzen zu zählen, erhoben allerdings auch Ravenna und Aquileia. Mitte des 3. Jahrhunderts fand in Rom eine erste überlieferte [[Konzil|Synode]] von 60 Bischöfen statt. Ende des 6. Jahrhunderts lassen sich in Mittel- und Oberitalien 53 Kirchen fassen, im städtereicheren Süden gar 197. Analog zur staatlichen Organisation entstanden zwei Kirchenprovinzen mit den Zentren Mailand und Rom. Aquileia wurde für die Gebiete bis zur [[Donau]] zuständig. Ravenna blieb zunächst Rom zugeordnet, doch unter [[Justinian I.]] nahm Bischof [[Maximianus von Ravenna]] als erster den Titel eines Erzbischofs (archiepiscopus) an und um 650 wurde Ravenna durch Kaiser [[Konstans II.]] auf einige Jahrzehnte sogar ganz der [[Jurisdiktion (Kirche)|Jurisdiktionsgewalt]] Roms entzogen.<br />
<br />
== Germanen und Ostrom ==<br />
=== Odoaker, Ostgoten und Gotenkrieg (476–568) ===<br />
[[Datei:Palace of Theodoric - Ravenna 2016 (2).jpg|mini|So genannter „Palast Theoderichs“ in [[Ravenna]]. Er wurde Sitz des oströmischen Exarchen. Ob die Ruine tatsächlich Teil des Palastes ist, ist unklar.]]<br />
<br />
Auch nach 476 bestanden in Italien zunächst [[spätantike]] Strukturen fort. Nach dem [[Untergang des Römischen Reiches|Untergang]] des [[Weströmisches Reich|weströmischen Kaisertums]] 476 wurde Italien zuerst von dem ''rex Italiae'' [[Odoaker]] regiert und war dann ab 489 bzw. 493 Kernland des Reichs der [[Ostgoten]], die unter [[Theoderich der Große|Theoderich]] im Auftrag des oströmischen Kaisers [[Zenon (Kaiser)|Zenon]] in Italien eingefallen waren. Theoderich regierte formal im Auftrag des Kaisers und trennte zivile und militärische Gewalt deutlich stärker nach ethnischen Prinzipien auf; die zivile Administration blieb in der Hand der Römer, die Goten übten derweil die Militärverwaltung aus und erhielten Land zugewiesen. Es scheint, als habe die Privilegierung der Ostgoten das Verschmelzen der römischen Aristokratie mit der gotischen Führungsgruppe be- oder gar verhindert.<ref>Dieser Fragestellung geht Marco Aimone: ''Romani e Ostrogoti fra integrazione e separazione. Il contributo dell’archeologia a un dibattito storiografico.'' In: Reti Medievali Rivista, 13, 1 (2012) 1-66 erstmals auf der Grundlage archäologischer Untersuchungen nach.</ref> Die Ostgoten waren [[Arianismus|Arianer]] und standen daher den kirchlichen Organen in Italien fern, was Theoderich in seinen letzten Jahren dazu bewog, den Bischof von Rom gefangen zu setzen oder politisch unter Verdacht Geratene, wie [[Quintus Aurelius Memmius Symmachus|Symmachus]], hinrichten zu lassen: Nachdem 519 das [[Akakianisches Schisma|Schisma]] zwischen Rom und Konstantinopel beigelegt worden war, fürchtete der alternde Gotenkönig zunehmend, er könne an die Oströmer verraten werden. Seine Tochter [[Amalasuntha]] versuchte nach dem Tod ihres Vaters (526) eine römerfreundlichere Politik, wurde jedoch ermordet, was Kaiser [[Justinian I.|Justinian]] im Jahr 535 den Anlass bot, militärisch in Italien zu intervenieren. Sizilien fiel als Erstes; die dortige Zivilverwaltung wurde direkt Konstantinopel unterstellt.<br />
<br />
[[Datei:Erster und Zweiter Gotenkrieg.png|mini|Verlauf der [[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkriege]] Justinians]]<br />
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Italien wurde zwischen 535 und 553 in blutigen Kämpfen von oströmischen Truppen unter Führung der Feldherren [[Belisar]] und [[Narses]] erobert ([[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkrieg]]). Kaiser Justinian wollte damit das Römische Reich erneuern ''([[Renovatio imperii]])'', doch führten die Kämpfe zu einer Verelendung weiter Landstriche. 554 wurde die Verwaltung Italiens neu geordnet und die meisten senatorischen Ämter wurden abgeschafft; doch blieb das Amt des Stadtpräfekten unangetastet. Italien wurde schließlich 554 formal Teil des [[Byzantinisches Reich|Oströmischen Reiches]], und 562 fielen auch die letzten gotischen Festungen. Doch kam es bereits 568 zur Invasion der [[Langobarden]] nach Italien, die große Teile des Landes eroberten. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als das [[Ende der Antike]] in Italien, dessen staatliche Einheit nun für 1300 Jahre zerbrach. Der langobardische Herrschaftsraum im Norden Italiens zerfiel bald in viele kleinere Herzogtümer (Dukate). Der von Konstantinopel kontrollierte Rest wurde unter Kaiser [[Maurikios]] um 585 in das [[Exarchat von Ravenna]] zusammengefasst. Neben dem Gebiet zwischen Rom und Ravenna blieben große Teile des Südens sowie Ligurien und die Küste Venetiens und Istriens oströmisch-byzantinisch, wobei Ligurien im 7. Jahrhundert an die Langobarden verlorenging.<br />
<br />
Unter Papst [[Gregor der Große|Gregor I.]] wurde das von Ostrom 534 besetzte [[Sardinien]] ab 599 unter Gewaltanwendung katholisiert.<ref>Gregor forderte von den lokalen Autoritäten die Zwangsbekehrung der verbliebenen Heiden in Epist. 9, 204.</ref> 710 besetzten arabische Truppen Sardinien, das zur Provinz ''Africa'' gehört hatte, doch vertrieben die Bewohner 778 die Besatzer<ref>Auguste Boullier: ''L’Île de Sardaigne. Description, histoire, statistique, mœurs, état social.'' E. Dentu, Paris, 1865, S. 78.</ref> und wehrten 821 ihren letzten Angriff ab. Auf der Insel entstanden vier [[Sardische Judikate|Judikate]], selbstständige, von Richtern geführte politische Einheiten, deren letzte, das [[Judikat Arborea]], bis 1478 Bestand hatte. Die Küstenorte wurden, wie in ganz Italien, vielfach aufgegeben.<br />
<br />
Der Gotenkrieg, der harte Fiskalismus der kaiserlichen Verwaltung sowie die Invasion der [[Langobarden]] ab 568, das Abreißen der Handelsbeziehungen und die zunehmende Unsicherheit führten zu einem drastischen Rückgang der Bevölkerung, einem weitgehenden Verschwinden der alten Senatsaristokratie, einem Schrumpfen der Städte, zur Regionalisierung von Machtballungen und einer gesteigerten Agrarisierung der Wirtschaft unter Zunahme der Subsistenzwirtschaft. Der Mittelmeerraum veränderte zudem seine Funktion als Handelsdrehscheibe, zumal die Südseite ab den 630er Jahren von muslimischen Armeen erobert wurde, die bis um 700 auch noch ''[[Africa]]'', die Kornkammer Italiens, eroberten und von dort aus begannen, die italienischen Küstenorte zu plündern.<br />
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=== Langobarden und Byzantiner (568–774) ===<br />
[[Datei:Justinien 527-565.svg|mini|links|[[Byzantinisches Reich]] um 565]]<br />
[[Datei:Exarchate of Italy - 600 AD.png|mini|Oströmische Gebiete um 600]]<br />
[[Datei:Cividale Ratchisaltar - Madonna mit Kind.jpg|mini|Der [[Ratchis]]altar im westlichen Seitenschiff des Domes von [[Cividale del Friuli|Cividale]], Ausschnitt: Madonna mit Kind, um 740]]<br />
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Die gesamte Schicht der Besitzenden wurde im Exarchat in das militärische System eingebunden, lokale Miliztruppen verstärkten die byzantinische Armee. Dabei entstand eine militärisch-politische Hierarchie von regional unterschiedlicher Selbstständigkeit. Sie band sich um Rom stärker an den dortigen Bischof, um Ravenna an den Exarchen, in Venetien an dort entstandene Familienstrukturen, [[Tribun (Venedig)|Tribunen]] und [[Doge von Venedig|Duces]], im Süden an die enger an Byzanz gebundenen Apparate. Kaiser [[Konstans II.]] zog 662 mit einer Armee von Konstantinopel nach Italien, um gegen die Langobarden und Araber zu kämpfen; er residierte bis zu seiner Ermordung 668 in Syrakus auf Sizilien, konnte aber keine nachhaltigen Erfolge erzielen.<br />
<br />
Die Langobarden unterstanden von 574 bis 584 keiner gemeinsamen Führung, doch machte die übergreifende Koordination im Kampf gegen die [[Franken (Volk)|Franken]] die Wiedereinführung eines Königtums notwendig. In Opposition zum byzantinischen [[Exarchat Ravenna]] wählten die Langobarden [[Pavia]] zur Hauptstadt, mit zentralen Funktionen ab dem frühen 7. Jahrhundert. Daneben entstanden königliche Paläste in Verona (nach 580), in Mailand und schließlich in Ravenna. Anders als im Frankenreich herrschten die Könige von Residenzen aus, insbesondere dem Palacium in Pavia, das seit [[Rothari]] eine Art Hauptstadt darstellte, und reisten nicht, wie nördlich der Alpen noch lange üblich, durch ihr Reich, weil dessen Königsmacht an seine physische Anwesenheit gebunden war ([[Reisekönigtum]]). Auch kam es, im Gegensatz zum Frankenreich, zu keiner Verschmelzung der römischen Führungsschichten mit den germanischen, da diese lange als [[Arianer]] der katholischen Bevölkerung fernstanden und Gewalttaten in der frühen Eroberungsphase viele Adelsfamilien, vor allem den senatorischen Adel, in byzantinisches Gebiet vertrieben. Um 600 machte sich allerdings der mäßigende Einfluss der Königin [[Theudelinde]] bemerkbar, der Tochter des Bayernherzogs [[Garibald I.]] Danach wechselten sich arianische und katholische Könige ab. König Rothari ließ 643 die Rechtsgewohnheiten der Langobarden [[Kodex|kodifizieren]]. Währenddessen gelang es den langobardischen [[Herzogtum Benevent|Herzögen von Benevent]] und von [[Herzogtum Spoleto|Spoleto]], ein hohes Maß an Autonomie zu wahren.<br />
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König [[Liutprand (Langobarde)|Liutprand]] (712–744) gelang die Einigung der Langobarden und er nahm den Kampf gegen Byzanz wieder auf. Dabei kam ihm zustatten, dass die Langobarden inzwischen katholisiert waren und sich daher leichter mit den herrschenden römischen Familien verbanden, um eine gemeinsame Herrenschicht zu bilden. Das Edikt König [[Aistulf]]s von 750 unterschied bereits nicht mehr nach ethnischem oder religiösem Hintergrund, sondern teilte die Bevölkerung nach ihrem Vermögen und entsprechend ihrer Ausrüstung verschiedenen militärischen Kategorien zu. 750/751 gelang ihm die Eroberung Ravennas, nachdem gut ein Jahrzehnt zuvor diese Eroberung noch gescheitert war.<br />
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Der mit Papst [[Stephan II. (Papst)|Stephan II.]] verbündete [[Pippin der Jüngere|Pippin]], seit 751 König der Franken, zog zwei Mal nach Italien und zwang Aistulf zur Anerkennung seiner Oberherrschaft und zur Abtretung des Exarchats von Ravenna, das Pippin dem Papst schenkte ([[Pippinische Schenkung]]). Er übernahm nunmehr das Patriziat über die Stadt Rom. Zwischen dem Langobardenreich und Süditalien war damit die Entstehung eines weltlichen Herrschaftsraums, des [[Papst]]es ''(Patrimonium Petri)'', zu einem vorläufigen Abschluss gekommen, da Konstantinopel aufgrund der Bedrohung durch die [[Awaren]] und [[Araber]] seit etwa 650 nur noch gelegentlich im Westen eingreifen konnte.<br />
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== Teil des Frankenreichs, „Nationalkönige“ (774–951) ==<br />
[[Datei:Italy Lothar II.svg|mini|Königreich Italien, (781–1014).]]<br />
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[[Langobardenfeldzug|Ab dem Jahr 774 eroberte]] der Sohn und Nachfolger Pippins, [[Karl der Große|Karl I.]], das Langobardenreich und krönte sich in Pavia mit der [[Eiserne Krone|Langobardenkrone]] zum „König der Franken und Langobarden“. Im Zuge der [[Karolinger|karolingischen]] Reichsteilungen wurde (Nord-)Italien wieder ein selbstständiges Königreich, zunächst unter karolingischen Königen, ab 888 unter einheimischen Königen fränkischer Herkunft wie [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Vienne]] und [[Berengar II.|Berengar von Ivrea]] („[[Nationalkönige]]“).<br />
<br />
=== Fränkische Eroberung ===<br />
Italien blieb im [[Frühmittelalter]] politisch geteilt, immer wieder kam es zu Kampfhandlungen. Die Langobarden hatten 751 Ravenna erobert und seit etwa 750 jeden Handel mit byzantinischen Untertanen verboten. Aufgrund der langobardischen Bedrohung rief der Papst die Franken zu Hilfe. König [[Pippin der Jüngere|Pippin]] eroberte Ravenna, das allerdings nun vom Papst beansprucht wurde. Mit König [[Desiderius (König)|Desiderius]] kam es zu ähnlichen Auseinandersetzungen, so dass Pippins Sohn und Nachfolger [[Karl der Große|Karl I.]] 774 die Langobardenhauptstadt [[Pavia]] angriff und das Langobardenreich eroberte. Karl übertrug die ehemals byzantinischen Gebiete an den Papst und geriet dadurch in Widerstreit zu Konstantinopel. Mit seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 durch den Papst kam es zu einem bis 812 andauernden Bruch zwischen den Kaiserreichen ([[Zweikaiserproblem]]). Der Dukat Spoleto wurde dem Frankenreich angegliedert, nicht jedoch der [[Herzogtum Benevent|Dukat Benevent]]. Der Adel nahm dort eine ähnliche Entwicklung wie unter den Franken, doch zerfiel der Dukat in die Fürstentümer Benevent und Salerno und die Grafschaft Capua.<br />
<br />
Karl teilte Italien in [[Grafschaft]]en und [[Mark (Territorium)|Marken]] ein und brachte fränkische Adlige als Herrenschicht ins Land. Er gewährte den Klöstern und Bistümern Privilegien und stattete sie mit Gutsherrschaften aus. Die langobardischen Freien wurden als [[Arimanni]] in das fränkische Heer aufgenommen. Sie erhielten vor allem in den Bistümern größeren Einfluss und standen auf gleichem Rang wie der fränkische Feudaladel. Zugleich finden sich ab 845 Hinweise, dass die langobardische Sprache verschwand.<ref>Dies zeigt ein [[Placitum]] von 845 aus Trient ([[Joseph von Hormayr]]: ''Kritisch-diplomatische Beyträge zur Geschichte Tirols im Mittelalter'', Bd. 1, Wien 1803, Nr. 2, 26. Februar 845), in dem zwischen „Longobardi“ und „Teutisci“ (solchen, die eine germanische Sprache sprechen) unterschieden wird.</ref> Dennoch ging das Bewusstsein verschiedener Abstammung nicht verloren, was sich in den Namen [[Lombardei]] für das langobardische Kerngebiet und [[Romagna]] für das römisch-byzantinische niederschlug. Dank der [[Karolingische Renaissance|Karolingischen Renaissance]] kam es zu einer zeitweiligen Zunahme von Bildung, Schriftlichkeit und Kunst unter Rückgriff auf römische Überlieferung.<br />
<br />
=== Regnum Italicum, äußere Angriffe ===<br />
Nach dem Tod [[Ludwig der Fromme|Ludwigs des Frommen]] (840) wurde das Frankenreich geteilt und das Regnum Italicum erhielt mit der Hauptstadt Pavia ein höheres Maß an [[Autonomie]]. [[Ludwig II. (Italien)|Ludwig II.]] (844–875) hielt sich mindestens einmal im Jahr auf seinen Reisen durch das Reich dort auf und berief eine Versammlung aller Großen ein. Um die Hauptstadt herum befanden sich in zwei bis drei Tagesreisen Entfernung königliche Paläste, in denen auch Urkunden ausgestellt wurden. Von Januar bis April überwinterte der Hof meist in [[Mantua]], das seit frühkarolingischer Zeit zum kleinen Kreis der Residenzstädte hinzugekommen war. Meist reiste der Hof in der Po-Ebene, nur selten in die Toskana oder gar nach [[Spoleto]]. Solche Reisen verband man mit einem Besuch Roms. Als Ludwig sich zwischen 866 und 872 durchgängig südlich von Rom aufhielt, minderte dies seine Autorität im Norden keineswegs. Hauptaufgabe des Königs war es, die gesellschaftliche Ordnung so zu erhalten, wie sie überliefert war, und vor allem Recht zu sprechen. Dies geschah durch den König oder seine [[Königsbote|missi]] vor möglichst vielen Zeugen, wobei gelegentlich auch Große für Missetaten gegen Untergebene bestraft wurden. Doch hatte jeder seine Position in der als seit jeher als bestehend aufgefassten gesellschaftlichen Hierarchie. Der Freie in der Freiheit, der Knecht in der Knechtschaft: „liber in libertate, servus iin servitute“, wie es in einer Urkunde des Klosters [[Nonantola]] aus dem Jahr 852 heißt.<ref>J. F. Böhmer: Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926), Bd. 3. Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna. Teil 1. Die Karolinger im Regnum Italiae 840-887 (888), Köln 1991 (RI I, 3 n. 99, Oktober 852).</ref> Ab Berengar I. verschwanden die von Karl dem Großen eingeführten Richter (scabini), deren Einfluss gegenüber den königlichen bzw. Paveser Richtern schon lange rückläufig war. Diese Zuspitzung auf Pavia und die dortige Rechtsausbildung sollte Italien hinsichtlich der Rolle der Rechtskundigen in der Stadtentwicklung einen völlig eigenen Verlauf geben. Im Gegensatz zu den ''scabini'' waren sie nicht von lokalen Herren abhängig, sondern vom König, doch hielten sie sich meist fern vom Hof auf. Sie wurden stärker in lokale Auseinandersetzungen einbezogen, zugleich entwickelte sich ein komplizierteres Rechtsfindungsverfahren, das nun ohne die Zeugenschaft der pauperes (der Armen) auskam. Auch befassten sich die Richter nun fast nur noch mit Auseinandersetzungen innerhalb der lokalen Eliten, nicht mehr denen innerhalb der übrigen ländlichen Welt.<ref>Cristina La Rocca: ''Italy in the Early Middle Ages. 476-1000.'' Oxford University Press, 2002, Abschnitt ''Justice: principles, personnel, and places''.</ref> Die Befreiung von jurisdiktionellen und damit königlichen Eingriffen ganzer Herrschaftsbezirke führte wiederum zu einer größeren inneren Selbstständigkeit, was ein festgelegtes Abgaben- und Leistungssystem gegenüber dem König ausgleichen sollte. Zugleich wurden die unteren Gesellschaftsgruppen von der Möglichkeit ausgeschlossen, die königliche Autorität direkt anzurufen.<br />
<br />
[[Datei:Aghlabid in 900 ad.png|mini|Emirat von Sizilien, [[9. Jahrhundert]].]]<br />
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Ludwig II. führte vor allem im Süden eine eigenständige Außenpolitik, insbesondere gegenüber den Arabern unter den [[Aghlabiden]], die seit 827 begannen, Sizilien zu erobern und sich bald in Süditalien festsetzten. Bis 902 gelang ihnen die Eroberung der Insel, das politische Zentrum verlagerte sich nun von [[Syrakus]] nach [[Palermo]]. Von 843 bis 871 bestand ein arabisches Emirat in [[Bari]], dessen Truppen jedoch von Ludwig II. besiegt wurden. Danach setzte sich Byzanz wieder in den Besitz [[Apulien]]s und erlangte sogar wieder Einfluss in Benevent. Der inzwischen selbstständige Dukat Neapel zerfiel in die Stadtherrschaften [[Neapel]], [[Amalfi]] und [[Gaeta]].<br />
<br />
Im Norden waren es ab 899 [[Magyaren|Ungarn]], die von Nordosten in Italien einfielen. Sie waren erst seit 896 auf dem Gebiet ihres heutigen Staates ansässig. Von dort zogen sie so oft nach Italien, dass der von ihnen berittene Weg bald ''strata Hungarorum'' genannt wurde. Doch kamen sie nicht nur, um zu plündern, sondern sie wurden auch in den dynastischen Auseinandersetzungen eingesetzt.<ref>[[Liutprand von Cremona]] warf dem Karolinger [[Arnulf von Kärnten]] vor, er habe, selbst von 894 bis 899 König von Italien, die Ungarn gegen seine Feinde herbeigerufen (Antapodosis I,13, ed. Joseph Becker, Hannover 1915).</ref> 922 marschierten sie bis nach Apulien, 924 setzten sie unter der Führung eines Salard und (möglicherweise) als Verbündete Berengars die Stadt Pavia und den Königspalast in Brand; dabei kam auch Bischof Johannes III. ums Leben. Erst nach schweren Niederlagen und mit ihrer Christianisierung endeten ihre Kriegszüge nach 955, die beinahe ganz Mittel- und Südeuropa erfasst hatten. In Italien gilt die Invasion der Ungarn als letzte Invasion der „Barbaren“ und damit als Abschluss der [[Völkerwanderung]].<br />
<br />
=== Feudalisierung, erste städtische Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:Lothar I.jpg|mini|Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]], [[Lothar-Evangeliar]], [[Tours]], zwischen 849 und 851 entstanden, [[Bibliothèque nationale de France]], Paris]]<br />
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Im Norden entstanden aus den fränkischen Großeinheiten die Territorialherrschaften dort mächtiger Familien ''(siehe: [[Italienischer Adel]])''. Daneben erlangten die Bistümer erhebliche regionale Macht und im Zuge des ''Incastellamento'' entstanden neue Schwerpunkte. Die fränkischen Großen wiederum brachten ihre Verbündeten aus [[Burgund]] und anderen Reichsteilen in den Kampf um die Vormacht. Um sie kämpften [[Guido von Spoleto|Wido von Spoleto]] und [[Berengar I.|Berengar I. von Friaul]], [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Arles und Vienne]] wurde von 926 bis 941 König. [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] machte schließlich [[Berengar II.|Berengar II. von Ivrea]] die Königswürde streitig.<br />
<br />
Neben den Feudalherrschaften<ref>Dazu: [[François Menant]]: ''Lombardia feudale. Studi sull’aristocrazia padana nei secoli X-XIII'', Vita e Pensiero, Mailand 1992.</ref> entstanden in der Nordhälfte erste städtische Herrschaften, wie etwa Rom, das von der Familie des Senators [[Theophylakt I. von Tusculum|Theophylakt]] beherrscht wurde, und [[Republik Venedig|Venedig]], das zwar noch formal Byzanz unterstand, jedoch unter wechselnden Dogenfamilien mit ihrem 811 eingerichteten festen Amtssitz eine eigenständige Außenpolitik führte. Im ''[[Pactum Lotharii]]'' überließ Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]] Venedig weitreichende Handelsrechte in Oberitalien, seine Nachfolger erkannten Venedigs Besitz auf Reichsgebiet an. Zugleich hatten sich die Städte der Lagune mehrerer Invasionen fränkischer, slawischer (um 846), arabischer (875) und ungarischer (899 bis 900) Armeen zu erwehren.<br />
<br />
=== Kirchenorganisation ===<br />
Die Eroberungen der Langobarden veränderten die Hierarchie auch der kirchlichen Gemeinden. So unterstellte sich die Hauptstadt Pavia Rom und löste sich von Mailand. Der Sitz des Bistums Aquileia wurde nach [[Grado (Italien)|Grado]] verlegt, das Bistum [[Altinum (Stadt)|Altinum]] wurde auf die weniger gefährdete Insel [[Torcello]] in der [[Lagune von Venedig]] verlegt.<br />
<br />
Größere Veränderungen der Bistumsgrenzen setzten erst die Karolinger im 9. Jahrhundert durch, die mit ihrer Neuordnung Strukturen schufen, die den römischen ähnlicher waren als den zuvor herrschenden langobardischen. Die fränkischen [[Graf]]en, die die [[Gastalde]]n und [[Herzog|Herzöge]] ersetzten, residierten vielfach in den Bistumsstädten, doch mussten die Bischöfe sich um herrschaftliche [[Privileg]]ien und [[Regalien]] bemühen, die ihren ''Comitatus'' sicherten. Vielfach entstand auf der Grundlage verschiedener Rechte ein bischöfliches Territorium innerhalb der Grafschaften. Zu dieser Verselbstständigung trugen die äußeren Angriffe und die relative Schwäche des [[Reichsitalien|Regnum Italicum]] erheblich bei. Die Bischöfe waren zumeist selbst Angehörige der herrschenden Familien und konnten sich durch Verleihung von Einnahmen der Kirchen, Kapellen und Taufkirchen (Pieven) eine Gefolgschaft sichern. Ihrer unmittelbaren Machtausübung standen jedoch mehrere Entwicklungen entgegen. Die karolingischen Gesetze räumten den Pieven das Recht ein, Zehnte einzuziehen, und durch die Zuordnung der ländlichen Bevölkerung erhielten sie eine Art Gebietsherrschaft – ein Spezifikum Italiens. Zudem entstanden in einigen Gebieten Klerikerdynastien aus [[Laie (Religion)|Laienfamilien]], die dem Bistum seine Rechte weitgehend entzogen. Darüber hinaus gingen aus den [[Vasall|Gefolgsleuten]] der Bischöfe neue weltliche Führungsschichten in den Städten hervor.<br />
<br />
Ab 816 kam mit den [[Institutiones Aquisgranenses|Constitutiones Aquisgranenses]] ein neues Element in die kommunale Entwicklung. Mit ihnen entstand ein [[Domkapitel]], da man forderte, dass der Klerus nach klösterlichem Vorbild gemeinschaftlich lebte. Dieser [[Klerus]] war wiederum bemüht, die Verfügungsgewalt über einen größeren Teil des bischöflichen [[Patrimonium]]s zu erhalten. Bei den [[Eigenkirche]]n, die vermögende Adelsfamilien errichteten, trat diese Erscheinung noch stärker zutage. Die [[Kathedrale|Kathedralkirche]] und ihr Patrimonium unterstanden zwar weiterhin dem Bischof, doch die Domkapitel übernahmen nun die Verwaltung der Kathedrale. Der Bischof wurde auf sein Patrimonium begrenzt.<br />
<br />
Rom ging aus den [[Theologie|theologischen]] Auseinandersetzungen mit Byzanz in Italien gestärkt hervor und galt als Garant der rechtgläubigen [[Dreifaltigkeit|Trinitätslehre]] und ihrer [[Christologie]]. Zudem gelang seit Gregor I. die [[Konversion (Religion)|Konversion]] der verbliebenen Arianer und der letzten Heiden – auf Sardinien auch gewaltsam. In Rom entstand eine Ämterhierarchie, die die notwendigen Rechte und Einnahmen sicherte. Damit wurde Rom zu einer weiteren bedeutenden Machtballung in Italien, neben dem Frankenreich und Byzanz sowie den [[Aghlabiden]] bzw. den ihnen nachfolgenden [[Kalbiten]] auf Sizilien.<br />
<br />
Im [[Byzantinischer Bilderstreit|Bilderstreit]] entzog Kaiser [[Leo III. (Byzanz)|Leo III.]] 732/33 dem Papst die Patrimonien [[Kalabrien]] (Bruttium) und Sizilien. [[Otranto]] stieg 986 zum Sitz eines [[Metropolit]]en auf, mit [[Squillace]], [[Rossano]] und [[Santa Severina]] entstanden neue Bistümer. Die südlichen Kirchen wurden organisatorisch und kulturell stark von Byzanz geprägt, was dem Gebiet einen bis heute bestehenden griechischen Charakter verlieh.<br />
<br />
== Reichsitalien (ab 951) ==<br />
[[Datei:Iron Crown.JPG|mini|links|Die [[Eiserne Krone]] der Langobarden, das Symbol der italienischen Königswürde, die 951 Adelheid in die Ehe mit Otto I. einbrachte. Das eigentliche Machtsymbol der Langobardenkönige war jedoch der Speer. Der Speer [[Odin]]s, Gugingus, gab den frühen Langobardenkönigen ihre Abkunftsbezeichnung als Gugingen (ex genere Gugingus).<ref>Frans Theuws: ''Rituals of Power: From Late Antiquity to the Early Middle Ages'', Brill, Leiden 2000, S. 22 bzw. [[Paulus Diaconus]]: ''[[Historia Langobardorum]]'' I, 14.</ref> ]]<br />
[[Datei:Otto I Manuscriptum Mediolanense c 1200.jpg|mini|Otto und Berengar mit ihren Gefolgsleuten. Der sitzende [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] empfängt als Zeichen der Unterwerfung ein abwärts gerichtetes Schwert vom zu seiner Rechten knienden König [[Berengar II.]] Ein Gefolgsmann Ottos, der zu seiner Linken steht, trägt ein Schwert mit der Spitze nach oben als Zeichen der Richtgewalt Ottos; das Schwert eines seiner Männer, der ein Kettenhemd trägt, ist abwärts gerichtet. Illustration einer Handschrift der Weltchronik [[Otto von Freising|Ottos von Freising]], um 1200 (Mailand, [[Biblioteca Ambrosiana]]). Die Protagonisten werden dabei verschieden bezeichnet: Mit knapper Amtsbezeichnung wird Otto als „Otto Theotonicorum rex“ bezeichnet, sein Kontrahent hingegen nur mit „Beringarius“.]]<br />
<br />
951 gewann [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] durch die Ehe mit Adelheid, der Witwe Hugos I., die Herrschaft über Nord- und Teile Mittelitaliens und begründete die Verbindung [[Reichsitalien]]s mit dem [[Heiliges Römisches Reich|Reich]]. Nicht Bestandteil des Langobardenreichs und auch des späteren Heiligen Römischen Reichs war hingegen [[Republik Venedig|Venedig]], das zunächst nur aus der [[Lagune von Venedig|dortigen Lagune]] bestand, aber dennoch eine einflussreiche Macht darstellte, die sich ab dem 14. Jahrhundert, vor allem aber 1405 über den Osten und die Mitte Oberitaliens ausbreitete.<br />
<br />
Unter den [[Liudolfinger|Ottonen]] wurde deren [[Ottonisch-salisches Reichskirchensystem|Reichskirchenpolitik]] in Italien fortgesetzt und die Bistümer wurden gestärkt. Damit wurde die Macht jedoch stark zersplittert, wenn auch teilweise die Wiederanbindung des grundbesitzenden Adels an das Reich gelang. Der Konflikt mit Byzanz in Süditalien konnte durch die Ehe [[Otto II. (HRR)|Ottos II.]] mit [[Theophanu (HRR)|Theophanu]] beigelegt werden, doch erlitt er 982 am [[Capo Colonna|Kap Colonna]] gegen die [[Sarazenen]] eine schwere Niederlage. Sein Sohn [[Otto III. (HRR)|Otto III.]], der ihm 983 im Amt folgte, beabsichtigte Rom, den Ort der Kaiserkrönungen, zur Hauptstadt seines Reiches zu machen. 991 machte er Gerbert von Aurillac als Papst [[Silvester II.]] zum Herrn der Reichskirche, doch starb der Kaiser bereits 1002.<br />
<br />
Zahlreiche Italienzüge folgten, um die Herrschaft in Reichsitalien zu sichern. Sie waren mit der [[Kaiserkrönung]] durch den Papst verbunden und wurden häufig als „Romfahrt“ bezeichnet. Ihr ging üblicherweise die Krönung zum König von Italien mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] der Langobarden voraus. Für die Ausstellung von Urkunden war eine „italienische“ Abteilung der Reichskanzlei verantwortlich; die politische Verantwortung übernahm der [[Erzamt|Erzkanzler für Italien]], ein Amt, das ab 965 beim Erzbischof von Köln lag.<br />
<br />
== Byzantiner (bis 1071), Araber (827–1091) ==<br />
[[Datei:MadridSkylitzesFol97raDetail.jpg|mini|Während der Belagerung Benevents (871) verhandelt Emir Soldanos (Mofareg ibn Salem) von Bari mit einem byzantinischen Gesandten, [[Madrider Bilderhandschrift des Skylitzes]], ursprünglich in den 1070er Jahren angefertigt; illustrierte Kopie von etwa 1150 bis 1175, entstanden im Umkreis des normannischen Königshofs in Palermo, Biblioteca Nacional de España in Madrid]]<br />
<br />
Süditalien blieb noch bis ins 11. Jahrhundert partiell byzantinisch bzw. langobardisch (Fürstentümer [[Herzogtum Benevent|Benevent]], [[Fürstentum Capua|Capua]], [[Fürstentum Salerno|Salerno]]). Zur Verteidigung gegen die [[Araber]], die von etwa 827 bis 1091 [[Sizilien]] oder Teile davon beherrschten und von 847 bis 871 ein Herrschaftsgebiet um [[Bari]] unterhielten, warben diese langobardischen Fürsten gegen Ende des 11. Jahrhunderts [[Normannen|normannische Söldner]] an, die danach ganz Süditalien einschließlich der Fürstentümer ihrer Auftraggeber [[Normannische Eroberung Süditaliens|eroberten]] und 1130 auf ehemals langobardischem, arabischem und byzantinischem Gebiet das [[Königreich Sizilien]] gründeten.<br />
<br />
Bereits 668 und 703 hatten muslimische Flotten [[Syrakus]] angegriffen, doch gelang es den Arabern nicht, sich dauerhaft auf der Insel festzusetzen.<ref>Grundlegend: Stefano Del Lungo: ''Bahr ʻas Shâm. La presenza musulmana nel Tirreno centrale e settentrionale nell’alto medioevo.'' Archaeopress, Oxford 2000.</ref> 827 besiegte jedoch Admiral Euphemios den byzantinischen Statthalter Siziliens, um sich seiner Verhaftung zu entziehen, und erklärte sich zum Kaiser. Er rief die seit 800 in Tunesien selbstständig gewordenen [[Aghlabiden]] zu Hilfe, die unter Führung von [[Asad ibn al-Furāt]] bei Lilybaeum ([[Marsala]]) landeten. Nach langwierigen Kämpfen fiel 831 Palermo, 841–880 war [[Tarent]] arabisch, bis 871 hielten sie sich in [[Bari]]. Es kam 846 zu einem Angriff auf Rom (was zu einer Ummauerung der [[Peterskirche]] führte) und 875 auf Venedig und [[Aquileia]]. Auf Sizilien fielen [[Cefalù]] 857, [[Enna]] 859, schließlich Syrakus 878 und [[Taormina]] 902. Etwa 880 bis 915 setzten die Araber sich in [[Agropoli]] nördlich von [[Neapel]] fest, im Jahr 900 zerstörten sie [[Reggio Calabria|Reggio]] in Kalabrien. [[Rometta]] hielt sich bis 965, Byzanz gelang es, von 965 bis 983 Taormina zu besetzen.<ref>[[Ekkehard Eickhoff]]: ''Seekrieg und Seepolitik zwischen Islam und Abendland. Das Mittelmeer unter byzantinischer und arabischer Hegemonie (650–1040).'' de Gruyter, Berlin 1966, S. 189.</ref> 849 gelang es einer päpstlich-kampanischen Flotte, eine sarazenische Flotte vor [[Ostia (Rom)|Ostia]] zu schlagen. 871 gingen Ludwig II., Byzanz und Venedig, unterstützt von Truppen Lothars II., kroatischen und dalmatinischen Hilfstruppen, in Süditalien vor und eroberten Bari zurück. Der Emir floh zu Adelchin von Benevent. Die Aghlabiden erwiderten dies mit einem Angriff von angeblich 20.000 Mann auf Kalabrien und Kampanien, doch unterlagen sie Ludwigs Truppen 873 in Capua. 876 unterstellte sich Bari Byzanz, dem 880 die Eroberung Tarents gelang. Dennoch erlahmte die Expansionskraft der süditalienisch-tunesischen Muslime erst ab 915.<br />
<br />
Die Araber betätigten sich nicht nur als Eroberer und Plünderer, vielfach in Diensten der süditalienischen Großen. Sie brachten auch neue [[Bewässerung]]stechniken und [[Kulturpflanze]]n mit. So wurden Zitronen und Orangen, Datteln, aber auch Baumwolle, Pistazien und Melonen sowie Seide zu wichtigen Produkten der Insel, deren Hauptmärkte nun im Süden lagen. [[Palermo]] löste [[Syrakus]] als größte Stadt Siziliens ab. Die Nachfolger der Aghlabiden, die [[Fatimiden]], setzten 948 [[Hassan al-Kalbi]] als Emir in Sizilien ein, der die Dynastie der [[Kalbiten]] begründete. Gegen sie unterlag Otto II. im Jahr 982 in Kalabrien. Als es um 1030 zu Streitigkeiten innerhalb der Dynastie kam, versuchte Byzanz diese Gelegenheit zur Rückeroberung zu nutzen. General [[Georgios Maniakes]] besetzte 1038 Messina und 1040 Syrakus, doch mussten die Byzantiner bereits 1043 wieder abziehen.<br />
<br />
1063 griff eine pisanische Flotte Sizilien an, doch erst den [[Normannen]] gelang es in einem zähen Kampf von 1061 bis 1091, die Insel zu erobern – 1071 fiel [[Catania]], 1072 Palermo. Sie hatten bereits zuvor die langobardischen Gebiete unterworfen und auch die Byzantiner vertrieben, deren letzte Stadt Bari 1071 fiel. Noch vor Abschluss der Eroberung wandten sich die Normannen dem Kernland von Byzanz zu, das sie ab 1081 zu erobern versuchten. Byzanz sah sich damit einem gleichzeitigen Angriff der Normannen im Westen und der türkischen [[Seldschuken]] im Osten ausgesetzt. Venedig unterstützte in dieser Situation Kaiser [[Alexios I. (Byzanz)|Alexios I.]] mit seiner Kriegsflotte und erhielt im Gegenzug Handelsprivilegien, die seine Händler ab 1082 von allen Abgaben befreiten.<br />
<br />
== Wirtschaft, Handel, Kredit und Marktquote im Hochmittelalter ==<br />
Um 1000 kam es zu einer Intensivierung des Handels und zu einer Steigerung der Produktion. Dies hing mit einer Besserung der klimatischen Bedingungen, dem Rückgang der Epidemien, wie der [[Malaria]], aber auch mit dem Abklingen der Invasionen aus dem Osten (Slawen, Ungarn) und dem Süden (Araber, Berber) zusammen. Die Bevölkerung Italiens, die wieder anstieg, wird für die Zeit um 650 auf 2,5 Millionen,<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philosophical Society, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref> für das späte 11. Jahrhundert auf 5 Millionen Einwohner geschätzt. Bis Ende des 14. Jahrhunderts lag sie bei rund 10 Millionen.<ref>''Italien.'' In: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, Sp. 732.</ref><br />
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Dieser Anstieg der Bevölkerung bewirkte oder ermöglichte eine verstärkte [[Landesausbau|Binnenkolonisation]], die ihren Höhepunkt während des 12. Jahrhunderts erlebte. Dabei löste sich das [[Villikation]]ssystem weitgehend auf, die (Wieder-)Einführung von Zitrusfrüchten, Oliven, Baumwolle<ref>Maureen Fennell Mazzaoui: ''The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages, 1100–1600'' Cambridge University Press, Cambridge 1981.</ref> und eine Seidenproduktion bei nur geringen technologischen Veränderungen führten zu einer Intensivierung des Austauschs. Vom wirtschaftlichen Vorsprung der muslimischen Reiche und des Byzantinischen Reichs profitierten zunächst Städte in Süditalien, wie [[Amalfi]], dann [[Salerno]], [[Gaeta]], [[Bari]], sowie die Städte Siziliens. Sie handelten im ganzen Mittelmeerraum mit Holz, [[Mediterraner Sklavenhandel|Sklaven]], Eisen, Kupfer, wofür sie Gewürze, Wein, Luxuswaren, Farbstoffe, [[Elfenbein]] und Kunstwerke erstanden.<br />
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[[Datei:Venezianische Kolonien.png|mini|Kolonialreich und Haupthandelswege Venedigs im östlichen Mittelmeer]]<br />
[[Datei:Genuesische Kolonien.png|mini|Kolonien Genuas]]<br />
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Im 10. Jahrhundert gelang es [[Republik Venedig|Venedig]] durch seine engen Beziehungen zu Byzanz und zu den muslimischen Reichen, nicht nur zu einer Handels-, sondern auch zu einer Seemacht aufzusteigen. [[Republik Genua|Genua]] und Pisa hingegen standen im [[Tyrrhenisches Meer|Tyrrhenischen Meer]] erheblich stärkeren Gegenkräften gegenüber, konnten jedoch binnen eines Jahrhunderts um 1100 die Oberhand gewinnen. Diesen drei bald vorherrschenden Seemächten kamen technische Innovationen, wie [[Kompass]], [[Portolan]], aber auch die Vergrößerung des Frachtraums, die verbesserte Ausbildung der Kaufmannssöhne und der staatliche Schutz von Handelskonvois zustatten. Auch dehnten sie die Handelszeiten aus und verkürzten die Winterpausen.<br />
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Die Dominanz über große Teile des Mittelmeers machte die oberitalienischen Flotten zum gegebenen Transportmittel für Pilger und Kreuzfahrer, was wiederum gewaltige Vermögen hervorbrachte. Schließlich gelang es Genuesen und Venezianern durch überwiegend unter äußeren Zwängen gewährte Privilegien, die byzantinische Konkurrenz weitgehend auszuschalten und den Handel nach [[Konstantinopel]] und tief nach Asien zu dominieren. Sowohl Genua als auch Venedig eroberten zunächst eine Kette von Stützpunkten bis weit in den Osten, die sie zu regelrechten Kolonialreichen ausbauten. Darüber hinaus unterhielten sie Kaufmannskolonien in zahlreichen Städten, die verschiedene Grade der Autonomie erhielten.<ref>Zu den italienischen Kaufleuten in Europa vgl. [[Arnold Esch (Historiker)|Arnold Esch]]: ''Viele Loyalitäten, eine Identität. Italienische Kaufmannskolonien im spätmittelalterlichen Europa.'' In: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 581–608.</ref><br />
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Diesem Handelssystem im Osten musste ein entsprechendes System im Westen und Norden entgegengestellt werden, um Waren zu akquirieren und ausreichende Absatzmärkte zu entwickeln. Dies galt zum einen für Italien selbst, dessen wachsende Bevölkerung durch eine große Zahl von Messen, durch den Ausbau lokaler Märkte mit Waren versorgt wurde, zum anderen für Westeuropa, wo sich italienische Kaufmannskolonien entwickelten. Sie saßen in den Städten der [[Provence]], [[Katalonien]]s und [[Kastilien]]s, im Rheinland, in [[Flandern]] und [[England]]. Sie bildeten analog zu den östlichen Kaufleuten die Schaltstationen für den Handel, für Informationen und sogar für die Ausbildung des Nachwuchses. Sie waren es zudem, die den Luxusbedarf der Höfe einschließlich desjenigen des Papstes deckten.<br />
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Dieser Aufstieg im Zusammenhang mit der ''kommerziellen Revolution''<ref>Erstmals bei Raymond de Roover: ''The Commercial Revolution of the Thirteenth Century.'' Diskussionsbeitrag zu N. S. B. Grass: ''Capitalism – Concept and History.'' In: Business History Review 16 (1942), S. 34–39, Nachdruck 1962.</ref> konnte neben der günstigen räumlichen Lage Italiens und den Kontakten mit ökonomisch weiter entwickelten Nachbarn auf die städtische Kontinuität aufbauen, die hier größer war als in den meisten anderen Gebieten des ehemaligen Römischen Reichs.<ref>Die Debatte hierüber fand in den 1970er bis 90er Jahren statt und teilte Historiker wie Archäologen in solche, die eher einen katastrophischen Umbruch sahen (die ''catastrofisti''), wie [[Andrea Carandini|A. Carandini]], R. Hodges, D. Whitehouse oder G. P. Brogiolo, und die Verfechter einer Kontinuität (die ''continuisti''), wie B. Ward-Perkins, C. Wickham, C. La Rocca.</ref> Die Städte waren Amtssitze von Bischöfen und Äbten, von königlichen Verwaltungsorganen, deren wirtschaftliche Grundlagen dennoch überwiegend im Ländlichen lagen, und die Städte besaßen Märkte und Messen, Häfen und Fernhandelsstraßen und profitierten vom Luxusbedarf. Zudem konnten sie sich im Norden von den Landesherren weitgehend unabhängig machen und den Landadel zwingen, in die Stadt zu ziehen. Mit diesen Entwicklungen brach in Italien die Dominanz des Agrarischen über das Städtische zusammen. Handel, Geldwesen, gewerbliches Unternehmertum unter der Ägide einer aufkommenden bürgerlichen Herrenschicht prägten das Land. Die städtische Bevölkerung dürfte sich zwischen dem 11. und dem frühen 14. Jahrhundert verfünf- oder -sechsfacht haben. Dieses Wachstum war ganz überwiegend dem Zuzug vom Lande zu verdanken, so dass sich neben die ökonomische Revolution eine ''Stadtrevolution'' gesellte. Dieser Zuzug bewirkte zum einen eine massive Vergrößerung der Städte, zum anderen die Entstehung einer Bauindustrie, die zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige wurde.<br />
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Die kommunalen Führungsgruppen bestanden aus Fernhändlern, Immobilienbesitzern und Grundbesitzern. Sie wurden gedrängt, ihr Kapital in Handelsreisen und Schiffsbau zu investieren, aber auch in staatliche Fürsorgeaufgaben, wie die Versorgung mit Getreide und Brot, deren massenhafter Umsatz einen erheblichen Anteil an der Entstehung der großen Vermögen hatte. Auch die Waren an Bord der Schiffe gehörten meist einem oder mehreren Kapitalgebern, die mit dem Schiffsführer durch einen Vertrag verbunden waren. Bald kamen zum Handel und zur Plünderung Geschäfte wie [[Bank]]- oder [[Wechsel (Wertpapier)|Wechselunternehmungen]] hinzu. Dies galt sowohl für den kleinen, lokalen Kreditmarkt als auch für die Fernhandelskredite, die in Venedig stärker staatlich, in Genua stärker privat organisiert waren. Ab dem 12. und 13. Jahrhundert schlossen sich die Händler zu Gesellschaften (compagnie) zusammen, die aus Familienverbänden hervorgingen und Filialen bildeten. In Venedig galten Brüder sogar automatisch als Angehörige ein und derselben Handelsgesellschaft.<ref>Vgl. Frederic C. Lane: ''Family Partnerships and Joint Ventures in the Venetian Republic.'' In: Journal of Economic History 4 (1944), S. 178–196.</ref><br />
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Die Techniken des Geldtransfers und der Kreditvergabe wurden ab dem 12. Jahrhundert erkennbar verbessert. So überwand man sehr viel früher als im übrigen Europa die Risiken des Münztransfers, die Hürden des Wechsels von einem Münzsystem ins andere und entwickelte zugleich durch verdeckte Zinsnahme, die ja aufgrund biblischer [[Zinsverbot|Verbote]] untersagt war, ein umfangreiches Kreditwesen auf der Basis von Wechseln. Auf [[römisches Recht]] gestützt, wurde zudem das [[Seerecht|See]]- und [[Geschichte des Handelsrechts|Handelsrecht]] ausgebaut.<br />
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Um 1250 hatte sich die kommerzielle Revolution so weit durchgesetzt, dass sie das Wesen der italienischen Metropolen dominierte. Die Mentalität der Führungsschichten setzte auf räumliche Expansion, wie etwa nach [[Russland]], [[Geschichte Chinas|China]], [[Indien]] und Afrika, aber auch [[Norwegen]] und in den Ostseeraum, in Italien selbst expandierte der Warenumsatz auf der Grundlage zunehmender Geld- und Marktvermittlung der meisten ökonomischen Transaktionen. Um dem stark angestiegenen Handelsvolumen Wege zu öffnen, dehnte man die Wasserwege, die natürlicherweise zur Verfügung standen, aus, indem man Kanäle baute und die Straßen verbesserte. Der ganz überwiegende Teil des Handels, insbesondere der mit Massengütern, wurde dabei weiterhin auf dem Wasser bewältigt.<br />
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Handel und Gewerbe bildeten in den Städten eine schwer abzugrenzende Einheit. Die [[Zunft|Handwerkerzünfte]] (arti) bezogen sich dabei meist auf den Laden (bottega) und nahmen nur selten „industrielle“ Dimensionen an. Ganz anders war die Situation im [[Bergbau]] und im [[Schiffbau]] sowie im Textilsektor. Bis zum 12. Jahrhundert waren Kalabrien und Sizilien die Zentren der Seidenproduktion, ab dem 13. Jahrhundert auch die Toskana und die Emilia, dort wiederum [[Lucca]] und [[Bologna]]. Zunächst waren die italienischen Tuchhändler vor allem im Zwischenhandel zwischen [[Herzogtum Brabant|Brabant]]-[[Grafschaft Flandern|Flandern]] und Nordfrankreich tätig, doch begannen sie in einer Art Verlagssystem eine Mischung aus Handwerksbetrieben, Lohn- und Heimarbeit zu entwickeln ''(opificio disseminato)''.<br />
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[[Datei:SilverGrossoDogeRanieroZeno1253-1268Venice.jpg|mini|Silbermünze, Venedig zwischen 1253 und 1268]]<br />
[[Datei:Venezia Ducato 1400.jpg|mini|Goldmünze, Venedig 1400]]<br />
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Die Mittlerrolle Italiens erzwang ein doppeltes Münzsystem aus Silber- und Goldmünzen, das zunächst in geringem Umfang die süditalienischen Städte in der Nachfolge der muslimischen betrieben, deren [[Tari (Münze)|Tari]] sie übernahmen. Mitte des 13. Jahrhunderts gingen Florenz und Genua, Ende des Jahrhunderts auch Venedig zu einem Doppelsystem aus Gold- und Silbermünzen über, das den Städten erhebliche Einnahmen brachte und zugleich Preismanipulationen und Verlagerungen der gesellschaftlichen Lasten ermöglichte. So installierte Florenz eine Binnenwährung und eine Währung für den Außenhandel, die stabil gehalten wurde. Dadurch konnte man die Löhne im Vergleich zu den Erträgen aus dem Außenhandel senken, ohne den sozialen Frieden im Innern zu gefährden.<ref>[[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo.'' Venedig 1961, Nachdruck 1995, S. 121.</ref><br />
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Um 1200, vor allem nach der Plünderung Konstantinopels (1204) im Verlauf des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], überstieg das Kapitalangebot den entsprechenden Markt. Dies gab dem Geldverleih und dem Bankwesen neue Möglichkeiten, wobei sich einige der Banken auf Geschäfte der [[Hochfinanz]] spezialisierten. Sie finanzierten königliche Höfe und organisierten die päpstlichen Finanzen. Auch Kriege wurden zunehmend von ihnen vorfinanziert. Das Risiko bestand allerdings darin, dass keine Mindestdeckung des ausgegebenen Kapitals bestand, und vor allem, dass es bei ausländischen Kreditnehmern kaum Möglichkeiten gab, sie zur Rückzahlung zu zwingen.<br />
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Ganz anders verlief hingegen die Entwicklung im Süden Italiens.<ref>Grundlegend zur Zweiteilung Italiens ist immer noch [[David Abulafia]]: ''The Two Italies. Economic Relations between the Norman Kingdom of Sicily and the Northern Communes.'' Cambridge University Press, Cambridge 1977.</ref> Die dortigen Städte standen im 11. Jahrhundert an der Schwelle zur kommerziellen Revolution, doch brachte die normannische Herrschaft nach der Vertreibung der Byzantiner und Berber eine ausgeprägte Feudalisierung unter Dominanz des neu erhobenen Adels. Dessen Latifundien und die fortdauernde Bindung der Bauern an die Scholle verhinderten die Entfaltung agrarischer Vielfalt, zumal der Weizen als Exportgut, das der Kriegsfinanzierung diente, immer größere Flächen in Anspruch nahm. Sowohl Normannen als auch Staufer, Anjou und die spanischen Herrscher nutzten diesen Reichtum zur Finanzierung ihrer Hofhaltung und ihrer Kämpfe untereinander und ihrer Expansionsversuche gegen Byzanz. Zugleich wurden die Kommunen einer rigorosen Steuerverwaltung und einem dem schwankenden Finanzbedarf angepassten Fiskalismus unterworfen sowie kommunale Selbstorganisation weitgehend unterdrückt. Auch spielten Handwerker- und Händlerkorporationen nur eine geringe Rolle.<br />
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Dies führte dazu, dass der italienische Norden den Süden als Rohstoffland betrachtete – etwa von Wein, Öl, Käse, Holz, Salz, Vieh, Meeresfrüchten usw. – und die von den heimischen Dynastien geschaffenen Verhältnisse vertiefte. Die Kaufleute aus Genua, Florenz, Pisa und Venedig ließen sich im 12. Jahrhundert in großer Zahl in den Hafenstädten nieder. Nach dem Ende der Staufer (1268) dominierten die Florentiner vor allem das Reich der Anjou, die Pisaner das aragonesische Sizilien. Zu ihnen kamen im 14. Jahrhundert katalanische Kaufleute, die gleichfalls dazu beitrugen, dass das Kapital abfloss und kaum im Land investiert wurde.<br />
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Alle Bemühungen der Staufer, etwa Bergbau, Zuckerproduktion, Handwerk und Gewerbe zu fördern, der Anjou das Straßennetz auszubauen, und selbst die Einrichtung neuer Messen und Märkte brachten angesichts dieser Grundkonstellation kaum Verbesserungen. Allerdings kamen diese staatlichen Lenkungsversuche den Hafenstädten zugute, da sie stark vom Export profitierten. Neapel wurde als Hauptstadt wieder wichtig für den Schiffbau und als Zentrum für Luxusgüter. Nach der Vereinigung Neapels mit Sizilien (1442) intensivierte sich der Handel mit den Spaniern ungemein, jedoch erhielt Süditalien auch hier eher die Rolle des Rohstofflieferanten. Dabei nahm die Seidenraupenzucht in Kalabrien einen Aufschwung, es wurden [[Merinoschaf]]e eingeführt, [[Thunfisch]] und [[Korallen]] wurden verstärkt ausgeführt.<br />
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== Reformversuche der Kirche und Gesellschaft ==<br />
Im Norden war die zunehmende Verstädterung von Machtkämpfen der landsässigen ''Capitane'' und der eher an die Städte angelehnten ''Valvassoren'', die Inhaber von Lehen waren und Reichsrechte genossen, begleitet. Zugleich kämpften Stadtherren und Einwohnergemeinden um die Vorherrschaft. Die Mailänder [[Pataria]] von 1057<ref>Grundlegend: [[Hagen Keller]]: ''Pataria und Stadtverfassung.'' In: Josefl Fleckenstein (Hrsg.): ''Investiturstreit und Reichsverfassung.'' Thorbecke, Sigmaringen 1973, S. 321–350.</ref> bewirkte zugleich, dass sich das [[Reformpapsttum]], das, ähnlich wie die Aufständischen, die Bekämpfung der [[Simonie]] und des [[Nikolaitismus]] betrieb, in Konflikt mit der kaiserlichen Herrschaft geriet. Dies hing vor allem damit zusammen, dass Papst [[Gregor VII.]] das Recht der Einsetzung des Mailänder Bischofs beanspruchte, schließlich ab 1075 die aller Bischöfe. Bereits 1024 zerstörten die ''Cives'' Pavias die Königspfalz und beendeten damit deren Rolle als königliche Residenz.<ref>Piero Majocchi: ''Pavia città regia. Storia e memoria di una capitale altomedievale.'' Viella, 2008, S. 91f.</ref> Ab den 1080er Jahren sind Konsulatsverfassungen in den Städten fassbar, ab 1093 formelle Bündnisse zwischen Städten.<br />
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[[Datei:Urkunde Wormser Konkordat-bg.png|mini|Urkunde Heinrichs V. von 1122 (s. [[Wormser Konkordat]]), in der er auf die Investitur der Bischöfe mit ''Ring und Stab'' verzichtet.]]<br />
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Im Italien des 11. Jahrhunderts verbanden sich Reformbestrebungen der Kirche<ref>Zu kirchlichen Reformbestrebungen und der Veränderung der Gesellschaft vgl. John Howe: ''Church Reform and Social Change in Eleventh-Century Italy.'' University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1997.</ref> mit Bestrebungen, die Abhängigkeit vom transalpinen Königtum zu mindern. Vor allem in den nördlichen Bistümern hatte das [[Reichskirchensystem]] eine starke Abhängigkeit der Kirchen geschaffen, die sich auch darin zeigte, dass dort vor allem bayerische Bischöfe residierten, wie etwa in Aquileia, in der [[Mark Verona]]<ref>Für das Bistum Verona untersuchte dies Maureen Catherine Miller: ''The Formation of a Medieval Church. Ecclesiastical Change in Verona, 950-1150.'' Cornell University Press, Ithaca, 1993.</ref> und in Ravenna. In anderen Städten entstammten die Bischöfe vielfach der Gruppe der feudalen italienischen Capitane, ab dem 12. Jahrhundert auch der Valvassoren. Die Bischöfe erhielten sich zwar eine gewisse Selbstständigkeit, doch wurden sie zunehmend in das grundherrschaftlich organisierte Herrschaftssystem des Reichs eingebunden. Gegen die Unterwerfung der Bischofswahlen unter den Willen eines königlichen Laien regte sich zunehmend Widerstand. Der Aufstand der Pataria von 1057, der vor allem der moralischen Wiederherstellung der Kirche galt, wirkte auch nach seiner Niederschlagung fort. 1067 bestätigten die [[Päpstlicher Legat|Kardinallegaten]] in Mailand dem Bischof die aus seinem Amt heraus ausgeübte geistliche Gewalt über den gesamten Klerus, die Gemeinschaft der Gläubigen und insbesondere über die Taufkirchen, ganz gleich, ob die daran hängenden Benefizien Laien oder Klerikern zustanden. 1075 untersagte Papst Gregor VII. explizit die Einsetzung von Geistlichen durch Laien in ihre Ämter. Darüber kam es bis zum [[Wormser Konkordat]] (1122) zu einer ersten Streitphase mit den deutschen Herrschern.<br />
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[[Datei:Pedro Berruguete - St Dominic and the Albigenses - WGA02083.jpg|mini|Der heilige [[Dominikus]] und die [[Albigenser]] in [[Albi]] (1207) – katholische und katharische Schriften werden ins Feuer geworfen, doch nur letztere verbrennen – [[Pedro Berruguete]] um 1495.<ref>[http://www.wga.hu/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html St Dominic and the Albigenses] in der [http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html WEB Gallery of Art]</ref> ]]<br />
<br />
Die spirituelle<ref>Zur Geschichte der Spiritualität in Italien vgl. Pietro Zovatto (Hrsg.): ''Storia della spiritualità italiana.'' Città Nuova, Rom 2002.</ref> und die soziale Dimension der Reformbewegung darf bei den dahinterliegenden ökonomischen und Machtinteressen nicht unterschätzt werden. Um 1034 erschienen mit den Häretikern von Monforte im Piemont erstmals [[Häresie|heterodoxe]] Bewegungen, Gruppen, deren Lehre die Kirchenleitung nicht mit ihren Dogmen für vereinbar hielt. Neben der bereits genannten Pataria (1057) sind hier vor allem [[Arnold von Brescia]]<ref>Zur Rezeption vgl. Romedio Schmitz-Esser: ''Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute.'' LIT Verlag, Münster 2007.</ref> (1155 hingerichtet), die [[Katharer]], die [[Humiliaten]], die italienischen [[Waldenser]] oder die [[Passagini]] zu erwähnen, aber auch [[Ugo Speroni]] († nach 1198), der sich gegen Hierarchie, Priestertum und Sakramente wandte.<br />
<br />
Vielfach am Rande des akzeptierten Spektrums agierten zunächst reformbegeisterte Einsiedler, wie [[Petrus Damiani]], der das Leben des Klerus in Gemeinschaften stärken wollte. Überall entstanden von Klerikern und Laien initiierte [[Kanoniker]]stifte. Im klösterlichen Sektor entstanden die [[Virginianer]], der Orden von Pulsano, die [[Wilhelmiten]], die [[Kartäuser]], die [[Zisterzienser]] sowie die Floriazenser durch [[Joachim von Fiore]]. Gegen die Vielfalt der der Welt zugeneigten Bewegungen entstand wiederum eine Bewegung, die sich von der Welt abwandte, Kontemplation und Buße übte und damit benediktinische Traditionen wieder stärker belebte. So entstanden die Kongregationen der [[Coelestiner]] und der [[Silvestriner]].<br />
<br />
Laienbewegungen, wie die [[Halleluja-Bewegung]] waren von ähnlich großem Einfluss; einige von ihnen betätigten sich antihäretisch. Im 13. Jahrhundert kam die [[Flagellanten]]bewegung auf, welcher der dritte Orden der Franziskaner lange zuneigte. Schließlich kamen Franziskaner und [[Dominikaner]], später auch [[Karmeliter]], [[Augustinereremiten]], [[Serviten]] und [[Sackbrüder]] hinzu. Vor allem die beiden Ersteren setzte der Papst in seinem propagandistischen Kampf gegen den Kaiser ein.<br />
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[[Datei:Hanging and burning of Girolamo Savonarola in Florence.jpg|mini|Die Hinrichtung Savonarolas auf der Piazza della Signoria in Florenz]]<br />
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Im 14. und 15. Jahrhundert wandten sich zahlreiche Kongregationen karitativen Aufgaben zu, wie es schon früher [[Beginen und Begarden]] getan hatten. So entstand ein überaus dichtes Netz von Hospitälern und Bruderschaften, wobei viele Institutionen in kommunaler Hand waren oder von den Städten ins Leben gerufen wurden. Dass die Vertreter dieser Bewegungen sich damit jedoch keineswegs zufriedengaben, zeigen Männer und Frauen wie [[Bernhardin von Siena]], [[Katharina von Genua]] oder [[Franziska von Rom]], die der Mystik neue Impulse gaben, vor allem aber [[Girolamo Savonarola]], der zur Durchsetzung seiner Ideen 1494 bis 1498 die politische Macht in Florenz an sich riss.<br />
<br />
Dabei blieb Italien von Hexenverfolgungen weitgehend verschont.<ref>Dies und das Folgende nach Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 44f.</ref> Zwar gab es sie in den Alpentälern (die schwersten Verfolgungen fanden in [[Valcamonica]] von 1518 bis 1521<ref>Massimo Prevideprato: ''Tu hai renegà la fede – Stregheria ed inquisizione in Valcamonica e nelle Prealpi lombarde dal XV al XVIII secolo.'' Vannini, Brescia 1992.</ref> und bis mindestens 1525 in [[Como]] statt), doch [[Andrea Alciati]] (1492–1550), führender Kommentator des [[Codex Iuris Civilis]], verfasste aus Anlass der dortigen Verfolgungen Gutachten, in denen er in kaum zu überbietender Schärfe von „nova holocausta“ sprach. Er warf der [[Inquisition]] vor, sie schaffe das Phänomen der Hexerei erst, statt es, wie sie behauptete, zu bekämpfen.<ref>Wolfgang Behringer: ''Witches and Witch-Hunts. A Global History.'' Polity Press, Cambridge 2004, S. 167.</ref> Schon 1505 war der Franziskaner Samuel de Cassini aus Mailand gegen die Verfolgungen aufgetreten, dennoch kamen sie vereinzelt bis nach 1700 vor.<ref>Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 61.</ref><br />
<br />
Die [[Inquisition]] war von Rom in den Auseinandersetzungen mit den zahlreichen sozialen und religiösen Bewegungen gegründet worden und stützte sich vor allem auf die Dominikaner. Die Waldenser, die „Armen von Lyon“, wurden 1184 in dem von Papst [[Lucius III.]] verfassten Edikt ''Ad Abolendam'' als [[Häresie|Häretiker]] aufgeführt. Eine erneute Verurteilung folgte 1215 unter Papst [[Innozenz III.]] 1252 wurden die Waldenser in der von Papst [[Innozenz IV.]] verfassten [[Päpstliche Bulle|Bulle]] ''[[Ad Extirpanda]]'' erneut nebst anderen Gruppen verurteilt. Ab den 1230/1240er Jahren gingen die Verfolgungen von der Inquisition aus. Während die Inquisition das waldensische Bekenntnis in Kalabrien und in der Provence ausrottete, überlebte es in einigen Tälern der [[Cottische Alpen|Cottischen Alpen]].<br />
<br />
== Papst, Normannen, Staufer (bis 1268) ==<br />
Im hohen und späten Mittelalter waren weite Teile Mittelitaliens von der [[Römisch-katholische Kirche|römisch-katholischen Kirche]] dominiert und, ebenso wie Oberitalien, unmittelbar von den Machtkämpfen zwischen Kaiser und [[Papst]] (beginnend mit dem [[Investiturstreit]] und endend im 14. Jahrhundert) sowie von den Kämpfen zwischen den Kommunen betroffen. Letztere ordneten sich meist als [[Ghibellinen und Guelfen]] den streitenden Hauptparteien zu. Daneben bestanden auch innerhalb der Kommunen oft starke Spannungen.<br />
<br />
Dabei spielte das Ende der arabischen und der byzantinischen Herrschaft im Süden eine erhebliche Rolle. 1038 und 1040 gelang Byzanz zwar die Rückeroberung von [[Messina]] und [[Syrakus]], doch nun führten Auseinandersetzungen bei Hof und das Ausgreifen der als Söldner ins Land geholten Normannen zum Zusammenbruch sowohl der byzantinischen als auch der arabischen Herrschaft.<br />
<br />
[[Heinrich II. (HRR)|Heinrich II.]] griff 1021 im Süden ein; ihm unterwarfen sich die süditalienischen Fürsten und er belagerte das byzantinische [[Troia (Apulien)|Troia]] in Apulien. Das Papsttum, das bis 1012 von den [[Crescentier]]n abhängig war, hing nun von den [[Tuskulaner]]n ab. Sein Sohn und Nachfolger traf jedoch mehrere langfristig wesentlich folgenreichere Entscheidungen: Mit der Einsetzung Suidgers von Bamberg als Papst [[Clemens II.]] schuf [[Heinrich III. (HRR)|Heinrich III.]] 1046 die Voraussetzungen für das Reformpapsttum. Er belehnte darüber hinaus 1047 den Normannen [[Rainulf II.]] mit der Grafschaft [[Aversa]] und Drogo von Hauteville mit seinem apulischen Landbesitz, der auf byzantinischem Gebiet lag. Damit traten erstmals Normannenführer in eine Lehnsbindung zum Reich. Der Papst belehnte seinerseits 1059 [[Robert Guiskard]] mit Apulien, Kalabrien und dem noch zu erobernden Sizilien. Unter seiner Führung eroberten dann die Normannen in einer Art Kreuzzug<ref>Diese Einreihung als frühester Kreuzzug bietet Paul E. Chevedden: ''“A Crusade from the First”: The Norman Conquest of Islamic Sicily, 1060–1091.'' In: Al-Masaq: Islam and the Medieval Mediterranean 22 (2010), S. 191–225.</ref> von 1061 bis 1091 Sizilien<br />
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[[Datei:Italy 1050.jpg|mini|Italien um 1050]]<br />
<br />
Ein weiterer wichtiger Faktor war die Durchsetzung des [[Lehnswesen|Lehnsrechts]] in Oberitalien, bei der sich der Kaiser zugunsten der [[Valvassor]]en einsetzte ([[Constitutio de feudis]], 1037), um damit der Macht der Großen, die sich im von den Kaisern nur selten aufgesuchten Italien verselbständigt hatten, ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Um die Macht der [[Große]]n weiter einzuschränken, stattete er mehrere Städte mit Privilegien aus. Dementsprechend wurde einer der mächtigsten Capitane, [[Gottfried III. (Niederlothringen)|Gottfried der Bärtige von Tuszien]], zum Protektor der Reformpäpste. Dies war umso wichtiger, als die Normannen unzuverlässige Verbündete waren; so marschierten sie 1066 in das [[Patrimonium Petri]], und trotz des [[Anathema|Kirchenbanns]] gegen ihn besetzte [[Robert Guiskard]] das Fürstentum Salerno (1076), die letzte langobardische Herrschaft. Diese für Papst [[Gregor VII.]] äußerst bedrohliche Situation dürfte sein vergleichsweise mildes Verhalten gegenüber [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] bei seinem [[Gang nach Canossa|Bußgang nach Canossa]] mit bedingt haben.<br />
<br />
Der Papst erkannte 1080 alle Eroberungen der Normannen an und löste Robert Guiskard vom Bann. Robert trat nun massiv gegen [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] auf und befreite den Papst aus der Gefangenschaft. Zudem sorgten die Normannen für eine langsame Rekatholisierung – in [[Santa Severina]] wurde der orthodoxe Ritus bis ins 13. Jahrhundert beibehalten – der einst byzantinischen Bistümer und die Gründung neuer Episkopate. [[Gallipoli (Apulien)|Gallipoli]] behielt den byzantinischen Ritus bis 1513, [[Bova (Kalabrien)|Bova]] sogar bis 1573 bei (dort besteht bis heute ein griechisch geprägter Dialekt). Auf Sizilien wurden die von den Muslimen aufgehobenen Bistümer wieder eingerichtet. Darüber hinaus traf Robert Vorbereitungen, das durch die Eroberungen der [[Seldschuken]] geschwächte Byzanz zu erobern. Damit wiederum machte er sich Venedig zum Feind, das die Festsetzung einer Macht auf beiden Seiten der Adria im Interesse der Freiheit seiner Handelswege nicht mehr duldete.<br />
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[[Datei:Hugo-v-cluny heinrich-iv mathilde-v-tuszien cod-vat-lat-4922 1115ad.jpg|mini|Mathilde von Tuszien und Hugo von Cluny als Fürsprecher [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrichs IV.]], Vita Mathildis des Donizio, um 1115. Vatikanstadt, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Ms. Vat. lat. 4922, f. 49<sup>v</sup>)]]<br />
<br />
Die Staufer erhoben nun Anspruch auf die [[Mathildische Güter|Mathildischen Güter]] und umwarben dabei auch Mailand, das damit begonnen hatte, sich mit der Unterwerfung von [[Lodi (Lombardei)|Lodi]] (1111) und [[Como]] (1127) ein eigenes Territorium zu schaffen.<br />
<br />
Das [[Schisma]] von 1130 – in Rom bekämpften sich die Familien der [[Pierleoni]] und der [[Frangipani (Adelsgeschlecht)|Frangipani]] –, das erst 1139 durch das [[Zweites Laterankonzil|Zweite Laterankonzil]] beendet wurde, schwächte hingegen die päpstliche Seite, die sich nun gezwungen sah, den Normannen zahlreiche Rechte einzuräumen. [[Lothar III. (HRR)|Lothar III.]] suchte auf Ersuchen von Aufständischen den seit 1130 zum König gekrönten [[Roger II. (Sizilien)|Roger II.]] 1136 bis 1137 zu bekämpfen. Roger war in der Schlacht von Nocera (24. Juli 1132) gegen die Aufständischen unter Rainulf von Alife unterlegen. Lothar zog nun Mailand auf seine Seite. Dadurch wurden die Feinde Mailands, allen voran Pavia und [[Cremona]], beinahe automatisch seine Gegner. Pisa, Venedig und Genua unterstützten wiederum Lothar bei der Eroberung [[Bari]]s. Doch das Heer weigerte sich, Roger nach Sizilien zu verfolgen, so dass es diesem bis 1138 gelang, nicht nur Papst [[Innozenz II.]] gefangen zu setzen, sondern auch alle Rechte im Süden Italiens zurückzugewinnen, nachdem 1139 Rogers Hauptgegner Rainulf gestorben war. 1143/44 geriet der Papst zudem durch einen Aufstand in Rom unter [[Arnold von Brescia]] in Bedrängnis.<br />
<br />
[[Konrad III. (HRR)|Konrad III.]] verhandelte nun mit dem byzantinischen Kaiser [[Manuel I. (Byzanz)|Manuel I.]] wegen eines Bündnisses gegen die Normannen, die Byzanz angegriffen hatten. 1148 beschlossen sie einen gemeinsamen Kriegszug, der zur Aufteilung des Normannenreiches führen sollte. Roger verbündete sich mit dem französischen König und mit den [[Welfen]]. Nach dem Tod des Kaisers verfolgte sein Nachfolger [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich I.]] zwar eine ähnliche Politik, doch duldete er keine byzantinische Beteiligung. Auch zog er [[Welf VI.]] auf seine Seite, indem er ihn mit riesigen Ländereien belehnte. 1154 starb Roger II.<br />
<br />
[[Datei:Arrivo aragonesi.jpg|mini|Die Flotte [[Peter III. (Aragón)|Peters III. von Aragón]] – der König ist durch die Krone kenntlich gemacht – landet in Trapani auf Sizilien, Biblioteca Vaticana. Die Insel bleibt bis 1861 in spanischer Hand.]]<br />
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Das Normannenreich stellte inzwischen eine bedeutende mittelmeerische Macht dar (1146 eroberte es Tunis), zumal ihm nun erhebliche wirtschaftliche Mittel zur Verfügung standen. 1155 und 1156 gelang ihm der Ausgleich mit dem Papst sowie mit Genua und Venedig. Es versuchte jedoch vergeblich, das Byzantinische Reich zu erobern, und unternahm 1185 unter [[Wilhelm II. (Sizilien)|Wilhelm II.]] einen letzten Versuch, der jedoch gleichfalls scheiterte. Die [[Kreuzzüge]] hatten nicht nur zu maßlosen Plünderungen, sondern auch zu einer Verdichtung der Handelsbeziehungen insbesondere der süditalienischen, später auch der norditalienischen mit dem gesamten Mittelmeerraum geführt. Das Normannenreich kämpfte in Italien in wechselnden Koalitionen gegen kaiserliche und päpstliche Ansprüche, konnte aber durch seinen langfristigen Wechsel auf die Seite des Papstes ab 1155 in die Rolle des Beschützers gegen die Machtansprüche der römisch-deutschen Kaiser hineinwachsen, bis es 1190 per Erbfolge an die [[Staufer]] fiel. Diese erhielten 1194 das Normannenreich. [[Palermo]] war Hauptstadt und Residenz Kaiser [[Friedrich II. (HRR)|Friedrichs II.]], der im Süden aufgewachsen war.<br />
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Süditalien war trotz der dynastischen Verbindung in der Stauferzeit formal nie Teil des Heiligen Römischen Reichs und stellte zudem ein päpstliches Lehen dar. Die Päpste fürchteten, die Staufer würden den Kirchenstaat „umklammern“, und kämpften gegen deren Dominanz. Im Streit zwischen Friedrich II. und den Päpsten, den seine Nachfolger fortsetzten, unterlagen die beiden letzten Staufer 1266 und 1268 gegen [[Karl I. (Neapel)|Karl I. von Anjou]]. 1282 brachte ein Volksaufstand zunächst Sizilien ([[Sizilianische Vesper]]), dann ein Erbgang 1442 das festländische Süditalien an [[Krone Aragonien|Aragón]] (das ab 1492 ein Teil [[Spanien]]s wurde).<br />
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== Kommunen, Signorien, Reichspolitik (11. bis 15. Jahrhundert) ==<br />
=== Kommunale Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:20110724 Milan Cathedral 5260.jpg|mini|Der [[Mailänder Dom]]]]<br />
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In Norditalien emanzipierten sich die Städte ab dem Ende des 11. Jahrhunderts von der kaiserlichen Oberherrschaft und dehnten allmählich ihre Herrschaft über das Umland aus, indem sie die kleinen [[Valvassor]]en ihrer eigenen städtischen Lehensherrschaft unterwarfen. Typisch war bald die „republikanisch“ orientierte Konsularverfassung, die ab etwa 1080 greifbar ist. Der sich ab 1164 formierende [[Lombardenbund]] besiegte den römisch-deutschen Kaiser [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich Barbarossa]], der die Städte stärker der kaiserlichen Kontrolle unterwerfen wollte,<ref>[[Ferdinand Opll]]: ''Ytalica Expeditio. Die Italienzüge und die Bedeutung Oberitaliens für das Reich zur Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas (1152–1190).'' In: Hubert Houben (Hrsg.): ''Deutschland und Italien zur Stauferzeit'', Göppingen 2002, S. 93–135.</ref> 1176 in der Schlacht bei [[Legnano]]. Mit dem Ende der Staufer wurden die Städte faktisch unabhängig (wenn sie auch, sofern sie sich in Reichsitalien befanden, weiterhin formal die kaiserliche Oberherrschaft akzeptierten) und usurpierten kaiserliche Rechte ([[Regalien]]).<br />
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Unter den Kommunen, die im Süden der sehr viel stärker zentralisierenden Macht der Normannen und ab 1268 der Anjou gegenüberstanden, konnten nur die im Norden einen Status weitgehender Selbstständigkeit erreichen. Der [[Republik Venedig]], die als einzige auch formal vom Reich unabhängig war, gelang es im 9. und 10. Jahrhundert auch von Byzanz weitgehend unabhängig zu werden. 992 und 1082 erhielten ihre Händler Handelsprivilegien, die trotz schwerer Rückschläge dazu führten, dass sie den Handel im östlichen Mittelmeer dominierten. Zwar machte ihnen darin Pisa Konkurrenz, doch verdrängte Venedig diese Konkurrenz zwischen 1099 und 1126 weitgehend, als sich der byzantinische Kaiser gezwungen sah, sein Vorhaben aufzugeben, Pisa gegen Venedig auszuspielen. Nachdem sein Nachfolger 1171 alle Venezianer hatte verhaften lassen, bediente sich Venedig des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], um Konstantinopel zu erobern. Von 1204 bis 1261 steuerte die Stadt das [[Lateinisches Kaiserreich|Lateinische Kaiserreich]], nach dessen Untergang Genua die Handelsströme kontrollierte. Infolgedessen unterstützte Venedig die Rückeroberungspläne der Staufer und Anjou und lieferte sich vier umfassende Kriege mit Genua, die erst 1381 endeten. Das Konkurrenzverhältnis blieb jedoch bestehen.<br />
<br />
Mailand wurde 1162 von Friedrich Barbarossa unterworfen und zerstört, erholte sich aber rasch. Doch entstand zunächst unter der Führung Cremonas der Lombardenbund sowie der unter Venedigs Einfluss entstandene [[Veroneserbund]]. Sie standen im Bund mit den Normannen, dem Papst und dem byzantinischen Kaiser, gegen dessen Annexionspläne sich Friedrich gewandt hatte, so dass die römisch-deutsche Herrschaft zusammenbrach. Nach der [[Schlacht von Legnano]] (1176) und den Friedensschlüssen von Venedig (1177) und [[Friede von Konstanz|Konstanz]] (1183) konnten zwar viele Reichsrechte wiederhergestellt werden, doch die Unabhängigkeit der Kommunen war nicht mehr grundsätzlich gefährdet.<br />
<br />
Andererseits führte die Heirat [[Heinrich VI. (HRR)|Heinrichs VI.]] mit [[Konstanze von Sizilien|Konstanze]], der Erbin des Normannenreiches, 1194 dazu, dass das Römisch-deutsche mit dem Normannenreich vereinigt wurde. [[Friedrich II. (HRR)|Friedrich II.]] musste jedoch, um sich gegen die Welfen durchsetzen zu können, den Kirchenstaat in der [[Goldbulle von Eger]] (1213) im von [[Innozenz III.]] geschaffenen Umfang anerkennen. Andererseits setzte er im Süden ein zentralistisches Regiment durch, das in Anknüpfung an normannische Traditionen kommunalen Freiheiten nur wenig Raum ließ. Auch brach er den Widerstand des regionalen Adels und überzog das Land mit einem Netz von Burgen; zugleich monopolisierte er große Teile des Handels.<br />
<br />
=== Staufer und Anjou ===<br />
[[Datei:Cortenuova1237.JPG|mini|Der ''Carroccio'' des [[Lombardenbund]]s, ein von Ochsen gezogener Triumphwagen, der den Truppen [[Friedrich II. (HRR)|Kaiser Friedrichs II.]] in der [[Schlacht von Cortenuova]] in die Hände fiel, 14. Jahrhundert]]<br />
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Gegen diese für die Kommunen bedrohliche Macht entstand 1226 ein neuer Lombardenbund. Zugleich kam es zwischen Staufern und Päpsten zu heftigen Konflikten, die 1227 zum Bann gegen Friedrich und daraufhin zum offenen Krieg führten. Dabei unterstützte der Lombardenbund den Papst, zahlreiche andere Städte, wie etwa Cremona oder Pisa, unterstützten hingegen den Kaiser, vielfach, weil sie sich nur so des Expansionsdrucks ihrer Nachbarn erwehren konnten. Friedrich siegte zwar 1237 bei [[Schlacht von Cortenuova|Cortenuova]], doch seine Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung Mailands führte dazu, dass der Krieg fortgesetzt wurde. Nun verbanden sich auch Genua und Venedig offen gegen den Kaiser, zumal es ihm 1238 nicht gelungen war, [[Brescia]] zu erobern.<br />
<br />
Nach dem Tod Friedrichs (1250) versuchten seine Anhänger in Italien zunächst immer noch, die Reichsrechte durchzusetzen, doch [[Karl I. (Neapel)|Karl von Anjou]], der vom Papst gekrönte König Siziliens, beendete die Macht der Staufer in zwei Schlachten ([[Schlacht bei Benevent|Benevent]] und [[Schlacht bei Tagliacozzo|Tagliacozzo]], 1266 und 1268). Karl nahm die normannischen Eroberungspläne gegen Byzanz wieder auf und fand dabei die Unterstützung Venedigs, da Konstantinopel 1261 wieder Hauptstadt von Byzanz war und der dortige Kaiser den Venezianern den Zutritt verwehrte. Es gelang Kaiser [[Michael VIII.|Michael Palaiologos]] nicht nur, die Invasoren zu schlagen, sondern 1282 einen [[Sizilianische Vesper|Aufstand]] zu entfachen, der die Anjou schwächte und dazu führte, dass Sizilien an Aragón kam. Damit zersplitterte sich die Macht im Süden in zwei Herrschaftsbereiche, die sich über Jahrzehnte bekämpften.<br />
<br />
Der Kirchenstaat war kaum fester gefügt als zuvor, zumal die Päpste ab 1309 in [[Avignon]] residierten (bis 1378, siehe [[Avignonesisches Papsttum]]) und immer stärker vom französischen König abhängig wurden. Auch litt die Wirtschaft unter den langwierigen Kämpfen und der fiskalischen Ausbeutung der Städte, so dass diese bald von den oberitalienischen endgültig überflügelt wurden. Neapel geriet in genuesische, dann vor allem florentinische Abhängigkeit. Zwischen den einzelnen Kommunen und auch innerhalb der Städte kam es immer wieder zu Konflikten; diese angespannte Lage in Ober- und Mittelitalien spiegelt sich in [[Dante Alighieri|Dantes]] (1265–1321) Werken mehrfach wider.<br />
<br />
Italien hatte sich weitgehend von der Reichspolitik abgekoppelt, was sich auch darin zeigt, dass erst 1310 bis 1313 ein König, [[Heinrich VII. (HRR)|Heinrich VII.]], zur Kaiserkrönung nach Italien zog, wo er zunächst überwiegend freundlich empfangen wurde und sogar teilweise als „Friedensbringer“ betrachtet wurde (so etwa von Dante und [[Dino Compagni]]), bevor seine Politik, die das Einfordern von verlorenen Reichsrechten zum Ziel hatte, bei vielen Guelfen auf Widerstand stieß. Heinrich, seit 1312 Kaiser, vergab aufgrund seiner brüchigen Stellung in Reichsitalien notgedrungen gegen hohe Summen das [[Reichsvikar]]iat an die mächtigsten Signorien, woraus vor allem die Herren von Verona und von Mailand Vorteil zogen. 1313 ging Heinrich offensiv gegen König [[Robert von Anjou]] vor, der gegen ihn agiert hatte und sogar den Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien bestritt, doch starb der Kaiser noch vor einem Feldzug gegen Neapel. Der Papst, der dieses Recht in Abwesenheit eines Kaisers beanspruchte, ernannte nach Heinrichs Tod Robert zum Reichsvikar in Italien. Pläne König [[Johann von Böhmen|Johanns von Böhmen]], den französischen König in die Herrschaftsverhältnisse einzubeziehen, scheiterten 1333. Sie brachten sogleich ein Bündnis zwischen guelfischen und ghibellinischen Städten zustande, denen sich sogar Robert von Anjou anschloss.<br />
<br />
[[Ludwig IV. (HRR)|Ludwig IV.]] unternahm 1327 einen Italienzug und ließ sich im Januar 1328 von stadtrömischen Vertretern zum Kaiser krönen. Aufgrund seines Konflikts mit dem Papsttum war die Krönung jedoch faktisch illegitim und er selbst zog sich bereits 1329 aus Italien zurück. Sein Nachfolger [[Karl IV. (HRR)|Karl IV.]] betrieb ebenfalls eine begrenzte Italienpolitik, die vor allem auf Geldzahlungen abzielte; auf die Durchsetzung kaiserlicher Rechte, wie noch Heinrich VII., legte sein Enkel bereits keinen Wert mehr, denn er betrachtete dies als nicht mehr durchsetzbar. Der Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien blieb zwar formal bestehen, faktisch war jedoch an eine effektive Herrschaftsausübung nicht mehr zu denken.<ref>Zur Italienpolitik der römisch-deutschen Könige im 14. Jahrhundert siehe zusammenfassend Roland Pauler: ''Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert.'' WBG, Darmstadt 1997.</ref><br />
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=== Signorie ===<br />
[[Datei:Castelvecchio Verona-01.JPG|mini|Die Stadtfestung [[Castelvecchio]] der Scaligeri, der Signori von [[Verona]]]]<br />
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In den Kommunen Ober- und Mittelitaliens setzte sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert die ''[[Signoria]]'' (Signorie) durch, eine Form monokratischer Herrschaftsausübung, bei der ein „starker Mann“ ''(signore)'' an der Spitze stand. Dies hing zum einen mit den permanenten Konflikten zwischen Guelfen und Ghibellinen zusammen, zum anderen mit inneren Konflikten zwischen ''populus'' und ''milites'' bzw. Magnaten. [[Oligarchie|Oligarchische]] und [[Plutokratie|plutokratische]] Gruppen dominierten die Städte weiterhin, auch bestanden vielfach die kommunalen Strukturen fort. Die Kosten für die in diesen Kämpfen inzwischen unabdingbaren [[Söldner]]truppen ermöglichten es immer weniger Städten, sich militärisch durchzusetzen. Nach und nach gewannen wenige Signorien in wechselnden Koalitionen die kleineren Städte, die sie in zahlreichen Kriegen eroberten. Die herausragenden Städte waren am Ende des 14. Jahrhunderts Florenz, Pisa und [[Siena]], Mailand, [[Mantua]] und [[Verona]], [[Bologna]], [[Padua]] und [[Ferrara]], schließlich Venedig und Genua. Im Laufe des 15. Jahrhunderts setzte sich Florenz in der Toskana durch (1406 Besetzung von Pisa), Mailand in der Lombardei, Venedig im Nordosten, während sich Mantua und Ferrara halten konnten. Dabei sicherten sich die [[Visconti]] in Mailand eine reichsrechtlich untermauerte Stellung, während sich Genua und Venedig von 1378 bis 1381 bekämpften ([[Chioggia-Krieg]]) und Florenz noch unter den Folgen des [[Ciompi-Aufstand]]s von 1378 litt. 1396 übernahm der französische König die Herrschaft über Genua. Venedig konnte 1435 Kaiser [[Sigismund von Luxemburg|Sigismund]] die reichsrechtliche Anerkennung seiner Eroberungen der letzten drei Jahrzehnte abringen.<br />
<br />
=== Kirchenstaat und Abendländisches Schisma (1378–1417) ===<br />
[[Datei:BNMsItal81Fol18RomeWidowed.jpg|mini|Rom als in Schwarz gekleidete, den Verlust des Papsttums betrauernde Witwe, [[Bibliothèque nationale de France]], MS Ital. 81, f. 18.]]<br />
<br />
In Mittelitalien setzte sich der Kirchenstaat weitgehend durch, doch führte das [[Abendländisches Schisma|Abendländische Schisma]] zur Verbreitung des Nepotismus und zur Einrichtung von lokalen Dynastien, die der Vereinheitlichung des Kirchenstaats widerstanden. Zudem kam es mehrfach zu massiven Eingriffen durch König [[Ladislaus (Neapel)|Ladislaus]] († 1414), dessen Reich allerdings nach seinem Tod in eine schwere Krise geriet, da es zu Nachfolgekämpfen kam. Im Norden kam es zu einer erneuten Verschärfung der Konflikte zwischen Guelfen und Ghibellinen, was die Institution der Signorie stärkte.<br />
<br />
Die Bischöfe, die ihre Machtstellung weitgehend eingebüßt hatten, versuchten vielfach diese zurückzugewinnen. Die Domkapitel, die die Bischofswahlen durchführten, wurden zunehmend von den lokal dominierenden Familien beherrscht, die die Wahlen zu ihren Gunsten zu steuern versuchten. Daher zog [[Johannes XXII.]] 1322 die Benefizien des Patriarchats Aquileia ein. Ähnliches geschah in Mailand und Ravenna, Genua und Pisa.<br />
<br />
Doch viel gravierender wirkte sich aus, dass nach der Wahl [[Urban VI.|Urbans VI.]] im Jahr 1378 zwei Obödienzen zustande kamen, Gebiete also, in denen verschiedene Päpste Anerkennung fanden. Vor allem in den Randgebieten Norditaliens wurden vielfach zwei konkurrierende Bischöfe eingesetzt; häufig kamen französische Bischöfe ins Land, vor allem im Süden. Dieser Zustand hielt bis 1417 an, als man sich auf dem [[Konzil von Konstanz]] auf [[Martin V.]] einigte. Weitere Kongregationen entstanden, wie die [[Olivetaner]], die [[Ambrosianer]]brüder, die [[Hieronymiten]] und die [[Jesuaten]].<br />
<br />
=== Wechselnde Koalitionen, Karl VIII. von Frankreich ===<br />
[[Datei:Italy 1454 after the Peace of Lodi.jpg|mini|Italien nach dem Frieden von Lodi (1454)]]<br />
[[Datei:Francesco granacci, entrata di Carlo VIII a Firenze.jpg|mini|Einzug König Karls VIII. von Frankreich in Florenz, [[Uffizien]], [[Francesco Granacci]], 1518]]<br />
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1442 fiel das Königreich Neapel an Aragón, womit im westlichen Mittelmeer eine neue Großmacht entstand, die sich vielfach in die politischen Auseinandersetzungen Italiens einmischte. Die Herrschaft der wechselnden Päpste, die, ähnlich wie die anderen Mächte, immer wieder die Koalitionen wechselten, war darüber hinaus von Spannungen mit den [[Konzil]]ien, von wechselnden Residenzorten und von Zeiten gekennzeichnet, in denen mehrere Päpste gleichzeitig das Pontifikat beanspruchten. Kurzzeitig brachte die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) im Jahr 1454 den [[Frieden von Lodi]] zustande, der erstmals die Tatsache anerkannte, dass keine Macht Italien einigen konnte. Mit dem Anschluss an die nunmehr verbündeten Rivalen Venedig und Mailand durch Florenz und [[Alfons V. (Aragón)|Alfons V.]] unter Mitwirkung des Papstes kam sogar eine [[Lega italica]] zustande. Doch wirkten eher Zweier- und Dreierbündnisse stabilisierend, bis die Lega 1470, kurz nach der Eroberung Negropontes durch die Osmanen noch einmal erneuert wurde. Infolgedessen wurde Venedig kurzzeitig unterstützt, doch brachen die alten Konflikte zwischen Frankreich und Aragón, zwischen Florenz und Rom ([[Pazzi-Verschwörung|Verschwörung der Pazzi]] von 1478) und zwischen Venedig und Rom gegen Mailand, Florenz und Neapel (Ferrara-Krieg, bis 1484) bald wieder aus. Selbst die Besetzung des apulischen Otranto durch die Osmanen im Jahr 1480 konnte dies nicht dauerhaft verhindern.<ref>Hubert Houben (Hrsg.): ''La conquista turca di Otranto (1480) tra storia e mito. Atti del convegno internazionale di studio, Otranto-Muro Leccese, 28-31 marzo 2007.'' 2 Bde., Congedo, Galatina 2008, passim.</ref><br />
<br />
1494 marschierte [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich nach Neapel und besetzte die Stadt, doch verbanden sich [[Alexander VI.]], Venedig, Mailand, Spanien und [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] in der „[[Heilige Liga (1495)|Liga von Venedig]]“ gegen ihn. Trotz dieser Niederlage eröffnete der Feldzug eine Reihe äußerer Eingriffe.<br />
<br />
Die enormen Kosten der politisch-militärischen Konflikte ließen die großen Bankhäuser, die schließlich fast als einzige in der Lage waren, die Finanzierung zu gewährleisten, rapide anwachsen. Dies gilt etwa für die Bardi und die [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]]. Darüber hinaus gerieten die Agrarstädte immer mehr ins Hintertreffen, denn erhebliche Teile der Erträge gingen an die dominierenden Häuser im Norden. Zugleich wurde der Süden zu einem Randgebiet spanischer Herrschaft. Sie entrissen Sardinien 1326 Pisa – hingegen gelang es Genua Korsika zu verteidigen.<br />
<br />
=== Vertreibung der Juden aus den spanischen Gebieten, Ghettos (ab 1492) ===<br />
[[Datei:10 Roma gheto porta.jpg|mini|Pforten im Getto von Rom]]<br />
<br />
{{Hauptartikel|Geschichte der Juden in Spanien}}<br />
Nach der Vereinigung der beiden iberischen Mächte Aragón und Kastilien im Jahr 1492 und der Eroberung der letzten muslimischen Herrschaft, des [[Emirat von Granada|Emirats von Granada]], setzte mit dem [[Alhambra-Edikt]] eine [[Geschichte Spaniens#Eroberung Granadas, Vertreibung der Juden|gegen Muslime und Juden gerichtete Bekehrungs- und Vertreibungspolitik]] ein. Sie wurde auf den spanischen Teil Italiens übertragen.<br />
<br />
Die dortigen Juden lebten vom 5. bis zum 13. Jahrhundert ganz überwiegend in Rom,<ref>{{Webarchiv|url=http://www.romaebraica.it/la-storia-della-comunita-ebraica-di-roma/ |wayback=20140101040951 |text=''La storia della Comunità Ebraica di Roma'' |archiv-bot=2025-05-07 23:07:49 InternetArchiveBot }}, Website der Gemeinde in Rom.</ref> im Süden und auf den großen Inseln, im Hochmittelalter auch im Norden.<ref>Gian Maria Varanini, Reinhold C. Mueller: ''Ebrei nella terraferma veneta del Quattrocento. Atti del convegno di studi, Verona, 14 novembre 2003.'' Florenz 2005, passim.</ref> [[Moses von Lucca]] und sein Sohn [[Kalonymus]], dessen ''Responsa'' (um 940) als älteste Schrift der [[Aschkenasim]] gelten, gingen 920 nach [[Mainz]]. Die recht großen Gemeinden prosperierten unter den Muslimen im Süden, auch unter den Byzantinern durften sie Landwirtschaft betreiben.<br />
<br />
Doch die Normannen belasteten sie zunehmend, vor allem aber einige Päpste. Auf dem [[Viertes Laterankonzil|Vierten Laterankonzil]] wurde 1215 eine eigene [[Judentracht|Judenkleidung]] vorgeschrieben, und alle Juden sollten in abgegrenzten Quartieren leben. 1429 schützte Papst [[Martin V.]] die Juden, doch sein Nachfolger [[Eugen IV.]] untersagte 1442 den Bau von Synagogen. Ab 1471 verfolgten die Päpste erneut eine tolerantere Politik, es kam zu einer Blüte jüdischer Druckereien. Um 1500 traten Endzeitprediger auf, darunter [[Ascher Lemlein]].<br />
<br />
Die Anjou setzten die Juden gleichfalls starkem [[Bekehrung (Christentum)|Bekehrungsdruck]] aus. 1288 kam es zu einer ersten Vertreibung in Neapel, 1293 wurden im Königreich die meisten Gemeinden zerstört. Besser hingegen erging es ihnen unter der aragonesischen Herrschaft; als Aragón 1442 das Königreich Neapel übernahm, prosperierte die dortige jüdische Gemeinde. Um 1300 lebten etwa 12.000 bis 15.000 Juden in Süditalien,<ref>[http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0010_0_09774.html ''Italy''], Jewish Virtual Library.</ref> ab 1399 veranstalteten sie eigene Synoden. Da im Norden das Zinsnahmeverbot einer Kreditversorgung vor allem der kleinen Orte im Wege stand, entstanden Hunderte kleiner Gemeinden. In den dortigen ''Judenhäusern'' lebte die Familie des Geldleihers zusammen mit seinen Angestellten. 1397 wurden Geldverleiher gezielt nach Florenz geholt.<br />
<br />
1492 wurde die spanische Vertreibungspolitik auf Sizilien und Sardinien, 1541 auf Neapel ausgedehnt (gültig bis 1735), viele flohen nach Norden, vor allem nach Rom, Venedig, Mailand und [[Livorno]]. Die größte Synagoge Venedigs war die 1555 errichtete ''Scuola Spagnola''. Als Mailand 1597 spanisch wurde, mussten 900 Juden die Stadt verlassen. Die zahlreichen Zuwanderer von der Iberischen Halbinsel brachten die dortigen Sprachen mit.<ref>Rafael Arnold: ''Spracharkaden. Die Sprache der sephardischen Juden in Italien im 16. und 17. Jahrhundert.'' Universitätsverlag Winter, 2006, passim.</ref> 1638 forderte [[Simone Luzzato]], 57 Jahre [[Rabbi (Gelehrter)|Rabbi]] der Gemeinde in Venedig, erstmals eine Tolerierungspolitik und argumentierte dabei ökonomisch.<br />
<br />
Im Gefolge der [[Franziskanische Orden|franziskanischen]] Anti-Wucherkampagnen kam es in vielen Städten zur zwangsweisen Ansiedlung der Juden in festgelegten, abgeschlossenen Bezirken, wie etwa im [[Römisches Ghetto|römischen]] (ab 1555) oder im [[Ghetto (Venedig)|venezianischen]] Ghetto (ab 1516).<ref>Roberto Bonfil: ''Gli Ebrei in Italia nell’epoca del Rinascimento'', Sansoni, 1991, S. 64. Weitere Ghettos entstanden in: Florenz 1571, [[Siena]] 1571, [[Mirandola]] 1602, [[Verona]] 1602, [[Padua]] 1603, [[Mantua]] 1612, [[Rovigo]] 1613, [[Ferrara]] 1624, [[Urbino]], [[Pesaro]], [[Senigallia]] 1634, [[Modena]] 1638, [[Este (Venetien)|Este]] 1666, [[Reggio nell’Emilia|Reggio Emilia]] 1670, [[Conegliano]] 1675, [[Turin]] 1679, [[Casale Monferrato]] 1724, [[Vercelli]] 1725, [[Acqui Terme|Acqui]] 1751, [[Moncalvo]] 1732, [[Finale Emilia]] 1736, [[Correggio (Emilia-Romagna)|Correggio]] 1779.</ref> Letzteres wurde 1797 auf Veranlassung [[Napoleon Bonaparte|Napoleons]] aufgelöst. Das römische Ghetto bestand bis 1870, obwohl es die Franzosen zwischen 1798 und 1814 bereits aufgelöst hatten. [[Paul IV.]] ließ 1555 den [[Talmud]] öffentlich verbrennen, 1559 wurde er auf den [[Index Librorum Prohibitorum|Index]] gesetzt. Ab 1569 wurden Juden nur noch in Rom und [[Ancona]] geduldet.<br />
<br />
== Wirtschaft im Spätmittelalter, kommerzielle Revolution ==<br />
=== Ökonomischer Rückgang ===<br />
[[Datei:Torre dei peruzzi (2014).JPG|mini|Florenz: einer der Türme der Unternehmerfamilia [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], der im 13./14.&nbsp;Jh. ganze Quartiere gehörten.]]<br />
<br />
1347 bis 1351 trafen mehrere Katastrophen das italienische Wirtschaftssystem. Schon 1315 bis 1317 hatte eine Reihe von Missernten eine Hungerkatastrophe bewirkt und die [[spätmittelalterliche Agrarkrise]] angestoßen. Im Westen begann 1337 der [[Hundertjähriger Krieg|Hundertjährige Krieg]]. Das [[Byzantinisches Reich|byzantinische Reich]] hatte sich von den Attacken der Kreuzfahrer ([[Lateinisches Kaiserreich]] 1204 bis 1261), an denen italienische Handelsstädte nicht ganz unbeteiligt gewesen waren, nie ganz erholt und schaffte es nicht, dem Vordringen mittelasiatischer Völker in [[Kleinasien]] Einhalt zugebieten. Ab 1348 traf der [[Schwarzer Tod|Pest]] den gesamten Handelsraum Italiens. Unter diesen Bedingungen kam es zu den größten Bankrotten des Mittelalters.<br />
<br />
Hunger und Pandemie hatten starke Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Die für den Anfang des 14. Jahrhunderts auf 11 Millionen geschätzte Einwohnerzahl Italiens brach bis etwa 1350 auf 8 Millionen ein. Um 1450 erreichte sie vielleicht wieder 9 Millionen, um sich erst im 16. Jahrhundert wieder vollständig zu erholen. Zahlreiche [[Wüstung]]en hingen zudem mit der Flucht in die Städte zusammen, in denen angesichts des Fehlens von Handwerkern steigende Löhne lockten. Diese wiederum gaben bald Anlass zu verstärkter Mechanisierung. Zugleich verschärften sich die innerstädtischen Konflikte zwischen der dominierenden Schicht und den Handwerkern, die etwa im [[Ciompi-Aufstand]] von 1378 in Florenz gipfelten. Bis 1370/80 stiegen die Preise stark an, stabilisierten sich um 1400, um danach bis um 1480/90 zu stagnieren.<br />
<br />
=== Veränderungen der kommunalen Wirtschaft ===<br />
Die Handwerksbetriebe lagerten nun spezialisierte Tätigkeiten zunehmend aus, viele konzentrierten sich auf den wachsenden Bedarf an Luxusgütern. Seide, Druckerzeugnisse, Eisen-, Metall-, Leder- und Edelsteinverarbeitung expandierten, ebenso die Papierherstellung und einige Bereiche des Baugewerbes. Italiens Dominanz in der Wirtschaft ging dabei insgesamt deutlich zurück, wozu auch die Gefährdung seiner Flottenherrschaft im Mittelmeerraum beitrug.<br />
<br />
Die Rückkehr des Papstes aus Avignon lenkte hingegen erhebliche Kapitalströme nach Italien und förderte damit den Aufstieg der [[Medici]], [[Salviati (italienisches Adelsgeschlecht)|Salviati]] und [[Strozzi]] in Florenz, der [[Borromeo]] in Mailand, der [[Grimaldi]] und [[Spinola]] in Genua oder der [[Chigi (Adelsgeschlecht)|Chigi]] in [[Siena]]. Auch die Zahl der mittleren und kleinen Unternehmen – wie etwa das des [[Francesco Datini]] – nahm zu. Dabei führten Kriegskosten oftmals dazu, dass sich die Kommunen an den Händler- und Bankiersvermögen schadlos hielten, was diese wiederum dazu veranlasste, einflussreiche Positionen in den Städten anzustreben oder ihr Vermögen in Immobilien zu investieren. Aus den städtischen Posten konnte man einerseits wiederum Gewinn ziehen, andererseits konnte man Einfluss auf Gesetzgebung und Finanzierungsmethoden gewinnen. Einkünfte aus Steuerpacht und Ausgaben der Kommunen trugen nun viel stärker zur Vermögensbildung der führenden Schichten bei.<br />
<br />
=== Landbebauung, Landgemeinden, Halbpacht ===<br />
Basis der Wirtschaft blieb trotz der Verstädterung der Landbau, in dem nach wie vor die meisten Menschen ihre Betätigung fanden. Dabei erhielt in den Städten der [[Weizen]] wieder seine Vorrangstellung vor anderen Getreidearten wie [[Hirse]] zurück, während auf dem Lande diese Sorten weiterhin eine wichtige Rolle spielten, ebenso wie Hülsenfrüchte. Dies galt auch für die [[Stadtarmut]], die auf die billigere Hirse oder [[Bohne]]n, ab dem 16. Jahrhundert auf [[Mais]] zurückgriff. Hauptlieferanten von Fleisch waren Schwein, Schaf und Ziege, hinzu kamen Geflügel und Fisch. Rinderzucht wurde erst im 15. Jahrhundert und dann hauptsächlich in der Po-Ebene betrieben, wobei die [[Milchwirtschaft]] eine erhebliche Rolle spielte. Bis dahin wurden Rinder hauptsächlich als Zugvieh gezüchtet und an Bauern verpachtet. Die Weidewirtschaft bestand vielfach als [[Transhumanz]] im alpinen Bereich, in den [[Abruzzen]] und auf Sardinien, aber auch als [[Alm (Bergweide)|Almwirtschaft]] in den Alpen. Im Gegensatz zur Weizen- und Viehwirtschaft expandierte der Weinbau stark, ebenso wie der Anbau von Olivenbäumen.<br />
<br />
Anders als im Hochmittelalter mit seiner Binnenkolonisation kam es nun eher zu [[Melioration]]en. Neue und überkommene Kulturen wurden ausgeweitet, die Agrarlandschaft änderte sich vor allem im Umkreis der zahlreichen Städte. Systematisch wurden nun Gärten für Gemüse und Obst im Umland und in den Vorstädten angelegt und, ähnlich wie die Felder der Bauern, Tag und Nacht bewacht. In Bologna engagierte man 1291 allein 45 Wächter, um die Getreideausfuhr zu verhindern.<ref>[[Hans Conrad Peyer (Historiker)|Hans Conrad Peyer]]: ''Zur Getreidepolitik oberitalienischer Städte im 13. Jahrhundert'', Diss. Wien 1950, S. 54.</ref> Die Expansion der Landbebauung in die Wälder, die zunehmend gerodet wurden, untergrub die Nahrungsgrundlagen erheblicher Teile der Landbevölkerung, die sich bis dahin partiell ohne Marktvermittlung ernähren und mit Brenn- und Bauholz versorgen konnten. Auch gefährdete die Abholzung den Schiffbau, so dass etwa Venedig Wälder unter Schutz stellte. Darüber hinaus verstärkte sich die Bodenerosion und die Überschwemmungen wurden sehr viel weniger im Entstehungsbereich abgefangen, so dass es am Unterlauf vielfach zu Katastrophen und zur Vernichtung von Ackerland und Ökoreserven kam. Gleichzeitig laugte vielfach der Boden aus, so dass sich die Bauern gezwungen sahen, Weiden unter den Pflug zu nehmen.<br />
<br />
Der [[Ertragsindex]] stieg nach 1350 von 3:1 auf 4:1, trotz Landflucht und Bevölkerungsrückgang. Entgegen allen negativen Entwicklungen ermöglichte dies eine relativ sichere Versorgung der städtischen Bevölkerung. Zugleich wurde mit der Auflösung des Fronhofsystems fast jede Form der Unfreiheit, sieht man von einigen Regionen im Norden und Süden ab, aufgehoben. Es entstanden regelrechte Landgemeinden, die von Abgaben befreit waren. Allerdings kamen Mitte des 13. Jahrhunderts Teilpachtverträge auf, die auf der Abgabe von Naturalien basierten. Die häufigste, bis ins 20. Jahrhundert bestehende Form war die ''[[Mezzadria]]'' ''([[Naturalpacht]])'', die im 12. und 13. Jahrhundert bescheidene Anfänge nahm, jedoch im 14. bis 16. Jahrhundert Verbreitung in fast ganz Italien fand. Durch Verschuldung gerieten die Bauern wieder in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Sie mussten vielfach ihr Land und ihr Vieh verkaufen und verloren zunehmend die Kontrolle über die Landgemeinden, Kleinbauern hielten sich aufgrund ihres unmittelbaren Marktzugangs fast nur im Umkreis der Städte. Auch gelang es Bauern in der Po-Ebene, sich zwischen bäuerliche Bevölkerung und Grundbesitzer zu positionieren und als Pächter ''(fittavoli)'' aufzutreten. Die Bauern hatten sowohl an den Grundbesitzer als auch den Pächter, und darüber hinaus an die Kommunen Abgaben zu leisten.<br />
<br />
=== Rollenteilung zwischen den Machtzentren ===<br />
Die oberitalienischen Metropolen erlebten bereits vor Beginn der [[Kreuzzüge]] eine Phase intensivierten Handels und deutlichen Bevölkerungsanstiegs; zudem erlangten sie immer größere Autonomie. Die Erträge der Bauern stiegen, den Kommunen gelang es, ihr Umland wirtschaftlich auf die Bedürfnisse der Stadt auszurichten. Während Genua und Venedig vorrangig vom Fernhandel, Krieg und Kaperei im Mittelmeer lebten und tief nach Asien vordrangen, profitierte Mailand sowohl davon als auch vom transalpinen Handel, ähnlich wie [[Verona]]. Florenz hingegen wurde zur Zentrale des europäischen Tuchhandels. Seine Schafweiden befanden sich bis zum 15. Jahrhundert in England und später in Mittelitalien, vor allem den [[Abruzzen]], im 16. Jahrhundert in [[Kastilien]]. Hingegen führten die unausgesetzten Kämpfe zwischen Papst und Kaiser, und nach dem Ende der Staufer zwischen Anjou, Byzanz und Aragón dazu, dass die ertragreichen Rohstoffausfuhren in Süditalien das Übergewicht gewannen und die kommunale Selbstorganisation zunehmend eingeschränkt wurde.<br />
<br />
Bis Ende des 13. Jahrhunderts gelang es den großen Florentiner Gesellschaften, den Weizenexport Süditaliens fast zu monopolisieren. Sie erwarben dort die in den Städten Oberitaliens nachgefragten Weizenmengen und boten dafür vor allem toskanische Tuche, die sie überwiegend in [[Neapel]] verkauften. Die Anjou, die den Süden seit den 1260er Jahren beherrschten, brauchten ihrerseits gewaltige Geldmengen, da sie [[Byzantinisches Reich|Byzanz]] erobern wollten und nach der [[Sizilianische Vesper|Sizilianischen Vesper]] von 1282 [[Krone Aragón|Aragón]] bekämpften, das Sizilien besetzt hatte. Sie setzten alles daran, ihre Rohwarenproduktion zu erhöhen. Der Weizenhandel machte die Florentiner Bankhäuser der [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], aber auch die Bardi und Acciaiuoli, die den Handel unter sich aufteilten und sogar die [[Republik Venedig|Venezianer]] zeitweise verdrängten, ganz außergewöhnlich reich.<br />
<br />
=== Handel, Edelmetalle, Geldpolitik ===<br />
[[Datei:Fiorino 1340.jpg|mini|Goldflorin, geprägt zwischen 1332 und 1348 in Florenz; Lilie von Florenz, Johannes der Täufer mit Nimbus. Zur Rechten des Täufers finden sich drei Halbmonde, das Wappen der [[Strozzi]].]]<br />
<br />
Trotz der Entwicklung des Wechsels, des Kreditwesens und der Depositenbanken beruhte die Zirkulation von Waren im Spätmittelalter auf Münzen. Ihr Edelmetallgehalt bestimmte ihren Wert. Der Umgang mit [[Rechnungswährung|Rechengeld]] änderte nichts Grundsätzliches an dieser Abhängigkeit. Venezianer und Genuesen zahlten in Byzanz mit Silber, während sie für ihre Waren Goldmünzen erhielten, d. h. vor allem [[Hyperpyron|Gold-Hyperpyra]].<ref>Dies und das Folgende nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes.'' Beck, München 2009, S. 24–26.</ref> Im 12. Jahrhundert basierte hingegen der Handel Italiens noch entweder auf [[Tauschhandel]] oder auf Silbermünzen, denn nur das [[Königreich Jerusalem]], das [[Königreich Sizilien]] und das Reich der [[Almohaden]] brachten neben Byzanz Goldmünzen in Umlauf. Während das Silber im Westen an Wert verlor, floss gleichzeitig das künstlich teuer gehaltene Silber der oberitalienischen Handelsstädte nach Osten ab. Ihnen drohte demzufolge der Verlust ihrer Funktion als Handelsdrehscheibe durch Auszehrung ihrer Silberreserven.<br />
<br />
Die Handelsstädte Florenz und Genua durchbrachen 1252 als erste die Trennung zwischen dem Silbergebiet und dem islamisch-byzantinischen Goldgebiet, indem sie beide Edelmetalle, die die Städte nun in ausreichendem Maße erreichten, als Münzen zirkulieren ließen. Dabei dürfte für Genua der Goldzufluss aus dem Handel mit der Levante und dem Maghreb und der in untragbarem Ausmaß schwankende Feingehalt der bereits in Süditalien umlaufenden [[Tari (Münze)|Goldtarì]] eine entscheidende Rolle gespielt haben, den [[Genovino]] aufzulegen. Im Florentiner Fall mögen Getreidekäufe in Sizilien für die Einführung des [[Florin (Goldmünze)|Florin]] (ab 1533 Scudo d’Oro) eine wichtige Rolle gespielt haben. Venedig zögerte bis 1284, den [[Dukat (Münze)|Golddukaten]] einzuführen, da hier der Goldzustrom zunächst noch geringer war.<br />
<br />
Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber hing stark von deren Verfügbarkeit ab.<ref>Dies und das Folgende nach: Hans-Jürgen Hübner: ''Quia bonum sit anticipare tempus. Die kommunale Versorgung Venedigs mit Brot und Getreide vom späten 12. bis ins 15. Jahrhundert.'' Peter Lang, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 126–132.</ref> War Gold 1284 noch elfmal so teuer wie Silber, so stieg sein Kurs 1305 bis 1330 auf 1:14,2. Ab etwa 1320 lieferten die Goldminen im Raum des ungarischen [[Kremnica|Kremnitz]] große Goldmengen, die ab 1324/25 die Prägung einer ungarischen Goldmünze gestatteten. 1327 vereinbarten Ungarn und Böhmen zudem einen Ausfuhrstopp für Silber nach Italien. Darüber hinaus kam es in den 1330er Jahren zu einem verstärkten Goldzustrom aus dem [[Ural]] und aus [[Mali]] (bis in die 1370er Jahre), der den Silber-Kursverfall bremste und zeitweise umkehrte. Binnen weniger Jahre wurde Venedig zum führenden Goldexporteur, während es zuvor der führende Silberexporteur gewesen war.<br />
<br />
Gold wurde immer billiger. 1331/32 fiel der Gold- gegenüber dem Silberkurs von 1:14,2 bis 1350 auf einen Tiefststand von 1:9,4. Nun kehrten die Münzprägestätten ihre Politik um und versuchten, den Silberzulauf zu verstärken. Die venezianische [[Zecca (Venedig)|Zecca]] stellte 1354 die Prägung der Silbermünzen ein, um durch ein künstlich erzeugtes Unterangebot ihren Wert zu halten. In dieser Zeit stabilisierte sich der Kurs zwischen 1:9,9 und 1:10,5, schwankte von 1401 bis 1500 zwischen 10,7 und 11,6 und um 1509 lag er bei 1:10,7. Entscheidend dürfte dabei gewesen sein, dass Venedig seine nahöstlichen Gewürzkäufe, die es praktisch zu einem Monopol ausbaute, fast nur noch mit Golddukaten bezahlte. Die Stadt wurde dadurch zum größten „Goldleck“ Europas.<br />
<br />
Immer wieder griffen die Städte massiv in die Wechselkurse zwischen den Münzen ein, deren Gold- und Silberanteil immer stärker vermindert wurde, während die Händler gezwungen wurden, weiterhin zum Nominalkurs zu wechseln. Venedig ging sogar so weit, dass es 1353 in seinem Kolonialreich stark überbewertete Münzen massenhaft zwangsweise eintauschen ließ, um seine Silberreserven zu schonen. Nach [[Alan M. Stahl|Alan Stahl]]<ref>[[Alan M. Stahl]]: ''The Venetian Tornesello. A medieval colonial coinage'', American Numismatic Society, New York 1985, S. 45.</ref> prägte die Zecca allein 1375 rund 6 Millionen Münzen und machte durch Zwangsumtausch einen Gewinn von fast 3000 Dukaten. Die Gewinne waren so hoch, dass man in Venedig bereit war, die daraus resultierende Inflation in Kauf zu nehmen.<br />
<br />
Der Umgang mit den Münzsystemen wurde so geläufig, dass er auch als Mittel der Destabilisierungspolitik eingesetzt wurde. Mailand brachte 1429 stark überbewertete Münzen in Umlauf, die im Tausch gegen venezianisches Silbergeld 20 % Gewinn brachten. Venedig halbierte daraufhin den Silbergehalt des umlaufenden [[Bagattino]], gleichzeitig lehnte es Zahlungen in dieser Münze ab und verlangte von seinen Untertanen „gute Münzen“. Mit den Gewinnen wurde der [[Condottiere|Söldnerführer]] [[Francesco I. Sforza|Francesco Sforza]] bezahlt. Mailand brachte wenig später neue Münzen in Umlauf, was neben Einschmelzungen dazu führte, dass die venezianischen Münzen gänzlich verschwanden und sich nur noch der „schlechte“ Bagattino hielt. 1453 wies der Senat die [[Zecca (Venedig)|Zecca]] an, eine ausschließlich für Oberitalien gedachten Münze zu prägen. Doch große Mengen an gefälschten Münzen zwangen schnell zur Reduzierung des Nominalwertes. 1463 konnten 20.000 gefälschte Bagattini konfisziert werden. Erst 1472 verabschiedete sich der venezianische [[Rat der Zehn]] von dieser Variante des „Münzimperialismus“, wie ihn [[Reinhold Mueller]] bezeichnet hat. Dies geschah offenbar, weil Mailand abermals versuchte, durch Überflutung Oberitaliens mit nachgemachten Münzen die venezianische Münzpolitik auszunutzen. Der Rat der Zehn reduzierte den Wert der bedrohten Münzen um volle 40 %, was nach Antonio Morosini einer Vernichtung von einer Million Dukaten an Kaufkraft gleichkam. Gleichzeitig wurden die schlechten Silbermünzen durch vertrauenswürdige Kupfermünzen ersetzt, deren Wert durch Limitierung der Auflagen kontrolliert wurde.<br />
<br />
== Renaissance (ab dem 14. Jahrhundert) ==<br />
{{Hauptartikel|Renaissance}}<br />
[[Datei:Leonardo da Vinci (1452-1519) - The Last Supper (1495-1498).jpg|mini|links|[[Das Abendmahl (Leonardo da Vinci)|Das Abendmahl]] von [[Leonardo da Vinci]], 1495–1498]]<br />
[[Datei:Da Vinci Vitruve Luc Viatour.jpg|mini|[[Der vitruvianische Mensch]], Proportionsstudie nach [[Vitruv]], ebenfalls von da Vinci, um 1492]]<br />
<br />
Im Italien des späten 14. Jahrhunderts liegen die Anfänge der Renaissance; als Kernzeitraum gelten das 15. und 16. Jahrhundert. Das wesentliche Charakteristikum ist die Wiedergeburt antiken Geistes, der [[Humanismus]] war die prägende Geistesbewegung. Vorreiter der Entwicklung waren italienische Dichter des 14. Jahrhunderts wie [[Francesco Petrarca]], der durch seine Beschäftigung mit antiken Schriftstellern und durch seinen Individualismus den Glauben an den Wert humanistischer Bildung förderte und das Studium der Sprachen, der Literatur, der Geschichte und Philosophie außerhalb eines religiösen Zusammenhangs als Selbstzweck befürwortete. Hinzu kam eine Neuorientierung in der Wissenschaft, wo das [[Theozentrismus|theozentrische]] Weltbild des Mittelalters durch eine stärker [[Anthropozentrismus|anthropozentrische]] Sicht der Dinge abgelöst wurde.<br />
<br />
In der Literatur leiteten im 14. Jahrhundert [[Dante Alighieri]]s ''[[Göttliche Komödie]]'' (''La Divina Commedia,'' 1307–1321), Francesco Petrarcas Briefe, Traktate und Gedichte und [[Giovanni Boccaccio]]s ''Il Decamerone'' (1353) das Zeitalter der Renaissance ein. Die drei Autoren, die wegen ihrer herausragenden Bedeutung als die „drei Kronen“ der italienischen Literatur ''(tre corone fiorentine)'' bekannt sind, schrieben in der Volkssprache, dem ''[[Italienische Sprache#Geschichte|volgare]]''. Graf [[Baldassare Castiglione]] beschreibt in ''Il Cortegiano'' (1528) den Idealtypus eines Renaissancemenschen.<br />
<br />
Vorbedingung war die Möglichkeit, griechisches und arabisches Wissen aufzunehmen. Auch die sozialen und politischen Zustände in Italien trugen zu den Umbrüchen bei. Dort war die Erinnerung an die Antike noch am lebendigsten,<ref>[[Jacob Burckhardt]]: ''Die Kultur der Renaissance in Italien'', bearb. v. [[Walter Goetz]]. 12. Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-05311-4.</ref> Verkehrswege verbanden sie mit den Zentren der Bildung und im politisch zersplitterten Byzanz bestand die Möglichkeit, Kunst und Bücher zu erwerben. Die großen Vermögen, die durch den Handel entstanden, machten es möglich, große öffentliche und private Kunstprojekte in Auftrag zu geben. Zudem erlebte die Entwicklung zur pragmatischen Schriftlichkeit bereits im frühen 13. Jahrhundert einen Aufschwung, der Schriftverkehr der Kaufleute vertiefte und verbreiterte die Literalität, so dass die Zahl der Alphabetisierten zunahm.<br />
<br />
Im 15. Jahrhundert gehörte Italien zu den am stärksten [[Urbanisierung|urbanisierten]] Regionen Europas. Die Städte boten relativ große politische Freiheit, die zu neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Wegen anregten. Dies galt vor allem für die selbstständigen Mächte Italiens, also das [[Herzogtum Mailand]], die [[Republik Venedig]], [[Florenz]], das [[Königreich Neapel]] und den [[Kirchenstaat]], aber auch für die Höfe von Ferrara oder Mantua.<br />
<br />
Die Päpste verhielten sich kaum anders als die weltlichen Fürsten. Sie führten Kriege und versuchten durch Intrigen Macht und Reichtum [[Nepotismus am Heiligen Stuhl|der eigenen Familien zu vergrößern]]. Der Sohn Papst [[Alexander VI.|Alexanders VI.]] [[Cesare Borgia]], der sich als Söldnerführer und Machtpolitiker betätigte und versuchte, Italien unter seine Herrschaft zu bringen, diente [[Niccolò Machiavelli]] als Vorbild für sein staatsphilosophisches Werk ''[[Der Fürst]]''.<br />
<br />
== Konkurrenz der Weltmächte, Wirtschaftskrise, Bevölkerungsrückgang ==<br />
[[Datei:Habsburg Map 1547.jpg|mini|links|Die habsburgischen Gebiete in Europa im Jahr 1547]]<br />
[[Datei:Ottoman empire de.svg|mini|Das Osmanische Reich zwischen 1481 und 1683]]<br />
<br />
Nach der Entdeckung [[Amerika]]s 1492 durch den Genuesen [[Christoph Kolumbus|Columbus]], aber auch Nordamerikas 1497 durch den von Venedig nach England gegangenen [[Giovanni Caboto]], sowie der zunehmenden Nutzung des Seeweges nach [[Indien]] verlor Italien nach und nach seine herausragende wirtschaftliche Bedeutung durch Verlagerung der Haupthandelsrouten vom Mittelmeer zum Atlantik. Andere Staaten, insbesondere [[Spanien]] und [[Portugal]], nahmen an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung zu, da sie auf Grund der [[Kolonialisierung]] zunächst [[Südamerika]]s neue [[Rohstoff]]ressourcen und Absatzmärkte erschlossen und zudem über größere Binnenressourcen verfügten als die italienischen Stadtstaaten. Zugleich verlor der Handel mit dem in den Nahen Osten und nach Nordafrika expandierenden [[Osmanisches Reich|Osmanenreich]] an Bedeutung, während zugleich die Konkurrenz von Holländern und Engländern zunahm.<br />
<br />
Besonders in Süditalien dominierte die Agrarwirtschaft und der Großgrundbesitz, [[Manufaktur]] und später [[Fabrik]] waren die Ausnahme. Aber auch die Landwirtschaft stagnierte, so dass die Ertragsziffern in Italien bei 7 verharrten, während sie etwa in England und Holland bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf 9, hundert Jahre später gar auf 10 stiegen. Dies war einer der Gründe, dass die dortige Bevölkerung stark anstieg, während sie sich in Italien von etwa 13,5 Millionen (um 1600) auf 11,7 (1650) verminderte. Dies kontrastiert besonders stark mit der Tatsache, dass die Bevölkerung noch zwischen 1500 und 1600 von 9 auf 13,5 Millionen, also um etwa die Hälfte angewachsen war.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 24 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref><br />
<br />
=== Europäischer Kriegsschauplatz (1494–1559) ===<br />
{{Siehe auch|Italienische Kriege}}<br />
[[Datei:Italy 1494 de.svg|mini|links|Italien um 1494]]<br />
[[Datei:Leoattila-Raphael.jpg|mini|Papst [[Leo X.]] (1513–1521) ließ sich in einem von seinem Vorgänger in Auftrag gegebenen Gemälde von [[Raffael]] als Papst [[Leo der Große|Leo I.]] (440–61) porträtieren, wie er dem [[Hunnen]]könig [[Attila]] im Jahr 452 unbewaffnet entgegentritt. Der Legende nach erschienen die Heiligen Roms, Petrus und Paulus, mit Schwertern und bewogen Attila, auf seinen Marsch nach Rom zu verzichten. Eliodor-Raum der [[Stanzen des Raffael]], Vatikan 1514]]<br />
<br />
Eine der Ursachen für den Bevölkerungsrückgang waren die unausgesetzten Kriege. Nach dem Tod König [[Ferdinand I. (Neapel)|Ferrantes von Neapel]] intervenierte König [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich 1494 in Italien. Er zwang im nächsten Jahr Florenz, den Kirchenstaat und Neapel zur Kapitulation. [[Ferdinand II. (Aragón)|Ferdinand von Aragón]], [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] sowie [[Republik Venedig|Venedig]], Mailand und der Kirchenstaat verbanden ihre Kräfte am 31.&nbsp;März 1495 in einer „[[Heilige Liga (1495)|Heiligen Liga]]“ und zwangen den französischen König zum Rückzug über die Alpen.<br />
<br />
[[Ludwig XII.]] nahm die expansive Politik Karls VIII. wieder auf und annektierte 1499 das [[Herzogtum Mailand]]. Er und Ferdinand von Aragón teilten im [[Vertrag von Barcelona]] 1500 das Königreich Neapel unter sich auf. Danach sollte der Norden an Frankreich, der Süden an Spanien kommen. Im [[Vertrag von Lyon]] 1504 wurde nach einem erneuten Krieg Unteritalien wieder in das Königreich Aragón eingegliedert, da die Franzosen Neapel verlassen mussten. 1507 gelang es den Franzosen, sich der [[Republik Genua]] zu bemächtigen. Die [[Liga von Cambrai]] (Österreich unter Maximilian I., der Papst, Spanien, England, Ungarn, [[Savoyen]] und einige [[Liste der historischen Staaten in Italien|italienische Staaten]]) versuchte im Oktober 1508 die [[Republik Venedig#Kriege um Oberitalien, Politik der Neutralität, Verlust des Kolonialreichs, Streit mit Päpsten und Habsburgern|Seerepublik Venedig]] aufzuteilen, scheiterte jedoch.<br />
<br />
Papst [[Julius II.]] (1503–1513) schwenkte auf ein neues politisches Ziel um: die Befreiung Italiens von den „Barbaren“. Die Eidgenossenschaft, Spanien, Venedig und der Papst vereinigten sich zur „[[Heilige Liga (1511)|Heiligen Liga]]“, um die Franzosen aus Mailand zu vertreiben, was ihnen 1512 gelang. Die Schweizer restituierten die Dynastie der [[Sforza]] und annektierten den größten Teil des [[Kanton Tessin|Tessins]] ([[Domodossola]], [[Locarno]], [[Lugano]]). In der [[Schlacht bei Marignano]] unterlagen die Schweizer jedoch im September 1515 wieder den Franzosen und sie mussten Mailand räumen. [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] von Frankreich und [[Karl V. (HRR)|Karl I. von Spanien]] einigten sich im [[Vertrag von Noyon]] 1516 auf den [[Status quo]].<br />
<br />
1525 gelang es [[Karl V. (HRR)|Karl]], seit 1519 römisch-deutscher Kaiser, in der [[Schlacht bei Pavia (1525)|Schlacht von Pavia]] Mailand an sein Haus zu bringen und die französische Oberherrschaft in Italien zu beenden. Die Truppen des Kaisers plünderten 1527 Rom ([[Sacco di Roma]]). 1529 schloss Karl mit Frankreich und dem Papst im [[Damenfriede von Cambrai|Vertrag von Cambrai]] Frieden, da die [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Osmanen auf Wien marschierten]]. Im [[Frieden von Crépy]] 1544 verzichtete Franz I. auch auf seinen Anspruch auf Neapel und erhielt von Karl V. im Gegenzug [[Burgund]] zurück. 1559 konnte [[Philipp II. (Spanien)|Philipp II.]] im [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] allerdings Neapel gewinnen.<br />
<br />
=== Reformation und Gegenreformation ===<br />
[[Datei:Sarpi Historia.jpg|mini|''Historiae Concilii Tridentini'' von [[Paolo Sarpi]]]]<br />
<br />
Das [[Fünftes Laterankonzil|5. Laterankonzil]] (1512–1517) kam mit der [[Kirchenreform]] kaum voran. Es verbot den Druck nicht autorisierter Bücher und bestätigte das [[Konkordat von Bologna]] (1516) zwischen [[Leo X.]] und König [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] Dadurch wurden französische Eroberungen aus den Italienkriegen anerkannt, die zunehmende Loslösung der französischen Kirche von Rom rückgängig gemacht.<br />
<br />
Die Reformation hatte nicht nur jenseits der Alpen Erfolge, sondern zunächst auch in Italien. Doch die katholische Seite ging scharf gegen jede protestantische Äußerung vor. 1530 wurde daher [[Antonio Bruccioli]] aus Florenz vertrieben und der konvertierte, im venezianischen [[Kroatien]] eingesetzte Bischof [[Pietro Paolo Vergerio]] verließ das Land. 1531 kam es zu einer öffentlichen Disputation in Padua, sie blieb jedoch die einzige. [[Erasmus von Rotterdam]], der in Italien erstmals 1514 verlegt wurde,<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 21.</ref> galt als Häretiker, zuweilen sogar als „Lutheraner“ (Erasmus lutheranus).<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 7–11 (ital. 1992) konnte dies anhand von Inquisitionsakten nachweisen.</ref> Doch wurden mit dieser Bezeichnung auch andere Gruppen, wie die [[Calvinismus|Calvinisten]], [[Sakramentarier]], [[Evangelisch-reformierte Landeskirche Graubünden|Graubündner Reformierte]] bezeichnet.<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 33f.</ref><br />
<br />
1542 wurde die Inquisition reorganisiert, um den Protestantismus zu bekämpfen. 1558 wurde Bartolomeo Fonzio, der Übersetzer von Luthers Schrift ''An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung'' hingerichtet, 1566 Bruccioli, 1570 der Humanist [[Aonio Paleario]].<br />
<br />
Das [[Trienter Konzil]] (1545 bis 1563) befasste sich mit der Kirchenkritik der [[Reformation]]. Seine Beschlüsse beinhalteten, neben dogmatischen Beschlüssen, die Abschaffung der Missbräuche im [[Ablass]]wesen, das Verbot der Ämterhäufung im Bischofsamt und die Einrichtung von [[Priesterseminar]]en sowie einen Index verbotener Bücher (1559). Außerdem durften Bischöfe gegen Häretiker vorgehen. Für [[Martin Luther]] war Venedig das Eingangstor nach Italien, doch stießen die protestantischen Gruppen auf harte Repression.<ref>Massimo Firpo: ''Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento. Un profilo storico.'' Laterza, Bari 2008, passim.</ref> 1571 entstand die ''Indexkongregation'', die sich mit der umfassenden Kontrolle des stark angewachsenen Buchmarktes befasste und damit die Tätigkeit der in Trient 1562 eingesetzten Zensurkommission dauerhaft fortführte.<br />
<br />
=== Osmanisches Reich ===<br />
Das Osmanische Reich bedrängte die italienischen Seemächte und lenkte ihren Handel mit Asien und Nordafrika entsprechend seinen politischen Interessen. 1453 [[Belagerung von Konstantinopel (1453)|eroberten die Osmanen Konstantinopel]], 1475 musste Genua seine Kolonie in [[Feodossija|Kaffa]] am Nordrand des [[Schwarzes Meer|Schwarzen Meeres]] aufgeben, eine Region, in der sich Genua und Venedig seit Jahrhunderten bekriegt hatten. Venedig verlor 1460 seine Stützpunkte auf dem [[Peloponnes]], doch konnte es die Hauptinsel [[Kreta]] noch bis 1645 bzw. 1669 halten. Unter [[Süleyman I.]] (1520–1566) expandierten die Osmanen, die bereits 1480 bis 1481 mit [[Otranto]] erstmals einen italienischen Ort besetzt hatten, Richtung [[Belgrad]] und [[Rhodos]], das sie 1522 eroberten.<br />
[[Schlacht bei Mohács (1526)|Bei Mohács]] unterlag der [[Ludwig II. (Böhmen und Ungarn)|ungarische König]], der Sultan ließ 1529 [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Wien belagern]].<br />
<br />
Weiteren Erfolgen im Osten folgte der Sieg des [[Khair ad-Din Barbarossa]] 1538 über die Flotte der [[Heilige Liga (1538)|Heiligen Liga]] unter [[Andrea Doria]] bei [[Preveza]]. Zwar konnten die vereinigten Flotten Spaniens und Venedigs die Osmanen in der [[Seeschlacht von Lepanto]] 1571 besiegen, doch die modernisierte türkische Flotte stellte bereits wenige Jahre später wieder eine erhebliche Bedrohung dar, und Venedig konnte [[Zypern]] nicht zurückerobern. Zudem setzten die Korsaren Nordafrikas den Handelskonvois durch das westliche Mittelmeer zu, vor allem, nachdem ihnen 1574 die Rückeroberung des seit 1535 von Spanien besetzten [[Tunis]] gelungen war.<br />
<br />
=== Spanische und österreichische Vorherrschaft ===<br />
[[Datei:Quadrupla Milano.jpg|mini|Mailänder Münze mit dem spanischen König]]<br />
<br />
Der [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] (1559) verfestigte die spanische Herrschaft im gesamten Süden Italiens, auf den Inseln, in Mailand und im [[Stato dei Presidi]] im Süden der [[Toskana]]. Zugleich lagen der Kirchenstaat, das [[Großherzogtum Toskana]] und Genua sowie weitere Kleinstaaten im Einflussbereich [[Madrid]]s. [[Savoyen]] wurde immer wieder zum Schlachtfeld zwischen Spanien und Frankreich. Nur Venedig konnte seine Unabhängigkeit bewahren.<br />
<br />
Ende des 16. Jahrhunderts verlagerte sich zunehmend der Handel vom Mittelmeer in den [[Atlantischer Ozean|Atlantik]], wozu auch die Kriege in Italien beitrugen. Dort kollidierten die kaiserlichen und die französischen Interessen zunächst im [[Mantuanischer Erbfolgekrieg|Erbfolgekrieg von Mantua]] (1628–1631). Die Pestepidemien von 1630 bis 1632 und 1656 bis 1657 (Neapel, Rom, Ligurien, Venetien) und der spanische Fiskalismus wirkten sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus; so sperrte die Toskana jeden Verkehr mit dem Süden, setzte eine [[Quarantäne]] nach venezianischem Vorbild durch und informierte die benachbarten Mächte.<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 105f.</ref> Mit diesen Maßnahmen gelang es Italien lange vor den modernen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die Epidemien, wenn auch unvollständig, einzudämmen.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 190f. (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Plünderungen, Hunger, Epidemien förderten in ihrer Wechselwirkung den ökonomischen und politischen Niedergangs, der allerdings scharf mit der kulturellen Entwicklung kontrastierte. Italien blieb sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Bereich noch lange führend.<br />
<br />
Gegen die spanische Fiskalpolitik kam es zu Aufständen, deren in Italien bekanntester der des Fischers [[Tommaso Masaniello]] aus Neapel war. Er entzündete sich 1647 an Abgaben auf Lebensmittel, und obwohl Masaniello ermordet wurde, gelang es den Aufständischen unter Führung des [[Gennaro Annese]] am 17. Dezember, die Spanier aus der Stadt zu vertreiben. Unterstützung fanden sie durch den Franzosen [[Henri II. de Lorraine, duc de Guise|Henri II. de Guise]]. Er beanspruchte als Nachkomme [[René I. (Anjou)|Renés I. von Anjou]] das Königreich Neapel und konnte die Truppen des [[Juan de Austria]] besiegen. Die Aufständischen riefen die [[Republik Neapel]] aus, die bis zum 5. April 1648 bestand. Innere Streitigkeiten führten jedoch dazu, dass der Neapolitaner Gennaro Annese den Spaniern die Tore öffnete. Beim Versuch, die Stadt zurückzugewinnen, geriet Henri II. am 6. April in spanische Gefangenschaft. Ähnliche Volksaufstände fanden 1647/48 unter Führung des [[Giuseppe d’Alesi]] in Palermo statt und unter [[Ippolito von Pastina]] in [[Salerno]]. 1701 erhob sich der Adel Neapels vergeblich in der Verschwörung von Macchia gegen die spanische Herrschaft, ein Aufstand, der seine Bezeichnung nach [[Gaetano Gambacorta]], Fürst von Macchia, erhielt.<br />
<br />
Nach dem Ende des spanischen Zweigs der [[Habsburg]]er ([[Karl II. (Spanien)|Karl II.]] starb am 1. November 1700 kinderlos) begann 1701 der [[Spanischer Erbfolgekrieg|Spanische Erbfolgekrieg]]. Eine Allianz um die österreichischen Habsburger und England kämpfte dabei gegen eine von Frankreich geführte Koalition. Letztlich gelang es Frankreich, mit [[Philipp V. (Spanien)|Philipp V.]] die bis heute amtierende Dynastie der [[Haus Bourbon|Bourbonen]] zu installieren. Im [[Friede von Utrecht|Frieden von Utrecht]] 1713 wurden [[Österreich]] das zuvor spanische [[Mailand]], [[Neapel]] (ohne [[Sizilien]]) und [[Sardinien]] zugesprochen. Es wurde damit zur vorherrschenden Macht in Italien. Gegen die österreichische Herrschaft kam es 1746 zu einem Aufstand in Genua, den ein jugendlicher Steinewerfer ausgelöst haben soll; sein Kurzname ''Balilla'' findet sich in der [[Il Canto degli Italiani|italienischen Nationalhymne]] wieder.<ref>Ilaria Porciani: ''Stato e nazione: l’immagine debole dell' Italia.'' In: Simonetta Soldani, Gabriele Turi (Hrsg.): ''Fare gli italiani'', Bologna 1993, Bd. I, S. 385–428.</ref><br />
<br />
Der Herzog von [[Savoyen]] erhielt [[Sizilien]] sowie [[Markgrafschaft Montferrat|Montferrat]]. 1720 tauschte das Haus Savoyen mit Österreich seinen Besitz Sardiniens gegen Sizilien ein und erhielt somit die Königswürde. Erster Herrscher des neuen [[Königreich Sardinien|Königreichs Sardinien-Piemont]] wurde [[Viktor Amadeus II.]]<br />
<br />
[[Datei:Corsica ponte genovese tavignano Altiani.jpg|mini|Genuesische Brücke über den [[Tavignano]] bei [[Altiani]] im Osten Korsikas]]<br />
<br />
Spanien erwarb 1735/38 Neapel und Sizilien, 1748 [[Parma]] und gründete dort eine [[Sekundogenitur]]. Nach dem Aussterben der [[Medici]] in Florenz 1737 stiftete der Herzog von Lothringen dort eine Sekundogenitur für das Haus [[Habsburg-Lothringen]]. 1768 verkaufte die Republik Genua die Insel [[Korsika]] an Frankreich. Italien war von 1701 bis 1748 Kriegsschauplatz der Großmächte (Europäische Erbfolgekriege). Bis 1796 blieb dieses System stabil, doch geriet Italien in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ins Abseits. Zwar stieg die Bevölkerungszahl von 1700 bis 1800 von 13,6 auf 18,3 Millionen, doch sank angesichts erheblich schnellerer Wachstumsraten in vielen Nachbarländern der Anteil an der europäischen Gesamtbevölkerung.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Vor allem aber gelang es der Agrarproduktion trotz Ansätzen zur Liberalisierung etwa im [[Großherzogtum Toskana]] (1764) kaum mehr, mit der Zahl der Konsumenten mitzuhalten.<br />
<br />
=== Merkantilismus, Ausweitung des Kapitalverkehrs ===<br />
Trotz einer gewissen Zunahme des münzlosen Geldverkehrs und des Umfangs des Kreditwesens<ref>Dazu Elena Maria Garcia Guerra, Giuseppe De Luca: ''Il Mercato del Credito in Età Moderna. Reti e operatori finanziari nello spazio europeo.'' Mailand 2010.</ref> blieb Europas Wirtschaft weiterhin von der Zufuhr von Edelmetallen abhängig. Die Versorgung mit Silber und Gold hing dabei zunehmend von Lateinamerika ab. Um 1660 kamen von dort Gold und Silber im Wert von rund 365 Tonnen Silber, während Europa nur noch 20 bis 30 Tonnen pro Jahr produzierte.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 95f.</ref> Gleichzeitig erhöhte sich der Abfluss in den Ostseeraum, die Levante und Ostasien so stark, dass nur 80 t in Europa blieben. Spanien investierte den überwiegenden Teil dieses Edelmetallstroms in den [[Achtzigjähriger Krieg|Krieg gegen die Niederlande]]. Ähnlich agierte Frankreich. Dabei standen kurzfristige fiskalische Interessen im Vordergrund, aber langfristig löste diese Politik Inflationsschübe aus und schadete der Wirtschaft. Die Münzen wurden abgewertet, bis sie kaum noch Edelmetall enthielten, so dass sie durch reine [[Kupfermünze]]n ersetzt wurden. 1607 – unter [[Philipp III. (Spanien)|Philipp III.]] – kam es zum dritten spanischen Staatsbankrott;<ref>Bernd Roeck: [http://books.google.de/books?id=MytxfKWsfn4C&pg=PA124&lpg=PA124&dq=1607+Spanien+bankrott&source=bl&ots=Vu98WIqB7e&sig=XcFyoOtPZVE5BCiFiH1qxl1RsAw&hl=de&sa=X&ei=rTHMU5T6GIWR7AaU3oDQBg&ved=0CC8Q6AEwAg#v=onepage&q=1607%20Spanien%20bankrott&f=false Geschichte Augsburgs]</ref> willkürliche Abwertungen folgten bis 1680. Dabei lag der Nennwert viel höher als der Metallwert, die Münzen wurden zudem immer wieder beschnitten ([[Münzverschlechterung]]). Die Abgaben erfolgten hingegen nach dem Gewicht. Der „Bauer war grausam gefangen zwischen zwei Gruppen; die eine gab ihm das Geld allein nach dem Nennwert, die andere nahm es ihm allein nach Gewicht.“<ref>Thomas Babington Macaulay, zitiert nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 110.</ref><br />
<br />
[[Datei:Colbert1666.jpg|mini|links|Porträt des Beraters des französischen Königs Jean-Baptiste Colbert, Philippe de Champaigne 1655. Colberts merkantilistische Politik behinderte die italienischen Exporte und führte zur Stärkung französischer Konkurrenz.]]<br />
<br />
Auch Frankreich ging zunächst den Weg der Kupferwährung, zuletzt 1654 bis 1657, und importierte dazu große Mengen aus Schweden. [[Jean-Baptiste Colbert|Colbert]], Berater König [[Ludwig XIV.|Ludwigs XIV.]], setzte jedoch ab 1659 stärker darauf, den Abfluss von Edelmetallen aus Frankreich zu bremsen und den Zufluss zu fördern. Um dies zu erreichen, stärkte er die Exportgewerbe, erhöhte den Gold- zu Lasten des Silberkurses. Dadurch stabilisierte er die Staatsschuld so sehr, dass sich viele Ausländer entschlossen, ihre Edelmetalle hier anzulegen. Colbert gab ab 1671 Rentenpapiere gegen Geldeinlage zu 7 % Zinsen aus; zudem hielt er das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber bei etwa 15:1.<br />
<br />
Das Heilige Römische Reich sah hingegen eine starke Kupferinflation (s. [[Kipper- und Wipperzeit]]), die erst während des [[Dreißigjähriger Krieg|Dreißigjährigen Krieges]] zurückging. Gegen Ende des Jahrhunderts stabilisierten sich die Währungen. Gewinner dieser Entwicklung waren die [[Niederlande]], die den [[Dukaton]] (nach dem Vorbild des [[Zecchine|venezianischen Dukaten]]) nicht als Gold-, sondern als Großsilbermünze von hohem Ansehen einführten. Dies verstärkte wiederum den Zufluss spanischen Silbers und die Wiederausfuhr. 1683 stellte man fest, dass von den 15–18 Millionen [[Gulden]], die als spanisches Silber hereinflossen, nur 2,5 bis 4 Millionen im Lande blieben. Doch nicht nur hierin gewannen die Niederlande und wenig später England, einen entscheidenden Vorsprung. Zunächst gründete man 1609 nach dem Vorbild des venezianischen [[Banco di Piazza di Rialto]] (1587–1638) die [[Amsterdamer Wechselbank|Wisselbank]]. Ihr gelang es nicht nur, den Münzwert zu stabilisieren, sondern auch durchzusetzen, dass alle größeren Wechsel nur noch über diese [[Clearing]]stelle verrechnet werden durften. Dieser bargeldlose Ausgleich von Forderungen zwischen Konten gab ihr eine der Eigenschaften einer [[Zentralbank]].<ref>Stephen Quinn, William Roberds: ''An Economic Explanation of the Early Bank of Amsterdam, Debasement, Bills of Exchange, and the Emergence of the First Central Bank.'' Federal Reserve Bank of Atlanta, September 2006, S. 41–44.</ref><br />
<br />
Doch man ging viel weiter als in Italien, um den [[Geldumlauf]] zu erhöhen und zu beschleunigen. Man gestattete den Kunden ähnlich wie in Venedig Gold zu deponieren, wofür sie als Quittung ''Recepissen'' erhielten. Am Edelmetallmarkt [[Amsterdam]], der bald zum bedeutendsten wurde, waren einerseits alle Münzen in ausreichender Menge vorhanden, vor allem aber liefen nur noch die ''Recepissen'' als Bargeld für größere Beträge um. Eine ähnliche Ausweitung des Geldverkehrs erreichte Frankreich durch die Ausgabe von verzinslichen Staatspapieren, die gleichfalls per [[Indossament]] veräußert werden konnten. So weitete man die umlaufende Geldmenge aus und verbilligte auf diese Art langfristig Kredite, was wiederum Handel und Produktion weiter stimulierte. Gerade in dieser Zeit ging, nachdem der venezianische [[Pfefferhandel]] lange Widerstand geleistet hatte, ab den 1620er Jahren sein Volumen erheblich zurück. Wenige Jahre später galt Pfeffer nicht mehr als „östliche“ Ware, sondern als „westliche“. Holländer und Engländer – Letzteren gelang 1663 der Einstieg in die [[Goldwährung]], 1697/98 die Währungsstabilisierung –, zeitweilig Portugiesen, hatten den Gewürzhandel weitgehend monopolisiert. Darüber hinaus fielen die Landhandelswege nach Asien immer mehr zurück, Venedig verlor nach und nach seine Kolonien.<br />
<br />
Der Handel mit dem Osten kam im Lauf des 17. Jahrhunderts zunehmend in holländische und englische Hand, um im 18. Jahrhundert weitgehend von Engländern dominiert zu werden. Sie waren in der Gewerbeorganisation, in der wendigen Anpassung an sich verändernde Moden und Märkte, aber auch durch die hinter den Händlern stehende politische Macht und schließlich durch bessere Kapitalausstattung überlegen. Während industriell gefertigte Tuche auf den italienischen Markt drängten, wanderten Zucker- und Baumwollproduktion, zwei bedeutende Produktionszweige seit dem 15. Jahrhundert, Richtung Amerika ab.<br />
<br />
Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb in Italien das [[Indossament]] verboten. Damit blieb der bargeldlose Verkehr in den Händen der Messbankiers, nicht der Kaufleute. Zwar griffen italienische Merkantilisten wie [[Bernardo Davanzati]] (1529–1606) die französischen Ideen auf, doch wirkte seine ''Lezione delle monete'' (1588) eher im Ausland als in Italien. [[Antonio Serra]] (1568–1620) erörterte, wie man die [[Handelsbilanz]] zu deuten habe und wie man in Gebieten den Geldumlauf sichern könne, die nicht über Gold- oder Silberbergbau verfügten, wie das Königreich Neapel (gedruckt 1613).<ref>Pietro Custodi (Hrsg.): ''Breve trattato delle cause che possono far abbondare li regni d’oro e d’argento dove non sono miniere.'' Mailand 1803.</ref> Die italienischen Staaten reformierten ihre Münzsysteme, die weiterhin auf Gold und Silber basierten ([[Bimetallismus]]), versuchten dabei die Kupfermünzen zu begrenzen und die Münzwerte an die Gold-Silber-Relation anzupassen. Venedig reformierte sein Münzwesen 1722 und 1733, Genua ab 1745, Savoyen 1755 und Mailand 1778. Dabei zeichneten sich Ansätze ab, nicht nur die staatlichen Währungsräume zu vereinheitlichen und die Zahl der verschiedenen Münzen zu verringern, sondern auch in ganz Italien zu Vereinheitlichungen zu gelangen.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 124f.</ref><br />
<br />
Zudem setzte sich die Vorstellung durch, Geld habe im Wirtschaftsablauf neutral zu sein (siehe [[Geldfunktion]]). Die aufkommenden Zentralbanken sollten nicht willkürlich Geld auflegen, sondern über Kreditvergabe den Geldumlauf beschleunigen. Für [[David Hume]] (1711–1776) sollte es nur noch das „Öl für das Wirtschaftsgetriebe“ darstellen; [[Adam Smith]] (1723–1790) trennte Geld- und Wirtschaftssphäre vollständig. Es war noch nicht möglich, eine [[Papierwährung]] durchzusetzen; fehlgeschlagene Versuche, wie etwa durch [[John Law]], erhöhten das Misstrauen gegen solche Versuche, so dass die partielle Abhängigkeit vom Bergbau fortbestand.<br />
England hatte einen weiteren wirtschaftlichen Vorteil, nachdem es die Ausgabe von Banknoten stabilisiert hatte. Die [[Bank of England]] erhielt in London ein Monopol, während ''Country Banks'' ab 1708 das ländliche Kapital mobilisierten. Ab der Mitte des Jahrhunderts kamen zunehmend [[Privatbankier|Privatbanken]] auf, zum Beispiel die [[Barings Bank]].<br />
<br />
1821 stellte die Bank of England die Einlösepflicht von Banknoten in Gold („[[Golddeckung]]“) wieder her, eine Regelung, die sie auch während der Bankenkrise von 1825/26 unter Rückgriff auf ihre [[Goldreserven]] durchhielt. Bald setzte sich der [[Goldstandard]] durch, und die Zentralbank übernahm die Funktion einer Bank der Banken, um die Liquidität des Bankensystems zu gewährleisten.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 227.</ref><br />
<br />
In Italien bestanden bei der [[Einigung Italiens|Einigung des Landes]] (1861) fünf Banken, die Noten herausgeben durften. Diese waren die ''Banca nazionale del Regno d’Italia'', die ''Banca nazionale toscana'', die ''Banca Romana'', der ''Banco di Sicilia'' und der ''Banco di Napoli''; 1870 kam die ''Banca toscana di Credito'' hinzu. Nach dem Zusammenbruch der 'Banca Romana' wurde 1893 die [[Banca d’Italia]] gegründet; sie erhielt 1920 das Monopol auf die Herausgabe von Banknoten.<br />
<br />
== Napoleon, Wiener Kongress (1796–1815) ==<br />
[[Datei:Italia, 40 lire di napoleone imperatore, 1808.JPG|mini|40-Lire-Stück mit Napoleon als König von Italien]]<br />
<br />
1796/97 unterwarf [[Napoleon Bonaparte]] im [[Italienfeldzug (Erster Koalitionskrieg)|Italienfeldzug]] große Teile Ober- und Mittelitaliens und zwang im [[Frieden von Campo Formio]] Österreich und das römisch-deutsche Kaisertum zur Anerkennung seiner Eroberungen und zum Verzicht auf die Lehensrechte in Italien. Österreich erhielt nach der Selbstauflösung der [[Republik Venedig]] deren Gebiet (außer den [[Ionische Inseln|Ionischen Inseln]]). Frankreich gründete im übrigen Italien [[Vasallenstaat]]en. Teile Norditaliens wurden zur „Transalpinischen Republik“ zusammengefasst, die dann in Cisalpinische bzw. [[Cisalpinische Republik|Cisalpine Republik]] umbenannt wurde. Genua wurde zur [[Ligurische Republik|Ligurischen Republik]], das 1799 eroberte [[Königreich Neapel]] zur [[Parthenopäische Republik|Parthenopäischen Republik]]. Der Kongress der kurzlebigen [[Cispadanische Republik|Cispadanischen Republik]] erklärte am 7. Januar 1797 mit der aus Frankreich importierten grün-weiß-roten Trikolore – in der damaligen Variante mit Querstreifen – zum ersten Mal einen Vorläufer der [[Flagge Italiens]] zur Nationalflagge eines italienischen Staates;<ref>Vgl. etwa [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 4.</ref> die grün-weiß-rote Trikolore wurde in der Folgezeit zu einem wichtigen Symbol der italienischen Nationalbewegung. 1798 nahmen die Franzosen Papst [[Pius VI.]] gefangen und ließen den [[Kirchenstaat]] zur [[Römische Republik (1798–1799)|Römischen Republik]] ausrufen.<br />
<br />
Im [[Zweiter Koalitionskrieg|Zweiten Koalitionskrieg]] erlitt Frankreich 1799 in Italien eine Niederlage gegen Österreich und Russland. Die französische Herrschaft in Italien brach zusammen, die alte Ordnung (so der Kirchenstaat) wurde zum Teil wiederhergestellt. 1800 kam es zur erneuten französischen Eroberung, Napoleon ließ Italien wieder neu ordnen. Das [[Großherzogtum Toskana]] wurde zum [[Königreich Etrurien]], die ''Cisalpine Republik'' zur ''Republik Italien'' mit Napoleon als erstem Konsul. Piemont blieb unter französischer Militärverwaltung. Nach seiner [[Kaiserkrönung Napoleons I.|Kaiserkrönung]] 1804 wandelte Napoleon die Republik Italien zum [[Königreich Italien (1805–1814)|Königreich Italien]] um. Er krönte sich 1805 in Mailand mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] zum ''König von Italien''. Im [[Friede von Pressburg|Frieden von Preßburg]] 1805 nach dem Dritten Koalitionskrieg verlor Österreich das venezianische Gebiet wieder an Frankreich, das den Westteil Venetiens dem ''Königreich Italien'' zuschlug und aus dem östlichen Teil (den Gebieten an der östlichen Adria) einen neuen Vasallenstaat formte, die [[Illyrische Provinzen|Illyrischen Provinzen]]. 1806 wurden die Bourbonen erneut aus dem Königreich Neapel verjagt und Napoleons Bruder [[Joseph Bonaparte|Joseph]] dort als Herrscher eingesetzt, 1808 sein Schwager [[Joachim Murat]].<br />
<br />
[[Datei:Italie 1812.png|mini|links|Italien im Jahr 1812]]<br />
[[Datei:Italy 1843 de.svg|mini|Italien nach dem [[Wiener Kongress]]]]<br />
<br />
Auf Sizilien und Sardinien konnten sich die (süditalienischen) Bourbonen und die Savoyer unter britischem Flottenschutz halten. 1808 besetzte Napoleon erneut den Kirchenstaat und schlug ihn dem Königreich Italien zu. Teile des Kirchenstaats wurden annektiert, ebenso das Königreich Etrurien, Ligurien und Parma. Bis auf Sizilien und Sardinien stand Italien also unter direkter oder indirekter französischer Herrschaft, ehe 1814/15 die napoleonische Herrschaft zusammenbrach.<br />
<br />
Durch den [[Wiener Kongress]] kam es zur Neuordnung Italiens. Österreich bekam zur Lombardei nun Venetien dazu, das damit seine Unabhängigkeit endgültig verlor; der Kirchenstaat wurde wiederhergestellt, verlor aber [[Avignon]] an Frankreich; das [[Königreich Sardinien]] bekam die Republik Genua zugesprochen; in Parma-Piacenza und [[Guastalla]] wurde Napoleons Frau, die Habsburgerin [[Marie-Louise von Österreich|Marie-Louise]], als Herrscherin eingesetzt; [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] wurde fortan vom Haus Habsburg-Este regiert; das von einer habsburgischen Nebenlinie regierte [[Großherzogtum Toskana]] wurde wiederhergestellt; die zuvor formal getrennten Königreiche Neapel und Sizilien wurden zum [[Königreich beider Sizilien]] vereinigt.<br />
<br />
== {{Anker|Nationale Einigung Italiens}}Unabhängigkeitsbewegungen und Einigungskriege (bis 1870) ==<br />
{{Hauptartikel|Risorgimento}}<br />
<br />
Die Epoche der Nationalstaatsgründung – mit umstrittenen zeitlichen Grenzen – wird in Italien mit dem Begriff „[[Risorgimento]]“ („Wiederauferstehung“) beschrieben.<ref>Dazu [[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 91.</ref><br />
<br />
=== Kampf gegen Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus ===<br />
Nach 1815 war das Königreich Sardinien der letzte bedeutende Staat unter einer einheimischen Dynastie. Italien unterlag weiterhin dem Einfluss fremder Mächte, obwohl durch den Untergang des [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation]] 1806 „Reichsitalien“ mit den daran hängenden Ansprüchen und Titeln verschwand. Je mehr die (in der Regel ausländischen) Fürsten Italiens nun bestrebt waren, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Zeit vor Napoleon zurückzudrehen, desto mehr wurde der Korse als fortschrittlicher, anti-absolutistischer Herrscher gesehen.<br />
<br />
[[Datei:Paleis met tuin Caserta.jpg|mini|links|Der [[Haus Bourbon|Bourbonenpalast]] von Caserta (Reggia di Caserta) entstand ab 1752 und sollte der eindrucksvollste Palast Europas werden. Allein der Park erstreckt sich über eine Fläche von 120&nbsp;ha. Neben dem Palast in Neapel bestanden drei weitere Hauptresidenzen. Heute gehört die Gesamtanlage zum Weltkulturerbe.]]<br />
[[Datei:Donghi 5 giornate 1848.jpg|mini|Barrikaden während der ''Fünf Tage von Mailand'', Aquarell, Felice Donghi (1828–1887), März 1848]]<br />
<br />
Der Wunsch, Italien von Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus zu befreien, erfasste immer mehr Menschen. Geheimbünde entstanden, vor allem die in Neapel einflussreichen, gegen die Franzosen kämpfenden und Aufstände organisierenden „[[Carbonari]]“ (Köhler). Eine bedeutende Rolle spielten der Publizist [[Giuseppe Mazzini]] und die von ihm gegründete Bewegung „[[Junges Italien|Giovine Italia]]“ (Junges Italien), der sich in den [[1830er#Europa|1830er Jahren]] viele ehemalige Mitglieder der Carboneria nach deren weitgehender Zerschlagung anschlossen. Die Carbonari zwangen im Juli 1820 die nach Napoleon zurückgekehrten Spanier unter [[Ferdinand I. (Sizilien)|Ferdinand I.]] zur Annahme [[Verfassung von Cádiz|einer Verfassung]], die neben Gott das Volk als Souverän und Ursprung der Macht betonte. Sie wurde nach der Unterdrückung des Aufstands aber widerrufen.<ref>Jens Späth: ''Revolution in Europa 1820–23. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und Sardinien-Piemont.'' (= ''Italien in der Moderne'', Bd. 19), Böhlau, Köln 2012, ISBN 978-3-412-22219-2 ([https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/archiv-fuer-sozialgeschichte/2013/08_09/revolution-in-europa-1820201323 Rezension]).</ref> Eine zweite, durch die französische [[Julirevolution von 1830]] ausgelöste Welle von Erhebungen Anfang 1831 in [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] und im Kirchenstaat scheiterte ebenfalls.<ref>[[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 49–52.</ref><br />
<br />
=== Führungsrolle Piemonts, gescheiterte Revolutionen ===<br />
[[Datei:Italien 1843–1870.png|mini|Italien 1843–1870, gelb und orange habsburgisch, Schritte der Vereinigung]]<br />
Das vergleichsweise liberal regierte [[Königreich Sardinien|Königreich Sardinien-Piemont]], das 1848 die [[Jüdische Emanzipation|Emanzipation der Juden]] und [[Statuto Albertino|eine Verfassung]] durchsetzte, machte sich die Forderung nach einer Einigung Italiens zu eigen, es kam zu den [[Italienische Unabhängigkeitskriege|Italienischen Unabhängigkeitskriegen]].<br />
<br />
Nach mehrtägigen Straßen- und Barrikadenkämpfen kam es im [[Revolutionen 1848/1849|Revolutionsjahr 1848]] zur Bildung provisorischer Regierungen in Mailand (18. bis 22. März 1848), [[Repubblica di San Marco|Venedig]] (17. März 1848 bis 22. August 1849) und Palermo, dessen Parlament Sizilien für unabhängig erklärte (12. Januar 1848 bis 15. Mai 1849). 1849 erhob sich die Bevölkerung der ewigen Stadt gegen die weltliche Herrschaft des Papstes, woraufhin die von einem [[Triumvirat]] regierte [[Römische Republik (1849)|Römische Republik]] (9. Februar bis 4. Juli 1849) ausgerufen wurde.<br />
<br />
Die Revolutionen wurden allesamt niedergeschlagen; die Armee Sardinien-Piemonts, dessen König [[Karl Albert (Sardinien-Piemont)|Karl Albert]] am 24. März 1848 Österreich den Krieg erklärt hatte, wurde im Juli 1848 bei [[Schlacht bei Custozza (1848)|Custozza]] und nach Wiederaufnahme des Kriegs im März des Folgejahrs bei [[Schlacht bei Novara (1849)|Novara]] von den Österreichern unter [[Josef Wenzel Radetzky von Radetz|Radetzky]] geschlagen. Der Monarch dankte daraufhin zugunsten seines Sohnes [[Viktor Emanuel II.]] ab. In der Folge kam es zur Restauration der Herrschaft der Bourbonen, Österreichs und Papst [[Pius IX.|Pius’ IX]].<br />
<br />
[[Datei:With Victor Emmanuel.jpg|mini|[[Giuseppe Garibaldi|Garibaldi]] und [[Viktor Emanuel II.]], Sebastiano De Albertis (1828–1897), um 1870]]<br />
<br />
=== Staatsgründung, Anschluss des Südens an Piemont (1860) ===<br />
[[Datei:Italy 1864 de.svg|mini|links|Italien 1860–1866]]<br />
[[Datei:Italy 1870 de.svg|mini|links|Italien 1866–1870 nach dem [[Dritter Italienischer Unabhängigkeitskrieg|dritten Krieg gegen Österreich]]]]<br />
<br />
1855/56 nahm Savoyen auf Seiten Frankreichs am [[Krimkrieg]] teil, wodurch Viktor Emanuel die Unterstützung der dortigen Regierung für seine Einigungspläne erlangte. 1859 griffen die Savoyer erneut Österreich in Oberitalien an, diesmal mit Unterstützung Frankreichs ([[Sardinischer Krieg]]). In den Schlachten von [[Schlacht von Magenta|Magenta]] und [[Schlacht von Solferino|Solferino]] unterlagen die Österreicher, im [[Vorfrieden von Villafranca]] fiel die Lombardei an Savoyen. Parallel dazu gab es Aufstände in der Toskana, [[Modena]] und in anderen Gebieten. Als Folge schlossen sich [[Herzogtum Parma|Parma-Piacenza]], [[Großherzogtum Toskana|Toskana]], [[Herzogtum Modena|Modena]] und Teile des Kirchenstaats 1860 Sardinien-Piemont an.<br />
<br />
Die Volksabstimmungen, deren Abstimmungsmodus nicht frei oder fair genannt werden kann,<ref>Es standen nur die Alternativen „Annessione alla monarchia costituzionale del Re Vittorio Emanuele II“ und ein „Regno separato“ zur Wahl. Zudem galt das piemontesische Zensuswahlrecht und Analphabeten, deren Zahl fast 80 % betrug, waren von der Abstimmung ausgeschlossen. Vgl. [[Peter Stadler]]: ''Cavour. Italiens liberaler Reichsgründer''. Oldenbourg Verlag, München 2001, ISBN 3-486-56509-5, S. 146.</ref> über den Anschluss an Italien ergaben in den Regionen folgende Ergebnisse:<ref>Nach: Jörg Fisch: ''Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Domestizierung einer Illusion'', Beck, München 2010, S. 125, „Tabelle 3: Die Plebiszite im Zusammenhang mit der italienischen Einigung, 1860–1870“.</ref><br />
{| class="wikitable sortable"<br />
! Gebiet !! Ja !! Nein !! Datum<br />
|-<br />
| [[Toskana]]<br />
|style="text-align:right"| 366.571<br />
|style="text-align:right"| 14.925<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Emilia-Romagna|Emilia]]<br />
|style="text-align:right"| 426.006<br />
|style="text-align:right"| 756<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Nizza]]<br />
|style="text-align:right"| 25.743<br />
|style="text-align:right"| 160<br />
|style="text-align:right"| 15. April 1860<br />
|-<br />
| [[Savoyen]]<br />
|style="text-align:right"| 130.533<br />
|style="text-align:right"| 237<br />
|style="text-align:right"| 22. April 1860<br />
|-<br />
| [[Neapel]]<br />
|style="text-align:right"| 1.302.064<br />
|style="text-align:right"| 10.312<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Sizilien]]<br />
|style="text-align:right"| 432.053<br />
|style="text-align:right"| 667<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Marken]]<br />
|style="text-align:right"| 133.807<br />
|style="text-align:right"| 1.212<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Umbrien]]<br />
|style="text-align:right"| 97.040<br />
|style="text-align:right"| 380<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Venedig]], Mantua<br />
|style="text-align:right"| 647.246<br />
|style="text-align:right"| 69<br />
|style="text-align:right"| 21./22. Oktober 1866<br />
|-<br />
| [[Rom]], Provinzen<br />
|style="text-align:right"| 133.681<br />
|style="text-align:right"| 1.507<br />
|style="text-align:right"| 2. Oktober 1870<br />
|}<br />
<br />
Eine besondere Rolle im Einigungsprozess spielten die Freiwilligenverbände unter Führung [[Giuseppe Garibaldi]]s, die 1860 im Zuge des legendären „[[Zug der Tausend|Zugs der Tausend]]“ das [[Königreich beider Sizilien]] unter ihre Kontrolle brachten. Auch hier floh König [[Franz II. (Sizilien)|Franz II.]], und Garibaldi rief sich im Namen Viktor Emanuels zum Diktator Siziliens aus. Der Ministerpräsident von Sardinien-Piemont, [[Camillo Benso von Cavour|Cavour]], sandte ein Heer in den Süden, einerseits um Garibaldi zu Hilfe zu kommen, andererseits, um zu verhindern, dass das Risorgimento eine republikanische Stoßrichtung erhielt. Die Truppen von Sardinien besetzten auch weitere Teile des Kirchenstaats (Umbrien und Marken). Plebiszite in Umbrien, in den Marken und in beiden Sizilien besiegelten den Anschluss an Sardinien-Piemont. Am 17. März 1861 wurde Viktor Emanuel II. zum König von Italien ausgerufen.<ref>Dazu ausführlich Denis Mack Smith: ''Cavour and Garibaldi 1860. A study in political conflict.'' Cambridge University Press, reissued with a new preface, Cambridge 1985 (1954).</ref><br />
<br />
=== Anschluss Venetiens und des Friauls (1866) sowie des Kirchenstaats (1870) ===<br />
Infolge der Niederlage Österreichs gegen Preußen in der [[Schlacht bei Königgrätz]] im [[Deutscher Krieg|Krieg von 1866]], in dem Italien Verbündeter des Siegers war, jedoch bei [[Seeschlacht von Lissa (1866)|Lissa]] und [[Schlacht bei Custozza (1866)|Custozza]] selbst traumatische Niederlagen erlitt, kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] gemäß dem [[Frieden von Wien (1866)|Frieden von Wien]] vom 3. Oktober 1866 an Italien. Die offizielle Übergabe der Stadt erfolgte am 19. Oktober, Plebiszite bestätigten am 21. und 22. Oktober den Anschluss.<br />
<br />
Versuche Garibaldis, Rom für das neu gegründete Königreich Italien zu erobern, wurden 1862 am [[Aspromonte]] bzw. 1867 bei [[Mentana]] von italienischen bzw. päpstlichen und französischen Truppen gestoppt.<ref>Pascal Oswald: ''Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘. Vom Volturno nach Mentana (1860–1870).'' (= ''Geschichte & Kultur. Kleine Saarbrücker Reihe.'' Band 9) Verlag für Geschichte & Kultur, Trier 2023 ([https://riviste.unimi.it/index.php/risorgimento/article/view/27361 Rezension (italienisch)]). Für eine digitale Kurzfassung vgl. auch Pascal Oswald: ''[http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf Vom Volturno nach Mentana: Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘.]'' In: ''risorgimento.info'' (abgerufen am 6. März 2020).</ref> Entgegen den Bestimmungen der 1864 zwischen Italien und Frankreich abgeschlossenen [[Septemberkonvention]], in deren Folge die Hauptstadt von Turin nach Florenz verlegt wurde, eroberten 1870 italienische Truppen den verbliebenen Teil des [[Kirchenstaat]]es. Daraufhin wurde Rom 1871 die neue Hauptstadt Italiens. Papst [[Pius IX.]], der seine weltliche Herrschaft damit verloren hatte, sah sich bis zu seinem Tod 1878 als „Gefangener im Vatikan“ und verbot Katholiken die Teilnahme am politischen Leben Italiens.<ref>[[Denis Mack Smith]]: ''Storia d’Italia 1861–1969.'' Laterza, Bari 1972 (Sonderausgabe mit ''[[Il Giornale]]''), S. 151.</ref> Die sogenannte [[Römische Frage]] belastete das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Kirche noch bis zum Abschluss der [[Lateranverträge]] 1929 unter Mussolini.<br />
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=== Gleichstellung der Juden ===<br />
Im Norden waren die Juden, deren Zahl zwischen 1800 und 1900 von 34.000 auf 43.000 vergleichsweise langsam stieg,<ref>Michele Sarfatti: ''Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione'', Einaudi, Turin 2000, S. 9.</ref> lange nicht anerkannter Teil der Gesellschaft, wie etwa die [[Viva-Maria-Bewegung]] von 1799 zeigte, die nach dem Abzug der Franzosen in der Toskana wütete und der allein in Siena 13 Juden zum Opfer fielen.<ref>[[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 169f.</ref> Aber auch Napoleon war spätestens ab 1806 „diesen Galgenvögeln“ gegenüber feindselig eingestellt, allerdings zielte er stärker auf ihre Verfassung und wies Vorschläge, sie auszuweisen, zurück.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 179.</ref> Er wollte aus ihnen „nützliche“ Franzosen machen und sie der Kontrolle eines eigens eingerichteten „Großen Sanhedrin“ unterstellen, der auch für die Gebiete in Italien verantwortlich war, die Frankreich angeschlossen worden waren. Napoleons Schwester [[Elisa Bonaparte|Elisa Baciocchi]], die 1809 Großherzogin der Toskana wurde, setzte sich hingegen für die Gleichstellung der Juden ein.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 184f.</ref> Die jüdischen Gemeinden, vor allem die Älteren, standen ihrerseits den französischen Reformen, insbesondere der Einführung der Zivilehe, meist ablehnend gegenüber. Beim Ende der französischen Herrschaft verhinderten entsprechend vorbereitete Armeeeinheiten neue [[Pogrom]]e in Florenz und in Livorno, die aufzuflammen drohten, weil viele glaubten, die Juden seien Verbündete der Fremdherrscher gewesen. Doch der wirtschaftliche Schaden dieser Fremdherrschaft war so groß gewesen, dass die Gemeinden die Rückkehr der alten Herren feierten.<br />
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Die Jüngeren setzten zunehmend auf die nationale Einigung Italiens, zunächst auf eine Verfassung. Sie nahmen Kontakt zu den Carbonari auf, vor allem aber nutzten sie das Vehikel der gemeinsamen Sprache, des toskanischen Dialekts, zur Betonung der nationalen Einheit. Während der Revolutionsjahre 1848 und 1849, in der Toskana noch kurz zuvor, erhielten die Juden erstmals die vollständige rechtliche Gleichstellung. Doch 1852 wurde die Verfassung in der Toskana annulliert, was im übrigen Italien scharf kritisiert wurde. Viele Juden hatten inzwischen freie Berufe ergriffen und fürchteten die Rückkehr zu den alten Verhältnissen. Herzog [[Leopold II. (Toskana)|Leopold]] stand mit seiner neo-absolutistischen Rechristianisierungspolitik bald allein da. Mit der Einigung Italiens wurden die Juden endgültig gleichgestellt, wenn auch antisemitische Strömungen fortbestanden, insbesondere im Wissenschaftsbereich.<br />
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== {{Anker|Königreich Italien}}Königreich Italien (1861–1946) ==<br />
{{Hauptartikel|Königreich Italien (1861–1946)}}<br />
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=== Königreich, ostafrikanische Kolonien, Ära Giolitti ===<br />
Das 1861 gegründete Königreich Italien war mit wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, dem Nord-Süd-Gegensatz und dem [[Brigant#Briganten in Süditalien|Brigantenwesen]] im Süden konfrontiert, das 1861 bis 1865 Züge eines Bürgerkriegs annahm. Über Jahre wurde der Ausnahmezustand immer wieder verlängert, [[Militärgericht|Militärtribunale]] ließen eine unbekannte Zahl von Rebellen und Handlangern ''(manutengoli)'' inhaftieren oder [[Erschießung|füsilieren]]. 1861 bis 1862 wurden allein in der [[Provinz Catanzaro]] 1560 Briganten „ausgeschaltet“.<ref>Lutz Klinkhammer: ''Staatliche Repression als politisches Instrument. Deutschland und Italien zwischen Monarchie, Diktatur und Republik.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich'', Oldenbourg, München 2005, S. 133–157, hier: S. 139.</ref> Erst die Auflösung der Militärzonen 1870 zeugte vom Ende der Rebellionen. Es wurde versäumt, die dortigen Verhältnisse durch eine Landreform und eine gerechte Besteuerung zu verbessern. Über 75 % der 21,8 Millionen Einwohner waren bei der Gründung Italiens (1861) Analphabeten.<ref>Waltraud Weidenbusch: ''Das Italienische in der Lombardei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schriftliche und mündliche Varietäten im Alltag'', Gunter Narr Verlag, 2002, S. 67f. liefert diese Zahlen, wenn sie auch für die Lombardei eine höhere Alphabetisierungsrate sieht.</ref><br />
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Bis 1876 war im liberalen Italien die „historische Rechte“ ''(Destra Storica)'' an der Regierung. 1876 kam mit [[Agostino Depretis]] die „Linke“ ''(Sinistra)'' an die Macht, Sie hielt sich dort bis zum Regierungsantritt [[Francesco Crispi]]s 1887. Diese Lager sind nicht mit [[Politische Partei|politischen Parteien]] zu verwechseln. Für die Regierungspraxis im liberalen Italien wurde zunehmend der ''[[Trasformismo]]'' kennzeichnend, der darauf abzielte, Teile der Opposition ins eigene Lager herüberzuziehen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 205–213.</ref><br />
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[[Datei:Adoua 1.jpg|mini|links|Äthiopische Truppen greifen italienische an, Gravur um 1896]]<br />
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1882 trat Italien dem im Oktober 1879 geschlossenen [[Zweibund]] (Österreich-Ungarn und dem [[Deutsches Kaiserreich|Deutschen Reich]]) bei, der dadurch zum [[Dreibund]] wurde. Italien suchte Anschluss an die Kolonialmächte. 1881–1885 eroberte es äthiopische Gebiete am [[Rotes Meer|Roten Meer]], die 1890 zur [[Kolonie Eritrea]] zusammengefasst wurden. 1889 folgte der südliche Teil [[Somalia]]s; sie wurden später [[Italienisch-Somaliland]]. Der Versuch, weitere äthiopische Gebiete zu erobern, scheiterte 1894–1896 mit der [[Schlacht von Adua|Niederlage von Adua]]. Im [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg mit dem Osmanischen Reich]] 1911/12 eroberte Italien [[Italienisch-Libyen|Libyen]] und den [[Italienische Ägäis-Inseln|Dodekanes]]. Der italienische Expansionsdrang im Zeitalter des [[Imperialismus#Italien|Imperialismus]] ([[Italienische Kolonien]], [[Italienischer Irredentismus]]) wurde vom Großbürgertum entscheidend<!--??--> mitgetragen; im Fall Libyen spielte [[Giovanni Giolitti#Politische Ämter|Giovanni Giolitti]] (von November 1903 bis März 1914 Ministerpräsident von fünf Kabinetten) eine wichtige Rolle.<br />
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[[Datei:HumbertoI-1900CyC.jpg|mini|Titelblatt einer spanischen Zeitung zum Tod König Umbertos I.]]<br />
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Starke soziale Spannungen traten offen zu Tage, Italiens Sozialgesetzgebung belegte in Europa den letzten Platz.<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Berlin 1997, S. 90.</ref> Die Sozialisten standen nicht nur in Opposition zur Sozialpolitik, sondern auch zur kolonialen Expansion. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] finanzierte die Kolonialpolitik mit Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen. Die innenpolitischen Gegensätze kulminierten im [[Bava-Beccaris-Massaker]] von Mailand. Dort war es am 7. Mai 1898 zu Massendemonstrationen gegen die steigenden Brotpreise gekommen. General [[Fiorenzo Bava-Beccaris]] ließ, nachdem der Belagerungszustand ausgerufen worden war, mit Artillerie und Gewehren in die Menge schießen.<ref>[[Ada Negri]] widmete dem Ereignis ein Sonett mit Titel [https://archive.org/stream/maternita00negruoft#page/193/mode/1up ''Sette maggio 1898''] (in der Nachdichtung von Hedwig Jahn mit dem Titel „Der siebente Mai 1898“ erschienen in ''Mutterschaft'', Berlin 1905, S. 104).</ref> Dabei wurden je nach Angaben zwischen 82 und 300 Personen getötet.<ref>[[Adolphus William Ward]], [[George Walter Prothero]], [[Stanley Leathes]] (Hrsg.): ''Riots at Milan''. In: ''[[The Cambridge Modern History]], Vol. XII, The Latest Age.'' University Press, Cambridge 1910, S. 220 ([https://books.google.com/books?id=vas8AAAAIAAJ&pg=PA220 online]).</ref><ref>Raffaele Colapietra: [http://www.treccani.it/enciclopedia/fiorenzo-bava-beccaris_%28Dizionario-Biografico%29/ ''Bava Beccaris, Fiorenzo''] In: Dizionario Biografico degli Italiani – Treccani, Bd. 7 (1970).</ref> König [[Umberto I.]] gratulierte dem General in einem Telegramm und zeichnete ihn mit einem Orden aus. Damit schuf er sich Feinde, und 1900 wurde er, seit 22 Jahren amtierender König, in [[Monza]] von dem Anarchisten [[Gaetano Bresci]] erschossen.<br />
<br />
Sein Nachfolger wurde [[Viktor Emanuel III.]] Politisch dominierend war aber [[Giovanni Giolitti|Giolitti]], der 1901 bis 1903 zunächst Innenminister, ab 1903 mit Unterbrechungen bis 1914 Ministerpräsident (und oft in Personalunion auch Innenminister) war. Er dominierte oder prägte die italienische Politik dermaßen, dass man von der ''Ära Giolitti'' spricht. Er war gegenüber den reformerischen und revolutionären Bewegungen zu Zugeständnissen bereit und förderte die Industrialisierung. Zwar war 1886 eine staatliche Subventionierung der privaten Krankenversicherung und 1898 eine erste obligatorische Unfallversicherung eingeführt worden,<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 87f.</ref> doch erst Giolitti führte 1912 nach deutschem Vorbild eine staatliche Sozialversicherung ein. Zudem reformierte er das Wahlrecht, so dass es keine Vermögensgrenzen mehr gab und die Zahl der Wahlberechtigten auf 8 Millionen Männer anstieg. Bereits 1919, acht Jahre vor Deutschland, entstand eine Arbeitslosenversicherung.<ref>[[Georg Wannagat]]: ''Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts.'' Bd. 1, Mohr, Tübingen 1965, S. 83.</ref><br />
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=== Massenauswanderung, zögerliche Industrialisierung, Arbeiterparteien ===<br />
[[Datei:Italienische Emigration pro Region 1876-1915.svg|mini|links|Massenauswanderung aus Italien nach Regionen, 1876 bis 1915]]<br />
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Die staatliche Reaktion auf die drastischen sozialen Veränderungen war erst sehr spät erfolgt, denn die gesellschaftlichen Eliten verweigerten sich lange und verließen sich vielfach auf das Wirken der die Sozialsysteme seit dem Mittelalter dominierenden [[Römisch-katholische Kirche in Italien|Kirche]]. Ihr stand aber kein adäquates kommunales oder zünftisches System mehr zur Seite. Die Bevölkerung Italiens wuchs von 18,3 Millionen Menschen um 1800 auf 24,7 um 1850 und auf 33,8 Millionen um das Jahr 1900.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte'', München: Beck 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Dennoch sank Italiens Anteil an der Bevölkerung Europas weiter. Dies hing zum einen mit seinem Entwicklungsrückstand zusammen und zum anderen damit, dass es ab etwa 1852 zu einer Massenauswanderung größten Ausmaßes kam. Bis 1985 wanderten rund 29 Millionen Menschen aus. Dabei kamen von 1876 bis etwa 1890 die meisten aus dem Norden und dort besonders aus Venetien (17,9 %), Friaul-Julisch-Venetien (16,1) und dem Piemont (12,5 %). Danach wanderten verstärkt Italiener aus dem Süden aus. Von 1880 bis 1925 wanderten 16.630.000 Menschen aus, wovon 8,3 Millionen aus dem Norden stammten, davon wiederum 3.632.000 aus Venetien. Aus dem Süden wanderten 6.503.000 aus und der Rest aus Mittelitalien.<ref>[http://www.emigrati.it/Emigrazione/CariAmici.asp HOME emigrati.it]</ref> Hauptziele waren die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Nachfahren der [[Italiener]] heute mit einem Bevölkerungsanteil von 6 % die drittgrößte europäische Einwanderungsgruppe nach Deutschen und Iren darstellen, [[Argentinien]], wo die Italienischstämmigen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sowie [[Brasilien]]. Auch nach [[Kanada]], [[Australien]] und in weitere Länder [[Lateinamerika]]s wanderten viele aus.<br />
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Der Umfang der Auswanderung erklärt sich zum einen aus dem Niedergang der Landwirtschaft und den scharfen Konflikten, die durch die Konservierung alter Strukturen und durch den Kapitalmangel sowie durch den Großgrundbesitz und die [[Halbpacht]] noch verschärft wurden. Zugleich bot die zögerliche [[Industrialisierung]] in den schnell wachsenden Städten kaum genügend Arbeitsplätze. Darüber hinaus war der Binnenkonsum gering, zumal der [[Fiskalismus]], der zum Ausbau der Infrastruktur für notwendig gehalten wurde, die Einkommen weiter belastete. Schließlich waren die Unternehmen im Vergleich zu den ausländischen mit nur geringem Kapital ausgestattet. Daher errichtete die Regierung von 1878 bis 1887 hohe Zollschranken und verfolgte eine protektionistische Politik, die die noch schwache Textil- und [[Schwerindustrie]] in der Aufbauphase schützen sollte. Frankreich beantwortete die [[Schutzzollpolitik]] mit entsprechenden Gegenzöllen.<br />
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[[Datei:Italia ferrovie 1861.03.17.png|mini|links|Das Eisenbahnnetz im Jahr 1861]]<br />
[[Datei:Italia ferrovie 1870 09 20.png|mini|und im Jahr 1870]]<br />
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Während im Norden die Industrialisierung gefördert und die [[Infrastruktur]] ausgebaut wurde, stützte die Regierung im Süden die [[Latifundien]], wobei in beiden Fällen die Protagonisten von Schwerindustrie bzw. Agrarwirtschaft ihren Einfluss im Norden bzw. Süden durchsetzen konnten. So wurde das [[Geschichte der Eisenbahn in Italien|Eisenbahnnetz ab 1839 ausgebaut]] (als erstes [[Bahnstrecke Napoli–Portici|Neapel-Portici]]; dann vor allem in habsburgisch beherrschten Gebieten: 1840 Mailand-Monza, 1844/46 Pisa-Livorno und -Lucca, 1846 Mailand-Venedig; erst 1855 Turin-Genua in [[Königreich Sardinien|Sardinien-Piemont]]), ebenso wie die Bahnstrecken zu Häfen. Die 1837 im österreichischen Gebiet gegründeten [[Lombardisch-venetianische Eisenbahnen|Lombardisch-venetianischen Eisenbahnen]] übernahm Italien 1866, die Betriebsführung ging an die [[Rothschild (Familie)|Familie Rothschild]]. 1905 entstanden die bis heute bestehenden [[Ferrovie dello Stato|Staatsbahnen]].<ref>Einen guten Überblick über die Entstehung der italienischen Bahnen bietet Italo Briano: ''Storia delle ferrovie in Italia.'' 3 Bde., Mailand: Cavallotti, 1977; die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe beleuchtet stärker Stefano Maggi: ''Politica ed economia dei trasporti nell’età contemporanea (secoli XIX–XX). Una storia della modernizzazione italiana.'' Il Mulino, Bologna 2001.</ref> Die Produktion von [[Lokomotive]]n blieb wegen hoher Rohstoffpreise bis zum Ersten Weltkrieg gering; bei den Waggons dominierten [[Güterwaggon]]s.<ref>Dies ist das Ergebnis von Carlo Ciccarelli, Stefano Fenoaltea: ''The Rail-Guided Vehicles Industry in Italy, 1861–1913: The Burden of the Evidence.'' In: Christopher Hanes, Susan Wolcott (Hrsg.): ''Research in Economic History'', Bd. 28, Emerald Group Publishing 2012, S. 43–115.</ref><br />
<br />
Große Probleme bereitete die Währungspolitik, denn im [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]] hatte auch Italien die freie [[Konvertibilität|Konvertierbarkeit]] ausgesetzt. Nun setzte sich der [[Goldstandard]] durch, der dafür sorgte, dass Geldnoten nur in einem festgesetzten Verhältnis zu den [[Goldreserve]]n ausgegeben werden durften. Man erwartete, dass dies für eine Stabilisierung der Währungsverhältnisse durch den [[Goldautomatismus]] sorgen würde, wobei sich die jeweiligen [[Zentralbank]]en an strikte Regeln halten mussten. Wurde eine [[Währung]] schwächer, führte dies demnach zu einem Goldabfluss in Richtung der stärkeren Währung, womit die Banknotenausgabe entsprechend den verminderten Goldreserven vermindert werden musste. Dies erhöhte die Zinsen und [[Deflation|senkte die Preise]]. Im Land, dem Gold zuströmte, wuchs der Papiergeldumlauf; dadurch sanken die Zinsen und die Preise stiegen. Ab einem bestimmten Punkt kehrte sich der Goldfluss wieder um, die [[Zahlungsbilanz]] wurde ausgeglichen, die Währung stabilisiert. Auch wenn sich die Zentralbanken häufig nicht an die Vorgaben hielten, war das System erfolgreich, weil man auf die jederzeitige Umtauschbarkeit von Geld und Gold vertraute. Mit der Anbindung der 1865 gegründeten, auf [[Bimetallismus]], also auf Gold- und Silbermünzen basierenden [[Lateinische Münzunion|Lateinischen Münzunion]] und damit der [[Italienische Lira|Lira]] ans Gold konnte die Regierung soviel Vertrauen herstellen, dass ausländisches Investivkapital nach Italien kam. Finanzminister [[Sidney Sonnino]] versuchte zudem die großen Vermögen ebenso zu belasten, wie der Konsum belastet wurde; er scheiterte aber am konservativen Widerstand. Nach der Überwindung der Wirtschaftskrise ab 1896 gelang es, einen ausgeglichenen [[Staatshaushalt]] zu erreichen.<br />
<br />
[[Datei:Filippo Turati 70.jpg|mini|[[Filippo Turati]] (1857–1932), einer der Gründer der [[Partito Socialista Italiano|Sozialistischen Partei]] und Kopf einer eher sozialdemokratisch ausgerichteten Gruppe; später bekämpfte er Mussolini]]<br />
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In den 1880er Jahren kam es zu schweren Arbeitskämpfen, um 1889 setzten Repressionen gegen den Partito Operaio (Arbeitspartei) ein, so dass der Zusammenschluss aller sozialistischen Organisationen des Landes in einer Partei angestrebt wurde. Den Industriearbeitern gelang es, sich 1892 im [[Partito dei Lavoratori Italiani]] (Partei der italienischen Arbeiter) zu organisieren, die 1893 in [[Partito Socialista Italiano]] (Sozialistische Partei Italiens) umbenannt wurde. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] setzte ab 1894 Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten durch, doch blieben sie letztlich ohne Erfolg. 1901 versuchte sein Nachfolger [[Giovanni Giolitti]] die Partei, die in den Wahlen 32 Sitze gewonnen hatte, in die Regierung einzubinden, was diese jedoch ablehnte. Doch von 1908 bis 1912 kam es zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken, bis sich ein radikaler Syndikalismus durchsetzte. 1912 spaltete sich der [[Partito Socialista Riformista Italiano]] ab, der aus patriotischen Gründen dem [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg gegen die Osmanen]] zustimmte. 1917 wechselte die Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten zu den Kriegsbefürwortern über, die Parteiführung lehnte den Krieg hingegen weiterhin ab.<br />
<br />
=== Erster Weltkrieg ===<br />
Obwohl Italien durch den [[Dreibund]] an Deutschland und Österreich gebunden war, erklärte die Regierung [[Antonio Salandra]] bei Ausbruch des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] die Neutralität des Landes, da sie den Dreibund als ein Verteidigungsbündnis betrachtete, Österreich-Ungarn aber [[Julikrise#Vom österreichisch-serbischen zum großen europäischen Krieg|offensiv in den Krieg eingetreten war]]. In der Folge entbrannte ein innenpolitischer Streit um eine Kriegsteilnahme. Die Interventionisten, zu denen der damals noch der Sozialistischen Partei zugehörige [[Benito Mussolini]] gehörte, sahen in einem Kriegseintritt die Chance, die [[irredentistisch]]en Pläne zu verwirklichen, und gewannen schließlich die Oberhand. Der Irredentismus beinhaltete die Forderung nach dem Anschluss des [[Trentino]] und [[Istrien]]s, teilweise auch anderer Gebiete (Korsika, [[Nizza]], Savoyen, [[Monaco]], [[Tessin]], Dalmatien, Malta, [[San Marino]], [[Südtirol]]). Die unter österreichischer Herrschaft stehenden Gebiete Trentino (damals ein Teil [[Tirol]]s) und [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] (Istrien, [[Triest]] und ein Teil [[Friaul]]s) waren die vorrangigen Ziele. Im März 1915 verhandelte Italien mit [[Österreich-Ungarn]], das aber allenfalls bereit war, südliche Teile des Trentino abzutreten. Die [[Triple Entente|Entente]]-Mächte versprachen Italien im Falle eines Kriegseintritts auf ihrer Seite mehr: das südliche Tirol bis zum [[Brennerpass]], das österreichische Küstenland, die Ostadriaküste (v. a. [[Dalmatien]], das bis Ende des 18. Jahrhunderts zur [[Republik Venedig]] gehört hatte) und eine Erweiterung [[Italienische Kolonien|des Kolonialbesitzes]]. Nachdem im [[Londoner Vertrag (1915)|Londoner Vertrag]] am 26. April 1915 diese Gebietserweiterungen zugesagt worden waren, kündigte Italien am 4. Mai den Dreibund. Mit der [[Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn|Kriegserklärung an Österreich-Ungarn]] am 23. Mai (die Erklärung an das [[Deutsches Reich|Deutsche Reich]] erfolgte erst 1916) trat es auf Seiten der [[Triple Entente]] in den Ersten Weltkrieg ein.<ref>{{Literatur |Autor=Maddalena Guiotto |Titel=Italien und Österreich: ein Beziehungsgeflecht zweier unähnlicher Nachbarn |Hrsg=Maddalena Guiotto, Wolfgang Wohnout |Sammelwerk=Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit / Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Böhlau |Ort=Wien |Datum=2018 |ISBN=978-3-205-20269-1 |Seiten=17}}</ref><br />
<br />
Italien und Österreich-Ungarn standen sich an zwei [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Fronten]] gegenüber: im gebirgigen [[Isonzo]]-Gebiet und in den Alpen im Trentino und südlich davon. Italien begann also weitgehend einen [[Gebirgskrieg 1915–1918|Gebirgskrieg]], der die Verteidiger begünstigte. Daneben gab es noch kleinere Seegefechte in der Adria (Pula und [[Kotor]] waren Häfen der [[K.u.k. Marine#Im Ersten Weltkrieg| k. u. k. Kriegsmarine]]). An der Isonzofront fanden von 1915 bis 1917 elf [[Isonzoschlachten|Schlachten]] statt, die Italien nur geringe Gebietsgewinne brachten. Im Trentino versuchte Österreich-Ungarn 1916, die Isonzofront durch einen [[Österreich-Ungarns Südtiroloffensive 1916|Großangriff]] zu brechen. Der Angriff scheiterte nach anfänglichen Gewinnen aber. Er musste eingestellt werden, weil Russland am 4. Juni 1916 an der [[Ostfront (Erster Weltkrieg)|Ostfront]] die [[Brussilow-Offensive]] begann.<br />
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Italian Front 1915-1917.jpg|Karte der [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Italienfront]]<br />
Battle of Caporetto.jpg|[[Zwölfte Isonzoschlacht]]<br />
Battle of Vittorio Veneto.jpg|[[Schlacht von Vittorio Veneto]]<br />
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Als Italien 1917 in der [[Isonzoschlachten#Elfte Isonzoschlacht, 17. August bis 12. September 1917|elften Isonzoschlacht]] das [[Bainsizza-Plateau|Bainsizza-Hochplateau]] eroberte, geriet der Südabschnitt der angeschlagenen österreich-ungarischen Isonzofront in Gefahr. Für einen Entlastungsangriff am oberen [[Isonzo]] wurden mehrere deutsche Divisionen zur Verfügung gestellt. Im Oktober 1917 gelang deutschen und österreich-ungarischen Truppen bei [[Schlacht von Karfreit|Karfreit/Caporetto]] in der [[Zwölfte Isonzoschlacht|zwölften Isonzoschlacht]] ein Durchbruch, der das [[Geschichte des italienischen Heeres#Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg|italienische Heer]] bis an den [[Piave]] zurückwarf. Gleichzeitig brach die italienische Gebirgsfront nordöstlich von [[Asiago (Venetien)|Asiago]] zusammen. Ein weiterer Vormarsch der [[Mittelmächte]] scheiterte jedoch am [[Monte Grappa]] und am Hochwasser führenden Piave. Kurz danach entsandten die [[Alliierte]]n zur Stabilisierung Verstärkung. Der italienische Generalstabschef [[Luigi Cadorna|Cadorna]] wurde wegen dieser schweren Niederlage abgelöst. Im Februar 1916 begann Österreich-Ungarn mit [[Luftangriff]]en auf Städte Norditaliens, darunter auf Verona und auf Padua.<ref>Stephen Harvey: ''The Italian War Effert and the Strategic Bombing of Italy.'' In: History 70 (1985) 32–45.</ref> Venedig wurde am 14. August 1917 und am 27. Februar 1918 von österreichischen Flugzeugen angegriffen, 1917 wurde das Krankenhaus (ospedale civile) getroffen.<ref>[[Andrea Moschetti]]: ''I danni ai monumenti e alle opere d’arte delle Venezie nella guerra mondiale MCMXV–MCMXVIII.'' C. Ferrari, Venedig 1932, S. 65.</ref><br />
<br />
[[Datei:Kingdom of Italy 1919 map.svg|mini|links|Italien nach dem [[Vertrag von Saint-Germain]]]]<br />
<br />
Im Juni 1918 konnte Italien in der zweiten [[Piaveschlacht]] den letzten österreichischen Durchbruchsversuch abwehren. Im Oktober 1918 begann Italien mit einer Offensive, bei der Österreich-Ungarn am 29. Oktober in der [[Schlacht von Vittorio Veneto]] unterlag. Im [[Waffenstillstand von Villa Giusti]] wurde Österreich-Ungarn gezwungen, allen alliierten und italienischen Forderungen nachzukommen, was einer bedingungslosen Kapitulation gleichkam. Italienische Truppen besetzten danach die ihnen zugesprochenen Gebiete, darunter Südtirol. Einer geplanten Offensive durch das [[Inntal]] gegen das Deutsche Reich kam der [[Waffenstillstand von Compiègne (1918)|Waffenstillstand an der Westfront]] zuvor. Ein separater Kriegsschauplatz war ab Januar 1916 der [[Geschichte Albaniens#Erster Weltkrieg|Süden Albaniens]], das Italien als seine [[Interessensphäre|Einflusssphäre]] betrachtete und von es seine Truppen erst 1920 abzog.<ref>Pietro Pastorelli: ''L’Albania nella politica estera italiana, 1914–1920.'' Jovene, Neapel 1970.</ref><br />
<br />
Italien hatte insgesamt 5.615.000 Männer mobilisiert, davon fielen 650.000,<ref>Antonella Astorri, Patrizia Salvadori: ''Storia illustrata della prima guerra mondiale.'' Bd. 1, Florenz 1999, S. 160.</ref> 947.000 wurden verletzt<!--, auch 589.000 Zivilisten starben -->. 1976 Produktionsanlagen waren an der Kriegsproduktion beteiligt; allein bei FIAT schnellten die Beschäftigungszahlen von 4000 auf 40.500 in die Höhe. 1917 nahmen dabei 168.000 Arbeiter an 443 Streiks teil, 1920 kam es zu [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]], an denen eine Million Arbeiter teilnahm.<ref>Vito Avantario: ''Die Agnellis. Die heimlichen Herrscher Italiens.'' Campus 2002, S. 217.</ref><br />
<br />
Im [[Vertrag von Saint-Germain]] 1919 wurden Italien [[Trentino]], [[Südtirol]], das [[Kanaltal]], das gesamte [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] und ein Teil der [[Krain]], die Stadt [[Zadar|Zara]] und einige [[Dalmatien|norddalmatinische Inseln]] zugesprochen. Italien bekam damit dennoch weniger, als es erwartet hatte. Auf die erhoffte Herrschaft über den ganzen Ostadriaraum und die Vergrößerung seines Kolonialbesitzes musste es verzichten. Aus Protest verließ der italienische Ministerpräsident [[Vittorio Emanuele Orlando]] die Friedensverhandlungen.<br />
<br />
Die mehrheitlich italienischsprachige Stadt [[Rijeka|Fiume]], die dem Königreich nicht zugesprochen worden war, wurde 1919 von paramilitärischen Verbänden unter Leitung [[Gabriele D’Annunzio]]s besetzt: Dieser rief die [[italienische Regentschaft am Quarnero]] aus, die aber ohne internationale Anerkennung, auch von Seiten Italiens, blieb. Nachdem D’Annunzio zur Aufgabe gezwungen worden war, vereinbarten Italien und Jugoslawien im [[Grenzvertrag von Rapallo]], einen unabhängigen [[Freistaat Fiume]] anzuerkennen. Durch einen [[Staatsstreich]] übernahmen dort 1922 italienische Nationalisten die Macht, die eine Angliederung an Italien anstrebten. Diese wurde mit dem [[Vertrag von Rom (1924)|Vertrag von Rom]] im Januar 1924 besiegelt.<br />
<br />
== {{Anker|Faschistische Diktatur unter Benito Mussolini}}{{Anker|Zweiter Weltkrieg}}Faschismus und Zweiter Weltkrieg (1922–1945) ==<br />
{{Hauptartikel|Italienischer Faschismus|Gruppo veneziano}}<br />
[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) Fasces Emblem.svg|mini|Das [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|Liktorenbündel-Emblem]] (''L’emblema del fascio littorio'') in der von 1927 bis 1929 verwendeten Form.]]<br />
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Die tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Krise nach dem Ersten Weltkrieg, den Italien mitgewonnen hatte, dessen Sieg aber nach Ansicht der Nationalisten von italienischen Verzichtspolitikern und den Alliierten „verstümmelt“ worden war ([[Gabriele D’Annunzio]] prägte das enorm einflussreiche Schlagwort der ''Vittoria mutilata''), führte das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Die zwei „roten Jahre“ ''([[Biennio rosso]])'' 1919 und 1920 wurden von der politischen Agitation der Linken geprägt: Demonstrationen und Streiks, die vielfach mit gewaltsamen [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]] und Landbesetzungen endeten, legten die Wirtschaft Italiens lahm. Den Regierungen unter [[Vittorio Emanuele Orlando]] und [[Francesco Saverio Nitti]] gelang es nicht, der schwierigen Lage Herr zu werden. [[Benito Mussolini]] nutzte die Angst vor einer bolschewistischen Revolution, um sich als ein Garant von [[Law and Order (Politik)|Recht und Ordnung]] zu präsentieren. Unterstützung fand er dabei in weiten Teilen des Bürgertums, insbesondere bei den betroffenen Industriellen und Grundbesitzern. Es folgten 1921 und 1922 die zwei „schwarzen Jahre“ ''([[Biennio nero]])''. [[Faschismus|Faschistische]] Squadristen, die paramilitärisch organisierten [[Schwarzhemden]], gingen mit Gewalt gegen sozialistische und katholische [[Gewerkschaft]]sbewegungen sowie gegen linke, als subversiv bezeichnete politische Gegner vor. Insgesamt starben zwischen 1919 und 1922 wohl etwa 1.000 Faschisten und Antifaschisten in den [[bürgerkrieg]]sähnlichen Kämpfen.<br />
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Nachdem Mussolini Ende 1921 aus der lose zusammenhängenden faschistischen Bewegung eine Partei, den [[Partito Nazionale Fascista]] (PNF), geschaffen hatte, organisierte er im Oktober 1922 mit etwa 26.000 faschistischen Anhängern einen [[Sternmarsch]], der als [[Marsch auf Rom]] ''(Marcia su Roma)'' in die Geschichte einging. Am 28. Oktober trafen diese Gruppen im strömenden Regen vor den Toren Roms ein. Der Anführer des Marsches reiste später mit einem Schlafwagen aus [[Mailand]] an, als infolge angeblicher Putschdrohungen König [[Viktor Emanuel III.]] Ministerpräsident [[Luigi Facta]] bereits entlassen hatte. Der König ernannte daraufhin Mussolini zum [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidenten]]; die Faschisten zogen zu einem Siegesmarsch in Rom ein.<br />
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[[Datei:La Domenica del Corriere (2 Oct 1938).jpg|mini|Propagandistische Darstellung [[Benito Mussolini]]s auf der Titelseite der Zeitung ''La Domenica del Corriere'' (1938)]]<br />
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Im Juli 1923 gewährte ein neues Wahlgesetz, die ''[[Legge Acerbo]]'', der stimmenstärksten Partei zwei Drittel der Parlamentssitze. Kurz nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1924|Parlamentswahlen vom 6. April 1924]] wurde der sozialistische Oppositionspolitiker [[Giacomo Matteotti]] entführt und ermordet. Indizien deuten darauf hin, dass Mussolini selbst den Auftrag für diesen Mord gegeben hatte – in einer berühmt-berüchtigten Rede vor der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925 gab er dies selbst zu. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, den Aufbau der faschistischen [[Diktatur]] anzukündigen und voranzutreiben, nachdem er im Gefolge der Krise zeitweise unter starken Druck der Kirche, von Gewerkschaften und Opposition, aber auch von „intransigenten“, revolutionär-squadristischen Kreisen des Faschismus geraten war. Im November 1926 wurden endgültig alle Oppositionsparteien verboten. Zu den Wahlen 1928 traten nur noch Kandidaten an, die vom PNF zugelassen wurden; mit der Schaffung des „Faschistischen Großrats“ ''(Gran Consiglio del Fascismo)'' existierte nun auch ein Gremium, das Partei- und Staatsfunktionen vereinte. Der institutionelle Umbau des italienischen Staates zur faschistischen Diktatur war damit abgeschlossen.<br />
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Getreu der nationalistischen Ideologie betrieb das Regime eine strikte [[Italianisierung]]spolitik. Die am meisten Leidtragenden waren ethnische Minderheiten im Lande, insbesondere [[Frankoprovenzalische Sprache|Frankoprovenzalen]], Slawen und [[Geschichte Südtirols#Zwischenkriegszeit (1918–1939)|Südtiroler]].<br />
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Am 11. Februar 1929 wurden die [[Lateranverträge]] zwischen dem [[Vatikanstadt|Vatikan]] und dem Königreich Italien abgeschlossen. In dem von dem Kardinalstaatssekretär [[Pietro Gasparri]] und Mussolini unterzeichneten Vertragswerk wurde die Souveränität eines [[Kirchenstaat]]es anerkannt, wurden die Beziehungen zwischen der Kirche und dem italienischen Staat geregelt und wurden dem Vatikan Entschädigungen zugesprochen. Das faschistische Regime löste damit die seit 1870 mit der Einnahme Roms durch italienische Truppen schwelende Frage des Verhältnisses von katholischer Kirche und italienischem Staat. Dieser Erfolg brachte dem Faschismus die Zustimmung auch vieler bürgerlich-konservativer Kreise, die von der faschistischen Gewaltpolitik noch abgeschreckt worden waren.<br />
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Wirtschaftspolitisch hatte das Regime mit den Folgen der [[Weltwirtschaftskrise|Großen Depression]] zu kämpfen. Die drei wichtigsten, beinahe bankrotten Banken wurden bereits 1926 von der öffentlichen Hand übernommen und unter den Schutzschirm des 1933 gegründeten Staatskonzerns ''[[Istituto per la Ricostruzione Industriale]]'' gestellt, das erst am 28. Juni 2000 aufgelöst wurde. Es wurde massiv in öffentliche Infrastrukturen investiert. Mehr und mehr unterstützte das Regime einen [[protektionistisch]]en Kurs. Die [[Weizenschlacht]] ''(battaglia del grano)'' sollte die Autarkie in der Nahrungsmittelversorgung erreichen. Die Trockenlegung der [[Pontinische Ebene|Pontinischen Ebene]] war ein umfangreiches [[Arbeitsbeschaffungsprogramm]] für arme Familien aus dem Norden Italiens, besonders für Venetien und die Emilia.<br />
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Außenpolitisch verfolgte Italien nach dem ungeschickten Überfall auf [[Korfu]] 1923 zunächst eine Politik, die das Land als Stütze der internationalen Ordnung und als Friedensgaranten im Mittelmeerraum erscheinen lassen sollte. Zunehmend jedoch radikalisierten sich die faschistische Kultur und Politik – eine Rückkehr zu roher Gewalt, jetzt auf internationaler Ebene, war die Konsequenz eines Weltbildes, das auf der Vorstellung eines ewigen Kampfes und der imperialistischen Expansion Italiens fußte. So setzte Mussolini mit einer bisher ungekannten Brutalität den [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg]] fort, den noch das liberale Italien 1922 begonnen hatte, der letzten Endes im [[Völkermord in der Cyrenaika]] gipfelte.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010 (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), S. 132 f.</ref> Zudem begann Mussolini Ende der 1920er-Jahre, in zahlreichen europäischen Ländern subversiv über Geheimagenten Einfluss zu nehmen.<ref>Wolfgang Altgeld: ''Vorlesung. Das faschistische Italien.'' Bonn 2016, S. 220–222.</ref> Gemäß der von [[Dino Grandi]] vertretenen Maxime des ''peso determinante'' stellte Italien das „entscheidende Gewicht“ auf der Waagschale der europäischen Diplomatie dar und sollte in keinem Fall eine Feindschaft mit England beginnen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Das faschistische Italien (1919/22–1945).'' In: [[Wolfgang Altgeld]] u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Geschichte Italiens''. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2016, S. 392–454, hier S. 419 f.</ref><br />
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=== 1935–1943: Abessinienkrieg, Spanienkrieg und erste Jahre des Zweiten Weltkriegs ===<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1939.png|mini|hochkant=1.5|Das faschistische Italien mit seinem Kolonialreich in Europa und Afrika (1939)]]<br />
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Mit dem [[Abessinienkrieg]] begann Italien eine kriegerische expansionistische Außenpolitik, um den Traum vom italienischen [[Lebensraum-Politik|Lebensraum]] ''(spazio vitale)'' schrittweise umzusetzen: Das [[Kaiserreich Abessinien]] konnte trotz internationaler Proteste erobert werden und wurde mit den bestehenden Kolonien Eritrea und Somalia zu [[Italienisch-Ostafrika]] zusammengeschlossen. Dabei kam es zu zahlreichen Völkerrechtsverbrechen und massivem Einsatz von Giftgas;<ref>Aram Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]].'' Bd. 51, Heft 3, 2003, S. 311–337, [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2003_3.pdf online (PDF; 7&nbsp;MB)].</ref> zugleich unterdrückte Mussolinis Partei Kontakte italienischer Soldaten mit afrikanischen Frauen ''(madamato)''.<ref>Antonella Randazzo: ''L’Africa del Duce. I crimini fascisti in Africa''. Arterigere, Varese 2008, S. 237f.</ref> Der anfängliche militärische Erfolg – die Kampfhandlungen in Abessinien gingen tatsächlich bis zur Eroberung Italienisch-Ostafrikas durch die Briten im November 1941 weiter – festigte die Herrschaft der Faschisten und deren Popularität im Inland, führte aber zu einer zunehmenden Isolierung im Ausland. Der [[Völkerbund]] verhängte Sanktionen, an denen sich allerdings das vom [[NS-Regime]] beherrschte Deutschland nicht beteiligte. Dies und die [[Italienische Intervention in Spanien|Intervention]] beider Staaten im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] zugunsten der nationalistischen Militärs um [[Francisco Franco]] – auf der Gegenseite kämpfte bis 1939 das [[Garibaldi-Bataillon]] – führten 1936 zu einer Annäherung an Deutschland, der sogenannten „[[Achse Rom-Berlin]]“.<br />
[[Datei:Benito Mussolini and Adolf Hitler.jpg|mini|Mussolini 1937 bei Hitler in München]]<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF) variant 2.svg|miniatur|Variante der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteiflagge]] der Faschisten]]<br />
1937 trat Italien aus dem Völkerbund aus, nachdem es bereits dem von Deutschland und Japan 1936 gegründeten [[Antikominternpakt]] im November 1937 beigetreten war. 1939 folgten die Okkupation des [[Königreich Albanien|Königreichs Albanien]] und das als „[[Stahlpakt]]“ bezeichnete Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich. 1938 erließ Italien rassistische Gesetze, die vor allem Juden und Afrikaner diskriminierten.<br />
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In den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] griff Italien zunächst nicht ein. Es war für einen größeren Krieg noch längst nicht gerüstet und seine Streitkräfte waren nach der Intervention in Spanien sowie Ostafrika in einer Phase der Modernisierung. Mussolini proklamierte 1939 daher zunächst die „Nichtkriegführung“ ''(non belligeranza)'' seines Landes.<br />
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Angesichts des erfolgreich verlaufenden deutschen [[Westfeldzug|Feldzugs gegen Frankreich]] fürchtete Mussolini, auf einer Friedenskonferenz ohne eigene militärische Erfolge nicht profitieren zu können. Der „Duce“ erklärte Großbritannien und Frankreich gegen den Rat seiner Generäle am 10. Juni 1940 [[Kriegserklärung Italiens an Frankreich und Großbritannien|den Krieg]] und begründete diesen Schritt mit der Ambition, das ''Imperium Romanum'' wieder aufleben zu lassen: Italien wollte sein Territorium auf [[Nizza]], [[Korsika]], [[Malta]], die gesamte Küste Dalmatiens mitsamt [[Albanien]], [[Kreta]] und weitere griechische Inseln ausweiten. Zu den bisherigen Kolonien würden [[Tunesien]], [[Ägypten]] (mit der [[Sinai-Halbinsel]]), [[Sudan]] und Teile [[Kenia]]s hinzukommen, um eine Landverbindung von [[Libyen]] nach [[Italienisch-Ostafrika]] zu schaffen. Auch die Territorien von [[Britisch-Somaliland|Britisch]]- und [[Französisches Afar- und Issa-Territorium|Französisch-Somaliland]] sowie Teile [[Französisch-Äquatorialafrika]]s sollten somit in Besitz genommen und mit der [[Türkei]] und arabischen Staaten Vereinbarungen über Einflusszonen getroffen werden. Zudem sollten [[Aden]] und [[Perim]] unter italienische Kontrolle kommen.<br />
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Bei seinen eigenen Kriegsanstrengungen konnte Italien jedoch – abgesehen von einer kurzlebigen Vertreibung der Briten aus Ostafrika ([[Ostafrikafeldzug]]) – keine Erfolge verzeichnen: Der Angriff gegen das militärisch bereits geschlagene Frankreich blieb nach geringen Geländegewinnen in den Alpen stecken; die Offensive gegen die Briten in Nordafrika Ende 1940 und der [[Griechisch-Italienischer Krieg|Feldzug gegen Griechenland]] (ab dem 28. Oktober 1940) gerieten jeweils zum Desaster, das nur durch das Eingreifen der deutschen [[Wehrmacht]] überdeckt werden konnte ([[Balkanfeldzug (1941)]], [[Afrikafeldzug]]). Ursachen waren mangelnde Ausbildung, zum Teil schlechte Ausrüstung, vor allem aber dilettantische strategische Planung und maßlose Selbstüberschätzung des „Duce“ und einiger Generäle. Trotz Überlegenheit auf dem Papier gelang es der [[Regia Marina|italienischen Marine]] nicht, die [[Royal Navy|britische Marine]] aus dem Mittelmeer zu vertreiben. Später verhinderte Kraftstoffmangel solche Vorhaben. In Ostafrika unterlag die italienische Armee britischen Truppen, die von äthiopischen Einheiten unterstützt wurden. Im Mai 1941 zog [[Haile Selassie]] wieder in Addis Abeba ein. Viele Italiener adaptierten das Erklärungsmuster, Italiener seien menschlicher als die Deutschen; sie könnten nicht hassen und deswegen auch keine Kriegsverbrechen begehen.<ref>Osti Guerazzi: ''Zum Selbstbild der italienischen Armee während des Krieges und nach dem Krieg''. In: ''Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten.'' Herausgegeben von [[Harald Welzer]], [[Sönke Neitzel]] und [[Christian Gudehus]]. Fischer TB 2011, ISBN 978-3-596-18872-7.</ref><br />
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Am [[Russlandfeldzug 1941|deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion]] nahmen von 1941 bis 1943 [[Italienisches Expeditionskorps in Russland|das Expeditionskorps]] und die [[8ª Armata|8. Armee]] mit insgesamt 62.000 bzw. 230.000 Mann teil. Allein die 8. Armee verlor dabei etwa 77.000 Mann.<ref>Steven D. Mercatante: ''Why Germany Nearly Won. A New History of the Second World War in Europe.'' ABC-CLIO, Santa Barbara 2012, S. 167.</ref> Auch auf dem Balkan verfolgten die Italiener teilweise ein nationalistisches Regiment, vor allem gegenüber den [[Slowenien|Slowenen]] und in der Zusammenarbeit mit der faschistischen Bewegung der [[Ustascha]] in [[Kroatien]]. Im September 1942 scheiterte [[Schlacht von Alam Halfa|die letzte deutsch-italienische Offensive in Nordafrika]]; seitdem riss die Kette ihrer militärischen Niederlagen nicht mehr ab.<br />
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Neben den militärischen Niederlagen und Nahrungsmittelknappheit führten auch die angloamerikanischen Bombardierungen italienischer Städte zur allmählichen Erosion der „inneren Front“.<ref>Dazu auch Pietro Cavallo: ''Italiani in guerra. Sentimenti e immagini dal 1940 al 1943.'' Il Mulino, Bologna 2020, ISBN 9788815287380. ([https://aro-isig.fbk.eu/issues/2022/1/italiani-in-guerra-pascal-oswald/ Rezension])</ref> Ab Herbst 1942 kam es erstmals zu massiven ''area bombings'' norditalienischer Städte, welche direkt die Zivilbevölkerung trafen, mit dem Ziel, politischen und psychologischen Druck auszuüben.<ref>Marco Gioannini: ''Bombardare l’Italia. Le strategie alleate e le vittime civili.'' In: [[Nicola Labanca]] (Hrsg.): ''I bombardamenti aerei sull’Italia. Politica, stato e società (1939–1945).'' Il Mulino, Bologna 2012, S. 79–98.</ref><br />
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Nach der [[Tunesienfeldzug#Massicault|Kapitulation der Achsentruppen in Tunesien]] im Mai 1943 eroberten amerikanische und britische Truppen Ende Juni die Inseln [[Lampedusa]] und [[Pantelleria]]. Mit der [[Operation Husky|Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien]] begann am 10. Juli 1943 der [[Italienfeldzug (Zweiter Weltkrieg)|Italienfeldzug]]. Am 19. Juli 1943 erlitt Rom seine erste Bombardierung, die zahlreiche Todesopfer forderte und insbesondere das Viertel [[Nomentano – San Lorenzo|San Lorenzo]] traf.<ref>Cesare De Simone: ''Venti angeli sopra Roma. I bombardamenti aerei sulla Città Eterna (19 luglio e 13 agosto 1943).'' Mursia, Mailand 1993.</ref><br />
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=== Sommer 1943: Seitenwechsel der italienischen Regierung ===<br />
[[Datei:ItalyDefenseLinesSouthofRome1943 4.jpg|mini|Deutsche Verteidigungslinien in Mittelitalien 1943]]<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-312-0983-03, Rom, Festnahme von Zivilisten.jpg|mini|Deutsche und italienische RSI-Soldaten nehmen Zivilisten nach dem [[Attentat in der Via Rasella]] auf eine Südtiroler Polizeieinheit am 23.&nbsp;März 1944 vor dem [[Palazzo Barberini]] fest. Sie wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] ermordet.]]<br />
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In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 stimmte der [[Großer Faschistischer Rat|Große faschistische Rat]] für eine Resolution [[Dino Grandi]]s, die den Organen des liberalen Staats wieder ihre Macht zurückgab. Tags darauf ließ König [[Viktor Emanuel III.]] Mussolini verhaften und ernannte [[Marschall]] [[Pietro Badoglio]] zum neuen Regierungschef.<ref>Emilio Gentile: ''25 luglio 1943.'' Laterza, Bari/Rom 2018, ISBN 978-88-581-3123-7. ([https://www.sehepunkte.de/2019/03/32711.html Rezension])</ref> Nach dem [[Sturz Mussolinis]] wurde Italien während der folgenden 45 Tage bis zum 8. September von einer autoritären Militärdiktatur geführt, die gewaltsam gegen Demonstranten vorging.<ref>Nicola Gallerano, [[Luigi Ganapini]], Massimo Legnani: ''L’Italia dei quarantacinque giorni. Studio e documenti.'' [[Istituto Nazionale Ferruccio Parri|Istituto Nazionale per la Storia del Movimento di Liberazione]], Mailand 1969. Auf Deutsch auch [[Jens Petersen (Historiker)|Jens Petersen]]: ''Sommer 1943.'' In: Hans Woller (Hrsg.): ''Italien und die Großmächte 1943–1949'' (= ''Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.'' Band 57). Oldenbourg, München 1988, S. 23–48.</ref> Kurz nach seinem Regierungsantritt erklärte Badoglio die [[Partito Nazionale Fascista|faschistische Partei]] und ihre Gliederungen per Gesetz für aufgelöst. Am 3. September 1943 schloss die [[Regierung Badoglio]] mit den Alliierten den [[Waffenstillstand von Cassibile]], der am Abend des 8. September 1943 öffentlich bekanntgegeben wurde. Im Krieg waren seit 1940 bis dahin etwa 198.500 Italiener gestorben.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945'', [[Rowman & Littlefield|Lexington Books]], Lanham 2001, S. 162, Anm. 40.</ref> <br />
<br />
Der deutschen Wehrmacht gelang es, große Teile der italienischen Armee zu entwaffnen, die nur vereinzelt Widerstand entgegensetzte und sich rasch auflöste.<ref>Elena Aga Rossi: ''A Nation Collapses: The Italian Surrender of September 1943.'' Cambridge University Press, 2006, ISBN 978-0-521-59199-7.</ref> Hitler versuchte die „Schwarzhemden“ wieder an die Macht zu bringen und ließ dazu Mussolini am 12. September 1943 im [[Unternehmen Eiche]] befreien. Große Teile Nord-, Mittel- und Süditaliens inklusive Roms wurden [[Fall Achse|von deutschen Truppen besetzt]] und in diesem Gebiet eine [[Marionettenregierung]] unter Mussolini eingesetzt, welche die [[Italienische Sozialrepublik]] (kurz RSI oder informell ''Republik von Salò'') proklamierte. Diese faschistische Parallelregierung blieb mit Deutschland verbündet, erklärte ihrerseits dem von den Alliierten besetzten Teil Italiens den Krieg und führte in Norditalien Krieg gegen [[Partisan]]en. Etwa 20.000 italienische Soldaten schlossen sich in Griechenland den Partisanen an.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington Books, Lanham 2001, ISBN 978-0-7391-0195-7, S.&nbsp;105.</ref> Die nach Süditalien geflohene Regierung Badoglio erklärte am 13. Oktober 1943 dem Deutschen Reich [[Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich (1943)|den Krieg]].<br />
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=== {{Anker|Deutsche Besatzung}} 1943–1945: Faschistische Sozialrepublik (RSI), deutsche Besatzung und Resistenza ===<br />
Zum 1. Oktober 1943 wurden im Norden zwei deutsche Operationszonen gegründet, nämlich die [[Operationszone Adriatisches Küstenland]], bestehend aus den Provinzen [[Provinz Udine|Udine]], [[Provinz Görz|Görz]], [[Provinz Triest|Triest]], [[Pula|Pola]], [[Provinz Fiume|Fiume]] und [[Provinz Laibach|Laibach]] (Laibach stand kurzzeitig ebenfalls unter italienischer Verwaltung) und die [[Operationszone Alpenvorland]], bestehend aus den Provinzen [[Belluno]], [[Südtirol|Bozen]] und [[Trentino|Trient]]. Entlang der Grenze [[Grenze zwischen Italien und der Schweiz|zur Schweiz]] und zu Frankreich entstand aus einem etwa 50&nbsp;km tiefen Streifen die [[Operationszone Nordwest-Alpen]].<br />
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Vor allem [[Mittelitalien]] wurde von den schweren Kämpfen entlang der [[Gustav-Linie|vorrückenden Front]] verwüstet. Die Zivilbevölkerung wurde zum Ziel deutscher Repressalien (→ [[Deutsche Kriegsverbrechen in Italien]]). Ab Mitte September 1943 wurden beim [[Massaker vom Lago Maggiore]] mindestens 56 Juden ermordet.<ref>Aldo Toscano: ''L’olocausto del Lago Maggiore (settembre – ottobre 1943).'' Verbania, Alberti 1993.</ref> Als [[Repressalie]] für das [[Attentat in der Via Rasella]] in Rom vom 23. März 1944 gegen das SS-[[Polizeiregiment]] „Bozen“ wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] 335 Zivilisten erschossen, unter ihnen 75 Juden.<ref>[https://www.shalom.it/blog/roma-ebraica-bc7/fosse-ardeatine-cerimonia-religiosa-della-comunita-ebraica-b393961 ''Shalom'' - Zeitschrift der Jüdischen Gemeinde Roms] (ital.) 5. April 2019</ref><br />
<br />
In der vielfältig gegliederten [[Resistenza]] zur Befreiung Italiens fanden sich Kommunisten, Sozialisten, Katholiken und Liberale. Im September 1943 entstand das [[Comitato di Liberazione Nazionale]], in dem Vertreter von sechs Parteien kooperierten. Die Zahl der Kämpfer wird auf 130.000 geschätzt, die Gesamtzahl der aktiven Unterstützer auf vielleicht 250.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;207.</ref> Vor allem die SS, aber auch Truppen Mussolinis gingen mit terroristischen Maßnahmen gegen Partisanen vor, wie etwa in [[Sant’Anna di Stazzema]] bei Lucca, wo die SS etwa 560 Zivilisten ermordete, oder im [[Massaker von Marzabotto]].<br />
<br />
Auf Initiative [[Pius XII.|Pius’ XII.]] erklärte Generalfeldmarschall [[Albert Kesselring]] Rom Anfang Juni 1944 zur offenen Stadt, die am 4.&nbsp;Juni 1944 von alliierten Truppen befreit wurde.<br />
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Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage unternahm Mussolini kurz vor Kriegsende einen Fluchtversuch in die Schweiz, wurde jedoch in [[Dongo (Lombardei)|Dongo]] am [[Comer See]] am 27.&nbsp;April 1945 von kommunistischen Partisanen erkannt und gefangen genommen. Trotz einer Zusage, ihn an die Alliierten auszuliefern, wurde er zusammen mit seiner Geliebten [[Clara Petacci]] am 28. April in [[Mezzegra|Giulino di Mezzegra]] erschossen. Am 29. April kapitulierten die deutschen Streitkräfte bedingungslos. Allein 30.000 Italiener in deutschen Kriegsgefangenenlagern wurden in Frankreich interniert (insgesamt 65.000), in der Sowjetunion weitere 11.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;157. Nur 10.000 der 60.000 gefangenen Italiener kehrten aus sowjetischen Gefangenenlagern zurück.</ref> Von den 40.000 Italienern, die auf Titos Seite gekämpft hatten, kam etwa die Hälfte ums Leben;<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;106f.</ref> insgesamt starben etwa 70.000 Partisanen, mindestens 77.000 Soldaten fielen zwischen dem 8.&nbsp;September 1943 und dem Kriegsende.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;154. Demnach werden auch 87.303 angegeben.</ref><br />
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{{Anker|Judenverfolgung}}<br />
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=== Ausgrenzung der Juden, Fluchtversuche der Juden und ihre Ermordung ===<br />
[[Datei:Exterior view of Fossoli concentration camp, Italy (1944).jpg|mini|[[Durchgangslager Fossoli]], 1944]]<br />
[[Datei:Giorno memoria Verona.jpg|mini|Güterwaggon, in dem Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden, zur Erinnerung an den Holocaust 2007 in Verona aufgestellt]]<br />
<br />
1924 zählte man 54.000 Juden, was etwa 0,14 % der damaligen Bevölkerung Italiens entsprach (zum Vergleich: im Deutschen Reich lebten ca. 550.000 Juden). 1931 bestanden 23 jüdische Gemeinden in Italien. 1936 zählte man 28.299 Juden in Libyen.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 184f.</ref> Im August 1938 wurde eine Judenzählung nach den Kriterien der Faschisten vorgenommen, bei der 58.412 Juden registriert wurden, wobei 46.656 „mosaischen Glaubens“ waren. Sie lebten vorwiegend in den Großstädten des Nordens, 1938 lebten zudem 12.799 in Rom. Überall dort, wo die Spanier lange geherrscht und fast alle Juden vertrieben hatten, also im gesamten Süden, lebten nur sehr wenige von ihnen – 1931 waren es nur noch etwa 1.500.<br />
<br />
Im Norden hingegen waren sie Teil der Gesellschaft, wenn diese auch nicht frei von [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945#Italien|Antisemitismus]] war. [[Leonida Bissolati]] fabulierte 1879 (im Alter von 22 Jahren) über die unterschiedliche Intelligenz von Semiten und Indoeuropäern, doch hielt sich die Politik von diesen Thesen fern. Das galt nicht für einige Wissenschaften, wie die [[Anthropologie]], deren Gründer in Italien, [[Giuseppe Sergi]], 1889 den Rassen verschiedene Fähigkeiten zur Kulturbildung zuschrieb. Der Sprachwissenschaftler [[Angelo De Gubernatis]] behauptete 1886 als erster in Italien öffentlich einen „Gegensatz zwischen arischer und semitischer Rasse“. Erst spät<!--??--> drangen diese durch den Kolonialismus verstärkten, auch in der Medizin verbreiteten Denkmuster, die nicht mehr auf den Schutz und die Erhaltung des Einzelnen, sondern der Rasse abzielten, auch in die Politik vor, ohne zunächst fassbare Wirkung zu erzielen.<ref>Brunello Mantelli: ''Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich.'' Oldenbourg, München 2005, S. 207–226.</ref><br />
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[[Datei:Ernesto Nathan.jpg|mini|links|[[Ernesto Nathan]] (1848–1921), 1907–1913 Bürgermeister von Rom]]<br />
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Die Gleichstellung der Juden erlaubte einigen von ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg. 1876 wurde [[Isacco Artom]] erster jüdischer Senator, [[Giuseppe Ottolenghi]] wurde 1902 Kriegsminister, [[Alessandro Fortis]] (1905–1906), [[Sidney Sonnino]] (1909–1910) und [[Luigi Luzzatti]] (1910–1911) waren Premierminister, 1922 zählte das Parlament 24 jüdische Abgeordnete.<ref>Martin Baumeister: ''Ebrei fortunati? Juden in Italien zwischen Risorgimento und Faschismus.'' In: [[Petra Terhoeven]] (Hrsg.): ''Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, S. 43–60, hier: S. 46.</ref> [[Giuseppe Emanuele Modigliani]] (Bruder des Malers [[Amedeo Modigliani]]) oder [[Claudio Treves]] (Onkel von [[Carlo Levi]]) repräsentierten die Sozialistische Partei. [[Ernesto Nathan]] war von 1907 bis 1913 Bürgermeister von Rom. In den Anfangsjahren waren zahlreiche Juden in den Oppositionsparteien und im Widerstand aktiv, einige gehörten jedoch auch zu den Unterstützern des Regimes wie etwa [[Enrico Rocca]], der Gründer der faschistischen Partei in Rom. Innerhalb der faschistischen Bewegung fanden sich von Anfang an Personen mit eindeutig antisemitischer Ausrichtung, Mussolini selbst verspottete jedoch Hitlers Rassentheorien und die Politik des Regimes war bis 1938 nicht antisemitisch.<br />
<br />
Mussolinis Haltung änderte sich erst nach dem Abschluss der „[[Achse Rom-Berlin]]“ 1936. Mit dem „[[Italienische Rassengesetze|Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse]]“ vom 17. September 1938 erließ Italien Rassengesetze, die sich gegen die Juden richteten. Diese mussten den Öffentlichen Dienst verlassen, durften nur mehr geringen Grundbesitz haben und nur kleine Firmen leiten. Im Innenministerium wurde die „[[DemoRazza|Generaldirektion für Demographie und Rasse]]“ eingerichtet, die eine Judenzählung betrieb und die jüdische Bevölkerung Schritt für Schritt ausgrenzte. Nach dem Kriegseintritt im Juni 1940 folgte Zwangsarbeit für italienische und Internierung in [[Italienische Konzentrationslager|Konzentrationslagern]] für ausländische Juden. Der Katalog diskriminierender Gesetze und Verordnungen wurde ständig erweitert; als Mussolini im Juli 1943 gestürzt wurde, gab es kaum einen Beruf mehr, den Juden legal ausüben durften.<br />
<br />
Nachdem die Wehrmacht am 12. September 1943 Italien besetzt hatte, befahl [[Heinrich Himmler]] am 24. September 1943 die [[Deportation#Deportationen während des Nationalsozialismus|Deportation]] der italienischen Juden.<ref>Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich.'' Donzelli 2009, S. 80.</ref> Am 13. Oktober wurde die [[Biblioteca della Communità Israelitica]] beschlagnahmt. Am 16. Oktober erfolgte unter [[Wilhelm Harster]] die erste „Judenrazzia“ in Rom. 1007 Juden wurden nach Auschwitz deportiert. Von diesen starben 811 sofort, vor allem durch [[Gaskammern und Krematorien der Konzentrationslager Auschwitz|Massenvergasungen]]. Nur 149 Männer und 47 Frauen überlebten.<ref>Eintrag ''Wilhelm Harster.'' In: [[Andreas Schulz (Historiker)|Andreas Schulz]], Günter Wegmann, [[Dieter Zinke]], ''Die Generale der Waffen-SS und der Polizei. Die militärischen Werdegänge der Generale sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang'' (= ''Deutschlands Generale und Admirale.'' Teil 5, Band 2). Biblio, Bissendorf 2005, ISBN 3-7648-2592-8, S. 59–67.</ref> In der [[Italienische Sozialrepublik|Republik von Salò]] wurden zunächst die verbliebenen 39.000 Juden enteignet, dann 8.566 über Durchgangslager wie die [[Risiera di San Sabba]] bei [[Triest]] in die Vernichtungslager im Osten Europas deportiert.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 185.</ref> Dabei arbeiteten nationalsozialistische und faschistische Behörden eng zusammen, die Häscher erhielten Belohnungen.<ref>Sie erhielten 5.000 Lire für jeden zur Deportation ausgeliefertem Mann, 2.000 pro Frau und 1.000 pro Kind (Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 69).</ref> Etwa ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Italiens kam auf diese Weise ums Leben.<ref>Carlo Moos: ''Ausgrenzung, Internierung, Deportationen, Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945).'' Chronos, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0641-1.</ref> 1946 reisten über 20.000 der Überlebenden illegal von La Spezia in das zu dieser Zeit noch britische [[Völkerbundsmandat für Palästina|Palästina]] ([[La-Spezia-Affäre]]).<ref>Ada Sereni: ''I clandestini del mare. L’emigrazione ebraica in terra d’Israele dal 1945 al 1948.'' Mursia, 2006.</ref><br />
<br />
1995 zählten die jüdischen Gemeinden 26.706 Mitglieder, 2001 nur noch 25.143 und Ende 2010 noch 24.930. Die Gesamtzahl wird auf 28.400 geschätzt,<ref>Sergio DellaPergola: ''World Jewish Population, 2010.'' Hrsg. v. Berman Institute – North American Jewish Data Bank, University of Connecticut, 2010, S. 50.</ref> davon lebte rund die Hälfte in Rom, dessen Großrabbiner von 1951 bis 2002 [[Elio Toaff]] war.<br />
<!-- Im Oktober 1982 kam es zu einem Terroranschlag auf die Hauptsynagoge in Rom.--><br />
<br />
== Republik Italien ==<br />
=== Ende der Monarchie, Gebietsabtretungen ===<br />
[[Datei:Evolution of Franco-Italian border.jpg|mini|Grenzverschiebungen zwischen Frankreich und Italien 1860 und 1947]]<br />
[[Datei:Italien Referendum 1946.svg|mini|Diese Karte zeigt die Zustimmungsraten zur Einführung einer Republik in den 31 italienischen Wahlkreisen beim Referendum von 1946. An den Farbabstufungen erkennbar sind starke regionale Unterschiede im Abstimmungsverhalten: Während im Norden überall mehr als 50 % der Wähler die neue Staatsform begrüßten, erhielten im Süden die Monarchisten eine breite Mehrheit.]]<br />
<br />
König [[Viktor Emanuel III.]] trat, diskreditiert durch den Faschismus (Ernennung Mussolinis zum Premier, Unterzeichnung der Rassengesetze), am 9. Mai 1946 zugunsten seines Sohnes [[Umberto II. (Italien)|Umberto&nbsp;(II.)]] zurück. Am 2. Juni 1946 fand, gleichzeitig mit der [[Wahl der Verfassunggebenden Versammlung in Italien 1946|Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung]], eine [[Referendum über die Abschaffung der Monarchie in Italien 1946|Volksabstimmung über die künftige Staatsform statt]]. An beiden Wahlen durften erstmals auch [[Frauenwahlrecht|Frauen]] teilnehmen. 54,3 Prozent votierten für eine Republik, die übrigen 45,7 Prozent für eine Monarchie.<ref>[https://elezionistorico.interno.gov.it/index.php?tpel=F&dtel=02/06/1946&tpa=I&tpe=A&lev0=0&levsut0=0&es0=S&ms=S amtliche Statistik]</ref><br />
Angehörige des [[Haus Savoyen|Hauses Savoyen]] mussten danach Italien verlassen.<br />
<br />
Die [[Politisches System Italiens#Verfassung|republikanische Verfassung]] trat 1948 in Kraft. Auf Grund der Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur legte man den Schwerpunkt der politischen Macht auf ein [[Politisches System Italiens#Legislative|kompliziertes parlamentarisches System mit zwei gleichberechtigten Kammern]]. Die von beiden Kammern abhängige Regierung erhielt eine relativ schwache Stellung. Die erstmals vorgesehene umfassende [[Politisches System Italiens#Zentralismus gegen Föderalismus|Dezentralisierung]] wurde in den Jahren danach nur zögerlich durchgesetzt.<br />
<br />
Im [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag]] von 1947 verlor Italien auch formal seine Kolonien [[Italienisch-Libyen|Libyen]], [[Kaiserreich Abessinien|Äthiopien]] und [[Kolonie Eritrea|Eritrea]]. [[Italienisch-Somaliland]] wurde zuerst von den Briten besetzt und anschließend von den Vereinten Nationen als Treuhandgebiet wieder unter italienische Verwaltung (1949–1960) gestellt.<br />
[[Datei:Litorale 3.png|mini|Das Gebiet um Triest zwischen 1947 und 1954 bzw. 1993]]<br />
Auch das italienische Mutterland war von Gebietsabtretungen betroffen. Die Gemeinden Briga und Tenda (frz. [[La Brigue]] und [[Tende]]) mussten an Frankreich abgetreten werden, das [[Dodekanes]] (mit [[Rhodos]]) fiel an Griechenland. Italien musste auch den Großteil [[Julisch Venetien]]s ([[Istrien]], die Städte [[Rijeka|Fiume]] und [[Zadar|Zara]] sowie die [[Dalmatien|norddalmatinischen]] Inseln) an [[Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien|Jugoslawien]] abtreten. [[Triest]] und sein Umland wurden zunächst internationalisiert und in zwei Zonen ([[Zone A]] und [[Zone B]]) geteilt (Schaffung eines [[Freies Territorium Triest|Freien Territoriums Triest]]), ehe 1954 eine Regelung getroffen wurde. Die Stadt Triest blieb bei Italien, das südliche Umland wurde Jugoslawien zugeschlagen. Mit dem [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag von 1947]] wurden damit, vorbehaltlich des Territoriums um Triest, die heutigen Grenzen Italiens festgelegt. Im Zuge dieser Grenzänderungen sowie bereits zuvor zwischen 1943 (Waffenstillstand) und 1945 kam es seitens der kommunistischen Partisanen Jugoslawiens zu Massakern an der italienischen Bevölkerung sowie an slawischen Antikommunisten ([[Foibe-Massaker]]). Zwischen 200.000 und 350.000 ethnische [[Italiener]] ''(Esuli)'' wurden in der Zeit von 1943 bis 1954 aus Jugoslawien vertrieben.<ref>Enrico Miletto: ''Istria allo specchio. Storia e voci di una terra di confine.'' FrancoAngeli, Mailand 2007, S. 136.</ref> Jene Gebiete, die das faschistische Italien während des Zweiten Weltkriegs oder kurz davor erworben hatte, also „Mittelslowenien“, Dalmatien und das Königreich Albanien (das nach der Aufteilung Jugoslawiens auch die albanischsprachigen Teile des [[Kosovo]] und der [[Banschaft Vardar]] umfasste), verlor Italien ebenso.<br />
<br />
=== Kalter Krieg und Wirtschaftswunder, Gegensatz zwischen Christdemokraten und Kommunisten ===<br />
Unter [[Ministerpräsident]] [[Alcide De Gasperi]] gehörte das Land zu den Mitbegründern der [[NATO]], des [[Europarat]]s und der [[Europäische Wirtschaftsgemeinschaft|Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft]]. Seine Partei, die [[Democrazia Cristiana]], war die wichtigste politische Partei Italiens zwischen 1945 und 1993 und stellte fast alle Ministerpräsidenten in diesem Zeitraum. Sie verstand sich als gemäßigte katholische Volkspartei, deren sozial- und wirtschaftspolitisches Programm bereits während des Krieges zwischen dem 18. und 23. Juli im [[Kloster Camaldoli|Kloster]] von [[Camaldoli (Poppi)|Camaldoli]] festgelegt worden war ''(Codice di Camaldoli)''.<ref>Nico Perrone: ''Il dissesto programmato. Le partecipazioni statali nel sistema di consenso democristiano.'' Dedalo, Bari 1991, S. 7ff.</ref><br />
<br />
Die [[Kommunistische Partei Italiens]] mit ihren Vorsitzenden [[Palmiro Togliatti]] und [[Enrico Berlinguer]] war mit über zwei Millionen Mitgliedern<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 122.</ref> und zirka 30 % der Wählerstimmen die stärkste kommunistische Partei Westeuropas. 1976 konnte die Partei mit 34,4 %<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187f.</ref> ihr bestes Ergebnis bei den Parlamentswahlen verzeichnen, 1984 gelang es ihr zum ersten und einzigen Mal, als stärkste Partei aus einer Wahl hervorzugehen. Sie erreichte bei der [[Europawahl 1984]] 33,3 % der Stimmen und lag damit vor den Christdemokraten mit 33,0 %.<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187.</ref><br />
<br />
Obwohl sich die PCI unter Berlinguer vom Kommunismus sowjetischer Prägung lossagte und versuchte, den Weg des [[Eurokommunismus]] zu beschreiten – so verurteilte sie den [[Prager Frühling|Einmarsch in Prag 1968]] –, hielt die Furcht vor einer Machtbeteiligung an. Auch von Seiten der [[Vereinigte Staaten|USA]] gab es erhebliche Bedenken gegen eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten, da man einen [[Domino-Effekt]] befürchtete.<ref>[http://www.zeit.de/1976/04/schlappheit-und-schlendrian/komplettansicht Schlappheit und Schlendrian] In: Die Zeit, 16. Januar 1976.</ref> 1950 wurde die geheime [[paramilitär]]ische Einheit [[Gladio]] gegründet, die nach einer Invasion von Truppen des [[Warschauer Pakt]]es [[Guerilla]]-Operationen gegen die Invasoren durchführen sollte. Ihre Existenz wurde 1990 bekannt.<br />
<br />
Unter Beibehaltung eines [[Verhältniswahlrecht]]s (ohne 4- oder 5-Prozent-Hürde) gelang es der [[Democrazia Cristiana]] durch die Einbeziehung von in der Regel vier oder fünf kleineren Parteien ([[Partito Socialista Italiano|Sozialisten]], [[Partito Socialista Democratico Italiano|Sozialdemokraten]], [[Partito Repubblicano Italiano|Republikaner]] und [[Partito Liberale Italiano|Liberale]], sog. ''[[Pentapartito]]''), die Kommunisten von einer Regierungsübernahme abzuhalten. Doch vertraten diese Parteien zunehmend Partikularinteressen, zahlreiche Regierungskrisen und eine Zunahme der organisierten Kriminalität bis in Regierungskreise hingen damit zusammen.<br />
<br />
Nach dem Krieg erlebte Italien, ähnlich wie das übrige Westeuropa, ein „[[Wirtschaftswunder]]“ ''(miracolo economico)''. Die Bevölkerung wuchs von 1951 bis 1961 von 47,5 auf 50,6 Millionen, in den Jahren 1959 bis 1962 wuchs das [[Bruttonationaleinkommen|Bruttosozialprodukt]] jedoch erheblich schneller, nämlich um 6,4 und 5,8, dann um 6,8 und 6,1 %.<ref name="Giuseppe Vottari 2001">Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001).'' Mailand 2004, S. 191.</ref><br />
<br />
Der Boom blieb jedoch hauptsächlich auf den Norden und die Mitte Italiens beschränkt. Viele Süditaliener mussten nach wie vor ihre Heimat verlassen, um Arbeit zu finden, und ins europäische Ausland (besonders Deutschland, Schweiz, Belgien und Frankreich) oder in eine norditalienische Region auswandern (siehe auch [[Gastarbeiter]]). Ab 1973 kehrten viele Gastarbeiter aus dem europäischen Ausland nach Italien zurück. Zum einen war auch im Süden die extreme Armut fast völlig verschwunden; anstelle der Elendsviertel und Baracken, die in den Nachkriegsjahren an den Rändern der durch [[Landflucht]] und [[Urbanisierung]] rasch wachsenden Großstädte oft entstanden waren, wurden infolge des ''legge 167-1962'' [[Großwohnsiedlung]]en gebaut. Zum anderen begann durch die erste [[Ölpreiskrise]] (ab Oktober 1973) in vielen Industrieländern eine jahrelange Phase der [[Stagnation]] und [[Inflation]] („[[Stagflation]]“) mit relativ hohen Arbeitslosenquoten.<br />
<br />
=== 1970er und 1980er Jahre: Bleierne Jahre, Historischer Kompromiss ===<br />
Die Nachwirkungen der [[68er-Bewegung]] zeigten sich in Italien in gesellschaftlichen Liberalisierungen und neuen sozialen Bewegungen, die von den „roten“ Universitäten ausgingen, etwa der [[Frauenbewegung]]. Im Jahr 1975 vereinbarten Arbeitgeber und Gewerkschaften die ''[[scala mobile]]'', nach der die Löhne automatisch der Inflationsentwicklung folgen sollten. Andererseits radikalisierten sich einige linke Bewegungen, was zu einer Welle von Gewalt und Terrorismus führte.<br />
<br />
[[Datei:Aldo Moro br.jpg|mini|[[Aldo Moro]] in Gefangenschaft der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]]]]<br />
<br />
Der linksextreme Terrorismus der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]] und die Attentate neofaschistischer Extremisten, an denen möglicherweise Geheimdienste beteiligt waren, prägten das Land in den 1970er Jahren, die als '''anni di piombo''' (bleierne Jahre) bezeichnet wurden. Zwischen dem [[Bombenanschlag auf der Piazza Fontana]] 1969 und 1983 wurden mehr als 14.000 Anschläge mit 374 Toten und über 1170 Verletzten verübt.<ref>Ruth Glynn, Giancarlo Lombardi: ''Remembering Aldo Moro.'' In: dies. (Hrsg.): ''Remembering Aldo Moro: The Cultural Legacy of the 1978 Kidnapping and Murder.'' Routledge, Abingdon, New York 2012, S. 1–16, hier [https://books.google.de/books?id=8EMrDwAAQBAJ&pg=PA1 S. 1 f.] Eine Grafik zur Entwicklung der Anschlagsanzahlen zeigt Tobias Hof: ''Staat und Terrorismus in Italien 1969–1982.'' Oldenbourg, München 2012, [https://books.google.de/books?id=lGzoBQAAQBAJ&pg=PA51 S. 51].</ref> Die Destabilisierung der politischen Situation ließ einen Staatsstreich nicht unwahrscheinlich scheinen. Bekannt sind die Putschpläne der [[Carabinieri]] unter [[Giovanni De Lorenzo]] im Jahr 1964 (''Piano Solo''<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003'', il Mulino, Bari 2006, S. 207f.</ref>) und der ''Golpe Borghese'' von Fürst [[Junio Valerio Borghese]].<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003.'' Il Mulino, Bari 2006, S. 246.</ref><br />
<br />
Es kam in dieser Situation zu einer Annäherung von Christdemokraten und Kommunisten. An der Ausarbeitung des [[Historischer Kompromiss|Historischen Kompromisses]] ''(compromesso storico)'' waren der Christdemokrat [[Aldo Moro]] und der Kommunist [[Enrico Berlinguer]] beteiligt. Nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1976|Wahlen von 1976]], bei denen die Kommunisten stark zulegten, wurde [[Giulio Andreotti]] Ministerpräsident einer Minderheitsregierung, die auf die Tolerierung der Kommunisten angewiesen war. Am 11. März 1978 kam es, abermals unter Führung von Andreotti, zur Bildung einer Regierung der nationalen Solidarität, an der erstmals die Kommunisten beteiligt sein sollten. Am 16. März wurde Aldo Moro entführt und am 9. Mai nach 55-tägiger Geiselhaft von den Roten Brigaden ermordet. Der [[Anschlag von Bologna 1980]] markierte den Höhepunkt der terroristischen Aktionen in Italien.<br />
<br />
Der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche in Italien|katholischen Kirche]] auf die Gesellschaft schwand. 1984 wurde ein neues [[Konkordat]] mit dem Heiligen Stuhl unterzeichnet, durch das der [[Katholizismus]] seinen Status als [[Staatsreligion]] verlor. Bereits 1970 wurde die [[Ehescheidung]] gegen ihren Widerstand ermöglicht; das Gesetz wurde 1974 bei einer Beteiligung von 87,7 % in einer Volksabstimmung von 59,3 % der Wähler befürwortet.<ref>Markus Schaefer: ''Referenden, Wahlrechtsreformen und politische Akteure im Strukturwandel des italienischen Parteiensystems.'' Lit, Münster 1998, S. 39.</ref> 1979 wurde die [[Schwangerschaftsabbruch|Abtreibung]] legalisiert.<br />
<br />
Der Anteil der Bevölkerung, die einen Studienabschluss erwarb, stieg im Rahmen der [[Bildungsexpansion]] drastisch an. Im akademischen Jahr 2006/07 waren 1.809.186 Studenten an 95 Universitäten eingeschrieben,<ref>{{Webarchiv | url=http://statistica.miur.it/scripts/IU/IU2007_02_sintesi.pdf | wayback=20130517011229 | text=MIUR – Unterrichtsministerium: Studierende 2006/7}} (PDF; 57&nbsp;kB).</ref> was etwa 3 % der Bevölkerung entsprach, während es 1960/61 noch 0,4 % oder 217.000 Studenten gewesen waren.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.ricercaitaliana.it/universita_chifaricerca.htm |wayback=20120307025541 |text=''Ricerca Italiana'' |archiv-bot=2023-05-11 17:49:30 InternetArchiveBot }}.</ref><br />
<br />
Als Anfang der 1970er das [[Bretton-Woods-System]] zusammenbrach, begann weltweit eine Zeit freier Wechselkurse. Die [[Ölpreiskrise]] im Winter 1973/74 trug dazu bei, die Inflation zu erhöhen; es kam zu einer [[Stagflation]]. 1979/80 folgte eine zweite Ölkrise. Die italienische Wirtschaft bekam die Folgen der Krise besonders zu spüren, die Regierung des sozialistischen Ministerpräsidenten [[Bettino Craxi]] reagierte ab 1983 mit Kürzungen und einer schrittweisen Abschaffung der ''scala mobile''. Die Craxi-Jahre waren von einem außerordentlichen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, wobei sich das Bevölkerungswachstum verlangsamte (von 1971 bis 1981 von 54,1 auf 56,5 Millionen Einwohner, bis 1991 auf 56,8 Millionen<ref name="Giuseppe Vottari 2001" />). 1987 kündigte die Regierung Craxi den ''sorpasso'' an, denn Italien hatte Großbritannien „überholt“ und war nun zur fünftgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen.<ref>[http://www.zeit.de/1987/10/craxi-will-nicht-weichen/komplettansicht ''Craxi will nicht weichen.''] In: ''Die Zeit'', 27. Februar 1987; [http://www.zeit.de/1987/33/italien-das-wunder ''Italien: Das Wunder.''] In: Die Zeit, 7. August 1987; {{Der Spiegel|ID=13523582|Titel=Madonna, was ist passiert in bella Italia?|Jahr=1987|Nr=32|Datum=1987-08-03|Seiten=98–107}}</ref> Dieses Wachstum konnte nur durch eine massiv ausgeweitete [[Staatsverschuldung]] aufrechterhalten werden, was die Lage der öffentlichen Haushalte dramatisch verschlechterte; die Staatsverschuldung verdoppelte sich im Laufe der 1980er Jahre. Die [[Inflation]] blieb relativ hoch, die [[Italienische Lira|Lira]] wurde abgewertet (was Exporte förderte und Importe bremste, also die eigene Industrie stützte).<br />
<br />
=== Zerfall der etablierten Parteien und Privatisierungen (1990–1994) ===<br />
Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen gelangen dem Staat Anfang der 1990er Jahre einige Erfolge. Nach den Attentaten gegen die Staatsanwälte [[Giovanni Falcone]]<ref>Zum 10. Jahrestag erschien u. a. Francesco La Licata: ''Storia di Giovanni Falcone.'' Mailand 2002, 3. Auflage. 2005.</ref> und [[Paolo Borsellino]]<ref>[[Alexander Stille]]: ''Excellent Cadavers. The Mafia and the Death of the First Italian Republic.'' Random House 2011.</ref> im Jahr 1992 wurden die Gesetze noch einmal verschärft.<br />
<br />
Ab 1992 erfolgte durch die Aufdeckung von Korruptions- und Parteifinanzierungsskandalen ([[Tangentopoli]] und [[Mani pulite]]) eine grundlegende Neuordnung der Parteienlandschaft. Die Christdemokraten, die Sozialisten, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Republikaner, die das Land vierzig Jahre lang geführt hatten, hörten innerhalb eines Jahres auf, als eigenständige Parteien zu existieren oder verschwanden in der völligen Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig stürzte der Zusammenbruch des Ostblocks die Kommunisten in eine ideologische Krise. Aus der KPI gingen die nun sozialdemokratisch orientierte PDS ([[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]]) sowie zahlreiche kommunistische Neugründungen hervor. Im wohlhabenden Norden des Landes wurde der Unmut der Bevölkerung über die Politik von der sezessionistisch auftretenden [[Lega Nord]] angesprochen. Dieser Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems und die damit einhergehenden politischen Veränderungen gelten als größte Zäsur der italienischen Nachkriegsgeschichte. Obwohl die Verfassung aus dem Jahr 1948 unverändert gültig ist, wurde es üblich von der Zeit vor dem Umbruch der Jahre 1992–94 als Erste Republik ''(prima repubblica)'' und den Jahren danach als Zweite Republik ''(seconda repubblica)'' zu sprechen.<br />
<br />
Auch finanziell stand Italien vor dem Kollaps, die Schulden überstiegen das BIP, die Lira wurde um 20 % abgewertet.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Diss., Universität Hamburg 2011, Springer 2012, S. 177.</ref> Dies veranlasste die Regierung unter [[Giuliano Amato]] 1992 zu einem scharfen Sparkurs. Als äußerste Maßnahme wurden sämtliche Bankkonten einer einmaligen Sonderbesteuerung unterworfen, was das Vermögen der meisten Haushalte erstmals seit den 1960er Jahren reduzierte.<ref>Orazio P. Attanasio, Agar Brugiavini: ''L’effetto della riforma Amato sul risparmio delle famiglie italiane.'' In: ''Ricerche quantitative per la politica economica 1995.'' hgg. v. d. Banca d’Italia, S. 596.</ref> Die Regierung [[Carlo Azeglio Ciampi|Ciampi]], eine parteilose Expertenregierung ''(governo tecnico)'', setzte 1993 diesen Kurs der Privatisierung und der Auflösung der Netzwerke aus staatlich-privaten Patronage- und Klientelverhältnissen fort, um den Euro einführen zu können, wofür Ciampi den Spitznamen ''Signor Euro'' erhielt. Im Zuge der Sanierung der Staatsfinanzen machte man sich an eine [[Privatisierung]] der zahlreichen, durch politische [[Patronage]] korrumpierten Staatsbetriebe. Diese erwirtschafteten zeitweise die Hälfte des BIP. Den Anfang machten 1990 die Banken, die verpflichtet wurden, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln. 1994 befanden sich bereits 73 % des Aktienkapitals in den Händen von Sparkassen-Stiftungen, die bis 2005 das gesamte Kapital privatisierten. Dabei konnten die fünf größten Banken ihren Marktanteil unter den von 1100 auf 800 verminderten Banken von 34 auf 54 % steigern.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 179.</ref> Daraus entstanden letztlich zwei Großgruppen, 2007 die [[Intesa Sanpaolo|Intesa-San-Paolo]]- und die [[Unicredit]]-Gruppe. Weit dahinter liegen [[Mediobanca]], [[Monte dei Paschi di Siena]] und [[UBI Banca|Unione di Banche Italiane]]. 1993 wurde die Trennung von Geschäfts- und Finanzbanken, die 1936 eingeführt worden war, wieder abgeschafft, so dass [[Universalbank]]en entstanden. Insgesamt brachten alle Privatisierungen zusammen dem Fiskus weit über 100 Milliarden Euro ein, womit sie die größte jemals durchgeführte Privatisierungswelle darstellten. Allein die Verkäufe der Anteile an [[Eni (Unternehmen)|ENI]] und [[Enel]] brachten 35 Milliarden Dollar ein.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 181 f.</ref> Strategische Anteile an der Energieversorgung, der Luft- und Raumfahrtindustrie und an der Daseinsvorsorge blieben allerdings in staatlicher Hand. Zwar stieg der Streubesitz an den Unternehmensaktien, doch haben Shareholderabsprachen eher die Kontrolle durch einzelne Familien gestärkt, während der Einfluss der Banken zurückging.<br />
<br />
=== Wechselnde Regierungsbündnisse, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise und Pandemie (seit 1994) ===<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 1994|Parlamentswahlen 1994]], bei denen erstmals ein gemischtes Mehrheits- und Proporzwahlrecht mit Sperrklausel Anwendung fand, setzte sich überraschenderweise die Koalition des Bau- und [[Medienunternehmer]]s [[Silvio Berlusconi]] gegen das Linksbündnis unter Führung von [[Achille Occhetto]] durch. Seine [[Forza Italia]], nur wenige Monate zuvor gegründet, hatte sich mit der Lega Nord sowie der [[Alleanza Nazionale]] verbündet, die aus dem postfaschistischen [[Movimento Sociale Italiano]] hervorgegangen war. Doch zerbrach die Koalition nach nur wenigen Monaten. Die daraufhin einberufene Expertenregierung unter [[Lamberto Dini]], dem ehemaligen Generaldirektor der italienischen Zentralbank und Finanzminister unter Berlusconi, regierte von Januar 1995 bis Mai 1996.<br />
<br />
Die Wahlen von 1996 gewann eine Mitte-links-Koalition ([[L’Ulivo|Ulivo]]) unter Führung des ehemaligen Christdemokraten [[Romano Prodi]]. In der Regierung ''Prodi I'' (Mai 1996 – Oktober 1998) saßen erstmals eurokommunistische Minister. Prodis strikter Sparkurs ebnete Italien den Weg in die [[Euro]]zone. Von seinen Verbündeten verlassen, musste er zurücktreten und [[Massimo D’Alema]] bzw. [[Giuliano Amato]] sein Amt überlassen. Der aus der kommunistischen Partei 1991 hervorgegangene [[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]] (PDS) hatte sich nach der Vereinigung mit anderen [[Sozialismus|sozialistischen]] Gruppen 1998 in „Linksdemokraten“ ([[Democratici di Sinistra]], DS) umbenannt. Ihr Vorsitzender D’Alema blieb bis 2000 Ministerpräsident, ihm folgte Giuliano Amato, der dieses Amt bereits von Juni 1992 bis April 1993 innegehabt hatte.<br />
<br />
Die Wahlen 2001 konnte Berlusconis Bündnis [[Casa delle Libertà]] für sich entscheiden. Nach fünf Jahren Amtszeit musste er sich bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2006|Parlamentswahlen 2006]] erneut Romano Prodi geschlagen geben. Mitte Mai 2006 wurde dann auch mit [[Giorgio Napolitano]] der Kandidat Romano Prodis zum Präsidenten der Republik gewählt, mit dem zum ersten Mal ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei dieses Amt einnahm.<br />
<br />
Auf der Ebene der Gemeinden, Provinzen und [[Italienische Regionen|Regionen]] wurden ebenso Reformen durchgeführt wie auf der nationalen Ebene. Auch wurden 1997 Reformen der [[Italienische Streitkräfte|Streitkräfte]] eingeleitet, die 2005 in die Aussetzung der [[Wehrpflicht]] mündeten. Auf eine Verfassungsreform zur Stärkung der Regierung, zur Verbesserung der parlamentarischen Arbeit und zur Einführung einer Vertretung der [[Gebietskörperschaft]]en konnte man sich jedoch nicht einigen. Das [[Italienisches Parlamentswahlrecht|italienische Parlamentswahlrecht]] wurde hingegen seit 2005 mehrfach geändert.<br />
<br />
Die Staatsfinanzen litten weiterhin an einer hohen Steuerhinterziehung (je nach Schätzung 20–30 % des [[Bruttoinlandsprodukt|BIP]]), an den wachsenden Lasten in Gesundheitswesen und Altersversorgung, sowie an einer zu sehr auf Rom ausgerichteten Finanzierung der Regionen. Steigende Zinsen, bei gleichzeitigem Anstieg der Steuer- und Abgabenlast, belasteten die Gesamtwirtschaft. Als problematisch wird zudem die Schwerfälligkeit von Justiz und Verwaltung angesehen. Die strukturellen Probleme Süditaliens sind ungelöst; als besonders hemmend gilt der Einfluss der organisierten Kriminalität auf das Wirtschaftsleben.<br />
<br />
Im Januar 2008 zerfiel das von [[Romano Prodi]] geführte Bündnis, nachdem sich der Koalitionspartner [[Popolari-Unione Democratici per l’Europa|UDEUR]] aus dem Bündnis zurückgezogen hatte. Prodi scheiterte in der [[Vertrauensfrage]]. Staatspräsident [[Giorgio Napolitano]] beauftragte daraufhin den Senatspräsidenten [[Franco Marini (Politiker)|Franco Marini]] mit der Bildung einer Übergangsregierung, doch musste er das Mandat zur Regierungsbildung am 4. Februar wieder zurückgeben.<ref>[[Tagesschau (ARD)|Tagesschau]]: ''[https://tsarchive.wordpress.com/2008/02/04/italien92/ Neuwahlen in Italien rücken näher] (tagesschau.de-Archiv)'' vom 4. Februar 2008.</ref> Daraufhin löste Napolitano beide Kammern des Parlaments auf und schrieb [[Parlamentswahlen in Italien 2008|Neuwahlen]] aus.<ref>[http://www.corriere.it/politica/08_febbraio_06/napolitano_scioglie_camere_rammarico_mancata_riforma_elettorale_890d58ba-d4a3-11dc-a819-0003ba99c667.shtml ''Sciolte le Camere, si vota il 13 e 14 aprile''] Corriere della Sera, 6. Februar 2008.</ref><br />
<br />
Aus diesen ging mit 46,8 % (Abgeordnetenkammer) und 47,3 % (Senat) Silvio Berlusconis neues Wahlbündnis [[Popolo della Libertà]] – [[Lega Nord]] – [[Movimento per le Autonomie|Movimento per l’autonomia]] als Sieger hervor. Die [[Kabinett Berlusconi IV|vierte Regierung]] Silvio Berlusconis wurde am 8. Mai 2008 vereidigt. Bedingt durch die [[Finanzkrise]] schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2008 um 1 %, im Jahr 2009 um weitere 5 %. Dank seines Bankensystems und der niedrigen Verschuldung der Privathaushalte konnte sich das Land zunächst vor den wirtschaftlichen Folgen schützen,<ref>[http://www.handelsblatt.com/politik/international/euro-zone-italien-haelt-sich-im-trubel-abseits;2527850 ''Italien hält sich im Trubel abseits.''] In: ''[[Handelsblatt]]'' 11. Februar 2010.</ref> wurde jedoch 2011 von der [[Eurokrise]] erfasst.<br />
<br />
[[Datei:Meloni Official Portrait2022.jpg|mini|[[Giorgia Meloni]], seit dem 22. Oktober 2022 [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidentin]]]]<br />
<br />
Angeführt vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses [[Gianfranco Fini]] verließen seit Mitte 2010 zahlreiche Parlamentarier Berlusconis Koalition, bis dieser im November 2011 über keine Mehrheit mehr im Abgeordnetenhaus verfügte. Von ihm selbst ausgelöste Skandale und anstehende Gerichtsverfahren sowie die Zuspitzung der Eurokrise zwangen Silvio Berlusconi am 12. November 2011 zum Rücktritt.<br />
<br />
Staatspräsident Napolitano beauftragte den Parteilosen und ehemaligen [[Europäische Kommission|EU-Kommissar]] für Binnenmarkt und Wettbewerb [[Mario Monti]] mit der Bildung einer [[Kabinett Monti|neuen Regierung]]. Die [[Eurokrise|Schuldenkrise im Euroraum]] verschärfte sich, Ende 2011 hatte Italien 1,9 Billionen Euro Schulden. Die Zinsen für Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit erreichten im November 2011 bei 7,56 % den höchsten Satz.<ref>[http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/krisenstaat-anleihe-bringt-italien-relativ-guenstiges-geld-a-806218.html ''Anleihe bringt Italien relativ günstiges Geld.''] Spiegel online, 29. Dezember 2011.</ref> Die Arbeitslosigkeit lag im März 2012 bei 9,3 %, dabei stieg die seit langem hohe Arbeitslosigkeit unter den 19- bis 24-Jährigen auf 31,9 %.<ref>{{Webarchiv | url=http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/arbeitslosigkeit-in-italien-auf-hoechstem-stand-seit-2004-513147/index.do | wayback=20120406074143 | text=''Arbeitslosigkeit in Italien auf höchstem Stand seit 2004''}}, in: Wirtschaftsblatt, 2. April 2012.</ref> Im Dezember lag die Arbeitslosenquote bereits bei 11,2 % oder 2,9 Millionen.<ref>[http://www.oe24.at/welt/Arbeitslosigkeit-in-Italien-auf-Rekordhoch/93362535 ''Arbeitslosigkeit in Italien auf Rekordhoch''], oe24.at, 1. Februar 2013.</ref><br />
<br />
Am 25. Februar 2013 gewann das Mitte-links-Bündnis von [[Pier Luigi Bersani]] knapp die [[Parlamentswahlen in Italien 2013|Wahl]] mit 29,54 % der Stimmen vor dem Bündnis Berlusconis, das 29,18 % erhielt.<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-02/wahl-italien-bersani-berlusconi ''Gespaltene Mehrheit in Italien.''] In: ''Die Zeit'' online, 26. Februar 2013.</ref> Die vom Berufskomiker Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung ([[MoVimento 5 Stelle]]) konnte mit 25,09 % einen überraschenden Erfolg feiern. [[Enrico Letta]] vom [[Partito Democratico]] wurde auf Vorschlag von Staatspräsident Napolitano vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Nach einem parteiinternen Machtkampf wurde Letta nach weniger als einem Jahr im Amt vom ehemaligen Bürgermeister von Florenz, [[Matteo Renzi]], abgelöst. Unter der Regierung Renzi wurden zahlreiche Reformvorhaben auf dem Arbeitsmarkt, in den Sozialsystemen und den staatlichen Institutionen durchgeführt sowie gesellschaftspolitische Liberalisierungen wie die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft ''(unione civile)''. Die von Renzi angestrebte Verfassungsänderung wurde am [[Verfassungsreferendum in Italien 2016|4. Dezember 2016]] durch das Volk in einem Referendum abgelehnt, infolgedessen trat Renzi zurück. Neuer Ministerpräsident wurde [[Paolo Gentiloni]], welcher zuvor als [[Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit (Italien)|Außenminister]] in Renzis Kabinett diente.<ref>[http://www.blick.ch/news/ausland/italien-gentiloni-gewinnt-vertrauensabstimmung-im-italienischen-senat-id5897522.html „Gentiloni gewinnt Vertrauensabstimmung im italienischen Senat“], abgerufen am 15. Dezember 2016.</ref><br />
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Im Jahr 2015 kulminierte die [[Flucht und Migration über das Mittelmeer in die EU|Flucht und Migration über das Mittelmeer]] zu einer [[Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016]], von der insbesondere Italien betroffen war und in dem Zusammenhang unter anderem wegen chaotischer Zustände auf der Insel [[Lampedusa]] in die Schlagzeilen geriet. Spätestens seit 2015 ist Italien für nach Europa ziehende afrikanische Migranten beliebtes Ziel- und [[Transitland]].<br />
<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2018|Parlamentswahlen am 4. März 2018]] konnten die Fünf-Sterne-Bewegung mit 32,68 % und die nunmehr italienisch-national auftretende [[Lega Nord|Lega]] (ohne den Zusatz Nord) mit 17,34 % die größten Zugewinne verzeichnen und bildeten zusammen eine Regierung unter Führung des parteilosen [[Giuseppe Conte]]. [[Luigi Di Maio]] von der Fünf-Sterne-Bewegung und [[Matteo Salvini]] von der Lega übernahmen jeweils den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten. Nachdem Salvini die Beendigung der Regierungskoalition erklärte, bildete Conte sein [[Kabinett Conte II|Kabinett]] um, das neben der Fünf-Sterne-Bewegung von Partito Democratico, [[Liberi e Uguali]], [[Italia Viva]] und dem [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]] unterstützt wurde. Im Januar 2021 verließ Italia Viva das Regierungsbündnis und Conte erklärte seinen Rücktritt. Während der Regierungszeit von Conte wurde unter anderem eine [[Verfassungsreferendum in Italien 2020|Verfassungsreform zur Verkleinerung des Parlaments]] beschlossen und in einer Volksabstimmung bestätigt.<br />
<br />
Staatspräsident [[Sergio Mattarella]] (seit 2015 im Amt) sprach sich gegen Neuwahlen während der [[COVID-19-Pandemie in Italien|COVID-19-Pandemie]] aus, von der Italien seit Januar 2020 betroffen ist, und beauftragte [[Mario Draghi]], den früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank und früheren Gouverneur der italienischen Zentralbank, eine [[Kabinett Draghi|Regierung]] zu bilden, die am 13. Februar 2021 vereidigt wurde. Diese [[Regierung der nationalen Einheit]] wurde insbesondere von [[Fünf-Sterne-Bewegung]], [[Partito Democratico]], [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] getragen. Die rechtsnationale Partei [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] war an dieser Regierung nicht beteiligt.<br />
<br />
Nach einer Vertrauensabstimmung, die Draghi zwar gewann, bei der aber mit der Fünf-Sterne-Bewegung, Lega und Forza Italia drei Regierungsparteien nicht teilnahmen, reichte Draghi seinen Rücktritt ein und Präsident Mattarella löste am 21. Juli 2022 beide Parlamentskammern auf.<ref>Die Zeit: [https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/regierungskrise-italien-mario-draghi Der Pakt des Vertrauens ist zerbrochen]</ref> Aus den [[Parlamentswahlen in Italien 2022|vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. September 2022]] gingen die [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] unter Führung von [[Giorgia Meloni]] und deren Koalitionspartner [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] als Sieger hervor (43,79 % der Wählerstimmen für die Abgeordnetenkammer und 44,02 % für den Senat) und konnten eine Rechts-Mitte-Regierung ([[Kabinett Meloni]]) unter Einbeziehung auch kleinerer Parteien bilden (Stand Oktober 2022: [[Noi con l'Italia]], [[Cambiamo!|Italia al Centro]], [[Coraggio Italia]], [[Unione di Centro]], [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]]). Giorgia Meloni wurde am 22. Oktober 2022 als Ministerpräsidentin vereidigt, womit zum ersten Mal in der Geschichte Italiens seit der Staatsgründung 1861 eine Frau dieses Amt bekleidet.<br />
<br />
=== Bevölkerungswachstum, Zuwanderung ===<br />
[[Datei:Saldo naturale e saldo migratorio - Italia -- Natural increase and net migration - Italy (1862-).png|mini|250px|Wanderungssaldo zwischen 1862 und 2014]]<br />
1861 hatte Italien 21,7 Millionen Einwohner, bei der Volkszählung 1901 über 30 Millionen und 1931 41,6 Millionen Einwohner. Lag die [[Geburtenrate]] pro tausend Einwohner um 1850 bei 38,6, so sank sie bis 1913 auf immer noch sehr hohe 31,7, die [[Sterberate]] sank im selben Zeitraum jedoch viel schneller von 29,9 auf 18,7,<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 176 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> so dass die Bevölkerungszahl steil anstieg. 1946 hatte Italien etwa 45,5 Millionen Einwohner, 1960 über 50, 1975 mehr als 55 Millionen. Die [[zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer]] lag 1946 bei 3,01 Kindern pro Frau und noch im Jahr 1976 oberhalb der natürlichen Reproduktionsrate bei 2,11. Danach nahm sie bis 1995 auf 1,17 ab und schwankt seither zwischen 1,2 und 1,3.<ref>Anna Montanari: ''Stranieri extracomunitari e lavoro.'' Wolters Kluwer Italia, Mailand 2010, S. 11 Anm. 26, ISBN 978-88-13-29103-7.</ref> Bei den neu Zugewanderten lag sie 2006 etwa doppelt so hoch; bis 2009 sank sie auf 2,05.<ref>''Sedicesiomo Rapporto Sulle Migrazioni 2010'', hgg. v. d. Fondazione ISMU (Iniziative e studi sulla multietnicità), Mailand 2011, S. 40.</ref><ref>siehe auch [http://www.ismu.org/ www.ismu.org]</ref><br />
<br />
Die Bevölkerung stieg weiter an, auf etwa 60 Millionen Einwohner im Jahr 2011, wobei das Bevölkerungswachstum nunmehr überwiegend auf Zuwanderung zurückzuführen war, deren jährlicher Saldo zwischen etwa 300.000 und 600.000 lag; ansonsten übertrifft seit 1993 die Zahl der Sterbefälle die der Geburten, im Jahr 2010 um 25.000.<ref>[[Istituto Nazionale di Statistica]]: {{Webarchiv|url=http://www.istat.it/salastampa/comunicati/in_calendario/bildem/20110524_00/testointegrale20110524.pdf |wayback=20130209001525 |text=''Bilancio demografico nazionale. Anno 2010'' |archiv-bot=2025-05-07 23:07:49 InternetArchiveBot }} (PDF).</ref> 2010 lag die Geburtenziffer bei 9,3 und die Sterbeziffer bei 9,7.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.demo.istat.it/altridati/indicatori/2010/Tab_1.pdf |wayback=20120308235043 |text=ISTAT |archiv-bot=2025-05-07 23:07:49 InternetArchiveBot }} (PDF; 13&nbsp;kB).</ref> Die [[Lebenserwartung]] stieg von 50 Jahren im Jahr 1920 auf 77,5 im Jahr 1994. 2010 lag sie bei 79,1 Jahren bei Männern und bei 84,3 bei Frauen.<br />
<br />
Die Zahl der Zuwanderer ist seit den 1990er Jahren stark angestiegen, nachdem Italien bis 1972 überwiegend Auswandererland gewesen war.<ref>Giovanna Zincone: ''The case of Italy.'' In: Giovanna Zincone, Rinus Penninx, Maren Borkert (Hrsg.): ''Migration Policymaking in Europe. The Dynamics of Actors and Contexts in Past and Present.'' Amsterdam University Press, Amsterdam 2012, S. 247–290, hier: S. 247.</ref> 1991 zählte das Statistikinstitut ISTAT 625.034 Ausländer bei 56,8 Millionen Einwohnern, 1997 schätzte man ihre Zahl auf 1,25 Millionen,<ref>William Stanton (2003): ''The Rapid Growth of Human Populations, 1750–2000. Histories, Consequences, Issues Nation by Nation.'' ISBN 0-906522-21-8, S. 30.</ref> Anfang 2011 auf 5,4 Millionen.<ref>Dies und das Folgende nach: Fondazione Ismu (Hrsg.): ''Diciassettesimo Rapporto sulle Migrazioni 2011'', S. 8.</ref> Davon kamen 969.000 aus [[Rumänien]], 483.000 aus [[Albanien]], 452.000 aus [[Marokko]]; dann folgten [[China]] (210.000) und die [[Ukraine]] (201.000). Die meisten Immigranten leben im Norden Italiens. Bis März 2012 kamen 64.000 Flüchtlinge aus Nordafrika via [[Mittelmeerroute]] nach Italien.<ref>[http://www.dradio.de/aktuell/1696923/ ''Schutz statt Abwehr von Flüchtlingen''], Deutschlandradio, 8. März 2012.</ref><ref>zum aktuellen Stand siehe auch {{Webarchiv|url=https://frontex.europa.eu/along-eu-borders/migratory-map/ |wayback=20190225141446 |text=frontex.europa.eu |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}</ref> Die Zahl der „stranieri“ wurde 2023 auf 5,775 Millionen geschätzt.<ref>[https://www.vita.it/sono-5-milioni-e-775mila-gli-stranieri-che-vivono-in-italia/ ''Sono 5 milioni e 775mila gli stranieri che vivono in Italia''], in: Vita, 13. Februar 2024.</ref> Die Einwanderungs- und [[Flüchtlingspolitik]] war und ist ein wichtiges Thema der italienischen Politik.<br />
<br />
== Verwaltung des Kulturerbes ==<br />
Seit 1974 besteht das [[Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Aktivitäten (Italien)|Ministerium für Kulturgüter und -aktivitäten]] unter wechselnden Namen. Dem Ministerium sind 157 [[Staatsarchiv]]e, 298 archäologische Stätten, 58 Bibliotheken, 244 Museen, insgesamt 1052 staatliche Institutionen zugeordnet, hinzu kommen 2.119 nicht-staatliche (Stand: 26. Februar 2012).<ref>{{Webarchiv|url=http://www.beniculturali.it/mibac/opencms/MiBAC/sito-MiBAC/MenuPrincipale/LuoghiDellaCultura/Ricerca/index.html |wayback=20190914211414 |text=''Luoghi della Cultura'' |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}, Website des Kultusministeriums.</ref> Einige der Museen sind Nationalmuseen. Zu diesen zählen das [[Archäologisches Nationalmuseum Ferrara|Archäologische Nationalmuseum in Ferrara]] sowie das von [[Archäologisches Nationalmuseum Florenz|Florenz]], das [[Museo Nazionale Romano|von Rom]] und [[Archäologisches Nationalmuseum Neapel|von Neapel]], dann dasjenige [[Archäologisches Nationalmuseum Tarent|von Tarent]] sowie das [[Museo Nazionale Alinari della Fotografia]] in Florenz. Hinzu kommen das [[Museo Archeologico Nazionale di Reggio Calabria]], ehemals ''Museo Nazionale della Magna Grecia'', in Reggio, das [[Museo Nazionale G. A. Sanna]] auf Sardinien ebenso wie das [[MAXXI – Museo nazionale delle arti del XXI secolo|Nationalmuseum der Kunst des 21. Jahrhunderts]] in Rom. Allerdings ist die Bezeichnung „Nationalmuseum“ nicht genau abgegrenzt, so dass zahlreiche weitere, überregional bedeutende staatliche Museen mitzurechnen sind.<br />
<br />
In keinem Land gehören so viele Stätten zum [[UNESCO-Welterbe]] (2024: 60), 2024 kam die [[Via Appia]] hinzu. Die früheste geschützte Stätte sind die seit 1979 eingetragenen [[Felsbilder des Valcamonica]] und seit 1980 das gesamte historische Zentrum von Rom, seit 1982 das von Florenz, 1987 Venedig und seine Lagune, 1995 Neapels Kernstadt, im Jahr 2000 die von Verona, 2011 die [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen]] und die [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Stätten der Langobarden]]. Neben dem Schutz, dem ein ''Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale'' dient, arbeiten die Institutionen vor allem daran, die Kulturschätze zu erhalten und zu restaurieren sowie der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich zu machen, bzw. zu halten.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
{{Portal|Italien}}<br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Überblickswerke ===<br />
* [[Wolfgang Altgeld]], [[Thomas Frenz]], Angelica Gernert u.a (Hrsg.): ''Geschichte Italiens.'' 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Reclam, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-15-011067-6 (erstmals 2002 unter dem Titel „Kleine italienische Geschichte“).<br />
* Charles L. Killinger: ''The History of Italy'', Greenwood Press, Westport 2002, ISBN 0-313-31483-7.<br />
* [[Girolamo Arnaldi]]: ''Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute'', Wagenbach, Berlin 2005, ISBN 3-8031-3617-2. (deutsche Übersetzung des 2004 bei Laterza erschienenen ''L’Italia e i suoi invasori'')<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart'', C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50284-9.<br />
* [[Michael Seidlmayer]]: ''Geschichte Italiens. Vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis zum ersten Weltkrieg'' (= ''[[Kröners Taschenausgabe]]'', 341). 2., erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 1989, ISBN 3-520-34102-6.<br />
* Georges Jehel: ''L’Italie et le Maghreb au Moyen Âge. Conflits et échanges du VIIe au XVe siècle'', Presses universitaires de France, 2001, ISBN 2-13-052263-7.<br />
* [[Peter Herde]]: ''Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento'', Steiner, Stuttgart 1986, ISBN 3-515-04596-1.<br />
* Attilio Milano: ''Storia degli ebrei in Italia'', Einaudi, Turin 1992, ISBN 88-06-12825-6.<br />
* Christopher Kleinhenz (Hrsg.): ''Medieval Italy'', 2 Bde., Routledge, New York 2004, ISBN 0-415-93930-5.<br />
* {{RGA|15|544|593|Italien|[[Volker Bierbrauer]] u. a.}}<br />
* {{LexMA|5|705|762|Italien}}<br />
* [[David Gilmour, 4. Baronet|David Gilmour]]: ''Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart'', Klett-Cotta, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-608-94770-0.<br />
* [[Christopher Duggan]]: ''A Concise History of Italy'', 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 2013, ISBN 978-0-521-76039-3.<br />
* Christopher Duggan: ''The Force of Destiny. A History of Italy since 1796'', Allen Lane, London 2007, ISBN 978-0-7139-9709-5.<br />
* [[Denis Mack Smith]]: ''Modern Italy. A Political History'', Yale University Press, 1997 (aktualisierte und erweiterte Neuauflage, erstmals 1958 unter dem Titel ''Italy. A modern history'').<br />
* [[Christian Jansen]], [[Oliver Janz]]: ''Geschichte Italiens. Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.'' Kohlhammer, Stuttgart 2023.<br />
* [[Giorgio Candeloro]]: ''Storia dell’Italia moderna'', 11 Bde., Feltrinelli, Mailand 1956–1986 (einst Standardwerk).<br />
<br />
=== Regionen und Städte ===<br />
* Adele Cilento: ''Bisanzio in Sicilia e nel sud dell’Italia'', Magnus, Udine 2005, ISBN 88-7057-196-3<br />
* Thomas Dittelbach: ''Geschichte Siziliens. Von der Antike bis heute'', Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-58790-0<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Medieval Rome. Stability and Crisis of a City, 900–1150'', Oxford University Press, Oxford 2015.<br />
* [[Cinzio Violante]]: ''Economia, società, istituzioni a Pisa nel Medioevo'', Dedalo, Bari 1980.<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte von Florenz'', Beck, München 2013.<br />
* [[Robert Davidsohn]]: ''Geschichte von Florenz'', 4 Bde., Berlin 1896–1927 (einst Standardwerk, vielfach veraltet, enorme Detailtiefe).<br />
* John M. Najemy: ''A History of Florence, 1200–1575'', Blackwell Publishing, 2006 (ital.: ''Storia di Firenze dal 1200 al 1575'', Einaudi, Turin 2014).<br />
* Teofilo Ossian De Negri: ''Storia di Genova'', Giunti Editore, Florenz, 2003, ISBN 88-09-02932-1<br />
* [[Alberto Tenenti]], [[Ugo Tucci]] (Hrsg.): ''Storia di Venezia'', 12 Bde., Rom 1992–1995.<br />
* [[Giovanni Treccani|Giovanni Treccani degli Alfieri]] (Hrsg.): ''Storia di Milano'', 16 Bde., Mailand 1962.<br />
* [[Alessandro Barbero]]: ''Storia del Piemonte. Dalla preistoria alla globalizzazione.'' Einaudi, Turin 2008.<br />
<br />
=== Wirtschaftsgeschichte ===<br />
* [[Vera Zamagni]]: ''Introduzione alla storia economica d’Italia'', Il Mulino, Bologna 2007 (Einführung, Mittelalter bis Gegenwart), ISBN 978-88-15-12168-4<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica d’Italia. Il Medioevo'', Sansoni, Florenz 1967.<br />
* [[Alfred Doren]]: ''Italienische Wirtschaftsgeschichte'', Jena 1934 (vielfach veraltet, dennoch ein Epochenwerk).<br />
* Valerio Castronovo: ''Storia economica d’Italia. D’all Ottocento ai giorni nostri'', Einaudi, Turin 2006, ISBN 88-06-13621-6<br />
* Rolf Petri: ''Storia economica d’Italia. Dalla Grande guerra al miracolo economico (1918–1963)'', Il Mulino, Bologna 2002.<br />
* Neville Morley: ''Metropolis and Hinterland. The City of Rome and the Italian Economy, 200 BC-AD 200'', Cambridge University Press, 1996.<br />
* Richard A. Goldthwaite: ''The Economy of Renaissance Florence'', The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2009, ISBN 978-0-8018-8982-0<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo'', Venedig 1961, Nachdruck 1995.<br />
* ''Mercanti e banchieri ebrei'' (= Zakhor. Rivista di storia degli Ebrei d’Italia I), Giuntina, Florenz 1997, ISBN 88-8057-047-1<br />
* [[Paolo Malanima]], Vera Zamagni: ''150 years of the Italian economy, 1861–2010'', in: ''Journal of Modern Italian Studies'' 15 (2010) 1–20.<br />
<br />
=== Vorschriftliche Geschichte ===<br />
* [[Margherita Mussi]]: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic'', Springer, 2001, ISBN 0-306-46463-2.<br />
* John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy'', Cambridge University Press, 2007, ISBN 978-0-521-84241-9.<br />
* Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'', 2. Auflage. Carocci, Rom 2010, ISBN 978-88-430-4585-3.<br />
* Robert Leighton: ''Sicily before History. An Archaeological Survey from the Palaeolithic to the Iron Age'', Cornell University Press, 1999, ISBN 0-8014-8585-1.<br />
<br />
=== Antike, Frühmittelalter ===<br />
* Furio Durando u. a.: ''Magna Graecia. Kunst und Kultur der Griechen in Italien'', Hirmer, München 2004, ISBN 3-7774-2045-X.<br />
* Sabatino Moscati: ''Italia Punica'', Rusconi, Mailand 1986, 1995 (Tascabili Bompiani 2000).<br />
* [[Moses I. Finley]]: ''Das antike Sizilien. Von der Vorgeschichte bis zur arabischen Eroberung'', dtv, München 1993, ISBN 3-423-04592-2.<br />
* [[Martin Dreher]]: ''Das antike Sizilien'', C. H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-53637-3.<br />
* [[Hans-Joachim Gehrke]], [[Helmuth Schneider (Althistoriker)|Helmuth Schneider]] (Hrsg.): ''Geschichte der Antike. Ein Studienbuch'', 2., erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart 2006, ISBN 3-476-02074-6.<br />
* Neil Christie: ''From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800'', Ashgate Publishing, Aldershot 2006, ISBN 1-85928-421-3.<br />
* Cristina La Rocca (Hrsg.): ''Italy in the Early Middle Ages'', Oxford University Press, Oxford 2002.<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Early Medieval Italy. Central Power and Local Society, 400-1000'', University of Michigan Press, Ann Arbor 1990, ISBN 0-472-08099-7.<br />
* [[Walter Pohl]], Peter Erhart (Hrsg.): ''Die Langobarden. Herrschaft und Identität'', Wien 2005. (26 Beiträge zur archäologischen, geschichtswissenschaftlichen und linguistischen Langobardistik, Abteilung 3: ''Langobardische Herrschaft und langobardische Identitäten in Italien''), ISBN 3-7001-3400-2.<br />
* Paolo Cammarosano: ''Storia dell’Italia medievale. Dal VI all’XI secolo'', Laterza, Bari 2001, ISBN 88-420-6338-X.<br />
* [[Ovidio Capitani]]: ''Storia dell’Italia medievale, 410–1216.'' Laterza, Bari 1992, ISBN 88-420-2998-X.<br />
* Dick Harrison: ''The Early State and the Towns. Forms of Integration in Lombard Italy, AD 568–774'', Lund University Press, Lund 1993, ISBN 91-7966-218-8.<br />
* Clemens Gantner, Walter Pohl (Hrsg.): ''After Charlemagne. Carolingian Italy and its Rulers'', Cambridge University Press, 2021.<br />
* [[Salvatore Cosentino]] (Hrsg.): ''A Companion to Byzantine Italy'', Brill, Leiden/Boston 2021 (= Brill’s Companions to the Byzantine World, 8) (zum byzantinischen Italien zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, gegliedert nach den Themen ''Society and Institutions'', ''Communications, Economy and Landscape'' sowie ''Culture and Education''; die Einführung von Cosentino und [[Enrico Zanini]] (byzantinische Archäologie) trägt den Titel ''Mapping the Memory of Byzantine Italy'', unterteilt in ''Written Memory'' und ''Material Sources'').<ref>[https://www.academia.edu/75308645/A_Companion_to_Byzantine_Italy_ed_Salvatore_Cosentino_Brill_Leiden_Boston_2021_Brill_s_Companions_to_the_Byzantine_World_8_33_maps_25_figures_abbreviations_notes_on_contributors_index_pp_XVIII_829 Rezension]</ref><br />
<br />
=== Hoch- und Spätmittelalter, Renaissance ===<br />
* Johannes Bernwieser: ''Honor civitatis. Kommunikation, Interaktion und Konfliktbeilegung im hochmittelalterlichen Oberitalien.'' Herbert Utz, München 2012, ISBN 978-3-8316-4124-6.<br />
* Thomas James Dandelet, John A. Marino: ''Spain in Italy. Politics, Society, and Religion 1500–1700.'' Brill, Leiden 2007, ISBN 978-90-04-15429-2.<br />
* Andrea Gamberini, Isabella Lazzarini (Hrsg.): ''The Italian Renaissance States.'' Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-01012-3.<br />
* Gudrun Gleba: ''Die oberitalienischen Städte vom 12. bis 15. Jahrhundert. Forschungstendenzen der achtziger Jahre.'' In: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993) 463–483.<br />
* [[Elke Goez]]: ''Geschichte Italiens im Mittelalter''. Primus Verlag, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-89678-678-4 ([http://www.sehepunkte.de/2010/12/18082.html Rezension]).<br />
* Kenneth Gouwens: ''The Italian Renaissance. The Essential Sources'', Blackwell Publishing, 2004, ISBN 0-631-23165-X.<br />
* Alberto Grohmann: ''La città medievale.'' Laterza, Bari 2010, ISBN 978-88-420-6844-0.<br />
* Dennys Hay, John Law: ''Italy in the Age of the Renaissance 1380–1530.'' Longman, London/New York 1989, ISBN 0-582-48358-1.<br />
* [[Hagen Keller]]: ''Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien (9.–12. Jahrhundert).'' Niemeyer, Tübingen 1979, ISBN 3-484-80088-7.<br />
* John Larner: ''Italy in the Age of Dante and Petrarch 1216–1380.'' Longman, London/New York 1980, ISBN 0-582-48366-2.<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''An Economic History of Italy. From the Fall of the Roman Empire to the Beginning of the 16th Century.'' 2006 (Nachdruck der 2. Auflage von 1963; italienische Originalausgabe Florenz 1928).<br />
* [[Heike Johanna Mierau]]: ''Kaiser und Papst im Mittelalter'', Böhlau, Köln u. a. 2010, ISBN 978-3-412-20551-5.<br />
* [[Ferdinand Opll]]: ''Zwang und Willkür. Leben unter städtischer Herrschaft in der Lombardei der frühen Stauferzeit.'' Böhlau, Wien 2010 (Aussagen von 80 Zeugen von 1184 bilden die Grundlage), ISBN 978-3-205-78499-9<br />
* [[Bernd Rill]]: ''Sizilien im Mittelalter. Das Reich der Araber, Normannen und Staufer.'' Belser, Stuttgart 1995, ISBN 3-7630-2318-6.<br />
<br />
=== Bis zur Staatsgründung ===<br />
* [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano'', Laterza, Rom/Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9.<br />
* [[Lucy Riall]]: ''Risorgimento. The history of Italy from Napoleon to nation state'', Palgrave Macmillan, 2009, ISBN 978-0-230-21670-9.<br />
* [[Ruggiero Romano]], Corrado Vivanti: ''Storia d’Italia'', Bd. 3: ''Dal primo Settecento all’Unità'', Einaudi, Turin 1973, ISBN 978-88-06-36475-5.<br />
* Alberto Mario Banti, [[Paul Ginsborg]]: ''Storia d’Italia. Annali.'' Bd. 22: ''Il Risorgimento'', Einaudi, Turin 2008, ISBN 978-88-06-16729-5.<br />
* [[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg in Preußen'', Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148077-5.<br />
* John Anthony Davis: ''Naples and Napoleon. Southern Italy and the European revolutions (1780–1860)'', Oxford University Press, 2006.<br />
* Marco Severini: ''La Repubblica romana del 1849'', Marsilio, Venedig 2011, ISBN 978-88-317-0803-6.<br />
* Lauro Rossi (Hrsg.): ''Giuseppe Garibaldi. Due secoli di interpretazioni'', Gangemi, Rom 2011, ISBN 978-88-492-6974-1.<br />
* Salvatore Lupo: ''L’unificazione italiana. Mezzogiorno, rivoluzione, guerra civile'', Donzelli, 2011, ISBN 978-88-6036-627-6.<br />
* Gigi Di Fiore: ''Controstoria dell’Unità d’Italia. Fatti e misfatti del Risorgimento'', Rizzoli, Mailand 2010, ISBN 978-88-17-04281-9.<br />
* Gualtiero Boaglio: ''Die Entstehung des Begriffs Italianità'', in: Florika Griessner, Adriana Vignazia (Hrsg.): ''150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen'', Praesens, Wien 2014, S. 66–81.<br />
<br />
=== Königreich und Faschismus ===<br />
* Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001)'', Mailand 2004, ISBN 88-483-0562-8.<br />
* [[Martin Clark (Historiker) |Martin Clark]]: ''Modern Italy, 1871 to the Present'', 3. Auflage. Pearson Longman, Harlow u. a. 2008, ISBN 978-1-4058-2352-4.<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 3-506-72923-3.<br />
* [[Stefan Breuer]]: ''Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-17994-3.<br />
* [[Lutz Klinkhammer]]: ''Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945'', Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-82075-6.<br />
* [[Carlo Gentile]]: ''Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg. Italien 1943–1945'', Diss. Köln 2008, Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-76520-8.<br />
* Giampiero Carocci: ''Storia degli ebrei in Italia. Dall’emancipazione a oggi'', Newton & Compton, Rom 2005, ISBN 88-541-0372-1.<br />
* [[Regine Wagenknecht]]: ''Judenverfolgung in Italien. 1938–1945. „Auf Procida waren doch alle dunkel“'', Edition Parthas, Berlin 2005, ISBN 3-936324-22-0.<br />
* Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich'', Donzelli Editore, Rom 2009, ISBN 978-88-6036-333-6.<br />
* [[Wolfgang Schieder]]: ''Der italienische Faschismus'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60766-0.<br />
* Davide Rodogno: ''Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940–1943)'', Bollati Boringhieri 2003 (Übersetzung ins Englische unter dem Titel ''Fascism’s European Empire. Italian Occupation During the Second World War'', Cambridge University Press, 2006, ISBN 0-521-84515-7).<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
* [[Peter Hertner]]: ''Wirtschafts- und Finanzkrisen im liberalen und faschistischen Italien'', in: [[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]] 89 (2009), S. 285–315 ([http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/89-2009/0285-0135 online]).<br />
<br />
=== Republik (seit 1946) ===<br />
* [[Christian Jansen]]: ''Italien seit 1945'', UTB, Göttingen 2007, ISBN 3-8252-2916-5.<br />
* Dieter Münch: ''Einführung in die politische Geschichte Italiens. 1943–2009'', Baltic Sea Press, Rostock 2009, ISBN 978-3-942129-01-5.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
<br />
=== Geschichtsschreibung ===<br />
* [[Andreas Mehl]]: ''Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen'', Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-015253-X.<br />
* Gabriele Zanella: ''Storici e storiografia del Medioevo italiano'', Pàtron, Bologna 1984.<br />
* [[Fulvio Tessitore]]: ''Contributi alla storiografia arabo-islamica in Italia tra Otto e Novecento'', Edizioni di Storia e Letteratura, Rom 2008, ISBN 978-88-6372-054-9.<br />
* William J. Connell: ''Italian Renaissance Historical Narrative'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 347–363.<br />
* Edoardo Tortarolo: ''Italian Historical Writing, 1680–1800'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 364–383.<br />
* Silvia Riccardi: ''Die Erforschung der antiken Sklaverei in Italien vom Risorgimento bis Ettore Ciccotti'', Steiner, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07137-7.<br />
* Eugenio Di Rienzo: ''Storia d’Italia e identità nazionale. Dalla grande guerra alla Repubblica'', Le Lettere, Florenz 2006, ISBN 88-7166-986-X.<br />
* Angelo D’Orsi, Patrizia Cancian, Bruno Bongiovanni: ''La città, la storia, il secolo. Cento anni di storiografia a Torino'', Il Mulino, Florenz 2001, ISBN 978-88-15-07802-5.<br />
* Umberto Massimo Miozzi: ''La scuola storica romana 1926–1943'', Rom 1982, ISBN 88-8498-105-0.<br />
* Norbert Campagna, Stefano Saracino: ''Staatsverständnisse in Italien. Von Dante bis ins 21. Jahrhundert'', Nomos, 2018.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|History of Italy|Geschichte Italiens}}<br />
{{Wikisource|Italien}}<br />
'''Archive, Quellen'''<br />
* [http://www.ilmondodegliarchivi.org/ ''Il Mondo degli Archivi online'']<br />
* [http://eudocs.lib.byu.edu/index.php/History_of_Italy:_Primary_Documents ''History of Italy: Primary Documents''], EuroDocs: Online Sources for European History, [[Brigham Young University]]<br />
* Malte König: [https://guides.clio-online.de/guides/regionen/italien/2023 ''Italien''], in: ''[[Clio-online|Clio Guide]] – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften'', 2023<br />
'''Jüdische Geschichte Italiens'''<br />
* [http://moked.it/vita-ebraica/ebrei-in-italia/ ''Ebrei in Italia''], in: ''moked/מוקד. il portale dell’ebraismo italiano'', 8. Juli 2008<br />
* [http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005455 ''Italy''], in: ''Holocaust Encyclopedia'', 23. März 2010, [[United States Holocaust Memorial Museum]]<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Geschichte nach Staat/Europa}}<br />
<br />
{{Lesenswert|4. März 2012|100412535}}<br />
<br />
[[Kategorie:Italienische Geschichte| ]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Zweiter_Italienisch-Libyscher_Krieg&diff=255675176Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg2025-05-03T01:33:54Z<p>ImageUploader12345: /* Einordnung als Völkermord */ Sorry I don't speak German, hope Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events.</p>
<hr />
<div>{{Infobox Militärischer Konflikt<br />
|BILD=Knud Holmboe Eritrean troops in Libya 1930.jpg<br />
|BILDBREITE=310px<br />
|BESCHREIBUNG=Italienische Kolonialtruppen in Libyen (1930)<br />
|DATUM=[[26. Januar]] [[1922]]<br />
|DATUMBIS=[[24. Januar]] [[1932]]<br />
|ORT= [[Tripolitanien]] und [[Kyrenaika|Cyrenaika]] (heutiges [[Libyen]])<br />
|CASUS=<br />
|AUSGANG= Sieg Italiens, erstmalige vollständige Besetzung Libyens durch italienische Truppen.<br />
|FRIEDENSSCHLUSS=<br />
|KONTRAHENT1=[[Datei:Flag of the Tripolitanian Republic (Fictional).svg|20px|class=noviewer|rand]] [[Tripolitanien|Tripolitanische Republik]] (inkl. [[Fessan]])<br />[[Datei:Flag of the Senussi Dynasty.svg|20px|class=noviewer|rand]] [[Kyrenaika|Emirat Cyrenaika]] ([[Sanūsīya|Senussi-Kämpfer]])<br />
|KONTRAHENT2={{ITA-1861}}<br />
|BEFEHLSHABER1=[[Datei:Flag of the Tripolitanian Republic (Fictional).svg|20px|class=noviewer|rand]] Ahmad Sayf al-Nasr<br />[[Datei:Flag of the Tripolitanian Republic (Fictional).svg|20px|class=noviewer|rand]] Abd al-Nabi Bilkhayr<br />[[Datei:Flag of the Tripolitanian Republic (Fictional).svg|20px|class=noviewer|rand]] Ramadan al-Shutaywi<br />[[Datei:Flag of the Senussi Dynasty.svg|20px|class=noviewer|rand]] Muhammad al-Rida<br />[[Datei:Flag of the Senussi Dynasty.svg|20px|class=noviewer|rand]] [[Omar Mukhtar]]<br />
|BEFEHLSHABER2={{ITA-1861|#}} [[Giuseppe Volpi]]<br />{{ITA-1861|#}} [[Pietro Badoglio]]<br />{{ITA-1861|#}} [[Rodolfo Graziani]]<br />{{ITA-1861|#}} [[Emilio De Bono]] <br />{{ITA-1861|#}} [[Luigi Bongiovanni]]<br />{{ITA-1861|#}} [[Ernesto Mombelli]] <br />{{ITA-1861|#}} [[Attilio Teruzzi]]<br />{{ITA-1861|#}} [[Ottorino Mezzetti]]<br />
|TRUPPENSTÄRKE1=<br />
|TRUPPENSTÄRKE2=<br />
|VERLUSTE1=<br />
|VERLUSTE2=<br />
|NOTIZEN=<br />
|ÜBERBLICK=<br />
}}<br />
<br />
'''Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg''' (bzw. '''Zweiter Libysch-Italienischer Krieg''') ist eine zusammenfassende Bezeichnung für die [[Eroberungskrieg]]e des zunächst [[Liberalismus|liberalen]], dann [[Italienischer Faschismus|faschistischen]] [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreichs Italien]], die es um die von ihm als [[Italienische Kolonien|Kolonien]] beanspruchten Gebiete im heutigen [[Libyen]] führte, [[Tripolitanien]] und die [[Kyrenaika|Cyrenaika]]. Der Konflikt dauerte fast zehn Jahre, vom 26. Januar 1922 bis zum 24. Januar 1932 und artete ab 1929 in einen [[Völkermord|Genozid]] aus.<br />
<br />
Die Kampfhandlungen begannen noch unter Italiens liberaler Regierung in Tripolitanien, ab 1923 weitete die [[Kabinett Mussolini|Koalitionsregierung]] [[Benito Mussolini]]s die Militäraktionen auf die Cyrenaika aus. Italien hatte die nordafrikanischen Gebiete teilweise schon zwischen 1911 und 1914, infolge des [[Italienisch-Türkischer Krieg|Kriegs gegen das Osmanische Reich]] besetzt. Im Laufe des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] entglitten sie aber weitgehend seiner Kontrolle. Die Rückeroberung Nord-Tripolitaniens wurde bereits 1924 abgeschlossen, den südlich davon gelegenen [[Fessan]] hingegen konnten die italienischen Truppen erst 1930 unterwerfen. Zuletzt, bis 1932, schlugen sie die Widerstandsbewegung von [[Scheich]] [[Omar Mukhtar]] in der Cyrenaika nieder.<br />
<br />
Sowohl unter liberaler als auch unter faschistischer Führung verfolgten die Feldzüge zwei Ziele: einerseits die Eroberung aller beanspruchten Gebiete, andererseits die Umwandlung Libyens in eine [[Siedlungskolonie]] für italienische Einwanderer. Dementsprechend betrieb die Kolonialmacht die [[Enteignung]] und – nach der Durchsetzung der faschistischen [[Diktatur]] 1925/26 – systematische [[Vertreibung]] der [[berber]]ischen und [[Araber|arabischen]] Bevölkerung aus den fruchtbaren Regionen des Landes. Einige Historiker sehen dies bereits im Kontext der faschistischen Idee, neuen „Lebensraum“ ''([[Lebensraum-Politik#Faschistisches Italien|spazio vitale]])'' zu erobern. Italiens Kriegsführung nahm immer brutalere Züge an und nutzte in beiden umkämpften Gebieten [[Flächenbombardement]]s, [[Chemische Waffe|Giftgaseinsätze]] sowie [[Massaker|Massenhinrichtungen]] als militärische Kampfmittel. Am verheerendsten wirkte sich der '''Genozid in der Cyrenaika von 1929 bis 1934''' aus, bei dem ein Viertel bis ein Drittel der cyrenäischen Gesamtbevölkerung durch [[Todesmarsch|Todesmärsche]], [[Deportation]]en und in den ersten von einem faschistischen Regime errichteten [[Italienische Konzentrationslager#Konzentrationslager in der Cyrenaika (1930–1934)|Konzentrationslagern]] ums Leben kam. Insgesamt fielen dem italienischen Kolonialkrieg etwa 100.000 der rund 800.000 Tripolitanier und Cyrenäer zum Opfer.<br />
<br />
In der Forschung gelten der italienische [[Kolonialkrieg]] und Völkermord als Beleg gegen den [[Brava-Gente-Mythos|Mythos eines „moderaten“ italienischen Faschismus]] und Kolonialismus sowie als wichtiger Teil der Vorgeschichte zum 1935 begonnenen [[Abessinienkrieg]]. Diskutiert wird auch eine mögliche Modellfunktion dieser Libyenpolitik für die späteren [[Nationalsozialismus|nationalsozialistischen]] [[Generalplan Ost|Siedlungspläne in Osteuropa]]. Die mangelnde Aufarbeitung des Konflikts belastete über Jahrzehnte die diplomatischen Beziehungen zwischen Libyen und Italien. Im Jahr 2008 vereinbarten beide Staaten schließlich ein Freundschaftsabkommen, in dem sich Italien für die Kolonialzeit entschuldigte und zu finanzieller Entschädigung verpflichtete.<br />
<br />
== Bezeichnung ==<br />
[[Datei:UN-Treuhandgebiet Libyen 1947-1951.png|miniatur|Die historischen libyschen Regionen Tripolitanien (mit dem als Fessan bezeichneten Hinterland) und Cyrenaika (Grenzen 1947–1951)]]<br />
<br />
In der Literatur wird für den Konflikt oft der Terminus „Rückeroberung“ oder „Wiedereroberung“ ''(riconquista)'' Libyens verwendet. Diese Bezeichnung wird jedoch von einigen Historikern bemängelt, da sie die faschistische Sichtweise der Ereignisse widerspiegelt: Zwar hat der Begriff ''riconquista'' bezogen auf Tripolitanien eine gewisse Grundlage, da dieses bereits zwischen 1913 und 1914 bis zum Fessan von italienischen Truppen besetzt worden war. Für die Cyrenaika jedoch ist die Bezeichnung nicht zutreffend, da deren Hinterland zuvor stets unter Kontrolle der [[#Senussi-Bewegung und italienische Anfangsoffensive|Senussi-Bewegung]] gestanden hatte. Hier muss also von einer ''Eroberung'' gesprochen werden.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 41; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 56; Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts''. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 15.</ref> [[Aram Mattioli]] (2005) rät daher dazu, den Begriff „Wiedereroberung Libyens“ sparsam und stets in Anführungszeichen zu verwenden.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 35 u. 198.</ref> Andere Historiker halten hingegen weiterhin am Begriff ''Rückeroberung'' für beide Gebiete fest.<ref>Nicola Labanca: ''La guerra italiana per la Libia (1911–1931)'' [= Der italienische Krieg um Libyen (1911–1931)]. Bologna 2012, S. 144 u. 159.</ref> In die Militärgeschichte sind die Kolonialkriege Italiens um die nordafrikanischen Gebiete in den 1920er Jahren auch als „Pazifizierungskriege“ eingegangen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Schöningh, Paderborn 2006, S. 146.</ref><br />
<br />
In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wird der koloniale Libyenkrieg von 1922 bis 1932 auch als „Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg“ oder „Zweiter Libysch-Italienischer Krieg“ bezeichnet, welchen man vom früheren [[Erster Italienisch-Libyscher Krieg|Ersten Italienisch-Libyschen Krieg]] der Jahre 1911 bis 1917 abgrenzt.<ref>Zur Verwendung dieser Bezeichnung siehe Udo Steinbach, Rüdiger Roberg (Hrsg.): ''Der Nahe und Mittlere Osten: Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Kultur.'' Springer, Wiesbaden 1988, ISBN 3-322-97179-1, S. 256; Hanspeter Mattes: ''Bilanz der libyschen Revolution. Drei Dekaden politischer Herrschaft Mu’ammar al-Qaddafis.'' (= Wuqûf-Kurzanalyse. Nr. 11–12). Hamburg 2001. [http://www.wuquf.de/www/cms/upload/wuquf_2001_libyen.pdf (PDF)]; Walter M. Weiss: ''Die arabischen Staaten: Geschichte, Politik, Religion, Gesellschaft, Wirtschaft.'' Palmyra 2007, S. 179.</ref> In der englischsprachigen Historiographie ist in Bezug auf den Krieg in der Cyrenaika von 1923 bis 1932 auch „Second Italo-Sanussi War“ als alternative Bezeichnung üblich.<ref>Vgl. John Wright: ''A History of Libya.'' London 2012, S. 137.</ref> Die [[Arabische Sprache|arabische]] Bezeichnung lautet {{arF|إخماد الثورة الليبية|d=iḫmād aṯ-ṯaura al-lībīya|b=Niederschlagung der libyschen Revolution}} oder {{arF|الحرب الإيطالية السنوسية الثانية|d=al-ḥarb al-īṭālīya as-sanūsīya aṯ-ṯāniya|b=Zweiter Italienisch-Senussischer Krieg}}. Der vom faschistischen Italien begangene [[Völkermord]] in der Cyrenaika wird von den Libyern als {{arF|الشر|d=aš-Šarr}} (das Böse) bezeichnet, der in der englischsprachigen Fachliteratur als ''Shar'' [[Transliteration|translitiert]] wird.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 12 u. 98.</ref><br />
<br />
== Vorgeschichte ==<br />
=== Italienischer Kolonialismus und erster Libyenkrieg ===<br />
[[Datei:Flag of Italy (1861-1946) crowned.svg|mini|Staatsflagge des Königreichs Italien (1861–1946)]]<br />
<br />
Der italienische [[Kolonialismus]] nahm 1882 im ostafrikanischen [[Eritrea]] seinen Anfang. Er weitete sich unter Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] zu einem Kolonialfeldzug gegen Eritrea und das [[Kaiserreich Abessinien]] aus, der 1896 mit dem Sieg der abessinischen Armee über die italienischen Truppen in der [[Schlacht von Adua]] endete. Diese Niederlage hatte zur Folge, dass sich das Interesse der italienischen Politik verstärkt auf das heutige Libyen richtete. Dieses stand seit 1551 als [[Vilâyet Tripolitanien|Provinz „Tripolitanien“]] unter der Herrschaft der [[Osmanisches Reich|Osmanen]] und stellte nun deren letzte Besitzung in Nordafrika dar. Die lokalen Grundlagen für die koloniale Eroberung wurden seit den 1890ern geschaffen, als italienische Banken, Schulen und Zeitungen in der Provinz zu florieren begannen, insbesondere in [[Tripolis]]. Außerdem wurden Handelsbeziehungen zu einflussreichen jüdischen und muslimischen Händlern geknüpft. Die schließlich 1907 eröffnete ''Banca di Roma'' gewann eine Schlüsselposition beim Kauf von Land, bei Handelsinvestitionen und der Anwerbung von Angestellten für die italienische Sache. Zur [[Imperialismus|imperialistischen]] Strategie Italiens gehörte auch die Wiederbelebung des historischen Begriffes „[[Libya (Geographie)|Libya]]“, durch den die kolonialen Ansprüche mit dem Verweis auf die frühere Herrschaft des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] in der Region gerechtfertigt werden sollten.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 105; Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 13 und 22.</ref><br />
<br />
[[Datei:Bellum1911.png|mini|Militäroperationen Italiens im Türkisch-Italienischen Krieg 1911/1912]]<br />
<br />
Am 28. September 1911 forderte das [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreich Italien]] unter Ministerpräsident [[Giovanni Giolitti]] vom Osmanischen Reich freie Hand bei der Besetzung der Provinz Tripolitanien. Sultan [[Mehmed V.]] wies dieses [[Ultimatum]] zurück. Tags darauf begann mit der Kriegserklärung Italiens der [[Italienisch-Türkischer Krieg|Italienisch-Türkische Krieg]] um Tripolitanien, und schon am 30. September starteten italienische Truppen mit der Beschießung des Forts von Tripolis. Ausgehend von der Annahme, der tripolitanischen Bevölkerung sei die „osmanische Tyrannei und Rückständigkeit“ verhasst, erwartete die italienische Führung, mit beschränkten militärischen Operationen eine rasche Besetzung des Landes erreichen zu können. In Wirklichkeit sahen sich die Italiener schon bald einer der stärksten und militantesten antikolonialen Widerstandsbewegungen Afrikas gegenüber. Die tripolitanische Bevölkerung hielt am osmanischen Sultan als spirituellem und politischem Führer fest, sodass Osmanen und Tripolitanier dem italienischen Expeditionskorps gemeinsam erbitterten Widerstand leisteten. Schon das liberale Italien setzte dabei auf maßlose Gewaltaktionen: Infolge ihrer Niederlage bei Shar al-Shatt (Sciara Sciat) am 23. Oktober 1911 ließ die italienische Invasionsarmee tausende Araber erschießen oder erhängen. Dennoch gelang Italien bis ins folgende Jahr kaum mehr als die Eroberung einiger [[Enklave]]n entlang der Mittelmeerküste. Im Oktober 1912, als das Osmanische Reich infolge des [[Balkankriege#Erster Balkankrieg|Ersten Balkankriegs]] geschwächt war und Italien mit dem Angriff auf die [[Dodekanes]]-Inselgruppe und die [[Dardanellen]] zu einer immer größeren Bedrohung wurde, schlossen Osmanen und Italiener den Vertrag von [[Ouchy]]. Das unklare und mehrdeutige Abkommen führte zum Abzug der osmanischen Truppen aus Tripolitanien, jedoch verzichtete das Osmanische Reich nicht vollständig auf seine Souveränität über die Provinz. Italien hingegen bestand auf seinen eigenen Souveränitätsansprüchen. Der endgültige Verzicht zugunsten Italiens erfolgte durch die Türken erst später im [[Vertrag von Lausanne]] 1923.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage, New York 2009 [1994], S. 117 f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 38–40; Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 25 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, 112–114.</ref><br />
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Am 9. Januar 1913 wurden in den von Italien besetzten Teilen Tripolitaniens zwei neue Kolonien gebildet: „Italienisch-Tripolitanien“ ''(Tripolitania italiana)'' und „Italienische Cyrenaika“ ''(Cirenaica italiana)''. Dennoch ging der Widerstand der örtlichen Bevölkerung weiter. Darüber hinaus verblieb auch nach dem offiziellen Abzug der osmanischen Armee eine Gruppe türkischer Offiziere im Land, die ihren Kampf gegen die Italiener fortsetzte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 98–102; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 85 (tschechisch).</ref> Den Italienern gelang 1913 die Eroberung Nord-Tripolitaniens und 1914 die des [[Fessan]], auch weil sich Araber und Berber sowie die einzelnen arabischen Stämme untereinander nicht auf einen einheitlichen Widerstand verständigen konnten. In der Cyrenaika hingegen, wo sich der Widerstand um die [[islam]]isch-[[Sufismus|sufistische]] [[Sanūsīya|Senussi-Bruderschaft]] (Sanusiya) von [[Ahmad asch-Scharif]] konzentrierte, kamen Italiens Truppen weiterhin nicht über die Küstenstreifen hinaus. Der Beginn des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] erforderte eine Verlegung großer Truppenteile und reduzierte die Streitkräfte der italienischen Besatzungsmacht, woraufhin im November 1914 im Fessan eine Rebellion begann, die sich auch auf Nord-Tripolitanien ausweitete. Den vereinten Truppen aus Nord-Tripolitanien, dem Fessan und der Cyrenaika gelang es, die italienische Armee zu besiegen, worauf diese sich an die Küste zurückzog – im Sommer 1915 beschränkte sich die italienische Herrschaft auf die Hafenstädte [[Tripolis]], [[Darna|Derna]], [[al-Chums|Homs]] und [[Bengasi]]. Diese für Italiens Großmachtambitionen demütigende Situation blieb bis nach dem Ersten Weltkrieg bestehen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 105&nbsp;ff u. 117; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 40; Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 25 f.</ref><br />
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=== Staatsgründungen in der Cyrenaika und Tripolitanien ===<br />
[[Datei:Flag of the Senussi Dynasty.svg|miniatur|Flagge des Senussi-Ordens]]<br />
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Der Zeitraum von 1915 bis 1922 gilt als die zweite Phase der Kolonisierung. Geschwächt durch den Eintritt in den Weltkrieg und bedrängt durch den tripolitanischen Widerstand, musste Italien Arabern und Berbern seit 1915 mehrere Konzessionen machen. Zudem formierten sich in dieser Phase zwei indigene Staaten auf dem Boden der ehemals osmanischen Tripolitaniens: das Senussi-Emirat in der Cyrenaika und die Tripolitanische Republik.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 106 u. 150–153; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 40.</ref> Der Senussi-Führer Ahmad asch-Scharif verlegte bereits Ende 1912 sein Lager vom südlichen [[Kufra-Oasen|Kufra]] in die nördlichere Oase [[al-Dschaghbub]] und verkündete sein unabhängiges [[Emirat]], das sich auf die arabischen Stämme der Cyrenaika stützte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 98–102; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 85 (tschechisch).</ref> Während des Ersten Weltkrieges drängten die Osmanen den militant-[[Panislamismus|panislamischen]] Senussi-Führer zu Angriffen gegen das [[Britische Herrschaft in Ägypten|britische Ägypten]], was asch-Scharif bei den Briten diskreditierte.<ref name="AhmidaGoochVandevalleWright">Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 122 ff; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1006; Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 27 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 123 f.</ref> Um trotzdem eine gegen Italien gerichtete Allianz zwischen Großbritannien und dem Senussi-Emirat zu ermöglichen, trat er 1916 zu Gunsten seines Cousins [[Idris (Libyen)|Idris]] als Senussi-Oberhaupt zurück. Dies resultierte in einer diplomatischen ''de-facto''-Anerkennung der Senussi-Bruderschaft als Repräsentantin der Cyrenaika durch die Briten. Im gleichen Jahr eröffnete Idris Verhandlungen mit den Italienern unter Vermittlung Großbritanniens, die im April 1917 zum Vertrag von Acroma (Akramah) führten. Darin wurde die Cyrenaika in zwei Interessenssphären aufgeteilt, den italienisch beherrschten Küstenstreifen und das gesamte restliche Gebiet unter Verwaltung der Senussi. Bereits 1915 war den Italienern jedoch im [[Londoner Vertrag (1915)|Londoner Vertrag]] von Großbritannien, Frankreich und Russland die Herrschaft über das gesamte Gebiet der osmanischen Provinz Tripolitanien versprochen worden.<ref name="AhmidaGoochVandevalleWright" /> Im Abkommen von Regima erkannte Italien trotzdem am 25. Oktober 1920 Idris’ erblichen Herrschertitel des [[Emir]] über dessen Gebiet mit [[Adschdabiya]] als administrativem Zentrum an. Die Italiener zahlten ihm und seiner Familie monatliche Zuschüsse, beteiligten sich an seinen allgemeinen Ausgaben und subventionierten seine Armee- und Polizeistreitkräfte.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 120.</ref><br />
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In Tripolitanien hingegen hatte der Rückzug der Italiener aus dem Landesinneren 1914/1915 zu einem Machtvakuum geführt, das etliche rivalisierende Stammesführer zu füllen versuchten. Es kam zu Stammeskriegen und einer Aufsplitterung in viele kleine Herrschaftsgebiete. Bis 1916 etablierten sich zwei kämpfende Hauptparteien, der in der Syrte-Wüste aktive Senussi-Orden und [[Ramadan al-Shutaywi]] (auch ''al-Suwayhili'' oder ''al-Shitawi'') als Herrscher des nordöstlichen Tripolitanien. Als die Senussi versuchten, ihren Einfluss auf das restliche Tripolitanien auszudehnen, kam es zum Krieg mit al-Shutaywi, der sie in einer Schlacht bei [[Bani Walid]] (Beni Ulid) besiegte. Infolgedessen reduzierte sich der Einfluss der Senussi außerhalb der Cyrenaika auf Teile des Fessan.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. New York 2009 [1994], S. 106; Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 69; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 119 f.</ref><br />
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[[Datei:Flag of the Tripolitanian Republic (Fictional).svg|miniatur|Flagge der Tripolitanischen Republik (1918–1922)]]<br />
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Nachdem sich die Osmanen 1918 endgültig aus Tripolitanien zurückgezogen hatten, fanden sich die dortigen Stämme ohne starke Verbündete wieder – im Gegensatz zur Unterstützung der Briten für den Senussi-Orden in der Cyrenaika. Daher einigten sich die Stammesführer auf eine gesamt-tripolitanische Regierung und riefen im November 1918 in Msallata (Al Qasabat) die „Tripolitanische Republik“ mit der Hauptstadt [[Misrata]] aus – die erste formal demokratische Regierung in einem arabischen Land. Die Republik gründete auf einer [[Panislamismus|panislamischen]] Ideologie und wurde kollektiv von vier prominenten Stammesführern verwaltet – dem sogenannten „Rat der Republik“ –, da sich die tripolitanischen Stämme nicht auf einen Anführer einigen konnten. Zusätzlich fungierte der ägyptische [[Panarabismus|panarabische]] Nationalist [[Abdel Rahman Azzam]] als Berater der Regierung. Mit der Tripolitanischen Republik entstand nach dem Senussi-Emirat in der Cyrenaika der zweite indigene Staat auf libyschem Boden.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. New York 2009 [1994], S. 106 u. 152; Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 4 u. 69; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 120.</ref><br />
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Schon 1917 räumte Italien den Tripolitaniern [[Autonomie|Selbstverwaltungsrechte]] ein. 1919 gelang diesen die Aushandlung eines [[Friedensvertrag]]es mit den kolonialen Obrigkeiten, der Tripolitanien ein [[Parlament]], [[Pressefreiheit]] und die [[Staatsbürgerschaft]] für die muslimische Bevölkerung gewährte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 106; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 40.</ref> Im Frühjahr 1920 versuchte die tripolitanische Regierung mit einer Militärkampagne ihre Autorität gegenüber allen Stämmen Tripolitaniens durchzusetzen, was erneut zu einem Bürgerkrieg führte. Dieser konnte erst im November 1920 mit dem Abkommen von [[Gharyan]] beigelegt werden, bei dem der alte ''Rat der Republik'' durch ein ''Reformkomitee'' als neue Regierung ersetzt wurde. Jegliche Vorstellungen Roms von einer italienischen Souveränität über Tripolitanien wurden abgelehnt. Außerhalb der von Italien beherrschten Küstenstädte, teilweise sogar innerhalb, gab das Reformkomitee der Tripolitanischen Republik Erlasse heraus und trieb Steuern sowie weitere eigene Abgaben ein. Außerdem wurden deutsche und türkische Offiziere nach Tripolitanien geschmuggelt und halfen beim Aufbau der republikanischen Administration, der Ausbildung einer kleinen regulären Armee sowie beim Bau einer Waffen- und Munitionsfabrik. Da die Italiener aber ihre kolonialen Ansprüche auf Tripolitanien bereits in Verträgen mit Großbritannien und Frankreich abgesichert hatten, wurde die neue Republik von keinem anderen Staat anerkannt.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. New York 2009 [1994], S. 125; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 120, 126 f. u. 131.</ref> Unfähig, eine starke Front gegen die Italiener aufzubauen, boten die Führer Tripolitaniens dem Senussi-Oberhaupt Idris, der von den Italienern inzwischen als Emir der Cyrenaika anerkannt wurde, im Dezember 1921 auch die Herrschaft über Tripolitanien an.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. New York 2009 [1994], S. 133; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1007; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 126 f.</ref><br />
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== Verlauf ==<br />
=== Feldzug des liberalen Italien (1922) ===<br />
In Reaktion auf den Versuch der Tripolitanier, eine antiitalienische Allianz mit der Cyrenaika unter Führung der Senussi zu schaffen, begann Gouverneur [[Giuseppe Volpi]] am 26. Januar 1922 den Feldzug zur Rückeroberung Tripolitaniens. Über den Seeweg landete eine 1.500 Mann starke italienische Truppe nahe dem Hafen von Misrata. Der von rund 200 Verteidigern gehaltene Hafen konnte von den Italienern erst nach siebzehn Tagen eingenommen werden. Innerhalb einer Woche nach dem Beginn der Kämpfe rief das tripolitanische Reformkomitee zum Angriff auf alle italienische Posten auf und verkündete den [[Dschihad]]. Die Eisenbahnverbindung nach Tripolis wurde unterbrochen und die eritreische [[Askari]]-Einheit der Italiener in [[al-ʿAzīzīya]] belagert – es folgten viele weitere kleinere Kampfaktionen. Nach einer Regierungskrise in Rom und der Ernennung des neuen Kolonialministers [[Giovanni Amendola]] wurde Ende Februar ein Waffenstillstand vereinbart, da die Führung in Rom über die weitere Vorgehensweise noch unentschlossen war.<ref name="AhmidaGombár1">Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya.'' New York 2009, S. 133; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 89 f. (tschechisch); John Wright: ''A History a Libya.'' London 2012, S. 129 u. 132f.</ref><br />
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Motivierend für die Tripolitanier wirkten die Entwicklungen im benachbarten Ägypten, das im März 1922 als [[Königreich Ägypten|Königreich]] seine [[Deklaration der Unabhängigkeit Ägyptens|Unabhängigkeit von Großbritannien]] erklärte. Da Tripolitanien auf die Unterstützung der Senussi-Führung der Cyrenaika angewiesen war, nahmen tripolitanische Gesandte an der Versammlung der cyrenäischen Stammesführer in Adschdabiya teil, wo sie Idris as-Senussi die Herrschaft über Tripolitanien anboten. Am 22. Juni wurde Idris von der tripolitanischen Repräsentanz auch offiziell zum Emir ausgerufen, nahm den Titel jedoch erst am 22. September an.<ref name="AhmidaGombár1" /> Nach dem Ende der Waffenruhe am 10. April 1922 war Gouverneur Volpi, der nun die volle Unterstützung der italienischen Regierung in Rom genoss, bereit für die „Wiederherstellung der Normalität“, wie die präfaschistische Bezeichnung für die Rückeroberung lautete. Seinen 15.000 Soldaten standen etwa 7.000 „Rebellen“ gegenüber, die die Italiener bei [[az-Zawiya]] angriffen. Dem jungen Oberst [[Rodolfo Graziani]], den Volpi zusammen mit anderen kompetenten Offizieren um sich versammelt hatte, gelang es nun in zehn Tagen, den Küstenstreifen von Tripolis bis [[Zuwara]] zu besetzen.<ref name="DelBocaMattioli1">Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 121; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 90. (tschechisch); Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 47; John Wright: ''A History a Libya.'' London 2012, S. 134 ff.</ref><br />
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[[Datei:Karte Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg 1922–1927.svg|mini|hochkant=2|Eroberungen des liberalen und faschistischen Italien in Tripolitanien und der Cyrenaika bis 1927]]<br />
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Graziani modernisierte die Methoden des Wüstenkriegs und setzte auf schnell vorstoßende Verbände mit gepanzerten Fahrzeugen, die aus der Luft unterstützt wurden, sowie auf ungehemmte Brutalität. Unter der Oberaufsicht General [[Pietro Badoglio]]s, eines kurz zuvor in Tripolis eingetroffenen Helden des Ersten Weltkrieges, marschierte Graziani am 30. April in der vom tripolitanischen Widerstand belagerten Stadt al-ʿAzīzīya ein. Bis Mitte Mai erlangten die Italiener die Kontrolle über die Ebene von [[Djeffara|al-Dschifara]] und fügten den Tripolitaniern schwere Verluste von 6.000 Mann zu. Ende Mai begann Graziani mit der sogenannten „Pazifizierung“ des westlichen Gebirges Dschabal Nafusa, wobei am 5. Juni die Stadt [[Nalut]] fiel. Gouverneur Volpi, der zu keinen Verhandlungen mit den tripolitanischen Vertretern mehr bereit war, hatte mittlerweile über Tripolitanien das [[Ausnahmezustand|Kriegsrecht]] verhängt, was einer formalen Kriegserklärung entsprach. Mussolinis [[Marsch auf Rom]] im Oktober 1922 hatte zunächst keinen großen Effekt auf den Krieg. Am 31. Oktober meldete Graziani die Einnahme der Stadt [[Yafran]], im November folgte die Eroberung der Gebirgsgegend von Nalut bis [[Gharyan]].<ref name="DelBocaMattioli1" /><br />
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=== Kontinuität und Neuausrichtung der Kolonialpolitik unter Mussolini ===<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 102-09844, Mussolini in Mailand.jpg|miniatur|Italiens Diktator Mussolini bei einer Rede in Mailand (1930)]]<br />
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Das faschistische Italien konnte bereits auf eine lange koloniale Tradition der liberalen Vorgängerregierung zurückblicken. Gleichzeitig wurde unter der Regierung Mussolini der Kolonialismus transformiert: Ähnlich wie das [[Japanische Kolonien|imperialistische Japan]], und im scharfen Kontrast zum traditionellen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, trachtete die faschistische Diktatur nach der Implementierung einer Form des [[Siedlungskolonie|Siedlerkolonialismus]], der „total von oben gesteuert war, und der die Umsiedlung von Millionen Kolonisten vorsah“. Auch basierte der italienische Kolonialfaschismus zu einem viel höheren Grad auf [[Rassismus|rassistischer]] Ideologie und ging mit beispielloser Gewalt gegen die einheimische Bevölkerung vor.<ref>Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 68.</ref> Wann und inwiefern der Antritt Mussolinis zum Ministerpräsidenten eine neue (dritte) Phase der Kolonisierung Tripolitaniens und der Cyrenaika einleitete, ist unter Historikern umstritten. Laut Hans Woller (2010) verlieh Mussolinis Regierung dem Feldzug „nach 1922 sofort eine neue Qualität“, die sich vor allem in der großangelegten Enteignung der einheimischen Bevölkerung geäußert habe. Dieser Druck auf die Tripolitanier und Cyrenäer habe dann nach der Etablierung der faschistischen Diktatur 1925 weiter zugenommen.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 132 f.</ref> Andere Historiker sehen den Beginn der faschistischen Phase im Jahr 1923, als Italien auch die Verträge über Autonomie und Selbstverwaltung mit den Senussi aufkündigte und mit der Eroberung der Cyrenaika begann.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 105 u. 136; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 91 (tschechisch)</ref> Der italienische Historiker Luigi Goglia (1988) führt als Eckdatum für den Wandel vom liberalen zum faschistischen Kolonialismus den 15. April 1926 an. An diesem Tag zelebrierte Mussolini in Tripolis die bisherigen Eroberungen in Tripolitanien und der Cyrenaika und hielt eine vielbeachtete programmatische Rede zur italienischen Kolonialpolitik.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 40 f.</ref><br />
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Den Faschisten ging es nicht ausschließlich um eine Unterwerfung der rebellischen Stämme. Ziel der imperialen Politik war es, dem italienischen Volk „Lebensraum“ zu verschaffen, den es zur Erfüllung seiner „historischen Sendung“ benötige.<ref name="AhmidaGombárMattioli">Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 105; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 91 (tschechisch); Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 41; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 132.</ref> Aus der Sicht der Faschisten war die sogenannte „Pazifizierung“ des Landes bloß die Grundvoraussetzung für die weitere Entwicklung der beiden nordafrikanischen Territorien. Der Besitz von Kolonien galt ihnen als notwendig wie legitim, da eine überbevölkerte Nation ohne Bodenschätze – wie sie Italien aus ihrer Sicht war – ein „natürliches Recht“ besitze, koloniale Kompensationen zu suchen. Rund um die [[Große Syrte]] sollte nach dem Vorbild des antiken [[Römisches Reich|Römischen Reichs]] mit seinen Städten [[Sabrata|Sabratha]], [[Tripolis|Oea]], [[Leptis Magna]] und [[Kyrene]] eine blühende Siedlungskolonie entstehen.<ref name="AhmidaGombárMattioli" /><br />
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[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) Fasces Emblem.svg|mini|Das [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|Liktorenbündel-Emblem]], wie es 1927 bis 1929 als Staatssymbol Italiens und Symbol des italienischen Faschismus verwendet wurde]]<br />
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Mussolini wollte zunächst Herr in den eigenen Besitzungen sein und sie konsolidieren, ehe er von dort aus weitere imperiale Aktionen starten konnte. Seine Pläne sahen den Vorstoß von Nordafrika durch die [[Sahara]] über [[Kamerun]] an den [[Atlantischer Ozean|Atlantik]] und von dort eine Verbindung zum [[Horn von Afrika]] vor, so dass schließlich die ganze nördliche Hälfte Afrikas zu seinem Imperium gezählt hätte. Italien war militärisch und wirtschaftlich zu schwach und zu abhängig von den internationalen Finanz- und Rohstoffmärkten, um die [[Westmächte]] offen herauszufordern. Der Expansionsdrang der neuen Regierung richtete sich deshalb anfangs auf die eigenen Kolonien in Nordafrika (Tripolitanien und Cyrenaika) und am Horn von Afrika ([[Kolonie Eritrea]] und [[Italienisch-Somaliland]]). Dem deutschen Historiker [[Hans Woller]] (2010) zufolge könne die Rückeroberung der Kolonien deshalb auch nicht als ein Akt der Innenpolitik angesehen werden, sondern „sie bildete den Auftakt eines gigantischen Eroberungsprogrammes, bei dessen Realisierung Mussolini zu denkbar radikalen Mitteln griff“.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 132.</ref> Unter der Losung ''La Riconquista Fascista della Libia'' („Die faschistische Wiedereroberung Libyens“) begann die Regierung eine breit angelegte militärische Offensive zur Unterwerfung aller Landesteile des heutigen Libyens. Ziel dieser Militäroperation war einerseits eine vollständige „Pazifizierung“ der beanspruchten Gebiete und andererseits eine weitgehende Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, um den Weg für die Kolonisation Tripolitaniens und der Cyrenaika durch italienische Siedler zu ebenen.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 75.</ref><br />
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=== „Rückeroberung“ Nord-Tripolitaniens (1923–1924) ===<br />
Die faschistische Regierung konzentrierte sich zunächst auf die Eroberung Tripolitaniens, wo vier Fünftel des fruchtbaren Bodens lagen.<ref name="mattioli_s41">Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 41.</ref> Die dortige Generaloffensive begann am 29. Januar 1923, und bereits am 5. Februar nahmen die Italiener die Stadt [[Tarhuna (Stadt)|Tarhuna]] ein. Es folgte ein Vorstoß über [[Zliten]] nach [[Misrata]], das am 26. Februar 1923 besetzt wurde. Infolgedessen bombardierte die italienische Luftwaffe auch arabische Flüchtlingstrecks mit über 2.000 Menschen aus Zliten.<ref>Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 121; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Nakladatelství Lidové noviny, Prag 2015, S. 91. (tschechisch)</ref> Mit der Besetzung des Berglandes von [[Dschabal Nafusa]] und der Küstenstadt Misrata im Februar 1923 war die Einnahme des sogenannten „nützlichen Tripolitanien“ abgeschlossen. Bei der Ausdehnung der Militäraktionen auf das östliche und südliche Tripolitanien traten zunächst Schwierigkeiten auf. Konflikte zwischen den tripolitanischen Stammesführern im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der Senussi-Bewegung schwächten jedoch den Widerstand: Während Ahmad Sayf al-Nasr mit den Senussi zusammenarbeitete, stellten sich andere Aufstandsführer wie Abt al-Nabi Bilkhayr und Ramadan al-Shutaywi gegen die Präsenz der Senussi in Tripolitanien. Ab Frühling 1923 wurde die „Rückeroberung“ Tripolitaniens zusehends brutaler gegenüber den aufständischen Stämmen. Einige entkamen in die Syrte-Wüste, einige Stammesführer flohen nach [[Tunesien]] und [[Ägypten]]. Im Dezember 1923 fiel [[Bani Walid]] in italienische Hand, im Februar 1924 wurde [[Ghadames]] erobert. Mit der Einnahme von [[Mizda]] im Mai 1924 war die „Pazifizierung“ Nord-Tripolitaniens vollendet.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 106 u. 152; Anna Baldinetti: ''The Origin of the Libyan Nation. Colonial legacy, exile and the emergence of a new nation-state.'' New York 2010, S. 43 u. 46; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Nakladatelství Lidové noviny, Prag 2015, S. 91. (tschechisch); John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, S. 1009; Ronald Bruce St John: ''Historical Dictionary of Libya.'' Maryland 2014, S. 291.</ref> Rodolfo Graziani wurde als „Held“ des Feldzuges zum General befördert.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 91. (schechisch); John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 147.</ref><br />
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Im Kern zielte die faschistische Eroberungspolitik auf eine Neuverteilung des bebaubaren Bodens und die Zerstörung der traditionellen [[Stammesgesellschaft]]en ab. Teil dieses Programms war die Vertreibung der indigenen Bevölkerung, die nun aus den fruchtbaren Küstenregionen in die Trockengebiete ausweichen musste, wenn sie nicht für Niedrigstlöhne in den Dienst der Kolonialmacht treten wollte, um Repräsentationsbauten und Straßen zu errichten. Schon unter Gouverneur Volpi kam es zu einer Welle von Landenteignungen, die das traditionelle Wirtschafts- und Gesellschaftssystem Tripolitaniens zersetzten. 1923 erließ Volpi ein Dekret, das die Beschlagnahme aller Ländereien vorsah, die Personen gehörten, die den libyschen Widerstand unterstützten. Überantwortet wurde das Land in der Regel nicht kleinen Kolonisten, sondern Agrargesellschaften, [[Latifundium|Latifundisten]] oder „verdienten Faschisten“. Allein Gouverneur Volpi erhielt für seine „Verdienste“ zwei Millionen Hektar Land geschenkt und wurde so zum nordafrikanischen [[Großgrundbesitzer]], bevor er im Sommer 1925 als [[Adel|neugeadelter]] Finanzminister in das [[Kabinett Mussolini]] berufen wurde. Der Schweizer Historiker [[Aram Mattioli]] fasst diesen Teil der italienischen Kolonialpolitik als „einen gigantischen Landraub“ zusammen, da seit 1923 Jahr für Jahr zehntausende Hektar fruchtbaren Bodens den Besitzer wechselten.<ref name="mattioli_s41" /> Zum Zufluchtsort für den Großteil der Widerstand leistenden tripolitanischen Stämme wurde nun die südliche Region Fessan. Zusammen mit dem fessanischen Stamm der Awlad Sulayman führten sie fortan einen [[Guerilla]]krieg. Sie bekämpften die Italiener in Kleingruppen, vermieden offene Feldschlachten und ließen sich bloß auf kurze Gefechte und Scharmützel ein. Vor allem bei Nacht verübten sie Sabotageakte und griffen Konvois und Militärstationen an.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 42; Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 46 u. 107.</ref><br />
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Aufgrund der nur langsam voranschreitenden Expansion gen Süden ernannte Mussolini im Juli 1925 den 59-jährigen General [[Emilio De Bono]] zum Nachfolger Volpis als Generalgouverneur Tripolitaniens. Unter De Bono, einem hochdekorierten Weltkriegsgeneral und Faschistenführer beim Marsch auf Rom, reagierten die Italiener auf die Guerillataktik der [[Mudschahed]]in mit einem noch brutaler werdenden Kleinkrieg: Es kam zu zahlreichen Exekutionen sowie dem Einsatz von [[Giftgas]]. Italien war den Mudschahedin sowohl numerisch als auch technologisch überlegen.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1009; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 42.</ref><br />
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=== Guerillakrieg in der Cyrenaika (1923–1927) ===<br />
==== Senussi-Bewegung und italienische Anfangsoffensive ====<br />
Im Unterschied zu Tripolitanien, wo alte Rivalitäten und Konflikte zwischen den Stämmen die Bildung einer einheitlichen Widerstandsfront verhindert hatten, traten die Aufständischen in der Cyrenaika geschlossen auf. Hier stützte sich der Widerstand ganz auf die Senussi-Bewegung, eine 1833 in [[Mekka]] gegründete Bruderschaft, die sich für die Erneuerung des Islams und eine Befreiung der arabischen Länder vom europäischen Einfluss einsetzte. Die Senussi-Bruderschaft unterhielt ein feinmaschiges Netz von islamischen Kulturzentren und war dadurch in der Cyrenaika gesellschaftlich verankert. Diese sogenannten „gemischten Lager“ ''(zǎwiyas)'' waren Wohn- und Versammlungsorte, die sowohl dem Glauben dienten als auch wichtige Funktionen im sozialen Leben erfüllten. So umfassten sie neben Moschee und Koranschule oft auch Hospitäler, Läden und Unterkünfte für Reisende und spielten im Handel und Austausch eine wichtige Rolle. Geleitet wurden die ''zǎwiyas'' von [[Scheich]]s der Senussi.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 47.</ref><br />
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Die [[Beduinen]] der Cyrenaika lehnten jede Form der kolonialen Fremdbestimmung ab, die ihre traditionelle Lebensweise als Hirtennomaden bedrohte. Der Islam und vor allem die orthodoxe [[Sufismus|sufistische]] Lehre der Senussi-Bewegung waren die ideologisch-kulturelle Basis der Widerstandsbewegung. Die religiösen Vorschriften ihres Begründers [[Muhammad as-Sanussi|Mohammed Ali as-Senussi]] (1787–1859) bildeten den Kern einer eigenständigen nationalen Kultur, aus der der antikoloniale Kampf seine Motivation und Legitimation schöpfte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 47; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1995, S. 77; John Wright: ''A History of Libya.'' Columbia University Press, New York 2012, S. 92 f u. 139.</ref> Seit der Flucht seines Emirs [[Idris (Libyen)|Idris as-Senussi]] nach Ägypten (1922) stand der Senussi-Orden unter der stellvertretenden Führung von dessen Bruder Mohammad al-Rida. Den Oberbefehl über den militärischen Widerstand übergab Idris an [[Omar Mukhtar]], einen bereits über sechzigjährigen Senussi-Scheich.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. State University of New York, New York 2009 [1994], S. 137; John Wright: ''A History of Libya.'' Columbia University Press, New York 2012, S. 139; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 48; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 47.</ref><br />
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Zu Beginn des Jahres 1923 wurde General [[Luigi Bongiovanni]] der erste faschistische Gouverneur der Cyrenaika und erhielt von Mussolini eine persönliche Order zum „harten Durchgreifen“. Im März forderte Bongiovanni vom stellvertretenden Senussi-Oberhaupt Mohammad al-Rida, die islamischen ''zǎwiya''-Zentren und andere militärische Einrichtungen zu schließen. Al-Rida entgegnete, er habe keine Verhandlungsvollmacht, woraufhin die Italiener im gleichen Monat den Krieg mit der Besetzung südlicher Umräume von Bengasi begannen. Auch das cyrenäische Parlament wurde im März 1923 aufgelöst. Im April wurde Al-Ridas administratives Zentrum [[Adschdabiya]] eingenommen und alle Abkommen mit den Senussi bis zu diesem Zeitpunkt für nichtig erklärt.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 136 f.</ref> Für die Offensive standen Gouverneur Bongiovanni vier italienische, fünf eritreische und zwei libysche Bataillone zur Verfügung, mit einer Gesamtinfanterie von bis zu 8.500 Mann. Hinzu kamen noch kleinere Kavallerie-, Gebirgs- und Ingenieur-Einheiten. Die Senussi konnten auf etwa 2.000 reguläre Soldaten in den ''zǎwiya''-Zentren sowie auf bis zu 4.000 irreguläre Krieger unter den Stämmen des [[al-Dschabal al-Achdar (Libyen)|Dschabal-Achdar-Gebirges]] zurückgreifen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 41.</ref><br />
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1923 fokussierten sich die Italiener lediglich auf die „Pazifizierung“ der Gegend zwischen den Küstenstädten Qaminis und Adschdabiya. Bei den mit gepanzerten Fahrzeugen und motorisierter Infanterie durchgeführten Überraschungsangriffen der Italiener auf die Lager der Widerstandskämpfer wurden zwischen Mai und September 800 Nomaden getötet. Auch starben etwa 12.000 Schafe bzw. wurden beschlagnahmt.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 138.</ref> Bongiovannis Offensive konnte einige Anfangserfolge verbuchen, die jedoch kaum von ausschlaggebender Bedeutung waren. Dazu gehörte die Auflösung örtlicher ''zǎwiya''-Zentren sowie die zeitweise Besetzung von Adschdabiya. Im Juni gelang den italienischen Truppen die erste Massenunterwerfung (etwa 20.000 Menschen) in der Gebirgsregion bei [[Barke (Libyen)|Barke]], gleichzeitig erfuhren sie eine schwere Niederlage im Kampf mit dem in der Syrte-Wüste beheimateten Stamm der Mogarba, bei dem sie 13 Offiziere, 40 italienische Soldaten und 279 Askari verloren.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 42.</ref><br />
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[[Datei:Knud Holmboe Bedouins fighting Eritreans 1930.jpg|miniatur|Ein libyscher [[Beduinen|Beduine]] im Kampf gegen einen eritreischen Askari]]<br />
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Im Jahr 1924 gründete Omar Mukhtar einen vereinigten Militärrat sowie zahlreiche ''adwar''. Dabei handelte es sich um Kampfverbände der einzelnen Stämme, die jeweils über einige hundert Mann verfügten. Jeder Stamm beteiligte sich freiwillig mit einer gewissen Anzahl von Kämpfern, Waffen und Verpflegung. Für den Fall ihres Todes sagten die Stämme zu, die Verluste wieder zu ersetzen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 138; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 42.</ref> Die Wüstenkrieger waren den italienischen Kolonialtruppen an Zahl, Schnelligkeit und Feuerkraft weit unterlegen. Daher vermieden sie Entscheidungsschlachten, und versetzten in kleinen Kampfgruppen der Kolonialmacht immer wieder empfindliche Schläge, bevor sie sich im Schutz der Dunkelheit in ihre Verstecke zurückzogen. Über die Jahre kam es zu Hunderten von Gefechten und Sabotageakten. Ihre numerische und technologische Unterlegenheit machten die Mudschahedin durch ihre Guerillataktik, ihre Geländekenntnisse und ihre gesellschaftliche Verankerung wett.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 47 f.</ref><br />
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==== Kampf um den Dschabal Achdar und al-Dschaghbub ====<br />
Das natürliche Bollwerk des [[al-Dschabal al-Achdar (Libyen)|Dschabal-Achdar-Gebirges]] wurde ab 1924 zum Hauptgebiet der cyrenäischen Guerilla. Das Kalksteinplateau in der nördlichen Cyrenaika mit seinem Dickicht und den Wäldern, durchsetzt mit Schluchten und Höhlen, stellte ein ideales Terrain für den Guerillakampf dar. Im Frühjahr 1924 und 1925 nahmen die italienischen Truppen die Offensive im Dschabal Achdar mit einer Serie von Operationen auf, bei der sie offensichtlich stärker gegen die Zivilbevölkerung vorgingen als gegen die ''adwar''-Einheiten des Widerstands. So töteten die italienischen Streitkräfte zwar hunderte einheimische Männer und zehntausende Nutztiere, konnten dabei aber nur einige Dutzend Gewehre sicherstellen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 42; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 139.</ref> Bis 1924/1925 standen die Italiener mit dem größten Teil der cyrenäischen Nomaden in Konflikt. Die Bewohner der Städte und Dörfer beteiligten sich nur geringfügig an den Kämpfen, unterstützten die Rebellion aber materiell. Den größten Widerstand leistete die Bevölkerung des Berglands, wo seit der Zeit des Römischen Reiches keine Zentralmacht vorhanden war, und die Wüstenbewohner, die sich schon immer selbst regiert hatten. Insgesamt verloren die Stämme des Dschabal Achdar von 1923 bis 1926 nach italienischen Schätzungen 1.500 Mann und 90.000 bis 100.000 domestizierte Tiere, behielten jedoch weiterhin die Kontrolle über den größten Teil der Hochebene und die Halbwüsten im Hinterland.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 42; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 138.</ref><br />
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<gallery mode="packed" heights="125" caption="Das Kampfterrain des Dschabal Achdar"><br />
Jabal Al Akdhar.jpg|Eine Straße im Vorgebirge<br />
Al Bakour4.JPG|Eine Straße<br />
Green mountain of Libya.jpg|Blick auf Wälder und Hügel (2012)<br />
Wadi el Kuf Bridge 1970's.jpg|Die heutige [[Brücke über das Wadi al-Kuf]] (1970)<br />
Pont Omar Mokhtar.jpg|Von der Guerilla benutzte Höhlen (2007)<br />
</gallery><br />
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Ernesto Mombelli, der im Mai 1924 Gouverneur Bongiovanni abgelöst hatte, favorisierte nun die Eroberung von [[al-Dschaghbub]], der alten Hauptstadt des Senussi-Ordens. Mit deren Einnahme glaubte Mombelli das Prestige der Senussi zu untergraben und vielleicht ein Ende der Rebellion herbeizuführen. Ein Angriff auf al-Dschaghbub war schon mehrere Male seit Beginn der Kolonisierung 1911 in Betracht gezogen worden, jedoch erkannte Ägypten erst 1925 die Stadt und einen angrenzenden Gebietsstreifen als italienisches Territorium an. Im Januar 1926 startete eine motorisierte Kolonne von 2.500 Mann ihren Marsch gegen die von kleinen Mauern umgebene Stadt. Am 5. Februar warfen italienische Flieger Flugblätter über al-Dschaghbub ab, die die Einwohner zur Aufgabe aufriefen und Respekt gegenüber der heiligen Stätte der Senussi versprachen. Anschließend drangen zwei italienische Kolonnen behutsam in die Stadt ein, ohne auf Gegenwehr zu treffen. Am 7. Februar war die Stadt eingenommen. Die Operation war ein logistischer Triumph und demonstrierte eine zunehmende Meisterung des Wüstenkrieges durch die Italiener, da 2.500 Mann über eine Strecke von rund 200 Kilometern Wüste hinweg versorgt werden mussten. Jedoch hatte der Sieg kaum Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges. Die Senussi-Kämpfer hatten den Ort rechtzeitig verlassen und ihr Widerstand blieb ungebrochen.<ref>Helmut Mejcher: ''Umar al-Mukhtar: Seine Person und sein Wirken im Spiegel zeitgenössischer deutscher Berichterstattung.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 94&nbsp;f; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], ISBN 1-85077-095-6, S. 35–116, hier S. 42; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 140 f.</ref><br />
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Das Scheitern der italienischen Militäroffensiven in der Cyrenaika stand in starkem Kontrast zu den Erfolgen, die Italien gleichzeitig beim Feldzug in Tripolitanien erlangen konnte. Deshalb wurde Mombelli Ende 1926 nach Rom zurückbeordert und durch General Attilio Teruzzi abgelöst.<ref>Alexander Cammann: ''Die Jüdin und der Faschist. Die Historikerin [[Victoria de Grazia]] erzählt die Geschichte einer unglaublichen Ehe.'' In: ''Die Zeit'', 4. April 2024, S. 50.</ref> Teruzzi – ein hochrangiges Mitglied der faschistischen Staatspartei [[Partito Nazionale Fascista|PNF]] – versprach bei seiner Ankunft in der Cyrenaika, die „volle Macht des römischen Gesetzes“ gegenüber den Widerstandskämpfern durchzusetzen. Zur Unterstützung wurde ihm General Ottorino Mezzetti zugeteilt, der neben Rodolfo Graziani einer der Oberbefehlshaber in Tripolitanien war. Die erste Zielvorgabe der beiden bestand in der Erlangung der Kontrolle über das Dschabal Achdar. Zu diesem Zweck wurde eine große Streitmacht zur Verfügung gestellt: neun eritreische und zwei libysche Askari-Bataillone, ein libysches Kavallerie-[[Schwadron]] (Spahies) und weitere Einheiten – insgesamt etwa 10.000 Mann, zu denen noch aus italienischen Soldaten bestehende örtliche Besatzungstruppen kamen. Durch einen stärkeren Einsatz von Funk und Luftwaffe konnten die Truppen außerdem effektiver koordiniert werden.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 44; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 141.</ref><br />
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Dieser Übermacht konnten die ''adwar''-Truppen nur etwa 1.850 Kämpfer entgegensetzen. Während die italienischen Streitkräfte bei den Kämpfen von Juli bis September 1927 nur leichte Verluste erlitten, waren auf cyrenäischer Seite insgesamt 1.200 tote Männer sowie 250 Frauen und Kinder an Geiseln zu beklagen. Dazu kamen noch Tausende von den Italienern getötete oder beschlagnahmte Nutztiere. Die Tatsache, dass die Italiener dabei erneut vergleichsweise wenige Waffen konfiszieren konnten (269 Gewehre), deutet wiederholt eine stärkere Beeinträchtigung der nichtkämpfenden Bevölkerung und das Entkommen des Großteils der Rebellen an. Dennoch markierte die Offensive eine militärische Wende: Die ''adwar''-Einheiten mussten ihre Kampfgruppen verkleinern und größere Truppenkonzentrationen vermeiden. Ihre Unterstützung durch die Bevölkerung blieb jedoch ungebrochen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 44 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 141.</ref><br />
<br />
=== Eroberung des Fessan (1928–1930) ===<br />
Als Militärgouverneur für Süd-Tripolitanien konzentrierte sich General Graziani von 1926 bis 1927 auf die Festigung der Beziehungen mit einzelnen Stämmen. Mit einer Strategie des ''[[Divide et impera]]'' bemühte er sich um eine [[Kollaboration]] einzelner Stammesführer mit den Italienern, um sie als Instrument für ein weiteres Vordringen nach Süden zu gewinnen. Die Berber sowie einige arabische Stämme wurden italienische Verbündete. Widerstand leisteten die Stämme der Awlad Sulayman, [[Warfalla]], [[Guededfa]], Zintan, [[Awlad Busayf]] und später auch die [[Mashashiya]].<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 107; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, S. 1010.</ref><br />
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[[Datei:Karte Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg 1928–1931.svg|mini|hochkant=1.5|Eroberungen des faschistischen Italien 1928 bis 1931]]<br />
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Ab Herbst 1927 bereitete sich die italienische Armee auf die Herstellung einer Landverbindung zwischen Tripolitanien und der Cyrenaika vor, was durch die Eroberung aller südlichen Gebiete bis zum 29. Breitengrad erreicht werden sollte. Dadurch wollte man einerseits die Gefahr beseitigen, die von den aufständischen Stämmen der Mogarba und der Awlad Sulaiman aus der Syrte-Wüste ausging.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1010; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 142.</ref> Andererseits beabsichtige General Graziani damit einen Keil zwischen die fessanischen und cyrenäischen Widerstandsgruppen zu treiben, um einen freien Rücken für Eroberung des südlichen Fessan zu haben. Am 1. Januar 1928 startete seine tripolitanische Kolonne 50 Kilometer westlich von Syrte, während die cyrenäische Kolonne aus Adschdabiya losmarschierte. Beide Einheiten trafen sich an der Mittelmeerküste bei der Ortschaft [[Ras Lanuf]]. Die libyschen Widerstandskämpfer zogen sich zurück und vermieden eine direkte Konfrontation. Den ersten Erfolg konnte die Offensive schon am zweiten Tag verzeichnen, als Mohammad al-Rida, der den Widerstand von seinem Hauptquartier in Jalu aus koordinierte, den Italienern in Adschdabiya seine bedingungslose Unterwerfung anbot. Nach al-Ridas Kapitulation ging seine Position als stellvertretendes Senussi-Oberhaupt an Omar Mukhtar weiter.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 92 f. (tschechisch); John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 142 f u. 146.</ref><br />
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Anfang Februar wurden die fessanische Oase [[al-Dschufra]] sowie die beiden cyrenäischen Oasen Dschalu (Jalu) und [[Audschila]] von italienischen Truppen besetzt. Bis März 1928 waren der Küstenstreifen und die Oasen von den Italienern erobert. Der arabische Widerstand wurde in zwei Schlachten besiegt, im Januar bei Bu Ella in der Cyrenaika und im Februar nördlich der Oase Zalla bei Tagrift (Bir Tigrift) in Tripolitanien. Hier kam es am 25. Februar zu einem siebenstündigen Gefecht zwischen italienischen Streitkräften und rund 1.500 Stammeskriegern. Die Verteidiger mussten sich schließlich nach 250 getöteten Männern und hunderten Verwundeten geschlagen geben. Die italienische Luftwaffe spielte bei diesen Operationen eine Schlüsselrolle.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 92 f. (tschechisch); John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1011; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 142 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 143.</ref> Bis Herbst 1928 konnten die Italiener eine gewisse Kontrolle über die eroberten Gebiete erlangen, jedoch war ihre Herrschaft noch immer nicht gesichert. So griff zwischen 29. und 31. Oktober 1928 eine Widerstandsgruppe die italienischen Streitkräfte bei der Oase al-Dschufra an, wobei sich die Araber nach schweren Gefechten und etwa einhundert Toten wieder in ihre Basis im Fessan zurückzogen.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1011.</ref><br />
<br />
Die Eroberung des Fessan verlief nun in drei Phasen und begann Ende November 1929: Das erste italienische Ziel war die Einnahme des Tales von [[Munizip Wadi asch-Schati’|Wadi asch-Schati’]], wo sich die Siedlungen des aufständischen Stammes der Zintan befanden. Danach rückten die Italiener nach Wadi al-Adschal vor – hier versammelten sich die Krieger des Stammes der Warfalla. Die letzte Phase bestand in der italienischen Besetzung von Murzuk, wo der libysche Widerstand unter der Führung von Ahmad Sajf an-Nasr stand. Am 5. Dezember fiel die Stadt Brak in italienische Hand, neun Tage später folgte Sabha und Mitte Januar 1930 eroberten die Italiener Murzuk. Am 15. Februar 1930 wurde schließlich die italienische Trikolore über dem besetzten Ghat gehisst.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 92 f. (tschechisch); John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 142 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 143.</ref> Der verbliebene Rest der besiegten Stämme flüchtete in Richtung Tunesien, [[Niger]], den [[Tschad]] oder nach Ägypten, wobei General Graziani sie auf dem Weg von der italienischen Luftwaffe bombardieren ließ.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 107, John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1018.</ref><br />
<br />
=== Kriegsführung und Kriegsverbrechen ===<br />
[[Datei:Knud Holmboe Regio corpo truppe coloniali d'Eritrea in Libya 1930.jpg|miniatur|Für Italien kämpfende eritreische Askari-Soldaten im Libyenkrieg (1930)]]<br />
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Die von kampferprobten Offizieren befehligten italienischen Einheiten bestanden – neben Soldaten aus Italien – zu drei Vierteln aus eritreischen Askaris, die für ihre besondere Grausamkeit gefürchtet waren. Die große Mehrheit von ihnen waren Christen, die für den Kampf gegen die libyschen Muslime mobilisiert worden waren. Von den Arabern wurden sie nach der eritreischen Hafenstadt [[Massawa]] als ''Massuā'' bezeichnet. Insgesamt stellte Eritrea als Italiens erste Kolonie zwischen 1911 und 1943 zwischen 60.000 und 150.000 koloniale Soldaten für die Eroberung und Besatzung Libyens zur Verfügung. Gleichzeitig hatte die italienische Kolonialmacht um 1929 auch unter den Tripolitaniern und Cyrenäern Kollaborateure gefunden, die als militärische Reiseleiter, Wachmänner, Spione, Berater oder Soldaten dienten. Diese Kollaborateure wurden vom libyschen Widerstand als ''banda'' (italienisches Wort für [[Militärmusik|Militärkapellen]]) oder ''mutalinin'' („die italienisch Gewordenen“) bezeichnet.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. xvii, 64 u. 78; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 42.</ref><br />
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Wie die anderen Kolonialmächte setzte auch Italien modernste Kriegstechniken ein. Dazu gehören Telefon und Funk zur Koordination der Aktionen; schnelle, leicht gepanzerte Einheiten und vor allem Flugzeuge, denen die berittenen oder zu Fuß kämpfenden Mudschaheddin nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Für die [[Regia Aeronautica]], die italienische Luftwaffe, die erst seit 1923 als eigenständige Teilstreitkraft neben Heer und Marine existierte, entwickelte sich der koloniale Eroberungsfeldzug in Nordafrika zum ersten Ernstfall überhaupt. Neben Aufklärungs- und Versorgungsaufgaben griff sie natürlich auch in die Kampfhandlungen ein. Nicht nur Kämpfer, sondern auch die Lager der Stämme wurden von ihr bombardiert oder unter automatisches Feuer genommen. Auch Trecks von Flüchtenden mit ihrem Vieh, die sich nach Ägypten oder Algerien durchzuschlagen versuchten, verschonten die Tiefflieger nicht.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, 42 f.</ref> Die italienische Luftwaffe bediente sich dabei auch des [[Flächenbombardement]]s, der sogenannten „fliegenden Gerichte“.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 75.</ref><br />
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Wie Spanien im [[Rifkrieg (1921–1926)|Rifkrieg]] in Marokko setzte auch die italienische Luftwaffe in auf dem Gebiet des heutigen Libyen – wenn auch noch sporadisch<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 194.</ref> – [[Giftgas]] ein. Hauptbefürworter dieser Art der Kriegsführung war der faschistische Gouverneur Emilio De Bono;<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 43.</ref> die verwendeten Kampfstoffe waren [[Senfgas|Yperit]] und [[Phosgen]]. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1922 und 1930 in Tripolitanien und der Cyrenaika insgesamt 50 mit Chemikalien gefüllte Bomben verschiedenen Kalibers abgeworfen wurden. Diesen Angriffen fielen laut groben Schätzungen mindestens hundert Männer und Frauen und zirka 2.000 Nutztiere zum Opfer.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/1936. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S.&nbsp;149.</ref> So wurde der tripolitanische Stamm der Zintan 1925 bei seinem Hauptlager in al-Tabunia mit Giftgas bombardiert. Im Januar 1928 warfen vier [[Caproni Ca.73]]-Flugzeuge südlich von Nufilia Giftgasbomben auf rund 400 Zelte ab, und im Februar 1928 wurde der fessanische Stamm der [[Magarha|Mogarba er Raedat]] mit Yperit überzogen. Am 31. Juli 1930 bombardierte die italienische Luftwaffe die Cyrenaika-Oase von [[Tazerbo]], in der „Rebellen“ vermutet wurden, mit 24 Yperit-Bomben von je 21 Kilogramm Gewicht. In der Cyrenaika wurde mit Kufra außerdem auch die „heilige Stadt“ der Senussi ein Ziel von Giftgasattacken. Mit diesen Aktionen verstießen Mussolini und seine Generäle gegen das von Italien ohne Vorbehalt mitunterzeichnete [[Genfer Protokoll]] über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen von 1925.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London/ New York 2010, S. 207; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1011; Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''[[Die Zeit]].'' 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 43 f; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 142.</ref><br />
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Weit mehr Tote als der Giftgaseinsatz forderten die herkömmlichen Repressionsmaßnahmen wie willkürliche Massenerschießungen und öffentliche Exekutionen. Ihr Zweck bestand darin, die Zivilbevölkerung von einer Kollaboration mit den Widerstandsgruppen abzuhalten. Über diese Massaker und die unzähligen Todesurteile, die von Militärtribunalen ausgesprochen und vollzogen wurden, sind heute kaum mehr Archivalien vorhanden, was die Rekonstruktion der Ereignisse sehr erschwert. Die Zerstörung von Dörfern und die Vernichtung von Viehbeständen als Mittel des Krieges gegen die libysche Zivilbevölkerung wurde nur in Einzelfällen schriftlich dokumentiert.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 149.</ref><br />
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=== Reorganisation der Kolonialverwaltung (1928–1929) ===<br />
Im Dezember 1928 übernahm Mussolini persönlich das Kolonialministerium und ernannte am 18. Dezember Marschall [[Pietro Badoglio]] zum ersten gemeinsamen Generalgouverneur Tripolitaniens und der Cyrenaika, die aber bis 1934 administrativ eigenständig blieben. Sein neues Amt trat Badoglio am 24. Januar 1929 an. Emilio De Bono wurde stattdessen zunächst Mussolinis Unterstaatssekretär und im September 1929 selbst neuer Kolonialminister, wobei Mussolini sich weiterhin an allen großen Entscheidungen die Cyrenaika betreffend beteiligte. Im Gegensatz zu De Bono war Badoglio kein altgedienter Faschist, sondern ein treu zum Königshaus stehender Nationalkonservativer. Dennoch erhielt die italienische Kriegsführung gerade unter ihm eine [[Völkermord|genozidale]] Dimension.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 44 f; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 52.</ref><br />
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=== {{Anker|Genozid}}Genozid in der Cyrenaika (1929–1934) ===<br />
Unter dem zweifachen Druck der cyrenäischen Senussi-Kämpfer sowie der Erwartungen seitens der italienischen Regierung stehend, setzte Badoglio auf eine Doppelstrategie aus Drohungen und Verhandlungen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 57 f.</ref> Einerseits verkündete Badoglio in seiner ersten Proklamation vom 9. Februar 1929: „Kein Rebell wird mehr Frieden haben, weder er noch seine Familie, weder seine Herden noch seine Erben. Ich werde alles zerstören, Menschen und Dinge.“ Mit dieser Kampfansage zeichnete sich schemenhaft erstmals eine genozidiale Kriegsführung ab, da sie nicht nur den Widerstandskämpfern galt, sondern erstmals nach dem Prinzip der [[Kollektivschuld]] auch Strafen für ihre Angehörigen und selbst deren Vieh androhte. Andererseits setzte Badoglio zu Beginn – gegen die repressive Tendenz der vorausgegangenen Jahre – auf eine beschwichtigende Politik. So versprach Badoglio in der Proklamation auch volle Begnadigung für jeden, der sich den folgenden drei Bedingungen fügte: Abgabe der Waffen, Respektierung des Gesetzes und Abbruch des Kontaktes mit den Mudschahedin. Im Juni 1929 wurde ein zweimonatiger Waffenstillstand zwischen Italien und den Rebellen vereinbart. Diese Beschwichtigungspolitik blieb jedoch rein formal und diente dazu, die Verantwortung für weitere Leiden der Bevölkerung auf die Rebellen abwälzen zu können. Nachdem die Verhandlungen bis August nicht zur Entwaffnung der Bevölkerung und der Auflösung der ''adwar''-Kampfverbände geführt hatten, wurden sie von den Italienern abgebrochen.<ref>Anna Baldinetti: ''The Origin of the Libyan Nation. Colonial legacy, exile and the emergence of a new nation-state.'' New York 2010, S. 46&nbsp;f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 45 f.; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 133&nbsp;f.</ref><br />
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==== Repressionsfokus auf die nichtkämpfende Bevölkerung ====<br />
[[Datei:E. De Bono 03.jpg|mini|hochkant|General [[Emilio De Bono]] (ca. 1932)]]<br />
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Nach den gescheiterten Verhandlungen mit Omar Mukhtar erneuerte die italienische Besatzungsmacht im November 1929 ihre repressive Politik gegenüber dem cyrenäischen Widerstand mit Festnahmen und Erschießungen. Da bis 1930 auch Badoglio die Guerilla in der Cyrenaika nicht in den Griff bekommen hatte, ernannte Mussolini auf Vorschlag von Kolonialminister De Bono den General Rodolfo Graziani zum neuen Vizegouverneur der Cyrenaika. Der für seine faschistische Prinzipienfestigkeit berüchtigte Graziani hatte gerade die Eroberung des Fessan vollendet, und sich im jahrelangen Kleinkrieg unter den Tripolitaniern einen Namen als „Schlächter“ gemacht. Die Parolen des Regimes wörtlich auslegend, verstand er die Pazifizierung des Landes als eine Unterwerfung von „Barbaren“ durch „Römer“. Am 27. März 1930 zog Graziani in den Gouverneurspalast von [[Bengasi]] ein.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 59 u. 79; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, S. 1017; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 215; John Wright: ''A history of Libya.'' New York 2012, S. 150.</ref> Kolonialminister De Bono betrachtete eine Eskalation der Gewalt als unumgänglich für die „Pazifizierung“ der Region und regte am 10. Januar 1930 in einem Telegramm an Badoglio erstmals die Errichtung von Konzentrationslagern ''(campi di concentramento)'' an. Badoglio war ebenfalls zu der Überzeugung gelangt, dass sich die „Rebellen“ mit den bisher angewandten Methoden der Konterguerilla nicht dauerhaft unterwerfen ließen. Beide traten von nun an in dem von Mussolini abgesteckten Handlungsrahmen als Vordenker und Strategen einer genozidalen Kriegsführung in Erscheinung, während Graziani die Rolle des Vollstreckers erfüllte.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1019; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 217.</ref><br />
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Die Italiener hatten die libysche Bevölkerung ursprünglich in zwei Gruppen unterteilt, einerseits die bewaffneten Widerstand leistenden „Rebellen“, andererseits die nichtkämpfende, unterworfene Bevölkerung ''(sottomessi)'', die in den Augen der Kolonialverwaltung kapituliert hatte. Damit wollten sie die Einheit des Volkes untergraben und effizienter gegen die bewaffneten Kämpfer vorgehen. Nun, nach dem Scheitern der militärischen Offensive gegen die Widerstandsbewegung, änderten die Italiener ihre Haltung. Es wurde deutlich, dass eine klare Unterscheidung zwischen beiden Gruppen nicht möglich war, da die Widerstandsbewegung von der „unterworfenen Bevölkerung“ materiell und moralisch unterstützt wurde. Die Zivilisten leisteten Steuerabgaben, Waffen-, Kleider- oder Nahrungsspenden an Omar Mukhtars Wüstenkrieger oder stellten ihnen Pferde zur Verfügung. Da die nichtkämpfende Bevölkerung somit die Reproduktionsbedingungen des ''adwar''-Systems gewährleisteten und die soziale Basis der Widerstandsbewegung bildeten, wurden sie von der Kolonialverwaltung jetzt als gefährliches Potential eingestuft.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 78; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 45 u. 47; John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 138 f.</ref><br />
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Im Laufe des Frühlings und Sommers 1930 nahm Graziani nun systematisch das soziale Umfeld der Guerilla ins Visier. Als erste Maßnahme ließ er die islamischen Kulturzentren ''(zâwiyas)'' schließen. Ihre ihnen vorstehenden Korangelehrten wurden gefangen genommen und auf die italienische Gefängnisinsel [[Ustica]] deportiert. Ihre Ländereien wurden enteignet; hunderte von Häusern und 70.000 Hektar besten Bodens inklusive des darauf befindlichen Viehs wechselten den Besitzer. Darüber hinaus ordnete Graziani die völlige Entwaffnung der nichtkämpfenden Bevölkerung sowie drakonische Strafen im Falle einer Zusammenarbeit von Zivilisten mit Omar Mukhtars ''adwar''-Kampfgruppen an. Wer eine Waffe besaß oder dem Senussi-Orden Unterstützung zukommen ließ, musste mit der Hinrichtung rechnen. In der Kolonialverwaltung begann Graziani eine Säuberungsaktion gegenüber arabischen Angestellten, denen Verrat vorgeworfen wurde. Die Bataillone libyscher Kolonialtruppen, die in der Vergangenheit Omar Mukhtars Widerstand oft indirekt unterstützt haben, ließ er auflösen. Alle Formen von Handel mit Ägypten wurden verboten, um den Schmuggel von Gütern an die Aufständischen kontrollieren zu können. Zu guter Letzt begann Graziani mit dem Ausbau eines Straßennetzwerks im Dschabal-Achdar-Gebirge – ein bisher von keinem seiner Vorgänger realisiertes Projekt. Gleichzeitig mit diesen Maßnahmen setzte bei der cyrenäischen Bevölkerung nun eine Massenflucht in die umliegenden Länder ein.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 49; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, S. 69 f.</ref><br />
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Um Omar Mukhtars ''adwar''-Einheiten zu zerschlagen, setzte General Graziani auf eine Reorganisation der ihm unterstehenden Truppen. Im Sommer 1930 verfügte er über 13.000 Mann (1.000 Offiziere, 3.000 italienische Soldaten und 9.000 Askaris), die er nun aufteilte auf acht eritreische Bataillone, drei Schwadrone mit gepanzerten Fahrzeugen, ein spezielles [[Transportunternehmen]] mit Lastern, zwei Sahara-Gruppen, vier libysche Kavallerie-Schwadron und zwei mobile [[Batterie (Militär)|Einheiten der Artillerie]]. Zusätzlich verfügte er über eine Legion der [[Schwarzhemden|faschistischen Miliz]], ein Bataillon für Besatzungsaufgaben, eine motorisierte Einheit mit 500 Fahrzeugen und bis zu 35 Aufklärungsflugzeuge und leichte Bomber.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 71.</ref> In einer sorgfältig vorbereiteten und koordinierten Operation mit zehn unterschiedlich zusammengesetzten Kolonnen versuchte Graziani ab dem 16. Juni 1930, die Einheiten Omar Mukhtars einzukesseln und zu vernichten. Die ''adwar''-Kampfverbände der Senussi wurden jedoch erneut von der örtlichen Bevölkerung wie auch von Deserteuren italienischer Kolonialtruppen rechtzeitig informiert. Durch eine Aufteilung in kleinere Gruppen konnten sie den italienischen Kolonnen mit leichten Verlusten entkommen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 71 f.</ref><br />
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==== Todesmärsche und Deportationen ====<br />
Zu diesem Zeitpunkt ergriff Badoglio erneut die Initiative und schlug nachdrücklich eine neue Dimension repressiver Maßnahmen vor: Durch die [[Deportation]] der Menschen des Dschabal-Achdar-Gebirges wollte er einen menschenleeren Raum um die ''adwar''-Kampfverbände schaffen.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 72.</ref> Am 20. Juni 1930 hielt er gegenüber Graziani in einem Brief fest:<br />
{{Zitat|Man muss vor allem eine breite und präzise territoriale Trennung zwischen den Formationen der Rebellen und der unterworfenen Bevölkerung schaffen. Ich bin mir der Tragweite und Schwere dieser Maßnahme bewusst, die zur Vernichtung der sogenannten unterworfenen Bevölkerung führen muss. Aber nunmehr ist uns der Weg aufgezeigt und wir müssen ihn bis zu Ende gehen, auch wenn dabei die ganze Bevölkerung der Cyrenaika zugrunde gehen sollte.|ref=<ref>Zitiert nach Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 49.</ref>}}<br />
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Nach einer Besprechung mit Graziani ordnete Marschall Badoglio am 25. Juni 1930 die totale Räumung des Dschabal Achdar an. Drei Tage später begann die italienische Armee zusammen mit eritreischen Kolonialtruppen und libyschen Kollaborateuren, die Bevölkerung und ihr Vieh zusammenzutreiben. Italienische Archivdokumente datieren den Beginn der Aktion auf Sommer 1930. Die überwiegende Mehrheit libyscher Zeitzeugen stimmt jedoch darin überein, dass bereits im Herbst 1929 die ersten derartigen Verhaftungen erfolgt waren. Konkret lief Badolgios Befehl auf die Zwangsumsiedlung von 100.000 bis 110.000 Menschen und deren Internierung in [[Italienische Konzentrationslager#Konzentrationslager in der Cyrenaika (1930–1934)|Konzentrationslagern]] hinaus – etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Cyrenaika. Während in italienischen Archiven nur noch ein Bericht über die Deportation eines einzigen Stammes verfügbar ist, berichtet die mündliche Überlieferung der Opfer detailliert von den Ausmaßen der Aktion, welche die gesamte Gegend von der Region [[Marmarica]] an der ägyptischen Grenzen im Osten bis zur Syrte-Wüste im Westen betraf. Nicht betroffen war hingegen die städtische Bevölkerung an der Küste sowie Einwohner der landeinwärts liegenden Oasen. Von verschiedenen Sammelplätzen aus mussten sich die Zusammengetriebenen in Kolonnen zu Fuß oder mit Kamelen auf den Weg machen, einige wurden auch von Küsten aus mit Schiffen deportiert. Eine derartige Deportation hatte in der Kolonialgeschichte Afrikas kaum Vorbilder und stellte selbst Grazianis rabiate Methoden der Konterguerilla in den Schatten.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 3, 26, 77 u. 81; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 49 f; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 99.</ref><br />
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Bewacht von vor allem eritreischen Kolonialtruppen, zwang man die gesamte Bevölkerung zusammen mit ihrer Habe und ihrem Vieh auf [[Todesmarsch|Todesmärsche]], die manchmal 20 Wochen lang über hunderte von Kilometern führten. Wer nach der Zwangsumsiedlung noch auf dem Dschabal Achdar aufgegriffen wurde, musste mit seiner sofortigen Hinrichtung rechnen. In der Sommerhitze überlebte ein beträchtlicher Teil der Deportierten schon die Strapazen der Märsche nicht, insbesondere Kinder und Ältere. Wer erschöpft zu Boden fiel und nicht mehr weiterkonnte, wurde von den Wachmannschaften erschossen. Die hohe Todesrate war eine beabsichtigte Folge der Märsche, das freiwerdende Land ging erneut in Kolonistenhand über. Von den 600.000 Kamelen, Pferden, Schafen, Ziegen und Rindern, die mit auf den Weg genommen wurden, kamen nur etwa 100.000 Stück an.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 61 f; Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 203–226, hier S. 15; Amedeo Osti Guerrazzi: ''Cultures of Total Annihilation? German, Italian and Japanese Armies during the Second World War.'' In: Miguel Alonso, [[Alan R. Kramer|Alan Kramer]], Javier Rodrigo (Hrsg.): ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' Palgrave Macmillan, ISBN 978-3-030-27647-8, S. 119–142, hier S. 125; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 150; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 218.</ref> Von den Überlebenden wird die Deportation auf Arabisch als ''al-Rihlan'' („Pfad der Tränen“) bezeichnet.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 77.</ref><br />
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==== Konzentrationslager ====<br />
[[Datei:Karte Libyen italienische Konzentrationslager.svg|mini|hochkant=1.5|Lagekarte der 16 Konzentrationslager]]<br />
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Ziel der Deportationen war die Syrte-Wüste, das Hinterland entlang dem Ostufer der [[Große Syrte|Großen Syrte]]. Dort herrscht ein harsches Klima vor, es gibt kaum natürlichen Schutz vor der Sonne und wenig Wasser. Die italienische Besatzungsmacht hatte hier um 13 Millionen [[Italienische Lira|Lire]] innerhalb weniger Monate 16 Konzentrationslager<ref>Die Gesamtzahl der Lager wird von Giorgio Rochat und Aram Mattioli mit nur 15 Einrichtungen angegeben, andere Historiker schreiben durchgehend von 16 Konzentrationslagern. Vgl. Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 50; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 214; Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 9 u. 60.</ref> errichtet, in denen gegen 90.000 Gefangene in Zelten interniert wurden.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 60 u. 77; Michael R. Ebner: ''Fascist Violence and the ‘Ethnic Reconstruction’ of Cyrenaica (Libya), 1922–1934.'' In: Philip Dwyer, Amanda Nettelbeck (Hrsg.): ''Violence, Colonialism and Empire in the Modern World.'' Cham 2018, S. 197–218, hier S. 216; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 50.</ref> Etwa 70 % der deportierten Menschen wurden in den fünf großen „Straflagern“ [[KZ El-Agheila|Agaila]] (Agheila), [[KZ Marsa al Brega|Braiga]] (Marsa el-Brega), [[KZ Sidi Ahmed el-Magrun|Magrun]] (Magroon), [[KZ Soluch|Soluch]] (Slug) und [[KZ Swani al-Tariya|Swani al-Tariya]] (Suani el-Terria) interniert, wobei das Lager Agaila als das brutalste unter ihnen gilt. Es diente vor allem der Inhaftierung und Bestrafung von Familienangehörigen der unter dem Befehl Omar Mukhtars stehenden Widerstandskämpfer.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 9, 42 ff, 61, 77 f.</ref> Das Wachpersonal der Lager bestand aus eritreischen, aber auch libyschen Kolonialtruppen (Askaris).<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 65.</ref><br />
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Die Konzentrationslager waren von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben und wurden als Zeltstädte mit hunderten dicht aneinander liegenden Unterkünften organisiert. Sie waren mit Latrinen, Brunnen und einer führenden Überwachungsabteilung der [[Carabinieri]] ausgestattet, jedoch verfügten sie über keinen Gesundheitsdienst (1931 waren zwei Ärzte für insgesamt 60.000 Gefangene in vier Lagern zuständig) und es herrschte Nahrungsmittelknappheit. Ihr Überleben mussten die Lagerinsassen hauptsächlich mit ihren wenigen Vorräten und ihrem Lohn als unterbezahlte [[Zwangsarbeit]]er sichern. Ihre auf Viehzucht beruhende wirtschaftliche Existenzgrundlage wurde nahezu vernichtet, da die Konzentrationslager nicht über ausreichend Wasser und Weideland verfügten. Von den italienischen Behörden wurde nur behelfsmäßig mit [[Rationierung|rationierten]] Mahlzeiten eingegriffen, weshalb Hunger und Krankheiten zehntausende Opfer forderten.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 60 u. 66; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 210 u. 214 f; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 102; Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: Gerhard Schulz (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Göttingen 1985, S. 44–71, hier S. 56.</ref> Überlebendenberichten zufolge aßen die Häftlinge auch Gras, Mäuse, Insekten oder suchten im Kot von Tieren nach Körnern, um am Leben zu bleiben.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 66, 88 u. 107.</ref> General Graziani hob 1930 hervor: „Die Regierung ist in aller Ruhe entschlossen, die Menschen zum elendesten Hungertod zu bringen, wenn sie den Befehlen nicht vollständig gehorchen.“<ref>Zitiert nach Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 78.</ref><br />
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Ohne finanzielle Mittel für Kleidung mussten tausende der Insassen drei Jahre ohne Schuhe und in derselben Kleidung verbringen, in der sie in den Konzentrationslagern angekommen waren. Da sich viele der Häftlinge während der Inhaftierung kein einziges Mal waschen konnten, waren Flöhe und Infektionen weit verbreitet und machten die Insassen anfällig für [[Pocken]], [[Typhus]] und [[Blindheit|Erblindung]].<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 65 ff. u. 75.</ref> Neben Unterernährung und Seuchen waren die Insassen der Konzentrationslager auch Gewalt, Hitze und extremer Fremdbestimmung ausgesetzt. Die arbeitsfähigen Männer und Jungen verpflichtete man als Zwangsarbeiter zum Bau von Straßen, Gebäuden und Brunnen. Ebenso kam es regelmäßig zu [[Vergewaltigung]]en von Frauen und öffentlichen Exekutionen nach fehlgeschlagenen Fluchtversuchen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 50 f.</ref> In begrenztem Umfang wurden an den Häftlingen auch [[Sterilisation (Unfruchtbarmachung)|Sterilisierungen]] durchgeführt.<ref>Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: Gerhard Schulz (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Göttingen 1985, S. 44–71, hier S. 56.</ref> Die Waisenkinder der Internierten wurden in die italienische Armee eingezogen und später als Kolonialtruppen im [[Abessinienkrieg]] eingesetzt.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 78.</ref><br />
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Die Insassen wurden erst Ende 1933 und Anfang 1934 aus den Lagern entlassen, da die Kolonialmacht Italien billige Arbeitskräfte für Infrastrukturarbeiten im Dschabal-Achdar-Gebirge benötigte, die dem Militär und der künftigen Kolonisierung durch italienische Siedler dienen sollten. Unter strenger Kontrolle der kolonialen Polizei wurden die Lagerüberlebenden im ärmsten Teil ihres traditionellen Stammesgebietes angesiedelt. Weil sie keine angemessene Grundlage zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes schaffen konnten, waren die Männer gezwungen, beim Straßenbau zu arbeiten, wo ihr Gehalt um ein Drittel niedriger war als das der italienischen Arbeiter. Ihre Söhne wurden währenddessen in den „Knabenlagern“ ''(campi ragazzi)'' für künftige Einsätze als Kolonialsoldaten der italienischen Armee erzogen.<ref>Über das genaue Ende der Internierung werden unterschiedliche Angaben gemacht. Während Giorgio Rochat allgemein von „Ende 1933“ schreibt, gibt Giulia Brogini-Künzi „September 1933“ und Aram Mattioli „Oktober 1933“ an. Ali Abdullatif Ahmida schreibt, dass die Lager in zwei Schritten aufgelöst wurden, nämlich „Ende 1933 und Anfang 1934“. Vgl. Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier 214 f; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 150; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51; Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 77.</ref><br />
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=== Zerschlagung der Widerstandsbewegung (1931–1932) ===<br />
Den Faschisten gelang es, durch das Internieren der Bevölkerung in den Konzentrationslagern die Freiheitskämpfer sozial und ökonomisch völlig zu isolieren. Damit wurde der Widerstandsbewegung die soziale Basis entzogen, Waffen, Geld sowie Nahrungsmittel blieben aus und das ''adwar''-System zerbrach. Damit hatten die italienischen Streitkräfte die Voraussetzungen geschaffen, den Widerstand zu zerschlagen.<br />
Nun entschieden sich Badoglio und Graziani für die Einnahme der letzten unabhängigen Bastion der Senussi in der Cyrenaika, der 800 Kilometer weit in der Wüste gelegenen [[Kufra-Oasen]]. Deren Eroberung war weniger eine militärische Notwendigkeit, sondern diente vor allem dem Prestige. Die rund 600 Verteidiger Kufras vertrauten auf ihre durch die Sandwüste von der Außenwelt abgeschnittene Lage, aufgrund derer sie für die italienische Armee bisher unerreichbar gewesen waren. Unter der Flagge der Senussi versammelten sich hier auch einige hundert geflohene Widerstandskämpfer aus Tripolitanien und Fessan. Für die Italiener stellte die Logistik zwar wie schon bei den Feldzügen gegen die Stadt Dschaghbub (Jaghbub) und den Fessan ein größeres Hindernis dar als die Verteidiger, jedoch dominierten sie mittlerweile die Wüste mit ihrer technischen und organisatorischen Überlegenheit.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 95 (tschechisch); Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 79; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 84 f; John Wright: ''A history of Libya.'' New York 2012, S. 149 f.</ref><br />
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Die italienische Offensive gegen Kufra begann im Juli 1930 mit über vier Monate anhaltenden Luftangriffen. Im Dezember setzte sich dann die von Graziani geführte Hauptkolonne aus Adschdabiya in Bewegung, die über 3.000 Mann – davon die Hälfte auf Kamelen – und 300 motorisierte Fahrzeuge verfügte. Im Januar 1931 vereinigten sich die Haupteinheiten außerhalb von Kufra mit weiteren motorisierten Kolonnen aus Zalla und Waw al-Kabir. Graziani überwachte den Vormarsch aus der Luft. Am 19. Januar wurden die Verteidiger 20 Kilometer vor Kufra bei der Ortschaft al-Hawari von den italienischen Truppen geschlagen und erlitten infolge der italienischen Besetzung von al-Tag (al-Taj) am 20. Januar eine vollständige Niederlage. Die Bevölkerung der Kufra-Oasen reagierte panisch auf die Ereignisse: Es setzte eine Massenflucht nach Ägypten, den anglo-ägyptischen [[Sudan]] und das südliche [[Tibesti]]-Gebirge ein. Die italienische Luftwaffe ging dabei gegen die fliehenden Einwohner mit [[Bombardement#Arten der Bombardierung|Terrorbombardements]] vor. Weitere starben in der Wüste an [[Dehydratation (Medizin)|Durst]], Hunger oder Erschöpfung.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 95 (tschechisch); Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 84 f; John Wright: ''A history of Libya.'' New York 2012, S. 149 f.</ref><br />
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[[Datei:Karte Libyen Faschistischer Limes.svg|mini|hochkant|links|Der ''Faschistische Limes'' Grazianis]]<br />
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Die Besetzung Kufras bedeutete eine Ausdehnung der italienischen Kontrolle bis an die Südgrenze der Cyrenaika. Im nördlichen Dschabal-Achdar-Gebirge hielt der bewaffnete Widerstand unter Omar Mukhtar weiter an, während die nichtkämpfende unterworfene Bevölkerung – mittellos und verängstigt – vor der italienischen Terrorherrschaft zurückschreckte.<ref>John Wright: ''A history of Libya.'' New York 2012, S. 150.</ref> Um den Widerstand endgültig zu brechen, ließ Vizegouverneur Graziani in Absprache mit Badoglio und De Bono entlang der Grenze zum [[Königreich Ägypten]] den [[Libyscher Grenzzaun|Libyschen Grenzzaun]] errichten. Dabei handelte es sich um einen 270 bis 300&nbsp;km langen und vier Meter breiten Stacheldrahtverhau mit befestigten Kontrollposten. Bereits seit Ende der 1920er Jahre war die Widerstandsbewegung dazu übergegangen, die dringend benötigten Waffen und Nahrungsmittel aus Ägypten in die Cyrenaika zu schmuggeln. 2.500 Einheimische bauten von April bis September 1931 an dieser Grenzbefestigung, dem sogenannten ''Faschistischen [[Limes (Grenzwall)|Limes]]''. Dieser erstreckte sich, von Flugzeugen und motorisierten Patrouillen überwacht, von [[Bardia]] am Mittelmeer bis weit in die libysche Wüste hinein. Eine solche Grenzbefestigung war in Afrika bislang unbekannt. Sie unterband den grenzübergreifenden Handel und verhinderte die Infiltration von Kämpfern, schnitt die Aufständischen vom Nachschub mit Munition und Waffen ab und versperrte ihnen die Fluchtwege. Damit wurde die Möglichkeit, den Widerstand fortzusetzen, erheblich eingeschränkt.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51 f; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 79; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 86 f.</ref><br />
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[[Datei:Omar Mukhtar Execution-إعدام عمر المختار.png|mini|hochkant|Foto des im Lager Soluch gehängten Guerillaführers Omar Mukhtar (1931)]]<br />
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Nach und nach versetzte die genozidale Kriegsführung Italiens dem Widerstand Schläge, von denen er sich nicht mehr erholte. Entscheidend getroffen wurde er im September 1931. Während eines Gefechts strauchelte Omar Mukhtars Pferd und warf den über siebzigjährigen Guerillaführer ab. Einer italienischen Einheit gelang es, den Verletzten gefangen zu nehmen. Der Guerillaführer wurde in Ketten gelegt und an Bord des [[Zerstörer]]s ''Orsini'' nach [[Bengasi]] gebracht. Dort verurteilte ihn ein militärisches Schnellgericht in einem Schauprozess zum Tod durch Erhängen. Generalgouverneur Badoglio hatte von den Richtern die Todesstrafe wegen [[Hochverrat]]s gefordert. Am 16. September 1931 wurde Omar Mukhtar im Konzentrationslager Soluch als „Bandit“ vor den Augen von 20.000 Gefangenen hingerichtet.<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 201; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 96 (tschechisch); Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 52 f.</ref> Das Todesurteil hatte eine zweifelhafte legale Basis, da der Anführer der Senussi-Kämpfer laut einigen Rechtsanwälten als [[Kriegsgefangener]] zu behandeln gewesen wäre. So verzichtete selbst das ebenfalls für seine repressive Kolonialpolitik bekannte Frankreich auf die Hinrichtung gefeierter Aufstandsführer wie [[Abd el-Kader]] in Algerien oder [[Abd al-Karim]] in Marokko. Das Bestehen der faschistischen Führung auf ihrem „Racheakt“ machte den siebzigjährigen Omar Mukhtar zu einem Märtyrer für die arabische Unabhängigkeit und den islamischen Glauben.<!--Beleg?--> Jedoch erholte sich die ohnehin geschwächte Guerilla von diesem Schlag nicht mehr. Durch den Verlust seines charismatischen Anführers ins Mark getroffen, brach der Widerstand innerhalb weniger Wochen zusammen. Am 24. Januar 1932 meldete Generalgouverneur Badoglio nach Rom, dass das beanspruchte nordafrikanische Territorium nach über 20 Jahren zum ersten Mal vollständig besetzt und „pazifiziert“ sei. Der Krieg war damit offiziell zu Ende.<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 201; Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 96 (tschechisch); Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 53 f; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 93.</ref><br />
<br />
== Folgen ==<br />
=== Opferzahlen ===<br />
Bei den Schätzungen über die Opferzahl des Zweiten Italienisch-Libyschen Krieges bestehen beträchtliche Schwankungen.<ref>Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 30 f.</ref> Das [[Muammar al-Gaddafi|Gaddafi]]-Regime sprach nach seiner Machtübernahme routinemäßig davon, dass während des italienischen Kolonialismus die Hälfte der libyschen Gesamtbevölkerung umgekommen sei (also bis zu 750.000 getötete Libyer).<ref>Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 217.</ref> Diese Angaben werden zwar vereinzelt auch von Historikern aufgegriffen,<ref>Ilan Pappé: ''The Modern Middle East.'' Routledge, London/ New York 2005, S. 26.</ref> jedoch weist der überwiegende Teil der kritischen Geschichtswissenschaft sie als übertrieben zurück. [[Angelo Del Boca]] (2005) schätzt, dass von 1922 bis 1932 mindestens 100.000 der rund 800.000 Libyer dem Krieg zum Opfer fielen. Aram Mattioli (2005) und Hans Woller (2010) nennen die gleichen Zahlen bezüglich der Opfer und der Gesamtbevölkerung. Mattioli fasst dabei jedoch den Zeitraum von 1923 bis 1933 ins Auge, während sich Woller auf den gesamten Eroberungsprozess von 1911 bis 1932 bezieht.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 10 u. 35 f; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 135.</ref> Zu diesen müsse man laut Del Boca (2005) noch die libyschen [[Landmine|Minenopfer]] während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieges]] hinzurechnen.<ref>Angelo Del Boca: ''The Obligations of Italy Toward Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 195–202, hier S. 198.</ref> Dirk Vandevalle (2012) und Ali Abdullatif Ahmida (2006) geben Opferzahlen für die gesamte Kolonialzeit bis 1943 an. Vandevalle geht von 250.000 bis 300.000 mehrheitlich während der faschistischen Ära umgekommenen Libyern aus – bei einer Gesamtbevölkerung von 800.000 bis 1.000.000. Ahmida nennt 500.000 getötete Libyer, setzt die Gesamtbevölkerung jedoch mit 1,5 Millionen deutlich höher an.<ref>Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, Cambridge University Press, New York 2012, S. 31; Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 189.</ref> Die italienischen Truppen verloren dagegen nach offizieller Darstellung 2582 Mann.<ref>John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. 9.</ref><br />
<br />
Eine genaue Opferzahl des Genozids ist nicht zu ermitteln, weil sich in den italienischen Archiven nur wenige Dokumente über die Todesmärsche und Konzentrationslager befinden. Jedenfalls forderten die Deportationen in die Lager und die dortigen Lebensbedingungen weit mehr Opfer unter der cyrenäischen Bevölkerung als die Kämpfe zwischen dem italienischen Militär und den Widerstandskämpfern.<ref name="Nagiah78">Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History''. London/ New York 2020, S. 3, 77 u. 84; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 78; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 214; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 96 f.</ref> In den 1920er Jahren zählten die verschiedenen Stämme der Cyrenaika rund 225.000 Menschen. Bei der Bevölkerungszählung 1931 sank diese Zahl abrupt um 83.000 auf nur noch 142.000 ab und blieb bis zur Volkszählung 1936, die 142.500 Personen ergab, auf diesem Niveau. Die Bevölkerung Tripolitaniens stieg im gleichen Zeitraum von 512.000 auf 600.000 Einwohner an.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 3; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 149; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 96 f.</ref><br />
<br />
Ein Teil des cyrenäischen Bevölkerungsverlustes lässt sich auf die etwa 20.000 Personen zurückführen, die 1930/1931 nach Ägypten flohen.<ref name="Nagiah78" /> Historiker stimmen darin überein, dass in den italienischen Lagern mindestens 40.000 Menschen durch Hunger, Krankheiten, Erschießungen und [[Hängen|Erhängen]] starben.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies 61.'' 2006, Nummer 2, S. 183.</ref> Bezogen auf die vorangegangenen Todesmärsche und Deportationen in die Lager nennen Schätzungen 10.000 bis 15.000 Todesopfer.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 150; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 50; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 134.</ref> Die Maximalschätzungen der Gesamtopfer des Genozids gehen von 60.000 bis 70.000 Toten aus.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Forgotten Voices: Power and Agency in Colonial and Post-Colonial Libya.'' New York 2005, S. 45; Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 183; Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 3 u. 61; Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: Gerhard Schulz (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Göttingen 1985, S. 44–71, hier S. 56.</ref> Damit war innerhalb weniger Jahre durch Zwangsumsiedlungen und Lagerhaft ein Viertel bis ein Drittel<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 80; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 135.</ref> der Gesamtbevölkerung der Cyrenaika umgekommen, wobei noch jene 6.500 Senussi-Kämpfer hinzuzufügen sind, die laut italienischen Aufzeichnungen zwischen 1923 und 1931 bei Feldschlachten getötet wurden.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 97.</ref><br />
<br />
Auch die Herden, die ökonomische Basis der halbnomadischen Bevölkerung, schrumpften im Laufe der kolonialen Eroberung kontinuierlich.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 81; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, S. 210.</ref> Eine osmanische Zählung von 1910 vor Beginn der italienischen Invasion geht für die Cyrenaika von 1.260.000 Schafen und Ziegen, 83.300 Kamelen, 27.000 Pferden und 23.600 Rindern aus. Während der italienischen Militäroperationen von 1923 bis 1928 wurden schätzungsweise 170.000 Nutztiere getötet oder von der Kolonialmacht als Beute beschlagnahmt; jedoch werden die Viehbestände für 1928 immer noch auf rund eine Million geschätzt. Die zwangsumgesiedelten Bewohner des Dschabal Achdar konnten bei ihrer Massendeportation 1930 noch etwa 600.000 Nutztiere mit sich führen. Zur darauf folgenden systematischen Vernichtung der Viehbestände gibt es nur unvollständige, ungefähre und teilweise widersprüchliche Informationen. Trotzdem lassen sich folgende Annäherungswerte ermitteln, die einen Rückgang des Schaf-, Ziegen und Pferdebestandes um 90–95 % sowie Verluste von bis zu 80 % bei Rindern und Kamelen zeigen. Erst nach der vollendeten „Pazifizierung“ Libyens 1932 beschäftigten sich die italienischen Behörden mit der teilweisen Wiederherstellung des cyrenäischen Viehbestandes.<ref>Vgl. Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 38 u. 98 f; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 210–213.</ref><br />
<br />
{| class="wikitable"<br />
|+ Viehbestände in der Cyrenaika 1910–1933<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 98. Die Statistik basiert auf der osmanischen Zählung von 1910, für 1926 auf Angaben des französischen Geographen [[Jean Dépois]], für 1928 auf Angaben des italienischen Kolonialhistorikers [[Raffaele Ciasca]], für 1933 auf Zahlen des britischen Historikers [[Edward E. Evans-Pritchard]] und für die Jahre 1930–1933 auf einem Brief Rodolfo Grazianis vom 26. April 1934 an Italo Balbo.</ref><br />
! !! 1910 !! 1926/1928 !! 1930 !! 1931 !! 1932 !! 1933<br />
|-<br />
| Schafe und Ziegen ||style="text-align:center;"| 1.260.000 ||style="text-align:center;"| 800.000–1.100.000 ||style="text-align:center;"| 270.000 ||style="text-align:center;"| 67.000 ||style="text-align:center;"| 105.000 ||style="text-align:center;"| 123.000–222.000<br />
|-<br />
| Kamele || style="text-align:center;"| 83.000 ||style="text-align:center;"| 40.000–75.000 ||style="text-align:center;"| 39.000 ||style="text-align:center;"| 16.000 ||style="text-align:center;"| 11.000 ||style="text-align:center;"| 2.600–11.500<br />
|-<br />
| Pferde || style="text-align:center;"| 27.000 ||style="text-align:center;"| 14.000 ||style="text-align:center;"| k. A. ||style="text-align:center;"| k. A. ||style="text-align:center;"| k. A. ||style="text-align:center;"| 1.000<br />
|-<br />
| Rinder || style="text-align:center;"| 24.000 ||style="text-align:center;"| 10.000–15.000 ||style="text-align:center;"| 4.700 ||style="text-align:center;"| 1.800 ||style="text-align:center;"| 2.000 ||style="text-align:center;"| 3.000–8.700<br />
|}<br />
<br />
=== Libyen unter faschistischer Herrschaft ===<br />
{{Hauptartikel|Italienisch-Libyen}}<br />
[[Datei:Coat of arms of Libya (1940).svg|miniatur|hochkant|Wappen [[Italienisch-Libyen]]s (1940–1943)]]<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1934.png|mini|hochkant=1.5|Libyen als Teil des faschistischen Kolonialreiches (1934)]]<br />
<br />
Unter faschistischer Verwaltung war Libyen weniger eine afrikanische Kolonie als vielmehr eine Kolonie von Europäern in Afrika, in der italienischen Einwanderern von staatlicher Seite Unterstützung bei der Aneignung und Bewirtschaftung von Land zukam: eine [[Siedlungskolonie]]. Die Herrschaft des Mutterlandes diente in erster Linie den Interessen dieser Siedler.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, 164.</ref> Das Massensterben in Nordafrika kam dabei dem Endziel des faschistischen Kolonisationsprozesses, neuen ''spazio vitale'' („[[Lebensraum-Politik|Lebensraum]]“) zu gewinnen, entgegen. Bis 1939 ließen sich rund 100.000 italienische Siedler in Libyen nieder, was ziemlich genau der Opferzahl entspricht, die die Errichtung des Kolonialregimes unter der einheimischen Bevölkerung gekostet hatte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 53&nbsp;f.</ref> Insgesamt sah der Besiedlungsplan eine Ansiedlung von 500.000 Italienern bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der ''terra promessa'' (dem „gelobten Land“) vor.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 80.</ref><br />
<br />
Die libyschen Besitzungen sollten zu einem Teil Italiens in Nordafrika werden: 1939 wurde Libyens Koloniestatus aufgehoben und die vier nördlichen Provinzen ohne das Saharagebiet vollständig in das Königreich Italien eingegliedert.<ref>Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 209&nbsp;f, Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' SH-Verlag, Köln 2000, S. 189.</ref> Da der kultivierbare Boden bei der Kolonialisierung eine zentrale Rolle einnahm, stand seine Beschlagnahmung im Vordergrund. Mit der Landenteignung wurde die einheimische Bevölkerung in unfruchtbare und für die Landwirtschaft kaum geeignete Gebiete vertrieben, was zur Zerstörung des seit Jahrhunderten bestehenden sozioökonomischen Systems des späteren Libyens führte.<ref name="Nagiah73">Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 73&nbsp;f.</ref><br />
<br />
Dadurch wurden massenhaft Arbeitskräfte freigesetzt, die entweder bei den italienischen Siedlern zu Niedrigstlöhnen arbeiteten oder von der Kolonialverwaltung zum Ausbau der Infrastruktur eingesetzt wurden. Zu den umfangreichen Baumaßnahmen im Rahmen der Masseneinwanderung gehörte die Errichtung von Straßen, Häusern, der ca. 310&nbsp;km langen Eisenbahn sowie der Häfen von Tripolis, Bengasi, Darna und Tobruk, außerdem die Verbesserung des Bodens. Für diese Arbeiten waren die libyschen Arbeitskräfte in den späten 1930er Jahren eine tragende Kraft.<ref name="Nagiah73" /> Somit vollzog sich ein sozialökonomischer Wandel, nämlich die Formierung der libyschen [[Arbeiter]]schaft, wenn auch in einem Frühstadium. Der Ausbau der Infrastruktur und die landwirtschaftliche Entwicklung kamen jedoch ausschließlich den italienischen Siedlern zugute.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 81.</ref> Die koloniale Wirtschaft Libyens schuf im Gegensatz zu jener in den Nachbarländern Ägypten, Algerien und Tunesien keine einheimische vermögende Klasse.<ref>Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, New York 2012, S. 40.</ref> Im Schulwesen konzentrierte sich die italienische Kolonialverwaltung auf staatliche Grundschulen und den Aufbau privater Koranschulen ''(katatib)'', hingegen wurden Möglichkeiten für [[Mittelschule|Mittelschulbesuche]] und [[höhere Bildung]] für Libyer eingeschränkt. 1939 gab es für ganz Tripolitanien nur zwei arabische Mittelschulen in Tripolis, in der Cyrenaika nur eine einzige Mittelschule in Bengasi.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, 166 f.</ref><br />
<br />
Darüber hinaus galt für die ländlichen Gebiete wie für die Städte gleichermaßen die Politik der [[Rassentrennung]], womit sich der italienische Siedlerkolonialismus ab 1938 in einem [[Apartheid (Recht)|Apartheidsystem]] manifestierte.<ref>Aram Mattioli: ''Das faschistische Italien – ein unbekanntes Apartheidregime.'' In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): ''Gesetzliches Unrecht: Rassistisches Unrecht im 20. Jahrhundert.'' Frankfurt am Main/New York 2005, S. 166&nbsp;f u. 172&nbsp;f; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 74&nbsp;f.</ref> Schon seit den 1920er Jahren hatte das faschistische Regime die bisherigen Freiheiten der tripolitanischen und cyrenäischen Bevölkerung allmählich eingeschränkt. Das Recht auf freie Berufsausübung in Italien und die rechtliche Gleichstellung von Italienern und Libyern in der Kolonie selbst wurden ebenso außer Kraft gesetzt wie die Presse- und Meinungsfreiheit.<ref>Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' SH-Verlag, Köln 2000, S. 186; Dies.: ''Das Apartheidsregime in Italienisch-Ostafriika.'' S. 128.</ref> Die ursprünglich privilegierte Stellung der Libyer gegenüber den Einwohnern der italienischen Kolonien in Ostafrika, welche die Faschisten mit einem höheren Zivilisationsniveau begründet hatten, wurde Ende der 1930er Jahre immer stärker aufgehoben.<ref>Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' SH-Verlag, Köln 2000, S. 186 f.</ref> Durch die [[Italienische Rassengesetze|Rassengesetze von 1938]] wurden „Gemischtehen“ zwischen Italienern und Afrikanern als „Schädigung der italienischen Rasse“ eingestuft und untersagt; im Folgejahr wurde dieses Verbot mit dem [[Italienische Rassengesetze (Kolonien)#Gesetz von 1939|zweiten kolonialen Rassengesetz]] auf „eheähnliche Beziehungen“ ausgedehnt sowie durch zahlreiche weitere Bestimmungen ergänzt.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 74&nbsp;f; Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' SH-Verlag, Köln 2000, S. 186 ff.</ref> So konnten Libyer in der Militär- und Zivilverwaltung nur Positionen bekleiden, in denen sie nicht über einen Italiener befehlen konnten. Das Recht, sich zum Bürgermeister einer Gemeinde wählen zu lassen, blieb nur so lange bestehen, wie in dieser Gemeinde kein Italiener ansässig war.<ref>Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' Köln 2000, S. 190.</ref><br />
<br />
Während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] wagte die libysche Bevölkerung, nachdem sie kurzfristig im Rahmen des [[Nordafrikafeldzug]]s 1940/41 von britischen Truppen befreit worden war, mehrere Aufstände gegen die verhasste italienische Kolonialmacht. Die Italiener reagierten hierauf mit brutaler Repression, infolge welcher schätzungsweise mehrere Tausend Araber, Berber und Juden getötet wurden.<ref>Patrick Bernhard: ''Behind the Battle Lines: Italian Atrocities and the Persecution of Arabs, Berbers, and Jews in North Africa during World War II.'' In: ''Holocaust and Genocide Studies'', Band 26, Nr. 3, 2012, S. 425–446, hier S. 425.</ref><br />
Nach der Kapitulation der deutsch-italienischen Truppen im [[Tunesienfeldzug]] wurde Libyen im Mai 1943 unter britische und französische Militärverwaltung gestellt. Im Jahr 1951 wurde es als [[Königreich Libyen]] und erster saharischer Staat unabhängig.<ref>Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''Die Zeit.'' 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015.</ref><br />
<br />
=== Verhandlungen um Reparationen und Kriegsverbrecher ===<br />
Infolge seiner Unabhängigkeit 1951 kam im Königreich Libyen das Thema der Kriegsschäden und Zwangsenteignungen auf, und die libysche Regierung ersuchte Italien um eine gleichwertige Entschädigung. Die Regierung Italiens vertrat hingegen während der Verhandlungen von 1953 bis 1955 den Standpunkt, dass sie für Kriegsschäden in Libyen während des Zweiten Weltkrieges nicht verantwortlich gemacht werden könne, weil Libyen während dieser Zeit ein integraler Bestandteil des italienischen Staates gewesen war. Die während der kolonialen Besetzung Libyens entstandenen Schäden wurden nicht diskutiert, weil keine andere ehemalige europäische Kolonialmacht Zahlungen in dieser Höhe vorgenommen hatte. Letzten Endes einigte man sich im Oktober 1956 auf die sehr bescheidene Summe von 2,75 Milliarden [[Libysches Pfund|libyschen Pfund]] bzw. 4,8 Milliarden [[Italienische Lira|italienischen Lire]]. Im Vereinbarungstext fanden auf die Forderung Italiens hin die Schäden während des Weltkrieges wie auch jene der Kolonialzeit keine Erwähnung; die Gelder flossen unter der Rubrik „Beiträge zur wirtschaftlichen Wiederherstellung Libyens“. Durch diese Formulierung versuchte sich das demokratische Italien von den Verbrechen der Kolonialzeit abzusetzen, allerdings ermöglichte gerade dieser unspezifische Wortlaut erneute libysche Forderungen nach [[Reparationen|Reparationszahlungen]].<ref>Angelo Del Boca: ''The Obligations of Italy Toward Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 195–202, hier S. 198 f.</ref><br />
<br />
Das Königreich Libyen forderte auch die Auslieferung der Generäle [[Pietro Badoglio]] und [[Rodolfo Graziani]]. Dies wurde von Italien – mit Zustimmung der [[Vereinigte Staaten|USA]] und [[Vereinigtes Königreich|Großbritanniens]] – ignoriert und kein einziger als [[Kriegsverbrechen|Kriegsverbrecher]] angeklagter Italiener wurde jemals ausgeliefert.<ref>M. Cherif Bassiouni: ''Crimes Against Humanity in International Law.'' 2., überarbeitete Auflage. Kluwer Law International, The Hague/ London/ Boston 1999, ISBN 90-411-1222-7, S. 549.</ref> Pietro Badoglio wurde nach dem Sturz Mussolinis 1943 italienischer Ministerpräsident und verhandelte einen Waffenstillstand mit den Alliierten, die im Gegenzug seine strafrechtliche Verfolgung verhinderten. Rodolfo Graziani wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Prozess gemacht, jedoch nicht wegen der Massenmorde in Libyen und Äthiopien, sondern aufgrund seiner Kollaboration mit [[NS-Staat|NS-Deutschland]] als Verteidigungsminister des faschistischen [[Italienische Sozialrepublik|Marionettenstaates von Salò]] zwischen 1943 und 1945. Er wurde zu einer 19-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, jedoch nach vier Monaten wieder entlassen. Nach seiner Begnadigung verteidigte Graziani seine Handlungen und Verbrechen in drei Büchern und engagierte sich im [[Neofaschismus|neofaschistischen]] ''[[Movimento Sociale Italiano]]''. Zu Grazianis 130. Geburtstag wurde 2012 in [[Affile]], wo er seine letzten Jahre verbracht hatte, ein Ehrendenkmal inklusive Museum errichtet.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 79 f; Karl Hoffmann: [https://www.deutschlandfunk.de/genozide-italiens-scheinheiligkeit-im-umgang-mit-dem.795.de.html?dram:article_id=357032 ''Italiens Scheinheiligkeit im Umgang mit dem Völkermord.''] In: deutschlandfunk, 13. Juni 2016, abgerufen am 5. April 2020; Aram Mattioli: {{Webarchiv|url=http://www.zeit.de/2005/38/A-Abessininienkrieg |wayback=20150712225819 |text=''Kriegsverbrechen: Der unrichtbare Dritte.'' |archiv-bot=2024-06-21 17:06:26 InternetArchiveBot }} In: ''[[Die Zeit]].'' 31. Dezember 2005, abgerufen am 5. April 2015; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 189; Berthold Seewald: ''Mussolinis Vizekönig verwüstete halb Äthiopien.'' In: welt.de, 16. August 2012, abgerufen am 5. April 2020.</ref><br />
<br />
Während die Alliierten nach 1945 mit den Regimen Deutschlands und Japans in zahlreichen Prozessen abrechneten, blieben die Kriegsverbrechen Italiens ungesühnt. Besonders bei der Strafverfolgung ehemaliger Spitzenmilitärs zeigte sich die Republik Italien wenig kooperationsbereit. Nach der vom kommunistischen Justizminister [[Palmiro Togliatti]] schon am 22. Juni 1946 verfügten [[Amnestie]] unternahmen die italienischen Regierungen alles, um Prozesse gegen eigene Kriegsverbrecher – ob in Abessinien, Libyen oder auf dem Balkan – zu verhindern. Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass die italienische Armee selbst als Bündnispartner des [[Nationalsozialismus|nationalsozialistischen]] Deutschlands einen sauberen Krieg geführt und sich in den besetzten Gebieten nichts habe zuschulden kommen lassen.<ref>Karl Hoffmann: [https://www.deutschlandfunk.de/genozide-italiens-scheinheiligkeit-im-umgang-mit-dem.795.de.html?dram:article_id=357032 ''Italiens Scheinheiligkeit im Umgang mit dem Völkermord.''] In: deutschlandfunk, 13. Juni 2016, abgerufen am 5. April 2020; Aram Mattioli: {{Webarchiv|url=http://www.zeit.de/2005/38/A-Abessininienkrieg |wayback=20150712225819 |text=''Kriegsverbrechen: Der unrichtbare Dritte.'' |archiv-bot=2024-06-21 17:06:26 InternetArchiveBot }} In: ''Die Zeit.'' 31. Dezember 2005, abgerufen am 5. April 2015; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 189.</ref> Auch zeigten sich die ersten Nachkriegsregierungen nicht bereit, die Ansprüche auf die Kolonien aufzugeben. So hoffte die Koalition des [[Democrazia Cristiana|christdemokratischen]] Regierungschefs [[Alcide De Gasperi]] noch jahrelang, wenigstens den vorfaschistischen Überseebesitz zurückzuerhalten. Bezeichnenderweise bestand das Afrika-Ministerium in Rom bis 1953 fort, obwohl bereits der [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Vertrag von Paris]] 1946 offiziell einen Schlussstrich unter die 60-jährige Kolonialherrschaft Italiens gezogen hatte.<ref>Aram Mattioli: {{Webarchiv|url=http://www.zeit.de/2005/38/A-Abessininienkrieg |wayback=20150712225819 |text=''Kriegsverbrechen: Der unrichtbare Dritte.'' |archiv-bot=2024-06-21 17:06:26 InternetArchiveBot }} In: ''Die Zeit.'' 31. Dezember 2005, abgerufen am 5. April 2015.</ref><br />
<br />
=== Italienisch-libysche Beziehungen seit Antritt des Gaddafi-Regimes ===<br />
[[Datei:Muammar al-Gaddafi-09122003.jpg|miniatur|hochkant|[[Muammar al-Gaddafi]] (2003)]]<br />
[[Datei:Silvio Berlusconi 2004.jpg|miniatur|hochkant|[[Silvio Berlusconi]] (2004)]]<br />
<br />
Nach der Absetzung des libyschen Königs Idris durch Muammar al-Gaddafi 1969 erhielten Libyens Reparationsforderungen wieder Nachdruck. Als Italien die erneuten Forderungen ablehnte, nutzte Gaddafi die antiitalienischen Ressentiments der libyschen Bevölkerung zur Konsolidierung seiner Macht. Schon in seinem ersten Herrschaftsjahr wies er die verbliebenen 20.000 Italiener aus und ließ ihren Besitz entschädigungslos enteignen. In den folgenden 30 Jahren machten die italienisch-libyschen Beziehungen kaum Fortschritte. Gaddafi forderte weiterhin regelmäßig finanzielle Entschädigung von Italien, während die italienische Regierung auf dem Standpunkt beharrte, Italien habe mit dem Abkommen von 1956 alle Verpflichtungen erfüllt. Ab den 1980er Jahren stand auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus durch das Gaddafi-Regime einer Aussöhnung im Weg. Gleichzeitig versuchte Gaddafi, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern nicht vollends zu kappen, und schwieg sich bewusst über diplomatisch besonders heikle Themen wie die italienischen Konzentrationslager aus.<ref>Angelo Del Boca: ''The Obligations of Italy Toward Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 195–202, hier S. 198 f; Nicola Labanca: ''La guerra italiana per la Libia. 1911–1931'' [= Der italienische Krieg um Libyen (1911–1931)]. Il Mulino, Bologna 2012, S. 220; Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 138 f.</ref><br />
<br />
Die italienisch-libyschen Beziehungen verbesserten sich erst infolge der schrittweisen Aufhebung der UN-Sanktionen, die von 1998 bis 2003 erfolgte. In einer gemeinsamen Erklärung gestand die italienische Regierung 1998 erstmals in einem kurzen und allgemeinen Text eine Verantwortung für Kolonialverbrechen in Libyen ein. Italien stellte Libyen eine technische Hilfe bei der Räumung von Minen aus dem Zweiten Weltkrieg in Aussicht, nicht jedoch Reparationszahlungen. 1999 folgte eine Staatsvisite des linken Ministerpräsidenten Italiens [[Massimo D’Alema]] in Tripolis. Als erster italienischer Ministerpräsident gedachte D’Alema bei seinem Staatsbesuch vor dem Denkmal von ''Shara Shiat'' öffentlich der Opfer der italienischen Unterdrückungspolitik.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 183; Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 209; Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 138 f; [http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/548303.stm ''Libya denounces terrorism.''] In: ''[[BBC]].'' Abgerufen am 10. Juli 2015; [https://www.un.org/press/en/2003/sc7866.doc.htm ''Security Council Posstpones Action on Lifting Libya Sanctions until 12 September.''] In: un.org, 9. September 2003, abgerufen am 11. November 2020.</ref> Der Aussöhnungsprozess erlebte jedoch auch Rückschläge, besonders durch revisionistische Äußerungen italienischer Politiker. 2003 erklärte Ministerpräsident [[Silvio Berlusconi]], der italienische Faschismus sei „weitaus gutartiger“ gewesen als das Regime des kurz zuvor gestürzten irakischen Diktators [[Saddam Hussein]]. Mussolini habe „niemanden getötet“, sondern die Menschen „in Zwangsurlaub geschickt“, so Berlusconi.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 139 f; [http://www.faz.net/aktuell/politik/empoerung-in-italien-berlusconi-nimmt-mussolini-in-schutz-1114027.html ''Empörung in Italien: Berlusconi nimmt Mussolini in Schutz.''] In: ''[[FAZ]].'' 11. September 2001, abgerufen am 23. Juli 2015.</ref><br />
<br />
Im Sommer 2008 schlossen Italien und Libyen überraschend während des Staatsbesuchs Berlusconis ein „Freundschafts- und Kooperationsabkommen“, in dem sich Italien offiziell für die Kolonialzeit 1911 bis 1943 entschuldigte. Bei der Vertragsunterzeichnung erklärte Berlusconi in Anwesenheit von 300 Angehörigen jener Libyer, die während der Kriegshandlungen nach Italien deportiert worden waren: „Im Namen des italienischen Volkes fühle ich mich verpflichtet, um Entschuldigung zu bitten und unseren Schmerz zu zeigen für das, was geschehen ist und viele eurer Familien gezeichnet hat.“ Der Vertrag sah neben einer engen Zusammenarbeit der Länder in ökonomischer Hinsicht und der Migrationspolitik auch 5 Milliarden US-Dollar (3,4 Milliarden Euro) Wiedergutmachungszahlungen seitens Italiens vor.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 140 f; Julius Müller-Meiningen: [http://www.sueddeutsche.de/politik/italien-und-libyen-suehne-fuer-die-verbrechen-der-kolonialzeit-1.709231 ''Italien und Libyen: Sühne für die Verbrechen der Kolonialzeit.''] In: ''[[Süddeutsche Zeitung]].'' 1. September 2008, abgerufen am 15. Mai 2015.</ref> Bei einem Gegenbesuch Gaddafis 2009 betonten beide Staatschefs die guten freundschaftlichen Beziehungen ihrer Länder. Der Schweizer Historiker Aram Mattioli (2010) würdigte die italienisch-libysche Aussöhnungspolitik beider Staatschefs als „historisch“, kritisierte sie jedoch gleichzeitig aufgrund des dabei praktizierten politischen Kalküls als „modernen Ablasshandel“.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 141.</ref><br />
<br />
== Rezeption in Gesellschaft und Historiographie ==<br />
=== Zeitgenössische Deutungen ===<br />
==== Wahrnehmung in Italien und der internationalen Öffentlichkeit ====<br />
Die Berichterstattung über die „Rückeroberung“ Libyens wurde in Italien von einer ultranationalistischen [[Propaganda]] bestimmt. Hinter dieser stand eine infolge des Ersten Weltkriegs und des aufkommenden Faschismus in den Städten einflussreich gewordene Journalistengruppe. General Graziani wurde in der italienischen Presse als genuin „faschistischer Held“ gefeiert und ihm wurde als Rächer des „Römertums“ gehuldigt.<ref>Enzo Santarelli: ''The Ideology of the Libyan „Reconquest“ (1922–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 9–34, hier S. 18 u. 30; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 66.</ref> Der breiten italienischen Öffentlichkeit wurden Informationen über die von den Kolonialtruppen in Nordafrika begangenen Gräuel aufgrund der herrschenden [[Zensur (Informationskontrolle)|Zensur]] vorenthalten. Das Entstehen einer kritischen Gegenöffentlichkeit wurde damit schon im Ansatz unmöglich gemacht. Obwohl in Libyen großangelegte Militäraktionen durchgeführt wurden, präsentierte die Presse die Feldzüge den Italienern oft nur als „Polizeiaktionen“ oder als „Wiederherstellung der Ordnung“. Vom Ausmaß des genozidalen Akts in der Cyrenaika wusste nur ein eingeweihter Kreis von Offizieren.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 150; Michael R. Ebner: ''Fascist Violence and the ‘Ethnic Reconstruction’ of Cyrenaica (Libya), 1922–1934.'' In: Philip Dwyer, Amanda Nettelbeck (Hrsg.): ''Violence, Colonialism and Empire in the Modern World.'' Cham 2018, S. 197–218, hier S. 203; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 203–226, hier S. 221.</ref><br />
<br />
[[Datei:Plinio Nomellini Libia.jpg|miniatur|''In Libia'', [[Ölmalerei|Ölgemälde]] von [[Plinio Nomellini]] (um 1930)]]<br />
<br />
Gleichzeitig veröffentlichte General Graziani zeitnah mehrere Bücher zu seinen Feldzügen in Libyen, so ''Verso il Fezzan'' („Gegen den Fessan“, 1929), ''Cirenaica pacificata'' („Pazifizierte Cyrenaika“, 1932) und ''La riconquista del Fezzan'' („Die Rückeroberung des Fessan“, 1934). Diese Werke wurden anschließend in Grazianis ''Pace romana in Libia'' („Römischer Friede in Libyen“, 1937) zusammengefasst. In der Arbeit über die Cyrenaika und der anschließenden Zusammenfassung spricht Graziani deutlich von Konzentrationslagern für zehntausende Personen im Sommer 1931, wobei die Veröffentlichungen auch zahlreiche Fotografien der Lager enthalten. Beide Bücher waren in den 1930er Jahren weit verbreitet. Graziani pflegt darin ein [[Apologetik|apologetisches]] [[Narrativ (Sozialwissenschaften)|Narrativ]] und verteidigt die Internierung der cyrenäischen Bevölkerung als Akt der „Zivilisierung“ und „legale“ Bestrafung für eine widerspenstige und gefährliche [[Nomaden]]population.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 26 f; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 150; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung. In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 217 u. 219; Nicolas G. Virtue: ''Technology and Terror in Fascist Italy’s Counterinsurgency Operations: Ethiopia and Yugoslavia, 1936–1943.'' In: Miguel Alonso, Alan Kramer, Javier Rodrigo (Hrsg.): ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' Palgrave Macmilan, 2019, ISBN 978-3-030-27647-8, S. 143–168, hier S. 163.</ref> Seinen ''Faschistischen Limes'' – den hunderte Kilometer langen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Ägypten – verglich er mit der [[Chinesische Mauer|Chinesischen Mauer]].<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' New York 2012, S. 149.</ref> Mit ''Cirenaica verde'' („Die grüne Cyrenaika“, 1931) verfasste auch General Attilio Teruzzi ein Buch, in dem er das Kriegsgeschehen in der Cyrenaika von 1926 bis 1929 festhielt. In seinem Vorwort zu Teruzzis Buch äußerte sich auch Mussolini über die Lage in der Cyrenaika: Diese sei nun „grün durch Pflanzen“ und „rot im Blut“, so der Diktator.<ref>Enzo Santarelli: ''The Ideology of the Libyan „Reconquest“ (1922–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 9–34, hier S. 30 f.</ref><br />
<br />
Die Presse der arabischen Welt griff das in Italien zensierte Thema mit Empörung auf. So beschrieb der zeitgenössische libysche Historiker Tahir al-Zawi die Deportation der Menschen aus der Cyrenaika als den „[[Tag des Jüngsten Gerichts]]“: Die Internierten hätten optisch den in Fetzen gekleideten menschlichen Skeletten geglichen, die laut dem [[Koran]] am Jüngsten Tag von Gott aus ihren Gräbern wiedererweckt werden. In Europa überwog jedoch die Gleichgültigkeit.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 64; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 150; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 203–226, hier S. 221.</ref><br />
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Eine hochgradig kritische Beschreibung der italienischen Kriegsführung lieferte der Däne [[Knud Holmboe]] in dem Reisebericht ''Ørkenen Brænder'' (1931). Auf seiner 1930 von [[Marokko]] bis ins libysche Darna unternommenen Autotour erlebte er bis zu seiner Verhaftung den italienischen Giftgaseinsatz, die Zustände in einem Konzentrationslager nahe der Stadt [[Barke (Libyen)|Barke]] und massenhafte Hinrichtungen. „Das Land schwamm im Blut“<ref>Knud Holmboe: ''Desert encounter : a adventurous journey through Italian Africa''. Übersetzung Helga Holbek. Vorwort [[Jack Herbert Driberg|J. H. Driberg]]. London : George G. Harrap, 1936, S. 203</ref>, so Holmboes Resümee.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' London 2012, S. 148f u. 150f.</ref> Holmboe berichtete auch, die Italiener hätten festgenommene Widerstandskämpfer zur Strafe aus Flugzeugen geworfen oder mit Panzern überfahren lassen. Diese Angaben bewertet John Wright (2012) jedoch als „stark übertrieben“ und auch [[Giorgio Rochat]] (1981) hält fest, dass dieses „weitverbreitete Gerücht“ nicht mit Dokumenten bestätigt werden kann.<ref>Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 70; John Wright: ''A History of Libya.'' London 2012, S. 150.</ref> In seinem 1937 erschienenen Buch ''Italien in der Welt'' beschrieb der österreichische Journalist und Zeitzeuge [[Anton Zischka]] die Deportationen in der Cyrenaika, die er als „eine der größten Völkerwanderungen unserer Zeit“ einstufte.<ref>Zitiert nach Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 67–85, hier S. 78.</ref><br />
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==== Libysche Volksdichtung ====<br />
Die Mehrheit der in den Konzentrationslagern internierten Menschen waren [[Analphabetismus|analphabetische]] Halbnomaden. Daher stellte ihre alte Tradition mündlicher Überlieferungen sowie eine ausgeprägte Volksdichtung (arabisch ''al-Shiʿr al-Shaʿbi'') die zuverlässigsten Methoden für die Aufzeichnung ihrer traumatischen Erfahrungen dar. In dieser Form dienten ihre Erinnerungen als kulturelle Quelle zur emotionalen Läuterung und schöpferischer Ausdrucksweise. Jedes Konzentrationslager hatte somit seine eigenen Dichter, die Aspekte des Völkermords in ihren Werken aufnahmen und festhielten. Das unter den Libyern bekannteste Gedicht ist ''Mabi-Marad ghair dar-al-Agaila'' („Ich bin nicht krank, außer Agaila“) von Rajab Buhwaish al-Minifi. Al-Minifi, ein Korangelehrter aus dem Stamm von Guerillachef Omar Mukhtar, war von 1930 bis 1934 im Konzentrationslager Agaila interniert und verfasste das Gedicht während seiner Haft. Nach der Unabhängigkeitserklärung Libyens am 24. Dezember 1951 wurde es regelmäßig im neugegründeten libyschen Radio ausgestrahlt sowie in zahlreichen Publikationen abgedruckt. Generationen von Libyern wurden so mit dem Gedicht vertraut und somit zumindest ungefähre Erinnerungen an die Konzentrationslager wach gehalten.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 6, 33 f, 63, 67, 94 ff u. 104.</ref><br />
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Das zweite Gedicht, das für die Erinnerung an die Konzentrationslager herausragende Bedeutung erlangte, war ''Ghaith al-Saghir'' („Kleiner Ghaith“) des späteren libyschen Nationaldichters Ahmad Rafiq al-Mahdawi (1898–1961). Al-Mahdawi entstammte einer angesehenen Familie der gebildeten städtischen Mittelschicht, die seit 1911 am antikolonialen Widerstand beteiligt war, und wurde dreimal ins Exil verbannt. 1934 konnte er das Lager Magrun und die Waisenschule besuchen, in der Säuglinge und hungernde Kinder eingeschrieben waren, und verarbeitete diese Erfahrung in dem hundert Zeilen langen Epos ''Ghiath al-Saghir''. Im Unterschied zu al-Manifi, der sein Gedicht ''Madi-Marad'' im lokalen libysch-arabischen Dialekt verfasste, komponierte al-Mahdawi ''Ghaith al-Saghir'' in der arabischen Standardsprache. Ab der Unabhängigkeit 1951 wurde al-Mahdawis Gedicht zur Pflichtliteratur für alle Sechstklässler an libyschen Schulen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 105 f.</ref><br />
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Unter den libyschen Dichtern während des italienischen Eroberungskriegs waren auch viele Frauen. So verfasste Fatima ʿUthamn das Gedicht ''Kharabin Ya Watan'' („Unser zweifach zerstörtes Heimatland“), nachdem sie 1929 Augenzeugin der Erhängung von 19 Männern durch die italienische Armee in ihrer Heimatstadt [[Hon (Libyen)|Hon]] wurde. Als eine weitere bedeutende Dichterin gilt Um al-Khair ʿAbd al-Dayim, die ihre Werke im Konzentrationslager Braiga, dem größten der italienischen Lager, komponierte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 33, 63 u. 71.</ref> Andere libysche Dichter wie Fadhil Hussain al-Shalmani (1877–1952) verarbeiteten in ihren Werken ihr Schicksal auf den zahlreichen italienischen Gefängnisinseln wie [[Favignana]], in denen zwischen 1911 und 1940 ebenfalls tausende Libyer interniert wurden.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 34 f u. 63.</ref> Die Dichtkunst aus den Konzentrationslagern wird in Libyen bis in die Gegenwart bei gesellschaftlichen Versammlungen und in der täglichen Kommunikation rezitiert und gesungen sowie im Internet geteilt.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 67 u. 95.</ref><br />
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=== Rezeption im unabhängigen Libyen ===<br />
{{Mehrere Bilder|Richtung=vertical|align=right|Bild1=Omar Muhkhtar tomb.jpg|Bild2=Банкнота номиналом 10 динаров-cropped.jpg|Bild3=The old pride, again - Flickr - Al Jazeera English.jpg|Breite=220|Untertitel3=''Oben:'' Grabstätte Omar Mukhtars in Bengasi. ''Mitte:'' Abbildung Omar Mukhtars auf einer Banknote der Gaddafi-Ära. ''Unten:'' Plakat Mukhtars in Bengasi (2011)}}<br />
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Der Krieg und die Kolonialzeit wurden [[Geschichtspolitik|geschichtspolitisch]] sowohl im libyschen Königreich unter [[Idris (Libyen)|Idris]] (1951–1969) wie auch im revolutionären Libyen [[Muammar al-Gaddafi]]s (1969–2011) genutzt. Der libysche [[Nationalismus]] nach der Unabhängigkeit griff auf Helden, Märtyrer und Legenden des antikolonialen Widerstands zurück.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''State and Class Formation and Collaboration in Colonial Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 59–72, hier S. 64.</ref> Der Islamgelehrte und Guerillachef Omar Mukhtar, der den Widerstand in der Cyrenaika angeführt hatte und 1931 von den Italienern im Lager Soluch gehängt worden war, wurde zu einem verehrten [[Nationalheld|National- und Volkshelden]]. Auch [[Legitimation (Politikwissenschaft)|legitimieren]] alle libyschen Staatsformen seit der Unabhängigkeit ihre Herrschaft mit Omar Mukhtars antikolonialem Kampf – inklusive der libyschen Regierungen nach dem [[Bürgerkrieg in Libyen 2011|Sturz Gaddafis]] im Jahr 2011.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 47.</ref> Schon unter König Idris wurden Hauptstraßen in Tripolis, Bengasi und Baida nach Mukhtar benannt sowie ein [[Mausoleum]] in Bengasi errichtet.<ref>Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Prag 2015, S. 96 (tschechisch); Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''Die Zeit.'' 15. Mai 2003, S. 3, abgerufen am 30. März 2015; Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 138; John Wright: ''A History of Libya.'' London 2012, S. 151.</ref><br />
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Gaddafi, dessen Geburtsort [[Sirte]] unweit der früheren großen Konzentrationslager Agaila und Braiga liegt, nutzte seit den 1970er Jahren einen antikolonialen Populismus als Werkzeug für die Einführung seines [[Personenkult|Führerkults]] wie auch als Vorwand zur Verfolgung der politischen Opposition. Auch erfolgte in den 1970er Jahren die Gründung des ''Libyan Studies Center'' und die Überführung der Gebeine führender im Exil verstorbener Widerstandskämpfer wie [[Sulaimān al-Bārūnī]]. Sie wurden bei einem Staatsbegräbnis auf dem libyschen Nationalfriedhof in Tripolis beigesetzt.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 129.</ref> Am 7. Oktober gedachte das Gaddafi-Regime mit dem „Tag der Rache“ jahrelang der kolonialen Fremdherrschaft Italiens.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 138.</ref><br />
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1980 entstand das Filmepos ''[[Omar Mukhtar – Löwe der Wüste]]'' des syrischen Regisseurs [[Moustapha Akkad]] als britisch-libysche Koproduktion, die die Geschichte von Omar Mukhtar erzählt. Es handelte sich dabei um den überhaupt ersten Spielfilm, der sich mit italienischen Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Afrika auseinandersetzte. Der Film wurde mit 30 Millionen US-Dollar vom Gaddafi-Regime finanziert und war in Italien lange Zeit verboten, da er als schädlich für die Ehre der Armee galt. Erst 2009 wurde er erstmals im italienischen Fernsehen ausgestrahlt, während des offiziellen Besuchs von Gaddafi in Italien.<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 201 u. 202, Anm. 11; Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 81; [http://newsv1.orf.at/071105-18303/?href=http%3A%2F%2Fnewsv1.orf.at%2F071105-18303%2F18304txt_story.html ''Ein Epos über die Italiener.''] In: ''orf.at'', abgerufen am 8. Juli 2015; Wolf Jahnke: [http://www.getidan.de/kolumne/wolf_jahnke/38213/omar-mukhtar-%E2%80%93-lowe-der-wuste-moustapha-akkad ''Omar Mukhtar – Löwe der Wüste (Moustapha Akkad).''] In: ''www.getidan.de'', abgerufen am 8. Juli 2015.</ref> Eine weitere Filmproduktion, die aus libyscher Perspektive den italienischen Kolonialkrieg thematisiert, ist der 1981 in Großbritannien und Tunesien gedrehte Kriegsfilm ''[[Tagrift – Aufstand der Verdammten]]'' (Ma’rakat Taqraft), in dessen Zentrum die Schlacht um die strategisch wichtige Oase Tagrift steht.<ref>{{LdiF|36722|Tagrift – Aufstand der Verdammten|Abruf=2020-04-11}}</ref><br />
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Auch die poetische Rezeption des Krieges und Genozids setzte sich nach der Unabhängigkeit fort. Nach dem Tod des ''Mabi-Marad''-Schöpfers al-Minifi 1952 verfassten viele Dichter poetische Antwort auf sein Werk. ''Mabi-Marad'' inspirierte außerdem zwei Theaterstücke: Das Werk ''al-Muʿtaqal'' („Das Konzentrationslager“) des ägyptischen Schriftstellers Shawqi Khamis wurde in einer Inszenierung des Libyers Salim Fitur in Tripolis, Bengasi, Kairo sowie auf dem ''Arab Theater Festival'' 1975 in Damaskus aufgeführt; das Theaterstück ''al-Agaila'' des libyschen Autors Muhammed Salih al-Gamudi wurde 1977 vom libyschen Regisseur Muhammed al-Alagai umgesetzt. Der libysche Schriftsteller und Aktivist Tailb al-Rwaili schrieb die dramatische Radioserie ''al-Shabardag'' („Das Konzentrationslager“), die 1961 im libyschen Radio ausgestrahlt wurde. Auch viele gegenwärtige libysche Romanautoren wurden von Erfahrungen mit dem Genozid beeinflusst. Die bekanntesten Beispiele sind Khalifa Hussain Mustafas ''al-Jarima'' („Das Verbrechen“), Ahmed al Fituris Roman ''Sirib'' („Das alte Narrativ“) und Abd al-Rasul Uraibis ''Sanawet al-ʿAdab al Siʿba'' („Die sieben Jahre des Leidens“).<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 104 f u. 107.</ref><br />
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Gleichzeitig versäumte der libysche Staat entgegen der offiziellen Erinnerungspolitik des Gaddafi-Regimes eine Erhaltung und Restauration der italienischen Konzentrationslager und trug laut Ahmida (2020) sogar zu ihrer geschichtlichen Marginalisierung bei. Ebenfalls versagt habe das Regime bei der nicht erfolgten Produktion von Dokumentationsfilmen zur Fortbildung der jüngeren libyschen Generation. In einer von Ahmida durchgeführten Umfrage an libyschen Universitäten konnten die Studenten im Osten des Landes, deren Großeltern massiv direkt von der Internierung betroffen gewesen waren, detaillierte Schilderungen der Ereignisse vorweisen, während das Wissen der westlichen Studenten in erster Linie auf dem Film ''Omar Mukhtar – Löwe der Wüste'' basierte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 43 f, 48 u. 132.</ref><br />
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=== Erinnerung und Zensur in Italien ===<br />
Die Erinnerungspolitik der 1946 gegründeten Republik Italien war laut [[Wolfgang Schieder]] (2006) davon bestimmt, die faschistische Vergangenheit „einfach zu ignorieren“.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 184.</ref> Laut Schieder ist für ein Verständnis des italienischen Erinnerungsdiskurses entscheidend, dass Italien zunächst engster Verbündete des nationalsozialistischen Deutschland, von 1943 bis 1945 jedoch teilweise deutsches Besatzungsgebiet war. Es sei „diese doppelte Erfahrung mit faschistischer Gewaltherrschaft einerseits und nationalsozialistischer Unterdrückung andererseits, welche den Umgang der Italiener mit ihrer faschistischen Vergangenheit so schwierig machte“.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 184.</ref> Bis in die 1990er Jahre, teilweise sogar bis in die Gegenwart, habe keine bewusste Auseinandersetzung mit der langen Ära des Faschismus stattgefunden. Die historische Identitätsfindung der Republik Italien vollzog sich nahezu ausschließlich über die Erinnerung an den antifaschistischen Kampf der [[Resistenza]] gegen die deutsche Besatzung.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 185.</ref><br />
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Italiens antifaschistische Intellektuelle, Filmemacher und Politiker konzentrierten ihre Kritik am Faschismus auf das italienische Kernland, schwiegen jedoch zu dem italienischen Genozid in Afrika. Dieses Schweigen wurde auch in der Massenkultur reproduziert, beispielsweise im international gefeierten Kino des italienischen [[Poetischer Realismus (Film)|Realismus]] und [[Italienischer Neorealismus|Neorealismus]], und spielte laut Ahmida (2020) somit auch eine Rolle bei der Herausbildung des Mythos eines „moderaten“ italienischen Faschismus. Weiter popularisiert wurde dieses Bild durch weitere, auch romantisierende Filme wie ''[[Mediterraneo (Film)|Mediterraneo]]'' (1991), ''[[Tee mit Mussolini]]'' (1999) und ''[[Corellis Mandoline]]'' (2001). Kritische Filme hingegen wurden in Italien Opfer einer Politik, die Historiker als „Zensur“ kritisieren. So wurde 1980 gegen die Ausstrahlung des Spielfilms ''[[Omar Mukhtar – Löwe der Wüste]]'' (1979) vom Unterstaatssekretär des Außenministeriums ein Veto eingelegt, da dieser dem Ansehen der italienischen Streitkräfte schade. Erst 1988 setzen sich die Organisatoren des Filmfestivals von Rimini über das Verbot hinweg und machten den Film einem großen Publikum zugänglich. Bei der [[BBC]]-Dokumentation ''[[Fascist Legacy]]'' (1989), welche die italienischen Verbrechen in Äthiopien, Libyen und Jugoslawien sowie deren Nichtahndung nach dem Zweiten Weltkrieg thematisierte, erwarb das italienische Staatsfernsehen [[Rai – Radiotelevisione Italiana|RAI]] die Rechte am Film, die italienische Fassung des Regisseurs [[Massimo Sani]] wurde jedoch nie ausgestrahlt. Einem begrenzten Publikum wird der Dokumentarfilm bei Historikertagungen und Filmfestivals zugänglich gemacht.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 54, 115 f u. 171; Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 202; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 181.</ref><br />
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Wolfgang Schieder urteilte 2006, in Italien interessiere man sich bisher noch wenig für die Opferbilanzen in den italienischen Besatzungs- und [[Annexion]]sgebieten. Dennoch sei „das unangenehme Thema irgendwie gesellschaftsfähig geworden“, und Schieder hebt die bemerkenswerte Veröffentlichung mehrerer ganzseitiger Artikel durch die linksliberale Tageszeitung ''La Repubblica'' im März 2006 hervor, in denen schonungslos die italienischen Kriegsverbrechen in Libyen dokumentiert wurden. Dies sei „vor kurzer Zeit noch unmöglich gewesen“.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 194&nbsp;ff.</ref> Einen großen Anstoß zur Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen des faschistischen Italien lieferte 2008 der beim [[History (Fernsehsender)|History Channel]] ausgestrahlte Dokumentarfilm ''Mussolini’s Dirty War / La guerra sporca di Mussolini'' unter der Regie von Giovanni Donfrancesco und der Beratung der Historikerin Lidia Santarelli. Darin werden neben dem hauptsächlich thematisierten Massaker im griechischen Domenikon auch die italienischen Verbrechen in Libyen, Äthiopien und Jugoslawien angesprochen.<ref>Paolo Fonzi: ''Beyond the Myth of the ‘Good Italian’. Recent Trends in the Study of the Italian Occupation of Southeastern Europe during the Second World War.'' In: ''Südosteuropa'', Band 65, Nr. 2, 2017, S. 239–259, hier S. 249; Beschreibung des Filminhalts bei [http://www.italiandoc.it/area/public/wid/NCO/video.htm ''La Guerra Sporca di Mussolini.''] In: italiandoc.it, abgerufen am 28. August 2020.</ref><br />
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=== Beurteilung der italienischen Kolonialpolitik ===<br />
==== ''Brava-Gente''-Mythos und „Megatötungsregime“ ====<br />
Das brutale Vorgehen Italiens in Libyen wird auch als Beweis gegen den Mythos eines „gutartigen“ italienischen Faschismus und „anständigen Italienern“ ''(italiani brava gente)'' angeführt. Ein Verdrängungsprozess der italienischen Gesellschaft gegenüber den eigenen kolonialen Verbrechen setzte bereits in der Ära des liberalen Italien ein und intensivierte sich deutlich während der Zeit des faschistischen Regimes. Im Rahmen dieses sogenannten ''[[Brava-Gente-Mythos|Brava-Gente]]''-Mythos wurde in kolonialen Zeitschriften ein Bild des Italieners als eines unvergleichbaren Erbauers von Straßen, Krankenhäusern und Schulen vermittelt. Außerdem wurde ein Unterschied zu anderen Kolonisatoren konstruiert: Der Italiener sei unternehmensfreudiger und dynamischer, aber auch gutherziger, freigiebiger und toleranter.<ref>Vgl. Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 146; Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 198&nbsp;ff; Angelo Del Boca: ''Italiani, brava gente? Un mito duro a morire'' [= Italiener, anständige Leute? Ein nicht tot zukriegender Mythos]. Neri Pozza, Vicenza 2005, [[passim]].</ref> Dieser [[Geschichtsmythos]] überdauerte die italienische Niederlage im Zweiten Weltkrieg und durchdrang laut Del Boca (2004) auch „alle Dokumente […], die die ersten Regierungen der Republik den Vereinten Nationen oder anderen internationalen Instanzen in dem – letztlich gescheiterten – Versuch vorlegten, wenn schon nicht alle, so doch wenigstens einige der präfaschistischen Kolonien zu retten“.<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 199.</ref> Das Bild eines italienischen Kolonialismus, der im Verhältnis zur englischen und französischen Variante „humaner“ und „weniger rassistisch“ sei, wurde von Italiens konservativer Geschichtsschreibung gefördert, reichte aber bis hin zu linken Publizisten wie [[Giorgio Bocca]].<ref>Francesco Germinario: ''Gas und „zivilisatorischer Kolonialismus“. Eine historisch aufschlußreiche Debatte im sommerlichen Italien.'' In: ''Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21.Jahrhunderts'', 11. Jg., Heft 2, 1996, S. 97–109, hier S. 102 u. 105 f ([https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN884817873_0011%7CLOG_0039 online]); Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' u. a Paderborn 2010, S. 76.</ref><br />
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{{Doppeltes Bild|rechts|Knud Holmboe Gallow Benghazi 1930.jpg|200|Knud Holmboe Gallow 2 Benghazi 1930.jpg|200|{{center|Die italienische Kolonialmacht in [[Bengasi]] hängt die Widerständler öffentlich (1930)}}}}<br />
Dem libyschen Historiker Abdulhakim Nagiah (1995) zufolge kann die Parole einer „zivilisatorischen Mission“ angesichts der auf libyschem Boden verübten Gräueltaten und ihren verheerenden Folgen „nur als Zynismus aufgefasst werden“. Der Ausbau von Infrastruktur und Landwirtschaft sei allein den italienischen Siedlern zugutegekommen, während das libysche Volk die Deformation seines sozioökonomischen Systems, die Ausschaltung seiner Administration, die Zwangsvertreibung in unfruchtbare Gebiete, [[Rassismus|rassistische]] Segregation, die Verhinderung qualifizierter Ausbildung und eine enorme Opferzahl erlitten habe. Die Kolonialherrschaft Italiens habe in keiner Weise zu einer Entwicklung der libyschen Gesellschaft geführt, vielmehr seien die bereits vorhandene Unterentwicklung noch vertieft und vorhandene Entwicklungspotentiale außer Funktion gesetzt worden.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 81.</ref> Für Hans Woller (2010) zeigte der Faschismus in Afrika schon in den 1920er Jahren sein „wahres Gesicht“, wozu ein „penetrantes Sendungsbewusstsein, ein maßloses Überlegenheitsgefühl und eine gehörige Portion Rassismus“ gehört hätten. Mussolini habe dort keine Rücksicht zu nehmen brauchen und auch keine Sanktionen der Großmächte befürchten müssen.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 135.</ref> Ähnlich schreibt auch [[Stanley Payne]] (2006) in seinem Standardwerk ''Geschichte des Faschismus'', dass sich das „grausamste Gesicht des Faschismus“ im Ausland viel offener gezeigt habe als in der inländischen Politik. Libyen sei als wichtigstes koloniales Besitztum Italiens schließlich befriedet worden, aber nur um den Preis „einer gegen die Zivilbevölkerung gerichteten rücksichtslosen Militärpolitik“.<ref>Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Tosa Verlag, Wien 2006, S. 289.</ref><br />
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Für den italienischen Historiker [[Nicola Labanca]] (2010) entwickelte sich der italienische Feldzug in der Cyrenaika ab 1930 zu einem [[Totaler Krieg|totalen Krieg]] und [[Vernichtungskrieg]].<ref>Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer (Hrsg.): ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 194–210, S. 208 f.</ref> In seiner Studie zum späteren Abessinienkrieg betont Aram Mattioli (2005), dass dem Mussolini-Regime von Beginn an ein hohes Gewaltpotenzial inhärent gewesen sei, welches sich in Nordafrika bereits im ersten Jahrzehnt der faschistischen Herrschaft auslebte. Mit seinen rund 100.000 Opfern habe Libyen schon in dieser Zeitperiode mehr Tote zu beklagen gehabt, als der von deutschen Truppen begangene [[Völkermord an den Herero und Nama]] im [[Deutsch-Südwestafrika|kolonialen Namibia]] forderte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 35&nbsp;f. u. 54.</ref> Zur historischen Einordnung der italienischen Politik in Afrika führt Mattioli weiter aus:<br />
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{{Zitat|[…] die Tatsache, dass Mussolinis Diktatur nicht frei von ‚verbrecherischem Massenmord‘ war und sich schon zu einem ‚Megatötungsregime‘ entwickelt hatte, als der deutsche Reichskanzler [[Adolf Hitler]] den deutschen Lebensraumkrieg im Osten und die damit verbundene Vernichtung ganzer Völker nur plante, [hat] nie einen Niederschlag in den europäischen Erinnerungskulturen gefunden. Fast vollends in Vergessenheit geriet, dass die ersten Menschen, welche die Schergen der späteren Achsenmächte im großen Stil ermordeten, Afrikaner waren. Nur schon deshalb, aber auch der hohen Opferzahlen wegen müssen Italiens Eroberungs- und Pazifizierungskriege in Nord- und Ostafrika künftig als wichtige Wegmarken in einer vergleichenden Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Beachtung finden. Jedenfalls überstiegen sie in ihrer Brutalität das, was die anderen Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg zur Niederringung afrikanischer Widerstands- oder Unabhängigkeitskämpfer sonst militärisch zu unternehmen bereit waren.|ref=<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 189.</ref>}}<br />
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Beim Vergleich mit anderen Kolonialmächten stimmen Historiker darin überein, dass der italienische Libyenkrieg von 1922 bis 1932 in seiner Brutalität das Vorgehen aller anderen europäischen Staaten in Afrika nach dem Ersten Weltkrieg übertraf.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 189 u. 217.</ref> Im Hinblick auf die gesamte europäische Kolonialgeschichte wird das Vorgehen Italiens in seinen unter direkten Herrschaft stehenden Kolonien jedoch kontrovers diskutiert. Während beispielsweise Del Boca (2004) und Rochat (1981) keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem italienischen Kolonialismus und dem anderer Kolonialmächte ausmachen,<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 194; Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931). In: Enzo Santarelli et al.: Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 35–116, hier S. 79.</ref> machen Hans Woller (2010) und Enzo Santarelli (1981) insbesondere bei der faschistischen Afrikapolitik einen qualitativen Unterschied an Brutalität aus.<ref>Enzo Santarelli: ''The Ideology of the Libyan „Reconquest“ (1922–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 9–34, hier S. 12; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 135.</ref> Laut Hisham Sharabi (1966) sei Italiens Kolonialpolitik in Libyen jedenfalls „die vielleicht schlimmste, die ein arabisches Land jemals in modernen Zeiten erfahren hat“,<ref>Zitiert nach Ingrid Tere Powell: ''Managing Colonial Recollections. Italian-Libyan Contentions.'' In: ''Interventions'', Band 17, Nr. 3, 2015, S. 452–467, hier S. 454.</ref> und Ahmida (2020) zählt sie neben dem [[Kongogräuel]], dem Völkermord in Namibia und dem [[Algerienkrieg]] zu den vier schlimmsten genozidalen Verbrechen in der Geschichte des Kolonialismus in Afrika.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 26.</ref><br />
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==== Libyen als „Schule der Gewalt“ ====<br />
In der historischen Beurteilung des Zweiten Italienisch-Libyschen Kriegs wird dessen Bedeutung als Vorgeschichte zum späteren italienischen Angriffs- und Eroberungskrieg auf das [[Kaiserreich Abessinien]] 1935 betont. So urteilt der Schweizer Historiker Aram Mattioli (2004 und 2005), dass „der erste große Krieg, den das faschistische Italien führte“, für die oberste politische und militärische Führung des Landes zu einer Schlüsselerfahrung wurde. Ein harter Kern von Karriereoffizieren habe hier eine „Schule der Gewalt“ durchlaufen, in der „ihre zivilisatorischen Standards vollends deformiert wurden“. Die Barriere zum Massenmord an der zivilen Bevölkerung sei hier von den italienischen Kommandeuren das erste Mal überwunden worden. Die zur Routine gewordene brutale Gewalt habe die Täter abgestumpft. Diese Saat der nordafrikanischen Gewalterfahrung sei dann während des [[Abessinienkrieg]]es wieder aufgegangen, in dem sich alte Libyen-Kämpfer in den höchsten Kommandopositionen unrühmlich hervortaten, besonders Emilio De Bono, Pietro Badoglio und Rodolfo Graziani.<ref>Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 222; siehe auch ebd., S. 204; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 155.</ref><br />
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Auch John Gooch (2005) zufolge hatten die Italiener im Libyenkrieg die Zeit und die militärische Kapazität, um die für einen Sieg notwendigen Erfahrungen zu sammeln.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1005.</ref> Ebenso urteilt die Schweizer Historikerin [[Giulia Brogini Künzi]] (2006), dass der italienische Expansionsschub in Nordafrika für den Abessinienkrieg in mancherlei Hinsicht ein Testfeld für neue Kriegsmethoden und Waffen beziehungsweise ein wichtiges Trainingslager für Kombattanten darstellte. „Ohne die Kriegserfahrung in Nordafrika“, so Brogini Künzi, „wäre der Abessinienkrieg niemals so radikal ausgefallen und er hätte sich vermutlich auch wesentlich länger hingezogen“.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u.&nbsp;a. 2006, S. 146&nbsp;f.</ref> John Wright (2012) bezeichnet den italienischen Krieg um Libyen als von Mussolini beabsichtigte „Kampfschule“, die sowohl auf dem italienischen Festland als auch darüber hinaus „gutes Propagandamaterial für den militanten Faschismus“ geliefert habe. Die offenkundige Rücksichtslosigkeit, die für den Abessinienkrieg charakteristisch wurde, sei in Libyen jedoch erst in der letzten Kriegsphase zu Tage getreten.<ref>John Wright: ''A History of Libya.'' London 2012, S. 137.</ref><br />
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==== Einordnung als Völkermord ====<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Das goldene [[Fasces|Liktorenbündel]] auf der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteifahne]] der Faschisten]]<br />
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Die historische Bedeutung des Krieges sieht Mattioli (2004) vor allem darin, dass „das faschistische Italien zu keiner anderen Zeit und in keinem anderen Gebiet den Tatbestand des Völkermords so eindeutig erfüllte, wie während der ‘Wiedereroberung Libyens’ zwischen 1923 und 1932“. Ihm zufolge trifft dieser Befund mit Sicherheit auf die „Schreckensherrschaft in der Cyrenaika“ zu.<ref>Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 205 u. 219.</ref> Auch für Michael R. Ebner (2018) erfüllt Italiens militärisches Vorgehen in der Cyrenaika ab 1930 zahlreiche Definitionen von Völkermord. Dieser sei zwar nicht „beispiellos“ gewesen, aber „sicherlich außerordentlich“. Die faschistische Kolonialpolitik sei dabei einer „Logik der Eliminierung“ gefolgt, im Zuge derer „die Wirtschaft, Kultur und die sozialen Praktiken der Menschen der Region vernichtet wurden“.<ref>Michael R. Ebner: ''Fascist Violence and the ‘Ethnic Reconstruction’ of Cyrenaica (Libya), 1922–1934.'' In: Philip Dwyer, Amanda Nettelbeck (Hrsg.): ''Violence, Colonialism and Empire in the Modern World.'' Cham 2018, S. 197–218, hier S. 214 f.</ref><br />
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Die Einschätzung, dass sich der italienische Kolonialkrieg zu einem [[Völkermord|Genozid]] an der libyschen Bevölkerung entwickelte, vertreten libysche Forscher wie Ali Abdullatif Ahmida, Yusuf Salim al-Burghati, Muhammad T. Jerary oder Abdulhakim Nagiah<ref>Zur Beurteilung der genannten libyschen Historiker, die die Ereignisse in der Cyrenaika als Völkermord beurteilen, vgl. Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 145, Muhammad T. Jerary: ''Damages Caused by the Italian Fascist Colonization of Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 203–208, hier S. 206; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 80.</ref>, aber auch italienische Historiker wie Angelo Del Boca, [[Nicola Labanca]], Giorgio Rochat und Enzo Santarelli sowie der historische Journalist Eric Salerno.<ref>Zur Einordnung als Genozid durch italienischen Historiker vgl. die Aufzählungen bei Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 223, Anm. 7, und die Aufzählung bei Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 145 sowie zu Enzo Santarelli ders.: ''The Ideology of the Libyan „Reconquest“ (1922–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' London 1986 [1981], S. 9–34, hier S. 29.</ref> Ebenso beurteilen die beiden Genozidforscher [[Samuel Totten]] und [[Paul R. Bartrop]] (2007) in ihrem zweibändigen ''Dictionary of Genocide'' das italienische Vorgehen in Libyen ab 1929 als Völkermord,<ref>Samuel Totten, Paul R. Bartrop: ''Dictionary of Genocide: Volume 1: A–L.'' Greenwood Press, London 2008, S. 259.</ref> auch die US-amerikanische Historikerin Ruth Ben-Ghiat (2004) spricht von einem „Genozid in Libyen“.<ref>Ruth Ben-Ghiat: ''A Lesser Evil? Italian Fascism in/and the Totalitarian Equadation.'' In: Helmut Dubiel, Gabriel Motzkin (Hrsg.): ''The Lesser Evil. Moral Approaches to Genocide Practices.'' Routledge, London/New York 2004, ISBN 0-7146-8395-7, S. 137–153.</ref> Der kanadische Historiker [[David William Atkinson|David Atkinson]] (2012) zieht diese Schlussfolgerung bezogen auf die Ereignisse in der Cyrenaika: Es sei ein „Genozid an ihren nomadischen und halb-nomadischen Völkern in einem System von Konzentrationslagern“ realisiert worden.<ref>David Atkinson: ''Encountering Bare Life in Italian Libya and Colonial Amnesia in Agamben.'' In: Marcelo Svirsky, Simone Bignall (Hrsg.): ''Agamben and Colonialism.'' Edinburgh University Press, Edinburgh 2012, ISBN 978-0-7486-4925-9, S. 155–177.</ref><br />
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Als Fazit zum bisherigen Forschungsstand hält die italienisch-US-amerikanische Historikerin Roberta Pergher (2018) fest, dass der Begriff „Genozid“ bezogen auf die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre praktizierte Politik Italiens in der Cyrenaika nicht mehr umstritten sei, da das untersuchte Archivmaterial „ohne jeden Zweifel die Bereitschaft der italienischen Führung zur Auslöschung der gesamten Bevölkerung“ belege.<ref>Roberta Pergher: ''Mussolini’s Nation-Empire. Sovereignty and Settlement in Italy’s Borderlands, 1922–1943.'' Cambridge 2018, S. 47.</ref> Ahmida (2020) betont, dass es sich bei dem Völkermord in der Cyrenaika um den ersten Genozid nach dem Ersten Weltkrieg und den dritten Genozid im 20. Jahrhundert nach jenem an den Herero und Nama sowie dem [[Völkermord an den Armeniern]] handelte.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History. Routledge, London/ New York 2020, S. 2 u. 25.</ref><br />
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==== Vergleiche mit dem Nationalsozialismus ====<br />
Die italienischen Wüstenlager in der Cyrenaika waren die historisch ersten Konzentrationslager, die von einem [[Faschismus|faschistischen]] Regime errichtet wurden.<ref>Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f.; Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 79.</ref> Im Vergleich mit den Lagern der anderen Kolonialmächte erwiesen sie sich als „außergewöhnlich brutal“ ([[Nicola Labanca]]), und auch die Deportation einer gesamten Bevölkerung stellte verglichen mit dem Kolonialismus des liberalen Italien eine beispiellose Maßnahme dar.<ref>Nicola Labanca: ''Italian Colonial Internment.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 27–36, hier S. 27 u. 31 f.</ref> Aufgrund ihrer hohen Sterberate (um 40 %) werden mindestens die fünf größten und brutalsten dieser italienischen Einrichtungen, in denen die meisten der Opfer umkamen, von Historikern auch als „Todeslager“ ''(death camps)'' oder „Vernichtungslager“ bezeichnet.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 9, 47 u. 61; Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 195 f; Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51.</ref> So hielt Aram Mattioli im Jahr 2003 in einem Artikel für ''[[Die Zeit]]'' fest: „Italien war das erste faschistische Regime, das ganze Volksgruppen deportierte und in Todeslagern zugrunde gehen ließ.“<ref>Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''Die Zeit.'' 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015.</ref> Vereinzelt wird Italiens Genozid in der Cyrenaika auch in die Nähe der späteren [[Nationalsozialismus|nationalsozialistischen]] Vernichtungspolitik gerückt, oder sogar von einem „italienischen [[Holocaust]]“ gesprochen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 135; Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 10 ff, 120, 171–173; Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 195 f; Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 181; Samuel Totten, Paul R. Bartrop: ''Dictionary of Genocide: Volume 1: A–L.'' Greenwood Press, London 2008, S. 259.</ref> Die italienischen Konzentrationslager gelten jedoch allgemein als „nicht vergleichbar“ mit den späteren „[[Vernichtungslager|Vernichtungsfabriken]]“, wie sie das deutsche NS-Regime während des Zweiten Weltkrieges betrieben hat.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51.</ref> Auch geben Historiker zu bedenken, dass die einheimische Bevölkerung Libyens zwar erheblich unter der faschistischen Herrschaft litt, jedoch die Massenverbrechen Italiens im Gegensatz zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden nicht auf die totale Vernichtung eines „Rassenfeindes“ abzielten.<ref>Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 87.</ref><br />
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[[Datei:Bundesarchiv Bild 146-1969-065-24, Münchener Abkommen, Ankunft Mussolini.jpg|miniatur|Mussolini und Hitler in München (1938)]]<br />
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In diesem Zusammenhang bekräftigt auch Wolfgang Schieder (1985), dass zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland ein deutlicher Unterschied bezogen auf die Massenvernichtung der Juden bestehe. Dieser Unterschied spreche jedoch vor dem Hintergrund der „faschistischen Vernichtungspolitik in Afrika“ nicht gegen einen „Vergleich des Vernichtungswillens“ beider Regimes: „Vielmehr ist festzuhalten, dass sich das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis auf der Ebene der Verfolgung ihrer Opfer zwar in der Konsequenz und Unerbittlichkeit der Unterdrückung unterschieden, jedoch im Ansatz ähnlich waren.“<ref>Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: [[Gerhard Schulz (Historiker)|Gerhard Schulz]] (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Göttingen 1985, S. 57.</ref> Laut Roman Herzog (2016) könne man bezogen auf das Vorgehen des Mussolini-Regimes in Afrika die Hypothese von einer „andersartigen Vernichtungspolitik aufstellen, die sich zwar grundsätzlich von der industriell geplanten Vernichtung der Nationalsozialisten unterschied, gleichwohl aber eine nicht unerhebliche Anzahl von Todesopfern zur Folge hatte und im Falle Äthiopiens wie Libyens genozidialen Charakter trug“.<ref>Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f.</ref> Die amerikanische Historikerin [[Ruth Ben-Ghiat]] (2004) erkennt einerseits an, dass es den italienischen faschistischen Verbrechen im Vergleich zu denen der Nationalsozialisten an Ausmaß und „kritischer Masse“ fehle. Angesichts des von den Italienern verübten Völkermords in Libyen, ihrer Beteiligung an [[Ethnische Säuberung|ethnischen Säuberungen]] auf dem Balkan, des massenhaften Giftgaseinsatzes in Äthiopien und weiterer Verbrechen sieht sie andererseits die Notwendigkeit, den bildlichen Ausdruck vom „kleineren Übel“ des italienischen Faschismus kritisch zu überprüfen.<ref>Ruth Ben-Ghiat: ''A Lesser Evil? Italian Fascism in/and the Totalitarian Equadation.'' In: Helmut Dubiel, Gabriel Motzkin (Hrsg.): ''The Lesser Evil. Moral Approaches to Genocide Practices.'' Routledge, London/New York 2004, ISBN 0-7146-8395-7, S. 137–153, hier S. 148 und die Anmerkungen zu Ben-Ghiats Studie bei Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 180.</ref><br />
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[[Datei:Italian and German flags - june 1943.png|miniatur|Kriegsflaggen der Verbündeten Deutschland und Italien (1943)]]<br />
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Über die genauen Ursachen und Absichten des Völkermords in der Cyrenaika wird in der Forschung weiterhin kontrovers diskutiert (so die Frage, ob der Genozid nun als „De-Facto-Politik“ einer rein militärischen Präventivmaßnahme erfolgte, oder ob er auch mit einer bewussten Absicht zusammenhing, durch eine „ethnische Rekonstruktion“ Platz für italienische Siedlerfamilien zu schaffen).<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 77; Michael R. Ebner: ''Fascist Violence and the ‘Ethnic Reconstruction’ of Cyrenaica (Libya), 1922–1934.'' In: Philip Dwyer, Amanda Nettelbeck (Hrsg.): ''Violence, Colonialism and Empire in the Modern World.'' Cham 2018, S. 197–218, hier S. 213–215; Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f; Nicola Labanca: ''Italian Colonial Internment.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 27–36, hier S. 31 f.; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51.</ref><br />
Gleichzeitig beklagt der libysch-US-amerikanische Historiker Ali Abdullatif Ahmida (2009) angelehnt an Ben-Ghiats Arbeit ein „Schweigen der meisten vergleichenden Faschismusforscher“ zum Völkermord in Libyen und diagnostiziert einen „erschreckenden Fall historischer Amnesie“. Diese sei mitverantwortlich für den Mythos eines italienischen Faschismus, der anders als das NS-Regime nicht in Massenmorde verwickelt und daher „ein moderates, weniger böses oder sogar gutartiges Regime“ gewesen sei.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 146 u. 150; Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 179.</ref> Die Kritiker des italienischen Faschismus fokussieren sich laut Ahmida (2020) zu sehr auf Italiens Rassengesetze von 1938, obwohl klar sei, dass sich der [[Antisemitismus]] unter den italienischen Faschisten erst spät durchgesetzt hat. Würden die in Libyen und Äthiopien begangenen Verbrechen nicht berücksichtigt, trage dieser Umstand zum Mythos eines „moderaten“ italienischen Faschismus bei.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 71.</ref> Ebenfalls kritisiert Ahmida (2006), dass die Opfer der deutschen Nationalsozialisten in Europa aufgrund „[[Eurozentrismus|eurozentristischer]]“ Perspektiven allgemein mehr gewichtet werden würden, als die Opfer der italienischen Faschisten in den afrikanischen Kolonien.<ref>Vgl. Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 176.</ref><br />
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Während einerseits der Holocaust für Historiker überwiegend einen „grundlegenden Unterschied“ zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien darstellt, wird andererseits in neueren Forschungsarbeiten auf eine „historische Kontinuität“ beim Siedlungsprogramm der beiden Regimes verwiesen.<ref>Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 61 u. 87.</ref> Dem deutschen Historiker Patrick Bernhard (2016) zufolge habe das Mussolini-Regime gerade bei seiner Politik in Afrika nicht die Rolle eines „unbedeutenden Anhängsels des überlegenen NS-Staates“ eingenommen. Im Gegenteil habe der italienischen Faschismus mit seinem großangelegten Siedlungsprogramm, in dessen Rahmen 1,5 bis 6,5 Millionen Italiener in den afrikanischen Kolonien angesiedelt werden sollten, als „Inspiration“ für die deutschen Nationalsozialisten und deren [[Generalplan Ost|Siedlungsplanungen in Osteuropa]] gedient, die ein Ansiedlung von 16 Millionen deutschen Kolonisten vorsah:<ref>Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 61.</ref><br />
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: „Für das nationalsozialistische Deutschland dienten die italienischen Praktiken und Erfahrungen im kolonialen Bevölkerungsmanagement als Vorbild und ‚best practice‘-Beispiel, das die deutschen Pläne für die Besiedlung und ethnische Neugestaltung Osteuropas entscheidend beeinflusste.“<ref>Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90, hier S. 63.</ref><br />
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Dabei habe der NS-Staat bewusst den früheren Kolonialismus des [[Deutsches Kaiserreich|Deutschen Kaiserreiches]] verworfen. Zwischen 1938 und 1941 erschienen in Deutschland zahlreiche Bücher über den italienischen Siedlerkolonialismus, und der NS-Staat studierte das italienische „Erfolgsmodell“ eingehend. Einige Delegationen mit deutschen Wissenschaftlern, Städteplanern, Biologen und Agrarexperten wurden in die Kolonie entsandt. Ebenso wurden Funktionäre der faschistischen Staatspartei zu Seminaren über Libyen nach Deutschland eingeladen.<ref name ="Ahmida2020">Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 10, 119 f. u. 172 f; Patrick Bernhard: ''Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-Afrika 1935 bis 1943.'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer (Hrsg.): ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 147–175, hier S. 157 f, 170 f u. 174 f.</ref> Deutlich wird das deutsche Interesse auch an den Besuchen führender NS-Politiker wie [[Hermann Göring]], [[Heinrich Himmler]] und [[Rudolf Heß]], die 1937 und 1938 mit der Kolonialverwaltung in Libyen zusammentrafen. Dabei wurden unter maßgeblicher Mitwirkung Himmlers Trainingsprogramme für 150 [[Schutzstaffel|SS]]-Offiziere an den italienischen Kolonialschulen in [[Tivoli (Latium)|Tivoli]] und Rom organisiert. 1939 reisten Göring und Himmler erneut nach Libyen.<ref name ="Ahmida2020" /><br />
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== Forschungsgeschichte ==<br />
=== Italienische Forschung ===<br />
In Italien wurde zunächst über Jahrzehnte hinweg der ganz überwiegende Teil der Zeithistoriker von der politischen Linken auf das Forschungsprogramm um den antifaschistischen Widerstandskampf der [[Resistenza]] verpflichtet. Auch das Lager der bürgerlichen Rechten hatte zunächst kein Interesse daran, sich mit der Geschichte des Faschismus auseinanderzusetzen, und arrangierte sich mit dieser historiographischen Ausrichtung. Große Teile der italienischen Führungseliten von Christdemokraten und Liberalen waren – ähnlich wie später nach dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien – zuvor schon im Faschismus politisch aktiv gewesen (zum Beispiel der mehrfache italienische Ministerpräsident [[Amintore Fanfani]]). Um nicht von der eigenen Vergangenheit eingeholt zu werden, verkürzten sie daher diese nur zu gern in stillschweigender Handlungseinheit mit der Linken auf die Zeit der Resistenza.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 187.</ref><br />
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Versuche zur Eröffnung einer landesweiten historischen Debatte über den italienischen Kolonialismus wurden konsequent bekämpft. Auch bemühten sich staatliche Institutionen um die Bewahrung eines Monopols über einige Archive. Gleichzeitig startete eine revanchistische Historiographie Bemühungen zur offenen Verdrängung der kolonialen Schuld. Exemplarisch für diese Geschichtsschreibung nennt Angelo Del Boca (2004) die fünfzig dicken Bände der Reihe ''Italien in Afrika'', hervorgebracht vom 1952 gegründeten ''Comitato per la documentazione dell’opera dell’Italia in Africa'' („Komitee für die Dokumentation der Errungenschaften Italiens in Afrika“). Von den 24 Mitgliedern des Komitees waren 15 ehemalige Gouverneure von Kolonien oder hohe Beamte der Kolonialverwaltung; auch bei den übrigen handelte es sich Del Boca zufolge um „Afrikanisten mit ausgesprochen kolonialistischen Überzeugungen“. Man habe ein unvergängliches Denkmal errichten wollen „für den Italiener, der Zivilisation und Wohlstand bringt, Städte und beeindruckende Verkehrsnetze baut und ein Modellkolonisator und Vorbild für die nach Fortschritt dürstenden autochthonen Bevölkerungen ist“.<ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 200&nbsp;f.</ref> Dabei ignorierte die italienische Kolonialgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit systematisch die von bedeutenden britischen und französischen Wissenschaftlern wie [[Edward E. Evans-Pritchard]] (''The Sanusi of Cyrenaica'', 1949) oder [[Jean-Louis Miège]] (''L’imperialisme colonial italien de 1870 á nos jours'', 1968) veröffentlichten Arbeiten.<ref name ="Rochat1988">Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 213, 217 f.</ref><br />
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==== Einfluss von Renzo De Felice ====<br />
Die „vorsätzliche Verweigerung der Anerkennung der dokumentarischen Realität“ in der frühen Nachkriegs-Historiographie wich in der späteren gemäßigten Geschichtsschreibung einer „Hülle des Schweigens“. So klammerte der Historiker [[Renzo De Felice]] in seiner monumentalen Mussolini-Biographie die Maßnahmen der „Wiedereroberung“ Libyens und die persönliche Verantwortung des Diktators aus, obwohl Mussolini stets genau informiert war und häufig neue Massaker befürwortete.<ref name ="Rochat1988" /> De Felice gehörte zu einer Gruppe rechtsliberal orientierter junger römischer Historiker, die sich ab Mitte der 1960er Jahre als Erste der Erforschung des Faschismus zuwandten. Mit seiner schließlich acht umfangreiche Bände umfassenden Biographie des italienischen Duces machte sich De Felice inner- und außerhalb Italiens als führender Faschismusforscher einen Namen. Von 1975 bis 1996 verfügte er in Italien unter allen Historikern über die bei weitem höchste Medienpräsenz. Dabei kritisiert Aram Mattioli (2010), dass De Felice mit seiner ganzen wissenschaftlichen Autorität öffentlich immer stärker als Anwalt und „Stichwortgeber des [[Geschichtsrevisionismus]]“ in Erscheinung getreten sei.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 31 u. 34; Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 188–192.</ref><br />
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De Felice verneinte die Existenz einer dem faschistischen Italien eigenen Rassenideologie und beschrieb Mussolinis Diktatur als autoritäres, wenig gewalttätiges, ja paternalistisches Regime, nicht aber als totalitäre und damit dem nationalsozialistischen Deutschland vergleichbare Diktatur. Dabei maß De Felice weder Mussolinis Eroberungskriegen noch den blutigen Besatzungsherrschaften in Libyen, Äthiopien und auf dem Balkan eine entscheidende Bedeutung bei. Das faschistische Italien, dem Völkermord vollkommen fremd gewesen sei, stand für De Felice „außerhalb des sengenden Lichtkegels des Holocaust“ und sei „vor der Anklage des Genozids geschützt“.<ref>Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn u.&nbsp;a. 2010, S. 34&nbsp;f; Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 191.</ref> Über die Zeitschrift ''Journal of Contemporary History'' beeinflusste De Felice mit seinen Thesen auch die englischsprachige Literatur stark. Erst ab 2010 erschienen in den Fachzeitschriften ''Journal of Modern Italian Studies'' und ''Italian Studies'' laut Ahmida (2020) mehr kritische Artikel zum italienischen Kolonialismus und Völkermord in Libyen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 58.</ref><br />
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==== Formierung der kritischen Forschung ====<br />
Zu den frühesten Pionieren der kritischen italienischen Forschung, die umfangreiche Arbeiten über den Kolonialismus und Krieg in Libyen lieferten, gehören Giorgio Rochat (''Il colonialismo italiano'', 1973), Claudio G. Segrè (''Fourth Shore: The Italian Colonization of Libya'', 1974), Angelo Del Boca (''Gli italiani in Libia. Bd. 2: Dal fascismo a Gheddafi'', 1988) sowie Eric Salerno (''Genocidio in Libia'', 1979). Die Monographie von Rochat sowie die journalistische Darstellung von Salerno gelten auch als die frühesten Arbeiten, die den Genozid in der Cyrenaika thematisieren. 1981 veröffentlichten Enzo Santarelli et al. eine Essay-Sammlung über den libyschen Widerstand und die Konzentrationslager zwischen 1929 und 1939, die 1986 auch ins Englische übersetzt wurde (''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya'', London 1986). Eine herausragende Rolle spielte insbesondere das Werk Del Bocas, in dem er seine Forschungen aus fast einem Dutzend verschiedener Archive zusammenführte. Auf diesen Vorarbeiten bauten spätere Historikergenerationen auf, so in den 2000er Jahren Nicola Labanca und Federico Cresti, aber auch ausländische Historiker wie John Wright, Brian McLaren, Dirk Vandevalle und Mia Fuller.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 180 f; Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 2 u. 180; Ders.: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 202; Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 223.</ref><br />
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Im Jahr 2005 veröffentlichte Angelo Del Boca eine aktualisierte Version seines zweibändigen Standardwerks zum italienischen Kolonialismus in Libyen, und auch Eric Salerno veröffentlichte im gleichen Jahr eine aktualisierte Auflage seiner Studie.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 58.</ref> Mit dem ebenfalls 2005 erschienen ''Italiani, brava gente? Un mito duro a morire'' setzte sich Del Boca unter anderem mit dem Mythos des Frieden stiftenden und zivilisierenden Italieners während der italienischen Kolonialzeit auseinander. Er stellte dabei die italienischen Konzentrationslager in der Cyrenaika auf eine Stufe mit den vom „Dritten Reich“ betriebenen Vernichtungslagern und deckte den konstruierten [[Brava-Gente-Mythos|Mythos des „guten Italieners“]] auf, der dem Stereotyp eines kalten, mechanischen und unsensiblen Deutschen gegenübergestellt wurde.<ref>Antonio Schiavulli: ''Angelo Del Boca: Italiani brava gente? Un mito duro a morire.'' In: ''Intersezioni. Rivista di storia delle idee.'' XXVI. Jahrgang, Nummer 2, Dezember 2006, S. 490–493, hier S. 491 f</ref> Die Legende vom zivilisationsstiftenden Italien wird auch von Giuseppe Scruto (''Il falso mito degli italiani brava gente: il colonialismo, la Libia, i crimini fascisti'', 2020) aufgegriffen. Dabei unterstreicht er die unbewältigte und verharmlosende Aufarbeitung nach 1945 durch ehemalige Faschisten, die in der italienischen Nachkriegsrepublik wieder zu Macht und Ansehen gelangt waren.<ref>{{Internetquelle|url=http://www.rifondazione.it/primapagina/?p=43471|werk=rifondazione.it|autor=Stefano Galieni|titel=Italiani brava gente? Un libro utile per ricostruire un filo nero da tagliare|datum=2020-07-22|zugriff=2020-08-31|sprache=it}}</ref><br />
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Die Geschichte des antikolonialen Widerstands in der Cyrenaika gilt gegenwärtig als besser erforscht denn jene des tripolitanischen Widerstands. Als Ursache dafür werden die Prominenz des cyrenäischen Senussi-Ordens unter seinem Guerillachef Omar Mukhtar sowie die dort lokalisierten berüchtigten Konzentrationslager betrachtet. Zum Widerstand in Tripolitanien während und vor der faschistischen Ära legte Angelo Del Boca 2007 (2011 in der englischen Übersetzung) eine Arbeit mit Schwerpunkt auf den Widerstandskämpfer Mohamed Fekini vor.<ref>Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 3.</ref> Nach dem teilweisen Schuldeingeständnis für die in der Kolonialzeit verursachten Schäden in Libyen durch die italienische Regierung 1998 kam es zu einer neuen Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen italienischen und libyschen Historikern des ''Istituto Italiono per l’Africa e l’Oriente'' und des ''Libyan Studies Center''. Diese Kooperation resultierte in drei wissenschaftlichen Tagungen; die Ergebnisse von zwei davon wurden Anfang der 2000er Jahre veröffentlicht. Die italienische Regierung versprach zudem die Bereitstellung von Ortsangaben über die im Staat verbliebenen Landminen sowie Informationen über das Schicksal vieler zwischen 1911 und 1943 ins Exil verbannter Libyer.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, 2006, Nummer 2, S. 175–190, hier S. 190.</ref><br />
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=== Libysche Forschung ===<br />
Die Bedingungen für eine schriftliche Festhaltung der libyschen Erfahrungsgeschichten während der italienischen Kolonialherrschaft waren zunächst ungünstig. Die hohe Analphabetenquote und die Tatsache, dass Tripolitanien, Fessan und Cyrenaika erst unter faschistischer Herrschaft zum heutigen Libyen vereinigt worden waren, führten dazu, dass das Land ohne eine etablierte verschriftlichte Historiographie aus der Kolonialzeit austrat. Bedeutend war auch der Umstand, dass Libyen nach dem Krieg und Genozid noch bis 1943 eine italienische Kolonie blieb und danach bis 1951 unter britischer und französischer Verwaltung stand. Die einzigen libyschen Publikationen zu den Verbrechen Italiens stellten zwei Bücher der in Damaskus lebenden libyschen Exilanten dar, ''Fadiʿ al-Istiʿmar al-Itali al-Fashisti fi Tarabulus Wa Barqa'' („Der Horror des italienischen faschistischen Kolonialismus“) von Bashir al-Siʿdawi (1931) und ''Al-Fadiʿ al-Sud al-Humr'' („Der Schwarze Rote Horror des Italienischen Kolonialismus“), das 1932 durch ein Autorenkollektiv veröffentlicht wurde. Eine aktualisierte dritte Ausgabe des zweiten Buches erschien 1948 in Kairo. Alle drei Ausgaben wurden nur auf Arabisch veröffentlicht und in arabischen und islamischen Ländern viel gelesen, jedoch erschienen keine vergleichbaren libyschen Publikationen in einer europäischen Sprache.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 115; Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 180.</ref><br />
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Im unabhängigen Königreich Libyen war das einflussreichste Buch zur libyschen Geschichte die Arbeit von Edward E. Evans-Pritchard (''The Sanusi of Cyrenaica'', Oxford 1949), der als britischer Offizier von 1942 bis 1944 bei den Stämmen des Dschabal Achdar lebte und während der Militärverwaltung (1943–1951) Geheimdienstberichte für die britische Armee schrieb. In seiner frühen Analyse ging Evans-Pritchard auch auf die brutale italienische Politik in der Cyrenaika ein. Neuen Antrieb erhielt die libysche Historiographie über die Zeit der faschistischen Okkupation ab 1969 unter Muammar al-Gaddafi. Dieser präsentierte sich als Fortsetzer einer Tradition des antikolonialen Widerstands Omar Mukhtars. Jedoch wurde erst mit dem 1978 gegründeten ''Libyan Studies Center'' und dessen großen Forschungs- und [[Oral History|Oral-History]]-Projekten eine libysche Wissensgrundlage zum italienischen Kolonialismus und seinen postkolonialen Hinterlassenschaften geschaffen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 180; Angelo Del Boca: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' New York 2011, S. 2 f; Giorgio Rochat: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf: Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, S. 205–219, hier S. 217.</ref><br />
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Das ''Libyan Studies Center'' in Tripolis, das seit seiner Gründung unter der Leitung des libyschen Historikers [[Mohamed Jerary]] steht, gilt neben den Universitäten Bengasi und Sabha als das bedeutendste Forschungsinstitut in Libyen zur Thematik des Krieges und Genozids. Eines der wichtigsten Projekte des Instituts war die Einrichtung einer Forschungsabteilung für Oral History, die libysche Zeitzeugenberichte als Primärquellen sammelt, um den Mangel an libyschen Selbstzeugnissen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auszugleichen.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 31 u. 35; Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 184; Muhammad T. Jerary: ''Damages Caused by the Italian Fascist Colonization of Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 203–208, hier S. 204f.</ref> Die vom Libyan Studies Center gesammelten Interviews stellen auch die Grundlage einer wesentlichen Arbeit der libyschen Forschung dar, der Monographie ''Al-Muʿtaqalat al-Fashistiyya bii Libia'' („Die faschistischen Konzentrationslager in Libyen“, 1993) des Historikers [[Yusuf Salim al-Barghati]]. Es handelt sich um die bisher einzige detaillierte arabischsprachige Darstellung über die Konzentrationslager, und laut Ahmida (2020) auch im Hinblick auf ausländische Studien „noch immer die beste“. Jedoch greife die Arbeit zu wenig auf archivalische Quellen sowie die Ergebnisse der vergleichenden Faschismus- und Genozidforschung zurück.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 35 u. 49; Muhammad T. Jerary: ''Damages Caused by the Italian Fascist Colonization of Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 203–208, hier S. 205 f; Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' State University of New York, New York 2009 [1994], S. 150; Vgl. auch die Literaturangabe zu Yusuf Salim al-Barghathi bei Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 246.</ref><br />
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Ein in der bisherigen postkolonialen Historiographie Libyens kaum untersuchter Aspekt ist laut Ahmida (2005) die Frage der [[Kollaboration]] während der italienischen Besetzung. Eine Ursache dafür sieht er dabei in der nationalistischen libyschen Geschichtsschreibung. Quellen zur Kollaboration wie Memoiren und andere Dokumente würden von betroffenen Familien immer noch zurückgehalten. Die postkoloniale libysche Forschung tendiere dazu, die Motive der ''mutalinin'' (der „italienisch gewordenen“ Kollaborateure) auf einen mangelhaften moralischen Charakter zu reduzieren.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''State and Class Formation and Collaboration in Colonial Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 59–72, hier S. 64.</ref> Auch Abdulhakim Nagiah (1995) urteilt, dass in der arabischen Literatur die Opferrolle der Kolonisierten überbetont werde, während die vorhandenen „eurozentristischen“ Publikationen umgekehrt der Situation der Kolonisierten kaum Beachtung schenken würden.<ref>Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Hamburg 1995, S. 67.</ref> Eine zusammenfassende Rekonstruktion der Deportationen und Konzentrationslager mit Fokus auf libysche Zeitzeugenberichte bietet Ali Abdullatif Ahmida in seinem 2006 erschienenen Essay ''When Subaltern Speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933''. Darin geht er auch der Frage nach, warum in öffentlichen Medien und wissenschaftlichen Studien das Bild eines im Vergleich zum deutschen Nationalsozialismus „gutartigen“ italienischen Faschismus weiterbestehe.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190, hier S. 175 u. 184.</ref><br />
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Im Hinblick auf den vom italienischen Faschismus verübten kolonialen Genozid urteilt Ahmida (2009), dieser bleibe – mit Ausnahme von einigen couragierten Forschern – ein „obskures Ereignis für alle außer dem libyschen Volk und seinen mündlichen Überlieferungen“.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' New York 2009, S. 146.</ref> Im Jahr 2020 veröffentlichte Ahmida mit ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History'' die erste monographische Gesamtdarstellung zum Völkermord in der Cyrenaika in englischer Sprache.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 2–16, 26 u. 35.</ref> Im Jahr 2023 veröffentlichte die [[University of Cambridge]] einen Artikel Ahmidas über den Genozid in der Cyrenaika von 1929 bis 1934 im dritten Band der von ihr herausgegebenen ''Cambridge World History of Genocide''.<ref>Ali Abdullatif Ahmida: ''Eurocentrism, Silence and Memory of Genocide in Colonial Libya, 1929–1934.'' In: <br />
Ben Kiernan et al. (Hg.): ''The Cambridge World History of Genocide. Volume 3: Genocide in the Contemporary Era, 1914–2020.'' Cambridge University Press, Cambridge 2023, S. 118–140.</ref><br />
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== Anhang ==<br />
=== Literatur ===<br />
'''Studien zum Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg und dem Genozid'''<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''Eurocentrism, Silence and Memory of Genocide in Colonial Libya, 1929–1934.'' In: Ben Kiernan et al. (Hg.): ''The Cambridge World History of Genocide. Volume 3: Genocide in the Contemporary Era, 1914–2020.'' Cambridge University Press, Cambridge 2023, S. 118–140.<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' Routledge, London/ New York 2020, ISBN 978-0-367-46889-7. ([https://aro-isig.fbk.eu/issues/2021/2/genocide-in-libya-luca-castiglioni/#_ftnref1 Rezension]).<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''When the Subaltern speak: Memory of Genocide in Colonial Libya 1929 to 1933.'' In: ''Italian Studies.'' Band 61, Nummer 2, 2006, S. 175–190.<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''State and Class Formation and Collaboration in Colonial Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' Palgrave Macmillian, New York 2005, ISBN 978-0-230-60636-4, S. 59–72.<br />
* [[Angelo Del Boca]]: ''Mohamed Fekini and the Fight to Free Libya.'' Palgrave Macmillan, New York 2011, ISBN 978-0-230-10886-8. (Übersetzt von Anthony Shugaar)<br />
* Michael R. Ebner: ''Fascist Violence and the ‘Ethnic Reconstruction’ of Cyrenaica (Libya), 1922–1934.'' In: Philip Dwyer, Amanda Nettelbeck (Hrsg.): ''Violence, Colonialism and Empire in the Modern World.'' Palgrave Macmillan, Cham 2018, ISBN 978-3-319-87430-2, S. 197–218.<br />
* John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032. ([[DOI:10.1080/01402390500441024]])<br />
* [[Nicola Labanca]]: ''La guerra italiana per la Libia. 1911–1931.'' [= Der italienische Krieg um Libyen (1911–1931)]. Il Mulino, Bologna 2012, ISBN 978-88-15-24084-2. (italienisch)<br />
* Nicola Labanca: ''Italian Colonial Internment'' (= ''Italian and Amercian Studies''). In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' Palgrave Macmillan, New York 2005, ISBN 978-0-230-60636-4, S. 27–36.<br />
* [[Aram Mattioli]]: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941'' (= ''Kultur – Philosophie – Geschichte.'' Band 3). Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca. Orell Füssli, Zürich 2005, ISBN 3-280-06062-1. ([http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7221&count=4915&recno=1&type=rezbuecher&sort=datum&order=down Rezension]). (Darin enthaltenes Kapitel „Libyen – Schule der Gewalt“, S. 41–54)<br />
** Die Kapitel „Die italienische Expansion nach Nordafrika“ und „Libyen – Schule der Gewalt“ sind eine weitgehend textgleiche Fassung von Aram Mattioli: ''Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923–1933.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 203–226.<br />
* Abdulhakim Nagiah: ''Italien und Libyen in der Kolonialzeit: Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1995, ISBN 3-89173-042-X, S. 67–85.<br />
* Marella Nappi: ''La « pacification » italienne de la Cyrénaïque (1929–1933).'' In: ''Revue d’Histoire de la Shoah'', 2008/2 (N° 189), S. 465–496. ([https://www.cairn.info/revue-revue-d-histoire-de-la-shoah-2008-2-page-465.htm?contenu=article online bei cairn.info], französisch)<br />
* Ferdinando Pedriali: ''L’aeronautica italiana nelle guerre coloniali. Libia 1911–1936: dallo sbarco a Tripoli al governatorato Balbo.'' [= Die italienische Luftwaffe in den Kolonialkriegen. Libyen 1911–1936: von der Landung in Tripolis bis zum Gouverneur Balbo] Aeronautica Militare-Ufficio Storico, Rom 2008. (italienisch)<br />
* [[Giorgio Rochat]]: ''Der Genozid in der Cyrenaika und die Kolonialgeschichtsschreibung.'' In: Sigrid Faath, Hanspeter Mattes (Hrsg.): ''Wuqûf. Beiträge zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft in Nordafrika.'' Nr. 3, 1988, ISBN 3-924577-06-4, S. 205–219.<br />
* Giorgio Rochat: ''The Repression of Resistance in Cyrenaica (1927–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' Darf Publishers, London 1986 [1981], ISBN 1-85077-095-6, S. 35–116.<br />
* Federica Saini Fasanotti: ''Libia 1922–1931. Le operazioni militari italiane.'' [= Libyen 1922–1931: die italienischen Militäroperationen]. Stato maggiore dell’Esercito, Ufficio storico, Rom 2012, ISBN 978-88-96260-28-9. (italienisch)<br />
* Eric Salerno: ''Genocidio in Libia. Le atrocità nascoste dell’avventura coloniale italiana (1911–1931).'' [= Der Genozid in Libyen. Die unentdeckten Gräuel des italienischen kolonialen Abenteuers (1911–1931)]. Manifestolibri, Rom 2005, ISBN 88-7285-389-3. (italienisch)<br />
* Enzo Santarelli: ''The Ideology of the Libyan „Reconquest“ (1922–1931).'' In: Enzo Santarelli et al.: ''Omar Al-Mukhtar: The Italian Reconquest of Libya.'' Darf Publishers, London 1986 [1981], ISBN 1-85077-095-6, S. 9–34.<br />
* Claudio G. Segrè: ''Fourth Shore. The Italian Colonization of Libya.'' University of Chicago Press, Chicago 1974.<br />
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'''Historische Überblickswerke'''<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''Forgotten Voices. Power and Agency in Colonial and Post-Colonial Libya.'' Taylor & Francis Group/Routledge, New York 2005, ISBN 978-0-415-94987-3.<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''The Making of Modern Libya. State Formation, Colonization and Resistance, 1830–1932.'' 2. Auflage. State University of New York, New York 2009 [1994], ISBN 978-1-4384-2891-8.<br />
* Anna Baldinetti: ''The Origin of the Libyan Nation. Colonial legacy, exile and the emergence of a new nation-state.'' Rouledge, New York 2010, ISBN 978-0-415-47747-5.<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' (= ''Krieg in der Geschichte.'' Bd. 23). Schoeningh, Paderborn 2006, ISBN 3-506-72923-3 (Zugleich: Bern, Universität, Dissertation, 2002) ([http://nbn-resolving.de/urn%3Anbn%3Ade%3Abvb%3A12-bsb00061122-5 Volltext]). (Darin enthaltenes Kapitel „Die Eroberung Tripolitaniens und der Cyrenaika“, S. 145–151)<br />
* Eduard Gombár: ''Dějiny Libye'' [= Geschichte Libyens]. Nakladatelství Lidové noviny, Prag 2015, ISBN 978-80-7422-363-1. (tschechisch)<br />
* Roberta Pergher: ''Mussolini’s Nation-Empire. Sovereignty and Settlement in Italy’s Borderlands, 1922–1943.'' Cambridge University Press, Cambridge 2018, ISBN 978-1-108-41974-1.<br />
* Ronald Bruce St John: ''Historical Dictionary of Libya.'' 5. Ausgabe, Rowman & Littlefield, Maryland 2014, ISBN 978-0-8108-7875-4.<br />
* Dirk Vandevalle: ''A History of Modern Libya.'' 2. Auflage, Cambridge University Press, New York 2012, ISBN 978-1-107-61574-8.<br />
* Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' Verlag C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
* John Wright: ''A History of Libya.'' Columbia University Press, New York 2012, ISBN 978-0-231-70167-9. (Darin enthaltene Kapitel „La Riconquista“, S. 131–152 und „Fourth Shore“, S. 153–168)<br />
<br />
''' Rezeption, Aufarbeitung, Forschung '''<br />
* Gabriele Bassi: ''Sudditi di Libia.'' [= Libysche Untertanen]. Mimesis, Mailand/Udine 2018, ISBN 978-88-575-4436-6. (italienisch)<br />
* Patrick Bernhard: ''Hitler’s Africa in the East: Italian Colonialism as a Model for German Planning in Eastern Europe.'' In: ''Journal of Contemporary History.'' Band 51, Nr. 1, 2016, S. 61–90.<br />
* Patrick Bernhard: ''Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-Afrika 1935 bis 1943.'' In: [[Lutz Klinkhammer]], [[Amedeo Osti Guerazzi]], [[Thomas Schlemmer]] (Hrsg.): ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945'' (= ''Krieg der Geschichte'', Band 64). Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn u. a. 2010, ISBN 978-3-506-76547-5, S. 147–175.<br />
* Angelo Del Boca: ''Italiani, brava gente? Un mito duro a morire.'' [= Italiener, anständige Leute? Ein nicht tot zukriegender Mythos]. Neri Pozza, Vicenza 2005, ISBN 88-545-0013-5. (italienisch)<br />
* Angelo Del Boca: ''The Obligations of Italy Toward Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' Palgrave Macmillian, New York 2005, ISBN 978-0-230-60636-4, S. 195–202.<br />
* Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 193–202.<br />
* Angelo Del Boca: ''The Myths, Supressions, Denials, and Defaults of Italian Colonialism.'' In: Patrizia Palumbo (Hrsg.): ''A Place in the Sun. Italian Colonial Culture from Post-Unification to the Present.'' University of California Press, Berkeley/Los Angelos/London 2003, S. 17–36.<br />
* Muhammad T. Jerary: ''Damages Caused by the Italian Fascist Colonization of Libya.'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' Palgrave Macmillian, New York 2005, ISBN 978-0-230-60636-4, S. 203–208.<br />
* Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn u.&nbsp;a. 2010, ISBN 978-3-506-76912-1.<br />
* Ingrid Tere Powell: ''Managing Colonial Recollections. Italian-Libyan Contentions.'' In: ''Interventions'', Band 17, Nr. 3, 2015, S. 452–467.<br />
* [[Wolfgang Schieder]]: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' (= ''Italien in der Moderne.'' Bd. 13) SH-Verlag, Köln 2006, ISBN 978-3-89498-162-4.<br />
* Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: Gerhard Schulz (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, ISBN 3-525-36189-0, S. 44–71.<br />
* Giuseppe Scuto: ''Il falso mito degli italiani brava gente. Il colonialismo, la Libia, i crimini fascisti.'' [= Der falsche Mythos der anständigen Italiener. Der Kolonialismus, Libyen, die faschistischen Verbrechen]. EditorialeNovanta, Rom 2020, ISBN 978-88-94977-41-7. (italienisch)<br />
<br />
'''Sonstige Literatur'''<br />
* Aram Mattioli: ''Das faschistische Italien – ein unbekanntes Apartheidregime.'' In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): ''Gesetzliches Unrecht: Rassistisches Unrecht im 20. Jahrhundert.'' Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2005, ISBN 3-593-37873-6, S. 155–178.<br />
* [[Helmut Mejcher]]: ''Umar al-Mukhtar: Seine Person und sein Wirken im Spiegel zeitgenössischer deutscher Berichterstattung.'' In: Sabine Frank, Martina Kamp (Hrsg.): ''Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung.'' Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1995, ISBN 3-89173-042-X, S. 86–107.<br />
* [[Stanley Payne]]: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Tosa Verlag, Wien 2006, ISBN 978-3-85003-037-3.<br />
* Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941.'' (= ''Italien in der Moderne.'' Band 8). SH-Verlag, Köln 2000, ISBN 3-89498-093-1. (Darin enthaltenes Kapitel „Libyen: Ein Beispiel differenzierter Kolonial- und Rassenpolitik“, S. 186–193.)<br />
* Gabriele Schneider: ''Das Apartheidregime in Italienisch-Ostafrika.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941'' (= ''Italien in der Moderne'', Band 13). Köln 2006, ISBN 3-89498-162-8, S. 127–152.<br />
<br />
=== Weblinks ===<br />
* Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''www.zeit.de'', 15. Mai 2003, abgerufen am 30. März 2015 (eingeschränkter Zugang).<br />
* Julius Müller-Meiningen: [http://www.sueddeutsche.de/politik/italien-und-libyen-suehne-fuer-die-verbrechen-der-kolonialzeit-1.709231 ''Italien und Libyen: Sühne für die Verbrechen der Kolonialzeit.''] In: ''[[Süddeutsche Zeitung]].'' 17. Mai 2010, abgerufen am 15. Mai 2015.<br />
* [http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/410316/Libyen-erhaelt-MilliardenwbrEntschaedigung-von-Italien ''Libyen erhält Milliarden-Entschädigung von Italien.''] In: ''www.diepresse.com'', 31. August 2008, abgerufen am 15. Mai 2015.<br />
* Thore Schröder, Livia Tagliacozzo: [https://magazine.zenith.me/en/society/libya’s-italians ''How Italy’s Libya vanished.''] In: [[zenith (Magazin)|Zenith]], 6. September 2019, abgerufen am 17. Oktober 2020.<br />
<br />
=== Anmerkungen ===<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Exzellent|14. November 2020|205533231}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Italienischlibyscher Krieg 2}}<br />
[[Kategorie:Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg| ]]<br />
[[Kategorie:Kolonialkrieg]]<br />
[[Kategorie:Unabhängigkeitskrieg|Libyen]]<br />
[[Kategorie:Völkermord]]<br />
[[Kategorie:Krieg (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Krieg (Afrika)]]<br />
[[Kategorie:Krieg in der italienischen Geschichte]]<br />
[[Kategorie:Italienisch-libysche Beziehungen]]<br />
[[Kategorie:Zwischenkriegszeit]]<br />
[[Kategorie:ABC-Kriegsführung]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Manifest_der_faschistischen_Intellektuellen&diff=255675166Manifest der faschistischen Intellektuellen2025-05-03T01:30:34Z<p>ImageUploader12345: Sorry I don't speak German, hope Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events</p>
<hr />
<div>[[Datei:Giovanni Gentile.png|rechts|mini|212x212px|'''Giovanni Gentile:''' Philosophischer Begründer des [[Italienischer Faschismus|italienischen Faschismus]].]]<br />
{{Belege fehlen}}<br />
Das '''Manifest der Faschistischen Intellektuellen''', veröffentlicht als '''Manifest der faschistischen Intellektuellen an die Intellektuellen aller Nationen''' ({{itS|''Manifesto degli intellettuali del fascismo agli intellettuali di tutte le nazioni''}}), von [[Giovanni Gentile]], stellt eine [[Politik|politische]] und [[Ideologie|ideologische]] Begründung des [[Italienischer Faschismus|italienischen Faschismus]] dar. Es rechtfertigte die [[Gewalt]] der [[paramilitärisch]]en [[Schwarzhemden]] der [[Nationale Faschistische Partei|Nationalen Faschistischen Partei]] (PNF — ''Partito Nazionale Fascista'') als revolutionären Akt zur Verwirklichung des italienischen Faschismus. Damit legitimierte es das [[Autoritärer Staat|autoritäre]] Regime des Premierministers [[Benito Mussolini]], der Italien von 1922 bis 1943 als ''Il Duce'' ("Der Führer") regierte.<br />
<br />
== Überblick ==<br />
Das Manifest ist die ideologische [[Grundsatzerklärung]] der ''Konferenz über faschistische Kultur,'' die vom 29.-30. März 1925 in [[Bologna]] stattfand.<ref>https://www.treccani.it/enciclopedia/gentile-e-l-istituto-della-enciclopedia-italiana_%28Croce-e-Gentile%29/</ref> Zur Unterstützung der Regierung von Benito Mussolini unternahmen prominente italienische akademische und öffentliche [[Intellektuelle]] eine Initiative zur Definition der kulturellen Bedeutung des italienischen Faschismus. Als Konferenzvorsitzender proklamierte der neo-idealistische Philosoph Gentile öffentlich das Bündnis zwischen [[Kultur]] und [[Faschismus]] und forderte damit intellektuelle Kritiker heraus, die die kulturelle Bedeutung des faschistischen Regimes in Frage stellten.<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|mini|175x175px|Goldenes [[Fasces|Liktorenbündel]] auf der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|''Schwarzen Fahne des Faschismus'']].]]<br />
Die These des Manifests behauptet die Verbindung von Kultur und Faschismus als Grundlage der Revolution. Als Erklärung der politisch-philosophischen Prinzipien leitet sich das Manifest aus der Vorlesung ''Faschismus und Kultur'' (''Fascismo e cultura'') ab, die Gentile in der Sitzung "''Freiheit und Liberalismus''" (''Libertà e liberalismo'') der Kulturkonferenz gehalten hat. Obwohl nach offizieller Verlautbarung von mehr als 400 italienischen Intellektuellen besucht, waren es wohl nur etwas mehr als 250, die fast alle mit ihrer Unterschrift ihre Zustimmung ausdrückten.<ref>Papa, Emilio R.: Storia di due manifesti. Il fascismo e la cultura italiana. Feltrinelli, Milano 1958, S. 45; dort werden auch alle Teilnehmenden namentlich genannt.</ref><br />
<br />
Das Manifest wurde zuerst in Il Mondo (Die Welt), der PNF-Zeitung, veröffentlicht, dann von den meisten italienischen Zeitungen am 21. April 1925 – der nationalen Feier zum Jahrestag der Gründung [[Rom]]s (ca. 21. April 753 v. Chr.). Der ''Natale di Roma'' (Geburtstag Roms) war zwei Jahre zuvor, am 19. April 1923, durch königlichen Erlass als Ersatz für den Internationalen Tag der Arbeit eingeführt worden.<ref>Camera dei Deputati, Legislatura XXVII: La legislazione fascista 1922-1928 (I-VII), vol. 1, S. 675</ref><br />
<br />
In der Zwischenzeit provozierte die Unterstützung des neapolitanischen Dichters [[Salvatore Di Giacomo]] den Streit zwischen Gentile und [[Benedetto Croce]], seinem intellektuellen Mentor, der anschließend auf die Proklamation der faschistischen Regierung mit seinem [[Manifest der antifaschistischen Intellektuellen]] reagierte.<br />
<br />
== Unterzeichner ==<br />
Unterzeichner des Manifests waren unter anderen:{{Mehrspaltige Liste|*[[Luigi Barzini (Senior)]]<br />
*[[Salvatore Di Giacomo]] (1860–1934), italienischer Dichter, Dramatiker und Essayist<br />
*[[Luigi Federzoni]] (1878–1967), italienischer Politiker<br />
*[[Giovanni Gentile]] (1875–1944), italienischer Philosoph, Kulturmanager und Politiker<br />
*[[Curzio Malaparte]] (1898–1957), italienischer Schriftsteller, Journalist und Diplomat<br />
*[[Filippo Tommaso Marinetti]] (1876–1944), italienischer Schriftsteller, faschistischer Politiker und Begründer des Futurismus<br />
*[[Alfredo Panzini]] (1863–1939), italienischer Schriftsteller, Historiker, Italianist und Lexikograf<br />
*[[Salvatore Pincherle]] (1853–1936), italienischer Mathematiker<br />
*[[Luigi Pirandello]] (1867–1936), italienischer Schriftsteller<br />
*[[Ildebrando Pizzetti]] (1880–1968), italienischer Komponist<br />
*[[Vittorio G. Rossi]]<br />
*[[Margherita Sarfatti]] (1880–1961), italienische Schriftstellerin, Geliebte Mussolinis und Begründerin der Künstlergruppe Novecento<br />
*[[Ardengo Soffici]] (1879–1964), italienischer Kunstkritiker, Illustrator und Maler des Futurismus<br />
*[[Giuseppe Ungaretti]] (1888–1970), italienischer Schriftsteller}}<br />
Obwohl nicht auf der Konferenz für faschistische Kultur, unterstützte der Dramatiker und Romancier Luigi Pirandello das Manifest der faschistischen Intellektuellen öffentlich mit einem Brief.<ref>Abgedruckt in Papa, Emilio R.: Storia di due manifesti. Il fascismo e la cultura italiana. Feltrinelli, Milano 1958, S. 47</ref><br />
<br />
== Auszüge ==<br />
{| class="wikitable collapsible collapsed"<br />
! '''Manifesto degli Intellettuali del Fascismo'''<br />
|-<br />
|'''Le origini'''<br />
<blockquote><poem><br />
Il Fascismo è un movimento recente ed antico dello spirito italiano, intimamente connesso alla storia della Nazione italiana, ma non privo di significato e interesse per tutte le altre.<br />
Le sue origini prossime risalgono al 1919, quando intorno a Benito Mussolini si raccolse un manipolo di uomini reduci dalle trincee e risoluti a combattere energicamente la politica demosocialista allora imperante. La quale della grande guerra, da cui il popolo italiano era uscito vittorioso ma spossato, vedeva soltanto le immediate conseguenze materiali e lasciava disperdere se non lo negava apertamente il valore morale rappresentandola agli italiani da un punto di vista grettamente individualistico e utilitaristico come somma di sacrifici, di cui ognuno per parte sua doveva essere compensato in proporzione del danno sofferto, donde una presuntuosa e minacciosa contrapposizione dei privati allo Stato, un disconoscimento della sua autorità, un abbassamento del prestigio del Re e dell'Esercito, simboli della Nazione soprastanti agli individui e alle categorie particolari dei cittadini e un disfrenarsi delle passioni e degl'istinti inferiori, fomento di disgregazione sociale, di degenerazione morale, di egoistico e incosciente spirito di rivolta a ogni legge e disciplina.<br />
L'individuo contro lo Stato; espressione tipica dell'aspetto politico della corruttela degli anni insofferenti di ogni superiore norma di vita umana che vigorosamente regga e contenga i sentimenti e i pensieri dei singoli.<br />
Il Fascismo pertanto alle sue origini fu un movimento politico e morale. La politica sentì e propugnò come palestra di abnegazione e sacrificio dell'individuo a un'idea in cui l'individuo possa trovare la sua ragione di vita, la sua libertà e ogni suo diritto; idea che è Patria, come ideale che si viene realizzando storicamente senza mai esaurirsi, tradizione storica determinata e individuata di civiltà ma tradizione che nella coscienza del cittadino, lungi dal restare morta memoria del passato, si fa personalità consapevole di un fine da attuare, tradizione perciò e missione.<br />
</poem></blockquote><br />
'''Il Fascismo e lo Stato'''<br />
<blockquote><poem><br />
Di qui il carattere religioso del Fascismo.<br />
Questo carattere religioso e perciò intransigente, spiega il metodo di lotta seguito dal Fascismo nei quattro anni dal '19 al '22.<br />
I fascisti erano minoranza, nel Paese e in Parlamento, dove entrarono, piccolo nucleo, con le elezioni del 1921.<br />
Lo Stato costituzionale era perciò, e doveva essere, antifascista, poiché era lo Stato della maggioranza, e il fascismo aveva contro di sé appunto questo Stato che si diceva liberale; ed era liberale, ma del liberalismo agnostico e abdicatorio, che non conosce se non la libertà esteriore.<br />
Lo Stato che è liberale perché si ritiene estraneo alla coscienza del libero cittadino, quasi meccanico sistema di fronte all'attività dei singoli.<br />
Non era perciò, evidentemente, lo Stato vagheggiato dai socialisti, quantunque i rappresentanti dell'ibrido socialismo democratizzante e parlamentaristico, si fossero, anche in Italia, venuti adattando a codesta concezione individualistica della concezione politica.<br />
Ma non era neanche lo Stato, la cui idea aveva potentemente operato nel periodo eroico italiano del nostro Risorgimento, quando lo Stato era sorto dall'opera di ristrette minoranze, forti della forza di una idea alla quale gl'individui si erano in diversi modi piegati e si era fondato col grande programma di fare gli italiani, dopo aver dato loro l'indipendenza e l'unità.<br />
Contro tale Stato il Fascismo si accampò anch'esso con la forza della sua idea la quale, grazie al fascino che esercita sempre ogni idea religiosa che inviti al sacrificio, attrasse intorno a sé un numero rapidamente crescente di giovani e fu il partito dei giovani (come dopo i moti del '31 da analogo bisogno politico e morale era sorta la "Giovane Italia" di Giuseppe Mazzini).<br />
Questo partito ebbe anche il suo inno della giovinezza che venne cantato dai fascisti con gioia di cuore esultante!<br />
E cominciò a essere, come la "Giovane Italia" mazziniana, la fede di tutti gli Italiani sdegnosi del passato e bramosi del rinnovamento.<br />
Fede, come ogni fede che urti contro una realtà costituita da infrangere e fondere nel crogiolo delle nuove energie e riplasmare in conformità del nuovo ideale ardente e intransigente.<br />
Era la fede stessa maturatasi nelle trincee e nel ripensamento intenso del sacrificio consumatosi nei campi di battaglia pel solo fine che potesse giustificarlo: la vita e la grandezza della Patria.<br />
Fede energica, violenta, non disposta a nulla rispettare che opponesse alla vita, alla grandezza della Patria.<br />
Sorse così lo squadrismo. Giovani risoluti, armati, indossanti la camicia nera, ordinati militarmente, si misero contro la legge per instaurare una nuova legge, forza armata contro lo Stato per fondare il nuovo Stato.<br />
Lo squadrismo agì contro le forze disgregatrici antinazionali, la cui attività culminò nello sciopero generale del luglio 1922 e finalmente osò l'insurrezione del 28 ottobre 1922, quando colonne armate di fascisti, dopo avere occupato gli edifici pubblici delle province, marciarono su Roma.<br />
La Marcia su Roma, nei giorni in cui fu compiuta e prima, ebbe i suoi morti, soprattutto nella Valle Padana. Essa, come in tutti i fatti audaci di alto contenuto morale, si compì dapprima fra la meraviglia e poi l'ammirazione e infine il plauso universale.<br />
Onde parve che a un tratto il popolo italiano avesse ritrovato la sua unanimità entusiastica della vigilia della guerra, ma più vibrante per la coscienza della vittoria già riportata e della nuova onda di fede ristoratrice venuta a rianimare la Nazione vittoriosa sulla nuova via faticosa della urgente restaurazione della sue forze finanziarie e morali.<br />
Codesta Patria è pure riconsacrazione delle tradizioni e degli istituti che sono la costanza della civiltà, nel flusso e nella perennità delle tradizioni.<br />
Ed è scintilla di subordinazione di ciò che è particolare ed inferiore a ciò che è universale ed immortale, è rispetto della legge e disciplina, è libertà ma libertà da conquistare attraverso la legge, che si instaura con la rinuncia a tutto ciò che è piccolo arbitrio e velleità irragionevole e dissipatrice.<br />
È concezione austera della vita, è serietà religiosa, che non distingue la teoria dalla pratica, il dire dal fare, e non dipinge ideali magnifici per relegarli fuori di questo mondo, dove intanto si possa continuare a vivere vilmente e miseramente, ma è duro sforzo di idealizzare la vita ed esprimere i propri convincimenti nella stessa azione o con parole che siano esse stesse azioni.<br />
</poem></blockquote><br />
|}<br />
{| class="wikitable collapsible collapsed"<br />
!Auf Deutsch: Manifest der Intellektuellen über den Faschismus<br />
|-<br />
|'''Die Ursprünge'''<br />
<br />
<br />
Der Faschismus ist eine neue und doch alte Bewegung des italienischen Geistes. Er ist eng mit der Geschichte der italienischen Nation verbunden, doch entbehrt er nicht des Interesses oder der Bedeutung für andere Nationen.<br />
<br />
Seine unmittelbaren Ursprünge müssen bis ins Jahr 1919 zurückverfolgt werden, als sich eine Handvoll Veteranen aus den Schützengräben [des Ersten Weltkriegs] um Benito Mussolini scharte, entschlossen, die damals vorherrschende demosozialistische Politik energisch zu bekämpfen. Der demokratische Sozialismus war bis auf einen Aspekt (den der unmittelbaren materiellen Folgen) blind gegenüber allen anderen Aspekten des Ersten Weltkriegs, aus dem das italienische Volk gleichzeitig müde und siegreich hervorgegangen war. Er schmälerte den moralischen Wert des Krieges, wenn er nicht zur völligen Verleugnung griff, indem er ihn den Italienern in einem grob individualistischen und utilitaristischen Licht darstellte. Er behauptete, der Konflikt sei kaum mehr als eine Kombination von individuellen Opfern gewesen, für die jede einzelne Partei nach einer genauen Bewertung ihres Leidens entschädigt werden müsse. Diese Behauptung führte zu einem arroganten und bedrohlichen Nebeneinander von Einzelpersonen und dem Staat; zur Vernachlässigung der staatlichen Autorität; zur Herabsetzung des Ansehens aufgrund des Königs und der Armee - Symbole einer Nation, die Individuen und einzelne soziale Kategorien transzendiert -; zur Entfesselung grundlegender Leidenschaften und Instinkte, die soziale Desintegration, moralische Degeneration und einen egozentrischen und geistlosen Geist der Rebellion gegen alle Formen von Disziplin und Recht bewirken.<br />
<br />
Die Opposition von Individuum und Staat ist der typische politische Ausdruck einer Korruption, die so tief sitzt, dass sie kein höheres Lebensprinzip akzeptieren kann, weil dies die Gefühle und Gedanken des Individuums energisch informieren und eindämmen würde.<br />
<br />
Der Faschismus war also in seinen Ursprüngen eine politische und moralische Bewegung. Er verstand und verfocht die Politik als einen Übungsplatz für Selbstverleugnung und Selbstaufopferung im Namen einer Idee, einer Idee, die dem Individuum seine Daseinsberechtigung, seine Freiheit und alle seine Rechte geben würde. Die Idee, um die es hier geht, ist die des Vaterlandes. Es ist ein Ideal, das ein kontinuierlicher und unerschöpflicher Prozess der historischen Aktualisierung ist. Es stellt eine besondere und einzigartige Verkörperung der Traditionen einer Zivilisation dar, die weit davon entfernt ist, als tote Erinnerung an die Vergangenheit zu verkümmern, sondern die Form einer Persönlichkeit annimmt, die sich auf das Ziel konzentriert, das sie anstrebt. Das Vaterland ist also eine Mission.<br />
<br />
<br />
'''Faschismus und Staat'''<br />
<br />
<br />
Daher der religiöse Charakter des Faschismus.<br />
<br />
Diese kompromisslose Religiosität erklärt die Kampftaktiken, die der Faschismus von 1919 bis 1922 anwandte.<br />
<br />
Faschisten waren eine Minderheit, sowohl im Land als auch im Parlament, wo nach den Wahlen von 1921 ein kleiner Kern von Abgeordneten saß.<br />
<br />
Der Rechtsstaat war also antifaschistisch, und zwar notwendigerweise, weil er seine Mehrheit widerspiegelte. Der Faschismus wurde gerade von diesem Staat bekämpft, der sich selbst als "liberal" bezeichnete, dessen Liberalismus jedoch von der agnostischen und entsagenden Art war, die nur die äußeren Freiheiten beachtet.<br />
<br />
Dieser Staat betrachtet sich selbst als "liberal", weil er dem Gewissen seiner freien Bürger fremd ist und mechanisch auf die Handlungen von Individuen reagiert.<br />
<br />
Es versteht sich von selbst, dass dies kaum der Staat war, den sich die Sozialisten vorgestellt hatten. Die Vertreter eines solchen hybriden Sozialismus, beschmiert mit demokratischen Werten und Parlamentarismus, setzten sich mit dieser individualistischen Auffassung von Politik auseinander.<br />
<br />
Es war auch nicht der Staat, der die Ideale der kleinen Minderheit, die in der heroischen Zeit unseres Risorgimento agierte, befeuert hatte, denn diejenigen, die für ihn kämpften, waren von der Kraft einer Idee beseelt, der sich die Individuen auf unterschiedliche Weise unterworfen hatten. In dieser heldenhaften Zeit wurde ein Staat mit dem großen Plan gegründet, Italiener zu Italienern zu machen, nachdem man ihnen Unabhängigkeit und Einheit gewährt hatte.<br />
<br />
Dies war der Staat, gegen den der Faschismus antrat, bewaffnet mit der Kraft seiner eigenen Vision, die dank des Appells, den jede religiöse Idee, die zum Opfer einlädt, ausübt, eine wachsende Gruppe junger Anhänger anzog. Er wurde so zur Partei der Jugend (so wie sich Mazzinis [[Giovane Italia|Giovane-Italia]]-Bewegung aus den Unruhen von 1831 erhoben hatte, um eine ähnliche politische und moralische Leere zu füllen).<br />
<br />
Die Partei hatte sogar ihre Hymne an die Jugend, die die Faschisten mit freudigen, überschwänglichen Herzen sangen!<br />
<br />
Der Faschismus wurde, wie Mazzinis Giovane Italia, zum Glauben aller Italiener, die die Vergangenheit verachteten und sich nach Erneuerung sehnten.<br />
<br />
Wie andere Glaubensrichtungen sah er sich mit einer voll verwirklichten Realität konfrontiert, die zerstört und zu einem Schmelztiegel neuer Energien verschmolzen und nach einem neuen glühenden und kompromisslosen Ideal geschmiedet werden musste.<br />
<br />
Es war genau der Glaube, der in den Schützengräben und in der Reflexion über die Opfer gereift war, die auf den Schlachtfeldern für das einzig würdige Ziel gebracht wurden: die Kraft und Größe des Vaterlandes.<br />
<br />
Es war ein energischer, gewalttätiger Glaube, der nicht gewillt war, etwas zu respektieren, was der Kraft und Größe des Vaterlandes im Wege stehen würde.<br />
<br />
So entstand der Squadrismus. Entschlossene Jugendliche, bewaffnet, mit schwarzen Hemden bekleidet und in militärischem Stil organisiert, stellten sich gegen das Gesetz, um ein neues Gesetz einzuführen, das den Staat bekämpft, um den neuen Staat zu gründen.<br />
<br />
Der Squadrismus richtete sich gegen die Apologeten des nationalen Zerfalls, deren Aktionen im Generalstreik vom Juli 1922 gipfelten, und wagte schließlich am 28. Oktober 1922 einen Aufstand, als bewaffnete Kolonnen von Faschisten zunächst öffentliche Gebäude in den Provinzen besetzten und dann auf Rom marschierten.<br />
<br />
Der Marsch auf Rom forderte in der Vorbereitungs- und Durchführungsphase einige Opfer, insbesondere in der Poebene. Wie alle mutigen Ereignisse, die von den höchsten moralischen Zielen inspiriert waren, wurde er zuerst mit Staunen, dann mit Bewunderung und schließlich mit allgemeiner Anerkennung begrüßt.<br />
<br />
Eine Zeit lang schien es, als habe das italienische Volk die begeisterte Einmütigkeit, die es am Rande des Krieges empfunden hatte, wiedergewonnen, doch wurde es durch das Bewusstsein des jüngsten Sieges der Nation verdoppelt und durch die Überzeugung gestärkt, dass die siegreiche Nation nun auf dem Weg sei, ihre finanzielle und moralische Integrität wiederzuerlangen.<br />
<br />
Dieses Vaterland ist die Umbenennung jener Traditionen und Institutionen, die inmitten der immerwährenden Erneuerung der Traditionen konstante Merkmale der Zivilisation bleiben.<br />
<br />
Es ist auch der Anlass für die Unterordnung all dessen, was partikular und untergeordnet ist, unter das, was universell und überlegen ist. Es ist die Achtung des Gesetzes und der Disziplin; es ist die Freiheit, die durch das Gesetz erobert werden kann, indem man auf alles verzichtet, was aus individueller Wahl und irrationalen, verschwenderischen Wünschen entsteht.<br />
<br />
Dieses Vaterland stellt eine strenge, von religiöser Tiefe geprägte Lebensphilosophie dar; es trennt nicht zwischen Theorie und Praxis, zwischen Sprechen und Tun; und es schlägt keine großartigen, aber völlig unrealistischen Ideale vor, die im Elend des Alltags nichts ändern.<br />
<br />
Vielmehr ist es ein entmutigendes Bemühen, das Leben zu idealisieren und seine Überzeugungen durch Taten oder Worte auszudrücken, die selbst Taten sind.<blockquote></blockquote><br />
|}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
[[Kategorie:Faschismus (Italien)]]<br />
[[Kategorie:Politik (Königreich Italien, 1861–1946)]]<br />
[[Kategorie:Politik 1925]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Abessinienkrieg&diff=255675154Abessinienkrieg2025-05-03T01:25:49Z<p>ImageUploader12345: /* Italienischer Kolonialismus und Faschismus */ Sorry I don't speak German, hope Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events</p>
<hr />
<div>{{Infobox Militärischer Konflikt<br />
|KONFLIKT = Abessinienkrieg<br />
|TEILVON=[[Italienisch-Äthiopischer Krieg|Italienisch-Äthiopische Kriege]]<br />
|BILD = Military Parade of Italian Troops in Addis Ababa (1936).jpg<br />
|BILDBREITE = 300px<br />
|BESCHREIBUNG = Truppen des faschistischen Italiens in Abessiniens Hauptstadt Addis Abeba<br />
|DATUM = 3. Oktober 1935<br />
|DATUMBIS = 27. November 1941<br />
|ORT = Abessinien ([[Äthiopien]])<br />
|AUSGANG = Sieg Italiens im regulären Krieg bis 1936/37;<br />Pattsituation im Guerillakrieg bis 1940;<br />Niederlage Italiens im Ostafrikafeldzug bis 1941<br />
|FOLGEN = Italienische ''de jure'' Annexion Abessiniens<br />
|KONTRAHENT1 = {{ETH-1897|2=Kaiserreich Abessinien (Äthiopien)}}<br /><hr /><br />
''Unterstützt durch:''<br /><br />
{{DEU-1935}} <small>(1935–1936)</small><br /><br />
{{GBR}} <small>(1940–1941)</small><br />
|KONTRAHENT2 = {{ITA-1861|2=Königreich Italien}}<br />
|BEFEHLSHABER1= {{ETH-1897|#}} [[Haile Selassie|Haile Selassie I.]]<hr /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Kassa Haile Darge]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Imru Haile Selassie]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Seyoum Mengesha]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Mulugeta Yeggazu]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Desta Damtew]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Nasibu Zeamanuel]]<br /><br />
{{TUR|#}} [[Mehmet Vehib Kaçı|Vehib Pascha]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Wolde Tzadek]]<br /><br />
{{ETH-1897|#}} [[Abebe Aragai]]<br />
|BEFEHLSHABER2= {{ITA-1861|#}} [[Viktor Emanuel III.]]<hr /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Benito Mussolini]]<hr /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Emilio De Bono]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Pietro Badoglio]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Rodolfo Graziani]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Mario Ajmone Cat]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Ugo Cavallero]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Amedeo von Savoyen-Aosta]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Hamid Idris Awate]]<br /><br />
{{ITA-1861|#}} [[Olol Diinle]]<br />
|TRUPPENSTÄRKE1= <small>Höchststärke:</small><br /><br />
ca. 250.000 [[Kaiserliche Armee Abessiniens|Soldaten]]<ref>Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt'', S. 324, Fußnote 50.</ref><br />
|TRUPPENSTÄRKE2= <small>Höchststärke:</small><br /><br />
330.000 italienische Soldaten,<br /><br />
87.000 libysche, eritreische und somalische [[Askari]]s,<br /><br />
100.000 Militärarbeiter<ref>Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt'', S. 324, Fußnote 50.</ref><br />
|VERLUSTE1 = 330.000–760.000 getötete Abessinier <small>(einschließlich Besatzungszeit)</small><br />
|VERLUSTE2 = 25.000–30.000 militärische und zivile Opfer<br /><small>(einschließlich Besatzungszeit)</small><ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 152 f; Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 194.</ref><br />
|ÜBERBLICK = {{Linkbox Zweiter Italienisch-Äthiopischer Krieg}}<br />
}}<br />
<br />
Der '''Abessinienkrieg''' war ein [[Völkerrecht|völkerrechtswidriger]] [[Angriffskrieg|Angriffs-]] und [[Eroberungskrieg]] des [[Italienischer Faschismus|faschistischen]] [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreichs Italien]] gegen das [[Kaiserreich Abessinien]] ([[Äthiopien]]) in [[Ostafrika]]. Der am 3. Oktober 1935 begonnene [[Bewaffneter Konflikt|bewaffnete Konflikt]] war der letzte und größte [[Kolonialkrieg|koloniale]] Eroberungsfeldzug der Geschichte. Gleichzeitig handelte es sich um den ersten Krieg zwischen [[Souveränität#Souveränität im Völkerrecht|souveränen]] Staaten des [[Völkerbund]]es, den ein [[Faschismus|faschistisches]] Regime zur Gewinnung neuen „Lebensraums“ ([[Lebensraum-Politik#Faschistisches Italien|''spazio vitale'']]) führte. Damit löste Italien die schwerste [[Krise#Internationale (politische) Krisen|internationale Krise]] seit dem Ende des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] aus.<br />
<br />
Der italienische Überfall startete ohne [[Kriegserklärung]] mit einer [[Zangenangriff|Zangenoffensive]]: im Norden von der [[Italienische Kolonien|Kolonie]] [[Kolonie Eritrea|Eritrea]] aus und im Süden aus [[Italienisch-Somaliland]]. Die abessinischen Streitkräfte leisteten erbitterten Widerstand, konnten das Vordringen der zahlenmäßig, technisch und organisatorisch überlegenen italienischen Invasionsarmee aber letzten Endes nicht stoppen. Nach dem Fall der Hauptstadt [[Addis Abeba]] erklärte Italien am 9. Mai 1936 den Krieg für beendet und gliederte Abessinien formal in die neugebildete Kolonie [[Italienisch-Ostafrika]] ein. Tatsächlich kontrollierten die Italiener zu diesem Zeitpunkt nur ein Drittel des abessinischen Territoriums; Kämpfe mit Resten der kaiserlichen Armee dauerten noch bis zum 19. Februar 1937 an. Anschließend führte der abessinische Widerstand einen [[Guerilla]]krieg, der mit dem italienischen Kriegseintritt in den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] am 10. Juni 1940 in den [[Ostafrikafeldzug]] überging und mit dem vollständigen Sieg der [[alliierte]]n-abessinischen Befreiungstruppen am 27. November 1941 endete.<br />
<br />
In der [[Militärgeschichte]] markierte der Abessinienkrieg den Durchbruch einer neuen, besonders brutalen Form der [[Kriegsführung]]. Italien setzte im großen Stil [[Chemische Waffe|chemische]] [[Massenvernichtungswaffe]]n ein und führte den bis dahin massivsten [[Luftkrieg]] der Geschichte. In dessen Rahmen wurden auch gezielt die Zivilbevölkerung sowie Feldlazarette des [[Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung|Roten Kreuzes]] angegriffen. Im italienischen Besatzungsgebiet errichtete Vizekönig [[Rodolfo Graziani]] (1936–1937) eine [[Terror]]herrschaft, während der die [[Elite]]n des alten Kaiserreiches von den Faschisten systematisch ermordet wurden. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang auch vom „ersten faschistischen [[Vernichtungskrieg]]“ gesprochen, der mit der Anfangsphase des späteren deutschen [[Überfall auf Polen|Besatzungsterrors in Polen]] verglichen wird. Auch nach Grazianis Abberufung ging die italienische Besatzungsmacht weiterhin mit chemischen Kampfstoffen brutal gegen „Rebellen“ vor, außerdem wurde unter Vizekönig [[Amedeo von Savoyen-Aosta]] (1937–1941) ein [[Rassismus|rassistisches]] [[Italienisch-Ostafrika#Das Apartheidsystem|Apartheidsystem]] ausgebaut. Insgesamt kamen infolge der italienischen Invasion von 1935 bis 1941 etwa 330.000 bis 760.000 Abessinier ums Leben, die Verluste der Italiener betrugen etwa 25.000 bis 30.000 Tote. Damit zählt der Abessinienkrieg neben dem [[Algerienkrieg]] zu den blutigsten militärischen Konflikten, die jemals in Afrika dokumentiert wurden.<br />
<br />
Nach 1945 bemühte sich Äthiopien um ein an die [[Nürnberger Prozesse|Nürnberger]] und [[Tokioter Prozesse]] angelehntes internationales Tribunal für italienische Kriegsverbrecher, scheiterte damit jedoch nicht nur am Widerstand Italiens, sondern insbesondere an dem der westlichen Alliierten. Somit wurde kein italienischer Täter jemals für in Äthiopien begangene Kriegsverbrechen belangt. Den systematischen Einsatz von Giftgas gestand Italiens Regierung erst 1996 offiziell ein, und 1997 entschuldigte sich Italiens Staatspräsident [[Oscar Luigi Scalfaro]] in Äthiopien für das von 1935 bis 1941 verursachte Unrecht. Das heutige [[Äthiopien]] gedenkt mit zwei Nationalfeiertagen der faschistischen Fremdherrschaft: dem „Märtyrer-Tag“ am 19. Februar und dem „Befreiungstag“ am 5. Mai.<br />
<br />
== Bezeichnung ==<br />
In der deutschsprachigen Forschung hat sich für den italienischen Überfall auf das äthiopische Kaiserreich ab 1935 die Bezeichnung „Abessinienkrieg“ durchgesetzt, wobei seltener auch vom „Äthiopienkrieg“ gesprochen wird. In der italienischen Literatur wird er als der „Zweite Italienisch-Äthiopische Krieg“ behandelt, wobei als „[[Italienisch-Äthiopischer Krieg (1895–1896)|Erster Italienisch-Äthiopischer Krieg]]“ der zwischen Italien und Äthiopien ausgetragene Konflikt von 1895/96 gilt.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 25. Zur Verwendung der Bezeichnung „Äthiopienkrieg“ in der deutschsprachigen Forschung vgl. Petra Terhoeven: ''Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36.'' Tübingen 2003, S. 30 f. u. 154 f.</ref> In der englischsprachigen Forschung werden die Bezeichnungen „Ethiopian war“ oder „War in Abyssinia“ verwendet,<ref>Vgl. Angelo Del Boca: ''The Ethiopian War 1935–1941.'' Chicago 1969, passim; John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. 10.</ref> die bei ins Deutsche übersetzten Werken ebenfalls mit „Äthiopienkrieg“ wiedergegeben werden.<ref>Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 292.</ref><br />
<br />
== Vorgeschichte ==<br />
=== Situation des Kaiserreiches Abessinien ===<br />
[[Datei:Expansion Abessiniens bis 1929.png|mini|hochkant=1.5|Karte mit Abessiniens christlichem Kernland (1883) und den Grenzen des Kaiserreiches nach der Expansion (1929)]]<br />
[[Datei:Mittelholzer-haileselassie.jpg|mini|hochkant|Kaiser [[Haile Selassie|Haile Selassie I.]] (1934)]]<br />
Zur Zeit der italienischen Invasion galt das Kaiserreich Abessinien (Äthiopien) als „ältestes genuin afrikanisches Reich“. Sein altes Kernland in Nordäthiopien hatte sich aus der antiken Hochkultur des [[Aksumitisches Reich|Reiches von Aksum]] entwickelt, dessen Bewohner bereits im 4. Jahrhundert zum [[Christentum]] konvertiert waren. Das von Wüsten und Trockensavannen abgeschirmte [[Hochland von Abessinien|Hochland Abessiniens]] wurde politisch und kulturell von zwei [[Nationalstaat#Nationalstaat, Vielvölkerstaat und Willensnation|staatstragenden Völkern]] dominiert: den [[Amharen]] und den [[Tigray (Volk)|Tigray]]. Seine heutigen Grenzen erhielt Äthiopien erst im Rahmen einer großangelegten Expansion, die vor allem unter Kaiser [[Menelik II.]] (1886–1913) stattfand. Die in seiner langen Regierungszeit erfolgten Eroberungen brachten Menelik II. den Ruf eines „[[schwarze]]n Imperialisten“ ein und ließen unzählige Völker und Stämme unter abessinische Herrschaft geraten, bis sich die christlichen [[Ethnie]]n des nördlichen Hochlandes schließlich als Minderheit im eigenen Staat wiederfanden. Parallel dazu errichtete der ''[[Negus|Negus Negesti]]'' („König der Könige“) den modernen Kaiserstaat mit dem [[Amharische Sprache|Amharischen]] als ''lingua franca'', der 1886 gegründeten Hauptstadt [[Addis Abeba]], der „Bank of Ethiopia“ mit einer nationalen Währung und weiteren Reformen.<ref name="Mattioli25f28u74">Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 25 f., 28 u. 74.</ref><br />
<br />
Im Zeitalter des [[Imperialismus#Zeitalter des Imperialismus|europäischen Imperialismus]] geriet auch die historische Eigenentwicklung des großäthiopischen Kaiserreiches in Gefahr. Jedoch gelang es der Armee von Menelik II. in der [[Schlacht von Adua]] 1896, den ersten italienischen Eroberungsversuch abzuwehren. Der [[Italienisch-Äthiopischer Krieg (1895–1896)|Sieg über Italien]] sicherte die Unabhängigkeit des Reiches und sorgte dafür, dass Abessinien als einzigem afrikanischen Staat neben [[Liberia]] eine koloniale Fremdherrschaft erspart blieb. Das Schicksal des Landes wurde weiterhin von der amharischen und tigrinischen Oberschicht sowie der [[Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche|Äthiopisch-Orthodoxen Kirche]] bestimmt. Die eroberten, überwiegend [[Muslim|muslimischen]] Stämme des Südens und Westens wurden von den christlichen Ethnien des Nordens versklavt, 1914 lebte schätzungsweise ein Drittel der gesamten Bevölkerung als [[Sklaverei|Sklaven]].<ref name="Mattioli25f28u74" /> Zusammenfassend gilt das Äthiopien des frühen 20. Jahrhunderts als ein großflächiger [[Vielvölkerstaat]] mit [[Feudalismus|feudalähnlicher]] Gesellschaftsstruktur, als rückständiges Land mit einer schmalen ökonomischen Basis, einem vormodernen Bildungssystem, einem schlechten Verkehrssystem und einer Militärorganisation, die auf einem feudalen Fuß- und Reiteraufgebot fußte. Zudem herrschte ein konfliktreiches Nebeneinander zwischen dem dominierenden Norden und den übrigen Reichsteilen, zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und den Völkern in der Peripherie.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 74.</ref><br />
<br />
Der seit 1916 als Regent wirkende ''[[Ras (Äthiopien)|Ras]]'' [[Haile Selassie|Tafari Makonnen]] setzte den Kurs der autoritären Modernisierung fort. Er wirkte nominell unter Kaiserin [[Zauditu]], einer Tochter Meneliks, stieg jedoch während seiner 14-jährigen Regentschaft zum starken Mann der Monarchie auf. Als Vorbild für seine radikalen Reformen diente ihm Japans Weg in die Moderne. Innenpolitisch modernisierte Ras Tafari die Verwaltung, die Regierung und das Bildungssystem, wobei er eine gut ausgebildete Führungselite heranzog. Auch ließ er die Infrastruktur ausbauen und trat ab 1918 entschlossen gegen den Sklavenhandel auf. Im März 1924 hob seine Regierung die Sklaverei offiziell auf. Mit dem Verbot verschwand die Sklaverei in Äthiopien nicht sofort, jedoch entschärfte es ein großes Imageproblem, das dem Ansehen Abessiniens in der Welt bislang schwer geschadet hatte. Außenpolitisch betrieb der fließend Französisch sprechende Regent von Anfang an eine Anlehnung an die Westmächte, die darauf abzielte, Abessinien aus seiner Isolation zu lösen. Belohnt wurde dieser Kurs 1923, als das Kaiserreich voll berechtigt in den [[Völkerbund]] aufgenommen wurde und seine Unabhängigkeit endgültig international anerkannt war.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 75 f.; Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 11.</ref><br />
<br />
Nach Zauditus Tod 1930 zum neuen Kaiser gekrönt, nahm Ras Tafari den Thronnamen Haile Selassie I. („Macht der Dreifaltigkeit“) an und regierte Abessinien fortan allein. Dabei setzte er alles daran, die kaiserliche Zentralmacht gegenüber den konkurrierenden Provinzgewalten zu stärken. Abgestützt wurde dieser Prozess durch die [[Verfassung des Kaiserreichs Abessinien von 1931|Verfassung vom 16. Juli 1931]]. Angelehnt an Japans [[Meiji-Verfassung|Konstitution von 1889]], handelte es sich um die erste geschriebene Verfassung des Kaiserreichs Abessinien überhaupt. In nie da gewesener Weise stärkte sie das Entscheidungsvorrecht des Kaisers und konzentrierte alle Macht in seinen Händen, womit er nun einem [[Absolutismus|absolutistischen]] Monarchen glich. Die Thronfolge wurde auf Haile Selassies Familie beschränkt und Abessinien damit in eine [[Erbmonarchie]] verwandelt. Die beiden Kammern des neu geschaffenen Parlamentes besaßen keine wirkliche Bedeutung. Zwar stärkte die Verfassung von 1931 die staatliche Einheit, doch das Reich verwandelte sich endgültig in eine Autokratie.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 75 ff.</ref> In den letzten drei Jahren vor dem italienischen Überfall legte Haile Selassie I. ein besonderes Augenmerk auf den Bau von Telefonleitungen, und 1931 wurde die erste abessinische Radiostation eingerichtet. Gleichzeitig öffnete die Regierung Abessinien für den Weltmarkt und intensivierte die Handelsbeziehungen zum Ausland.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 77.</ref><br />
<br />
=== Italienischer Kolonialismus und Faschismus ===<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 102-09844, Mussolini in Mailand.jpg|mini|Italiens Diktator [[Benito Mussolini]] bei einer Rede in Mailand (1930)]]<br />
<br />
Mit dem Machtantritt von [[Benito Mussolini]]s [[Italienischer Faschismus|Faschisten]] 1922 erhielt der italienische Kolonialismus einen enormen Antrieb. In ihrer als [[politische Religion]] praktizierten Agenda forderten die Faschisten einen [[Totalitarismus|totalitären]] Staat und vertraten einen [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistisch]] begründeten [[Rassismus]], einen ausgeprägten [[Militarismus]], eine Verherrlichung des Krieges sowie das Ideal, die Macht und den Ruhm des antiken [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] wiederherzustellen. Damit wurde der italienische Angriff auf das äthiopische Kaiserreich nur zu einer Frage der Zeit. Abessinien hatte Italien 1896 in Adua militärisch gedemütigt und stand als Symbol für die permanente Frustration der kolonialen Ambitionen Italiens. Außerdem war Äthiopien noch unabhängig und stand somit für eine Eroberung offen.<ref>Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' Oxford University Press, New York 2017, S. 17; Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 289; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001, S. 151; Wolfgang Schieder: ''Das Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung.'' In: Gerhard Schulz (Hrsg.): ''Die große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg.'' Göttingen 1985, S. 44–71, hier S. 56.</ref> Dabei sollte die Eroberung Äthiopiens nur einen ersten Schritt in einem weit größeren imperialen Expansionsprogramm darstellen. Das ursprüngliche faschistische Ziel einer italienischen Vormachtstellung im Mittelmeer ''([[Mare Nostrum#Verwendung des Begriffs im faschistischen Italien|mare nostrum]])'' wurde seit den 1930er Jahren zunehmend von einem geplanten „Vorstoß an die Ozeane“ ersetzt.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 62 f.</ref><br />
<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Das goldene [[Fasces|Liktorenbündel]] auf der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteifahne]] der Faschisten]]<br />
Die italienischen Faschisten führten bereits in den 1920er Jahren sogenannte „Pazifizierungskriege“ gegen die abtrünnigen Kolonien [[Tripolitanien]] und [[Kyrenaika|Cyrenaika]] in Nordafrika ([[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg]]) sowie gegen Italienisch-Somaliland in Ostafrika ([[Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland]]). Insbesondere der Krieg in Libyen wurde dabei zu einem Testfeld für neue Kriegsmethoden und Waffen sowie zu einer „Schule der Gewalt“. So wurden in Libyen bereits 1923 erstmals chemische Kampfstoffe aus der Luft abgeworfen, außerdem gehörten willkürliche Massenhinrichtungen zu den Repressionsmaßnahmen. Insgesamt fielen dem Kolonialkrieg etwa 100.000 der rund 800.000 Libyer zum Opfer, davon etwa 40.000 in italienischen [[Italienische Konzentrationslager#Konzentrationslager in der Cyrenaika (1930–1934)|Konzentrationslagern]] während des [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg#Genozid in der Cyrenaika (1929–1934)|Genozids in der Cyrenaika]].<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 146 f. u. 149 f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 10, 35 u. 51; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 132 u. 134 f.</ref> Im März 1932, nur wenige Wochen nach Abschluss der Militäroperationen in Libyen, unternahm Kolonialminister [[Emilio De Bono]] eine mit Mussolini abgestimmte Reise nach Eritrea, um die dortige Situation für einen künftigen Krieg gegen Abessinien zu erörtern. Trotz seines kritischen Fazits, dass eine „bewaffnete Intervention“ eine lange Vorbereitungszeit erfordern und Unsummen verschlingen würde, gelangte De Bono in den kommenden Wochen nach seiner Rückkehr in Italien zur Ansicht, dass Italien seine „koloniale Zukunft“ in Ostafrika suchen müsse. Im Sommer 1932 beauftragte De Bono den Kommandeur der italienischen Truppen in Eritrea mit der Ausarbeitung einer militärischen Angriffsplanung gegen Abessinien. Im Herbst 1932 verfügte De Bono zum zehnjährigen Jubiläum der faschistischen Machtübernahme über genügend Anschauungsmaterial und strategische Vorstudien, um bei Mussolini grünes Licht für einen umfassenden Militärschlag gegen das Kaiserreich Abessinien zu erwirken.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 58 f.</ref><br />
<br />
=== Kriegsvorbereitungen ===<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 102-10234, Mailand, Mussolini inspiziert Flughafen.jpg|mini|Mussolini inspiziert einen Flughafen in Mailand (1930)]]<br />
<br />
Als Siegermacht des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] konnte Italien in den 1920er Jahren die Entwicklung seiner militärischen Schlagkraft ungehindert vorantreiben. Besonders intensivierte Italien, dessen Chemiewaffen-Arsenal sich im Ersten Weltkrieg noch bescheiden ausgenommen hatte, seine Anstrengungen auf diesem Gebiet seit der Machtübertragung an die Faschisten. Am 10. Juli 1923 wurde ein direkt dem Kriegsministerium unterstellter „Chemischer Militärdienst“ ''(Servizio chimico militare)'' ins Leben gerufen, der alle, selbst zivile Forschungs- und Entwicklungsprojekte in diesem Bereich kontrollierte und koordinierte. Dieser Organisation gehörten schon bald ein Stab von rund 200 Offizieren und zahlreiche Wissenschaftler an, die in speziellen Forschungsabteilungen arbeiteten. Ganz im Unterschied zur [[Weimarer Republik]], der die Herstellung und Einfuhr von chemischen Kampfstoffen durch den [[Friedensvertrag von Versailles]] strikt untersagt war, lief die chemische Aufrüstung Italiens keineswegs im Geheimen ab. Im Mai 1935 nahm Benito Mussolini auf dem [[Militärflugplatz Rom-Centocelle|Flugplatz Centocelle]] bei Rom an groß in Szene gesetzten Manövern teil, die ganz im Zeichen der chemischen Kriegsführung standen. Während dieser Übung demonstrierten Spezialstreitkräfte das Werfen von Gashandgranaten, Methoden zur Geländevergiftung, das Überwinden von [[Senfgas]]-Sperren durch gasgeschützte Truppen und die Entgiftung von verseuchtem Gelände. Auf dem Feld der chemischen Kampfstoffe hatten die italienischen Streitkräfte innerhalb weniger Jahre einen bemerkenswert hohen Stand erreicht. Mitte der 1930er Jahre galten sie in diesem Bereich weltweit als erstrangige Macht.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 102 f.</ref><br />
<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1934.png|mini|hochkant=1.5|Lage Italiens mit seinen afrikanischen Kolonien und Abessiniens (1934)]]<br />
Italienische Militärs planten bereits Anfang 1934, entgegen allen von Italien unterzeichneten internationalen Verträgen, den Einsatz von chemischen Kampfstoffen in einem Kriegsfall mit Äthiopien. Ende Dezember 1934 war es Mussolini, der die italienische Armee in einem Memorandum auf einen Giftgaseinsatz vorbereitete. Im April 1935 wurde der Aufbau von insgesamt 18 Depots für chemische Kampfstoffe in den italienischen Kolonien Eritrea und Somalia befohlen. Bereits im Februar hatte der italienische Luftwaffengeneral und Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium [[Giuseppe Valle (Militär)|Giuseppe Valle]] (1886–1975) den Befehl erteilt, 250 Flugzeuge für den Abwurf von Giftgasbomben einsatzbereit zu machen. Im Sommer 1935 begann der Aufbau einer chemischen Kampfmitteltruppe für Ostafrika. Insgesamt wurden über 1700 Mann des ''Servizio chimico militare'' unter dem Kommando von General [[Aurelio Ricchetti]] für den Abessinienkrieg mobil gemacht.<ref>Luigi Emilio Longo: ''La campagna italo-etiopica, 1935–1936.'' S. 397, 431, 467–472.</ref><ref>Marco Montagnani, Antonino Zarcone, Filippo Cappellano: ''Il Servizio chimico militare, 1923–1945: storia, ordinamento, equipaggiamenti.'' S. 45.</ref><br />
<br />
In den 1930er Jahren leitete auch Abessinien Schritte zu einer Modernisierung des Heeres ein, das hinsichtlich Organisation und Bewaffnung mehr oder weniger auf dem Stand der Schlacht von Adua stehengeblieben war. Zur Hauptsache bestand es aus einem dezentral organisierten, von Provinzfürsten befehligten Reiter- und Fußaufgebot. Es setzte sich aus traditionell bewaffneten Kriegern zusammen, die wenig mit den modern ausgerüsteten Soldaten europäischer Landstreitkräfte gemein hatten. Daneben existierte als Kern eines stehenden Heeres eine Kaiserliche Garde von einigen Tausend Mann, die einzige gut ausgebildete und einigermaßen modern bewaffnete Einheit. Um die Ausbildung der Truppen zu professionalisieren, wurden belgische Instruktoren ins Land geholt und 1934 eine Militärakademie für Offiziersanwärter gegründet. Freilich besaß Abessinien keine eigenen Produktionsstätten für modernes Kriegsgerät. Deshalb erwarb die kaiserliche Regierung auf dem internationalen Waffenmarkt Gewehre, Maschinengewehre, Flugabwehrkanonen, Munition und einige veraltete Kampfflugzeuge. Trotzdem konnte von einer forcierten Aufrüstung nicht die Rede sein. Dafür waren die materiellen Ressourcen des Landes viel zu schmal.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 77 f.</ref><br />
<br />
Von Juli 1934 bis September 1935 traf das faschistische Italien diplomatische und ökonomische Vorbereitungen für den Krieg. Mussolini versuchte, die Zustimmung Großbritanniens und Frankreichs zu bekommen, und profitierte von jedem kleinen Grenzzwischenfall, um in Italien ein Klima nationalistischer Erregung herzustellen und mehr Soldaten zu mobilisieren. Die Wirtschaft wurde im Hinblick auf den Krieg durch eine Reihe von Maßnahmen neu organisiert: Am 31. Juli 1935 wurden strategisch wichtige Rohstoffe wie Kohle, Kupfer, Zinn und Nickel staatlich monopolisiert. Es wurde das „Allgemeine Kommissariat für die Kriegsproduktion“ eingerichtet, in dessen Zuständigkeit nun 876 Fabriken und 580.000 italienische Arbeiter fielen.<ref>Brunello Mantelli: ''Kurze Geschichte des italienischen Faschismus.'' 4. Auflage, Berlin 2008 [1994], S. 107.</ref> Am 6. Juli 1935 erklärte Mussolini gegenüber seinen Soldaten in der Stadt [[Eboli (Kampanien)|Eboli]]: „Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren eventuelle Verteidiger. Es wird nicht mehr lange dauern, und die fünf Erdteile werden das Haupt vor dem faschistischen Willen beugen müssen.“<ref>Aram Mattioli: [https://www.zeit.de/2001/51/Eine_veritable_Hoelle ''Eine veritable Hölle.''] In: [[Die Zeit]], 13. Dezember 2001.</ref> Und am 31. Juli, knapp zwei Monate vor dem Überfall auf Abessinien, begründete Mussolini in der Parteizeitung ''[[Il Popolo d’Italia]]'' den geplanten Krieg gegen das ostafrikanische Kaiserreich unter anderem mit der Notwendigkeit, „[[Lebensraum-Politik#Faschistisches Italien|Lebensraum]]“ für das italienische Volk zu gewinnen.<ref>Roger Griffin: ''Fascism.'' Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 978-0-19-289249-2, S. 74 f.</ref><br />
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1935 zählte die äthiopische Armee etwa 200.000 Mann, einige hundert Maschinengewehre, wenige Artilleriegeschütze und eine Handvoll Flugzeuge. Auf italienischer Seite unterstanden dem Kolonialminister und Obersten Befehlshaber, General [[Emilio De Bono]], im Herbst 1935 insgesamt 170.000 italienische Soldaten, 65.000 afrikanische Kolonialtruppen ([[Askari]]s) und an die 38.000 Arbeiter. Unter seinem Nachfolger, Marschall [[Pietro Badoglio]], kämpften und arbeiteten im März 1936 rund 330.000 italienische Soldaten, 87.000 Askaris und an die 100.000 italienische Arbeiter. Die logistischen Mittel umfassten 90.000 Lasttiere und 14.000 motorisierte Fahrzeuge verschiedener Kategorien vom Personenwagen bis zum Lastkraftwagen. Die Invasionsarmee des faschistischen Italien erhielt außerdem über den Seetransport 250 Panzer, 350 Flugzeuge und 1.100 Artilleriegeschütze. Der tägliche italienische Benzinverbrauch übertraf den gesamten Treibstoffverbrauch Italiens im Ersten Weltkrieg. Die italienische Kriegsmarine, die hauptsächlich für den Transport von Menschen und Bau- sowie Kriegsmaterial verantwortlich war, beförderte während des Krieges etwa 900.000 Menschen und mehrere Hunderttausend Tonnen Material.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Aspekte der Totalisierung des Kolonialkrieges.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 27–44, hier S. 29; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 72.</ref><br />
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== Der „Krieg der sieben Monate“ (1935–1936) ==<br />
=== Italienischer Vormarsch und Stellungskrieg ===<br />
[[Datei:E. De Bono 03.jpg|miniatur|hochkant|General [[Emilio De Bono]], erster Oberkommandierender der italienischen Invasionsarmee]]<br />
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Ohne eine Kriegserklärung abzugeben, passierten die italienischen Verbände in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1935 den Fluss [[Mareb]], der den Grenzverlauf zwischen Eritrea und Abessinien markierte. Ebenfalls am 3. Oktober begann die italienische Luftwaffe mit der Bombardierung der Operationsziele [[Adigrat]] und [[Adua]]. Kaiser Haile Selassie, der sich in der Hauptstadt Addis Abeba befand, hatte noch versucht, durch den Rückzug der Armee um 30 Kilometer eine Pufferzone zu schaffen, um eine militärische Eskalation zu vermeiden. Doch nach der Überschreitung der Grenze proklamierte der ''Negus'' seinerseits offiziell die Generalmobilmachung im Reich. Die drei italienischen [[Korps|Armeekorps]] zu je 30.000 Mann setzten sich zur gleichen Zeit in Bewegung, aber von verschiedenen Ausgangspunkten aus. Während das I. Armeekorps unter General [[Ruggero Santini]] vom eritreischen [[Senafe]] nach Adigrat vorrückte, zog das II. von General [[Alessandro Pirzio Biroli]] befehligte Armeekorps nach Adua und das eritreische Armeekorps von General [[Pietro Maravigna]], das aus [[Askari]]s und italienischen [[Schwarzhemden]] zusammengesetzt war, bewegte sich in Richtung Inticho (Enticciò).<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 216.</ref><br />
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Auf abessinischer Seite übertrug Kaiser Haile Selassie das Oberkommando der Nordtruppen an Ras Kassa, einen der wichtigsten Würdenträger des Reiches. Unter dessen Oberbefehl fochten die Einheiten der Rase Immirù, Sejum und Mulughieta einen vorerst erfolglosen Abwehrkampf. Fast ungehindert durch die zuvor größtenteils zurückgezogenen abessinischen Kräfte, gelangen den Italienern in den ersten Tagen Erfolge von hoher Symbolkraft. Am 5. Oktober hissten Truppen von General Santini die italienische Trikolore auf dem Fort von Adigrat, das nach der Niederlage im Ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg 1896 aufgegeben worden war. Am 6. Oktober wurde Adua eingenommen, dessen Eroberung eines der wichtigsten Ziele der italienischen Offensive darstellte. Eine Woche später fiel [[Aksum|Axum]], die Wiege der abessinischen Kultur.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 216; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 85.</ref> Die erste Phase des Krieges wurde im Norden unter De Bono am 8. November 1935 mit der Einnahme der Ortschaft [[Mek’ele|Mekelle]] (Macallè) abgeschlossen. Dieser Schritt war in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Mit Mekelle war der Regierungssitz von Ost-Tigrè erobert worden, außerdem führten wichtige Karawanenverbindungen aus Dessiè und vom [[Ashangisee|Asciangi-See]] ins Städtchen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 239.</ref><br />
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<gallery mode="packed" heights="125" caption="Das Kampfterrain Abessiniens"><br />
Alagi Amba, near Attala - The Abyssinian Expedition 1868 Q69840.jpg|Alte Bildaufnahme des Amba Alagi Berges<br />
Ethiopian highlands 01 mod.jpg|Das [[Abessinisches Hochland|abessinische Hochland]]<br />
Misty Morning near Endaselassie.JPG|Abessinisches Gebirge in West-Tigray<br />
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[[Datei:Ethiopia War Map (1935-feb 1936) it.svg|miniatur|Frontverlauf Oktober 1935 bis Februar 1936]]<br />
Im Verhältnis zu den verfügbaren Kräften von 110.000 Mann hatte De Bono auf der Nordfront mit drei weit auseinander liegenden Angriffskeilen eine ziemlich ausgedehnte Frontlinie eröffnet. Nach den großen Geländegewinnen der ersten Kriegswochen sah er die vordringlichste Aufgabe darin, die eroberten Stellungen zu befestigen, die Verbindungen zwischen den Angriffskeilen zu sichern, Widerstandsnester auszulöschen und den Nachschub heranzuführen. Aus der Befürchtung heraus, durch einen weiteren Vormarsch gefährliche Umgehungsangriffe in den Rücken der eigenen Verbände zu provozieren, verlangsamte er Anfang November das Tempo des Angriffs und stoppte ihn Mitte November bei Mekelle ganz. Diese militärisch überlegte Vorgehensweise erregte den Unwillen Mussolinis, der sie als eigenmächtiges und unautorisiertes Abrücken von der Strategie des Offensivkrieges wertete. Am 11. November ordnete der Diktator an, De Bonos Einheiten sollten weitere 50 Kilometer bis zu dem Berg [[Amba Alagi]] vorrücken, also die Front auf insgesamt 500 Kilometer ausdehnen. Der alte General, der eine weitere Verlängerung der Operationslinie für einen militärischen „Fehler“ hielt, sträubte sich. Zwar gab Mussolini seinem faschistischen Weggefährten schließlich inhaltlich recht und hieß den vorläufigen Stillstand auf der Linie von Mekelle gut, De Bonos widersetzendes Auftreten hielt Mussolini aber für inakzeptabel, und deshalb ersetzte er ihn – noch zum Marschall befördert – am 14. November durch den amtierenden Generalstabschef Pietro Badoglio.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 225; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 85.</ref><br />
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Die zweite Phase des Krieges währte von Mitte November bis Mitte Dezember 1935. Sie stand ganz im Zeichen eines [[Stellungskrieg]]es. Dem neuen Oberbefehlshaber Badoglio war seine Ernennung am 15. November im [[Palazzo Venezia]] mitgeteilt worden. Begleitet von seinen beiden Söhnen, die als Piloten der Luftwaffe dienten, traf Badoglio vom Hafen in Neapel aus am 26. November in Massaua ein. Von dort aus begab er sich nach Adigrat, wo sich der Sitz des italienischen Oberkommandos befand. Nach einer Inspektionsreise, die er zu Beginn der Feindseligkeiten auf dem Kriegsschauplatz unternommen hatte, war der Generalstabschef bereits über die Lage in Ostafrika im Bilde. Er schätzte sie nicht viel anders ein als sein Vorgänger. Vorerst ordnete auch er keine neuen Offensiven an. Nachdem die ersten Kriegswochen das Invasionsheer an der Nordfront 200 Kilometer in feindliches Gebiet geführt hatten und der Aufmarsch der abessinischen Armee inzwischen abgeschlossen war, setzte Pietro Badoglio alles daran, die eroberten Gebiete gegen alle Eventualitäten zu sichern und die vorgeschobene Operationslinie bei Mekelle zu halten. Die kämpfende Truppe sollte nicht länger in der Luft schweben, begründete er seine Maßnahmen gegenüber dem Diktator.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 87.</ref><br />
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Im Rahmen des Zweifrontenkrieges fiel den an der Südfront agierenden Verbänden in den Operationsplänen währenddessen die Aufgabe zu, feindliche Kräfte zu binden und damit die Erfolgschancen für den Hauptstoß im Norden zu verbessern. Dennoch setzte der im Wüstenkrieg erfahrene General [[Rodolfo Graziani]] von Beginn an alles auf die Offensive. Der ehrgeizige Offizier wollte sich nicht tatenlos damit abfinden, dass er als Kommandeur eines Nebenkriegsschauplatzes ausersehen worden war. Deshalb griffen seine Verbände auf der ganzen Frontbreite von 1.100 Kilometern an. Schon in den ersten Tagen besetzten sie Dolo und Oddo. Am 5. November wurde Gorrahei eingenommen. Dann trafen sie auf den Widerstand der abessinischen Südarmee. Unterstützt von starken Regenfällen, die die Erdstraßen aufweichten und für schweres Kriegsgerät unpassierbar machten, gelang es den Truppen von Ras Desta Damtù und [[Dejazmach|Degiac]] Nasibù, den Vormarsch der feindlichen Verbände in das wüstenhafte Hochland des Ogaden zu stoppen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Aspekte der Totalisierung des Kolonialkrieges.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 27–44, hier S. 35; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 85.</ref><br />
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=== Abessinische Weihnachtsoffensive und Badoglios „Entgrenzte Kriegsgewalt“ ===<br />
Badoglio hatte den Oberbefehl von De Bono in einer strategisch schwierigen Lage übernommen. Seine Streitkräfte waren in zwei Teile aufgespalten, einen bei Adua und einen bei Mekelle. Obwohl nur 100 Kilometer voneinander entfernt, gab es keine direkte Kommunikation zwischen den beiden Truppenteilen. Die Einheiten bei Adua mussten über zwei [[Saumpfad]]e versorgt werden, die von den Äthiopiern abgeschnitten werden konnten, und die Flanken der Truppen bei Mekelle waren weit offen. Während sich Badoglio nun auf die Flankensicherung konzentrierte, ließ er das Zentrum von nur vier Schwarzhemden-Divisionen bewacht. In dieser Situation begann Mitte Dezember die dritte Kriegsphase, die bis weit in den Januar 1936 hinein dauerte. Inmitten des Stellungskrieges, der auf italienischer Seite der Vorbereitung einer kriegsentscheidenden Großoffensive diente, gingen Truppen des kaiserlichen Nordheeres unter dem Kommando von Ras Kassa unerwartet zu Entlastungsangriffen über. Im Zentrum wurden die Schwarzhemden zurückgedrängt, und Badoglio musste zusätzliche eritreische Einheiten zur Verstärkung heranziehen.<ref name="GoochMattioli">John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. 21; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 88.</ref><br />
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Die italienischen Streitkräfte mussten einige ihrer Vorposten räumen, von ihnen kontrollierte Pässe aufgeben und sich aus bereits besetzten Ortschaften wieder zurückziehen. Besonders die von [[Imru Haile Selassie|Ras Immirù]] befehligten Verbände stießen mit bis zu 40.000 abessinischen Soldaten an der rechten Flanke der Italiener weit in bereits verloren geglaubtes Gelände in der Provinz Tigray vor und kamen bis in die Nähe von Axum. Die Division „Gran Sasso“ musste sich bis nach Axum zurückziehen, während den Einheiten von Ras Immirù bei Dembeguinà sogar ein kleiner Sieg in einer Feldschlacht gelang. Immer stärker zeigte sich, dass die Italiener die Operationslinien bei ihrem schnellen Vormarsch überdehnt hatten und sie das rückwärtige Heeresgebiet noch keineswegs kontrollierten. Mit dem Einsetzen der abessinischen Gegenoffensive verstärkte sich auch die Partisanentätigkeit hinter den italienischen Linien. Überall drohten Hinterhalte. Am rechten Frontabschnitt wussten die italienischen Soldaten oft nicht, aus welcher Richtung die Abessinier angreifen würden. Diese konnten zeitweise beachtliche Erfolge erzielen und brachten die Invasoren an verschiedenen Frontabschnitten in arge Bedrängnis, was bei den Invasoren Erinnerungen an die Niederlage von Adua weckte.<ref name="GoochMattioli" /><br />
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In dieser entscheidenden Phase kam es zur „Entgrenzung der Krieges“. Um den äthiopischen Vormarsch zu stoppen, entschied sich Oberbefehlshaber Pietro Badoglio für einen chemischen Krieg großen Stils. Als Einheiten von Ras Immirù gerade dabei waren, den [[Tekeze-Setit|Takazze-Fluss]] zu überqueren, warfen am 22. Dezember Kampfflugzeuge erstmals Yperit-Bomben über menschliche Ziele ab. Dieser Einsatz war ohne offizielle Ermächtigung aus Rom erfolgt. Erst am 28. Dezember autorisierte Mussolini Badoglio offiziell dazu, den Abwurf von Giftgas jeder Art „auch im großen Umfang“ ''(anche su larga scala)'' anzuordnen. Bereits einige Tage zuvor hatte der Diktator General Rodolfo Graziani an der Südfront zum Einsatz von stark toxischen Substanzen ermächtigt. Dort flogen am 24. Dezember drei Caproni-Bomber den ersten Giftgasangriff. Bombardiert wurde eine vielköpfige, bei der Ortschaft Areri weidende Vieh- und Kamelherde. Von nun an wurde die chemische Massenvernichtungswaffe in die meisten italienischen Operationen integriert. Bis zum Fall von Addis Abeba kam es an beiden Fronten zu einem massiven und systematischen Einsatz von Giftgas. Obwohl sie den Konflikt letztlich nicht entschieden, leiteten die Yperit-Angriffe der Luftwaffe die Kriegswende ein. Sie brachten die abessinische Weihnachtsoffensive zum Stehen und halfen mit, den Weg in Richtung Süden freizubombardieren.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 88 f.</ref><br />
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[[Datei:Ethiopia War Map (may 1936) it.svg|miniatur|Frontverlauf Februar bis Mai 1936]]<br />
Nachdem die abessinische Weihnachtsoffensive mit brutalsten Mitteln gestoppt worden war, begann Mitte Januar 1936 die vierte Phase des Krieges; sie dauerte bis zur Einnahme von Addis Abeba am 5. Mai. Eine stark brutalisierte Kriegsführung, zu der neben dem Ausbringen von chemischen Kampfstoffen auch das Abbrennen ganzer Landstriche, das Niedermetzeln der Viehherden und zahlreiche Massaker gehörten, prägte den Konflikt nun.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 89 f.</ref> Nachdem er seinen Nachschub gesichert und von Mussolini drei zusätzliche Divisionen erhalten hatte, war Badoglio bereit für seine Offensive. Ihm gegenüber standen drei äthiopische Armeen. Auf der rechten Flanke bei Adua stand Ras Immirù mit 40.000 Mann, im Zentrum Ras Kassa und Ras Sejum mit 30.000 Mann und auf der linken Flanke Ras Mulughieta mit 80.000 Mann.<ref>John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. 22.</ref> Zwischen Januar und Mai 1936 kam es zu massiven Zusammenstößen zwischen den Kriegsgegnern. An der Nordfront fanden die [[Tembienschlacht#Erste Tembienschlacht|Erste Tembienschlacht]], die Schlacht von Endertà (Inderta), die [[Tembienschlacht#Zweite Tembienschlacht|Zweite Tembienschlacht]], die Schlacht bei Scirè und der Entscheidungskampf am Asciangi-See bei [[Schlacht von Mai Ceu|Mai Ceu]] (Maychew) statt. Bei letzterem wurde die Kaiserliche Garde aufgerieben.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 237; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 90.</ref><br />
<br />
Obwohl der Krieg an der Nordfront entschieden wurde, kam es auch im Süden und Südosten zu schweren Kämpfen. Anders als bei den abessinischen Befehlshabern im Norden, die zur traditionellen Führungsschicht des Kaiserreiches gehörten, standen General Graziani hier Kommandeure der jüngeren Generation gegenüber: ''Ras'' Desta Damtu im Süden und ''[[Dejazmach]]'' Nasibu Za-Emanuel als Gouverneur von Harrar im Südosten. Nach der Einnahme Neghellis starteten Grazianis italienische Truppen die große Offensive im Ogaden-Gebiet und eroberten die Stadt Harrar. In allen diesen Schlachten und Manövern bewährte sich auf italienischer Seite ein Zusammenspiel der Luftwaffe mit den motorisierten Bodentruppen und der leichten Infanterie. Die Italiener profitierten zudem von der relativ guten Organisation und Logistik. Der Nachschub erfolgte zu großen Teilen über die ausgebesserten und in Tag- und Nachtarbeit eilig erstellten Verbindungswege sowie über Luftbrücken.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 237; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 90; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 235.</ref><br />
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=== Völkerbund und internationale Reaktionen ===<br />
Der Abessinienkrieg löste die schwerste internationale Krise seit Ende des Ersten Weltkrieges aus und stellte den Völkerbund vor die größte Bewährungsprobe seit seiner Gründung. In dem militärischen Konflikt standen sich zwei Mitgliedsstaaten gegenüber. Zum ersten Mal seit der japanischen [[Mandschurei-Krise|Besetzung der Mandschurei]] 1931 sah sich der Völkerbund mit einem Rechtsbrecher konfrontiert, der sich über die Prinzipien der „zivilisierten Welt“ hinwegsetzte und das System kollektiver Sicherheit von Grund auf in Frage stellte. Nach Artikel 16 seiner Satzung bildete die Aggression einen Kriegsakt gegen die Völkergemeinschaft als Ganzes. Die äthiopische Regierung ließ nichts unversucht, um die italienischen Gewaltakte beim Völkerbund anzuzeigen und durch ihn verurteilen zu lassen. Dieses Vorgehen stellte für das militärisch unterlegene Land die einzig aussichtsreiche Strategie dar. Bereits wenige Wochen nach Ual-Ual bat Äthiopien den Völkerbund um Vermittlung und bemühte sich mehrere Monate lang um eine gewaltfreie Beilegung des Konflikts, an der Italien jedoch nie wirkliches Interesse zeigte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 125 f.</ref><br />
<br />
Schon am 7. Oktober 1935 verurteilte die Völkerbundversammlung Italien als Aggressor und wies dem Land dadurch die Schuld am Ausbruch der Feindseligkeiten zu. Ein paar Tage später verhängte sie mit 50 Stimmen bei drei Enthaltungen, die von Italiens Nachbarstaaten Österreich, Ungarn und Albanien abgegeben wurden, auch Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Sie traten am 18. November in Kraft, fielen allerdings gemessen an den möglichen Strafmaßnahmen so milde aus, dass sie Italien in seiner Kriegsführung nicht behinderten. Weder das Embargo auf Waffen, Munition und Kriegsgerät noch die Kreditsperre hatte eine starke Wirkung, und vom Handelsembargo waren ausgerechnet kriegswichtige Güter wie Öl, Eisen, Stahl und Kohle ausgenommen. Zudem konnte Italien alle benötigten Rohstoffe und Güter leicht bei Staaten erwerben, die nicht dem Völkerbund angehörten. Eine Sperrung des Suezkanals für italienische Kriegsschiffe oder eine Militärintervention zog in Genf niemand ernsthaft in Betracht.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 126 f.</ref><br />
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Während der gesamten Dauer der Feindseligkeiten kam es zu mehreren Initiativen Abessiniens vor dem Völkerbund. In seinem Telegramm vom 30. Dezember 1935 protestierte Kaiser Haile Selassie I. erstmals scharf gegen die italienischen Giftgaseinsätze. Der Kaiser brandmarkte sie als „inhumanes Vorgehen“ und erhob die Beschuldigung, dass diese im Verein mit anderen Kriegsverbrechen auf die „systematische Vernichtung der Zivilbevölkerung“ zielten. Damit war der Ton vorgegeben, den fast alle diplomatischen Interventionen der kaiserlichen Regierung wie einen roten Faden durchzogen. Am Genfer Sitz des Völkerbundes brachte die abessinische Regierung über Wochen zwei konkrete Forderungen: Erstens bat sie um finanzielle Unterstützung, um auf dem Weltmarkt Waffen und Rüstungsgüter kaufen zu können. Zweitens forderte sie eine Ausdehnung der Sanktionen auf kriegswichtige Güter wie Öl, Eisen und Stahl.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 127 f.</ref><br />
<br />
In scharfem Kontrast zur Position der britischen und französischen Demokratien stand die Position des [[NS-Staat|nationalsozialistischen Deutschland]]. Hitler hatte eine mit dem faschistischen Italien verwandte Ideologie übernommen. Mussolini war jedoch nicht bereit, eine deutsche Annexion Österreichs zu tolerieren, welche NS-Deutschland zum direkten Nachbarn Italiens am [[Brennerpass]] gemacht hätte. Der deutsche Diktator, der zur Expansion nach Österreich entschlossen war, kam zur Schlussfolgerung, dass Mussolini, sollte er in Abessinien siegreich sein, in einer ausreichend starken Position wäre, um Deutschlands Ambitionen entgegenzutreten. Solange seine Armee aber in einen afrikanischen Krieg verwickelt war, wäre er dazu nicht in der Lage. Hitler war daher bedacht darauf, den abessinischen Widerstand zu stärken, und antwortete deshalb wohlwollend auf Hilfsanfragen Abessiniens an die Deutschen. Damit war das Deutsche Reich praktisch das einzige Land, das Abessinien unterstützte. Ohne Wissen Mussolinis wurde Haile Selassies Armee von deutscher Seite mit drei Flugzeugen, über sechzig Kanonen, 10.000 Mausergewehren und 10 Millionen Patronen versorgt.<ref>Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 226.</ref><br />
<br />
== Kriegsverlauf nach der Ausrufung des Imperiums ==<br />
[[Datei:DOL 1936 05 11 1 object 1150071.png|mini|Schlagzeile der Südtiroler Tageszeitung [[Dolomiten (Zeitung)|Dolomiten]] mit propagandistischer Verkündung des faschistischen Imperiums und der Kaiserwürde für Viktor Emanuel III.]]<br />
<br />
Die Ausrufung des italienischen Imperiums am 9. Mai 1936, mit der der italienische König [[Viktor Emanuel III.]] den Titel „Kaiser von Abessinien“ annahm, stellte eine diplomatische Zweckmäßigkeit dar, um vor der Welt die ''de jure'' Eroberung Abessiniens zu verkünden. Tatsächlich kontrollierten die Italiener zu diesem Zeitpunkt nur ein Drittel des abessinischen Territoriums, das aber die meisten großen Städte und einige wichtige Verkehrsachsen umfasste. Weiterhin standen riesige Gebiete in Zentral-, West- und Südäthiopien ganz unter abessinischer Kontrolle. Die in diesen Zonen verbliebenen abessinischen Truppen ergaben sich nicht, und auch die dortige Bevölkerung erkannte die Autorität der Besatzungsmacht nicht an. In den folgenden fünf Jahren bemühte sich Italien um eine Eroberung der restlichen Gebiete, in denen durchgehend etwa 25.000 Widerstandskämpfer unter Waffen standen. Weite Teile Nord- und Nordwest-Abessiniens entzogen sich jedoch dauerhaft der italienischen Kontrolle. Zur Eroberung und Kontrolle der abessinischen Gebiete standen Italien in den Jahren 1936, 1937 und 1938/39 jeweils 446.000, 237.000 bzw. 280.000 Soldaten zur Verfügung.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1022; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 136; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 58 u. 163.</ref> Der äthiopische Widerstand nach Mai 1936, dessen Anhänger sich selbst „Patrioten“ (amharisch ''arbagnoch'') nannten, lässt sich in zwei Phasen unterteilen: Die erste dauerte bis Februar 1937 und war im Wesentlichen eine Fortsetzung des Krieges. Dominierend waren dabei einige hohe Heerführer der kaiserlichen Armee, nämlich Ras Immirù, Ras Desta Damtù und die Gebrüder Kassa, die drei Söhne des ehemaligen Oberbefehlshabers an der Nordfront. Die anschließende zweite Phase war durch einen Übergang der Widerstandsbewegung zum Guerillakrieg geprägt, der meistens von Angehörigen des niederen abessinischen Adels angeführt wurde.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 136 f; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001, S. 167 u. 169.</ref><br />
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=== Fortsetzung des regulären Krieges (1936–1937) ===<br />
Nachdem Haile Selassie I. ins britische Exil geflohen war, wurde in der westäthiopischen Stadt Gore eine abessinische Gegenregierung gebildet. Diese stand in loser Verbindung mit dem Kaiser und hatte vor allem zwei Aufgaben: Einerseits sollte sie eine politische Gegeninstanz schaffen, welche die italienische Besatzungsherrschaft delegitimieren würde. Andererseits wurde sie mit der Organisation und Koordination des weitergehenden abessinischen Widerstand betraut. Offiziell geleitet wurde die Regierung in Gore von ''[[Bitwoded]]'' Wolde Tzadek. Die wichtigste Autoritätsperson war jedoch ''Ras'' Immiru, der als der fähigste General der abessinischen Armee galt, und den Kaiser Haile Selassie noch vor seinem Gang ins Exil zu seinem Vizekönig in Abessinien ernannt hatte. Der Ras wurde in Gore insbesondere von der ''Black Lions Organisation'' unterstützt – einer sich aus Militärs und zivilen Intellektuellen zusammensetzenden Widerstandsgruppe. Die Aktionen der „Patrioten“ verrieten ein beträchtliches Maß an Effizienz, ungeachtet der Tatsache, dass eine zentrale Koordinierung nie gelang.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 136 f; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 166 f; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 168.</ref><br />
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[[Datei:Italienisch-Ostafrika.png|mini|hochkant=1.5|Administrative Einteilung von Italienisch-Ostafrika (A.O.I.)]]<br />
Schon am 12. Mai, während Badoglio die Siegesparade in Addis Abeba abhielt, wurde eine Lastwagen-Kolonne der italienischen Luftwaffe von „Patrioten“ angegriffen und fast völlig zerstört. Zwei Tage später erfolgte eine ähnliche Aktion des Widerstands. Badoglio reagierte darauf mit der Entsendung von sechs eritreischen Bataillonen ins ländliche Umland der Hauptstadt, um „Vergeltungsmaßnahmen“ durchzuführen. Militäroperationen dieser Art wurden von Mussolini unterstützt, der Badoglio im Bezug auf die Vergeltungspolitik erklärte, dass „wir durch Exzess und nicht durch Mangel sündigen müssen“.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1022</ref> Im Juni 1936 erhielt Graziani als neuer Vizekönig von Mussolini die Order, mit einem Schlag Südwest-Äthiopien zu besetzen, um die Anerkennung des italienischen Imperiums zu beschleunigen. Das von den Italienern als „Gouvernement Galla-Sidama“ bezeichnete Territorium war das landwirtschaftlich fruchtbarste Gebiet und verfügte über bedeutende Bodenschätze. Darüber hinaus war Großbritannien am Erhalt einer Einflusszone in dieser Region interessiert.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 167.</ref> Graziani stellte sich aufgrund mangelnder Truppen und der einsetzenden Regenzeit jedoch gegen eine schnelle Offensive. Er argumentierte, dass schon Addis Abeba nicht genug Truppen zur eigenen Verteidigung habe, und wegen der vom Regen beeinträchtigten Straßen sei auch die eintreffende Verstärkung nicht schnell genug vor Ort. Die Offensive gegen Südwest-Abessinien wurde daher auf Oktober nach dem Ende der Regenzeit verschoben.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1023; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 167.</ref><br />
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Von Seiten des abessinischen Widerstands erfolgten mehrere ambitionierte Versuche, um Addis Abeba während der Regenzeit 1936 zurückzuerobern. Dadurch sollte der italienische Vormarsch nach Westäthiopien aufgehalten und die Regierung von Gore gestärkt werden. Den ersten Versuch unternahmen Ras Immiru und Wolde Tzadek, die im Juni aus den Städten Ambo bzw. Waliso auf die Hauptstadt vorrückten. Das Unternehmen scheiterte jedoch am Widerstand der lokalen [[Oromo (Ethnie)|Oromo]]-Bevölkerung, die den abessinischen Truppen den Durchmarsch verweigerte. Aufgrund der vorausgegangenen Unterdrückung im Kaiserreich waren die Oromo der Gore-Regierung gegenüber feindlich gesinnt. Ras Immiru musste sich mit seinen Soldaten nach Südwest-Äthiopien zurückziehen, wo er sich schließlich in [[Kaffa (Provinz)|Kaffa]] den Italienern ergab und nach Italien verschleppt wurde. Am 28. und 29. Juli 1936 erfolgte der zweite abessinische Angriff auf Addis Abeba, diesmal aus dem Nordwesten: Die beiden Kassa Brüder Aberra (Abarra) und Asfa Wassen, die Söhne Ras Kassas, die in ihrem Hauptquartier in der Stadt Fiche über 10.000 Soldaten verfügten, belagerten mit etwa 5.000 „Patrioten“ die Hauptstadt. Ihre Einheiten drangen bis ins Stadtzentrum vor, wo sie auf heftige Gegenwehr der verschanzten Besatzer stießen, und schließlich mit Hilfe der italienischen Luftwaffe zurückgedrängt wurden. Einen Monat später leitete am 26. August ein anderer abessinischer Kommandeur, ''[[Dejazmach]]'' Balcha, die dritte erfolglose Offensive aus dem Südwesten. Doch der Kampf um Addis Abeba hatte sichtbar gemacht, wie ungesichert die italienische Herrschaft nach wie vor war.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 166–168; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 168 f.</ref><br />
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[[Datei:DC-1936-52-d.jpg|mini|Verkündung der vollständigen Besetzung Äthiopiens im Dezember 1936 auf dem Titelblatt von ''La Domenica del Corriere'']]<br />
Um Überfälle dieser Art künftig zu verunmöglichen, ließ Vizekönig Graziani 1937 einen durch Maschinengewehrnester gesicherten Stacheldrahtzaun um die Hauptstadt ziehen, dessen Tore aus Sicherheitsgründen nur tagsüber geöffnet wurden.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 138.</ref> Nach dem Scheitern einer direkten Einnahme Addis Abebas versuchten die „Patrioten“, die Hauptstadt vom Nachschub über die Eisenbahnlinie nach Dschibuti abzuschneiden. Diese stellte während der Regenzeit die einzige und somit lebenswichtige Versorgungsroute dar. Unter ''Dejazmach'' Fikre Mariam griffen 2.000 abessinische Kämpfer mit [[Automatische Schusswaffe|automatischen Schusswaffen]] die Eisenbahnstrecke an. Die gewagteste derartige Aktion des Widerstands erfolgte am 11. Oktober 1936, als ein gepanzerter Zug mit Kolonialminister Alessandro Lessona trotz strengster Geheimhaltung bei der Ortschaft Akaki einen halben Tag lang von „Patrioten“ unter Beschuss genommen wurde. Die Italiener setzten zur Sicherung der Versorgungslinie Panzer und über hundert Flugzeuge ein, außerdem wurden entlang der gesamten Eisenbahnstrecke alle 50 Meter Wachen aufgestellt. Dies verdeutlichte erneut, dass die italienische Besatzungsmacht Abessinien nicht unter Kontrolle hatte.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1023; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 243; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 166 f u. 170 f.</ref><br />
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Unterdessen hatte Graziani mit den als „große koloniale Polizeioperationen“ bezeichneten Offensiven gegen die verbliebenen abessinischen Heerführer begonnen. Dabei kamen erneut massive Bombardements aus der Luft sowie Giftgas zum Einsatz. Zunächst richteten sich die Italiener gegen die drei Kassa Brüder in der zentraläthiopischen Region [[Shewa]]: Wonde Wassen Kassa war am 6. September 1936 mit 1.500 bewaffneten Kriegern aus der Stadt [[Lalibela]] aufgebrochen, um sich in der Stadt Fiche mit seinen beiden Brüdern gegen die Italiener zu vereinen. Seine Einheit wurde aber von italienischen Truppen abgefangen, und am 11. Dezember 1936 wurde Wonde Wassen Kassa hingerichtet.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 139; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 243; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 172.</ref> Seinen beiden Brüdern, Aberra und Asfa Wassen, wurde im Falle der Kapitulation die Begnadigung versprochen. Sie wurden jedoch von General Tracchia, der Fiche mit 14.000 Soldaten besetzte, festgenommen und am 21. Dezember 1936 hingerichtet.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 172 f.</ref> Nach den Militäroperationen gegen die „Patrioten“ in der Shewa-Region richtete sich Grazianis Fokus auf ''Ras'' Desta Damtu, der mit einer Armee von über 10.000 Mann die italienische Eroberung Südäthiopiens verzögerte. Nach einem ausgelaufenen Ultimatum griffen die Italiener am 18. Januar 1937 Desta Damtus Einheiten mit drei Militärkolonnen und über 50 Flugzeugen in der Region Arbegona (Arbagoma) an. Dabei bekamen sowohl Luftwaffe als auch Bodentruppen freie Hand zur vollständigen Vernichtung der abessinischen Armee. Bei der Schlacht von Jebano am 2. Februar erlitten die Abessinier schwere Verluste und Desta Damtu verlor einen seiner Generäle.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 173–176.</ref> Von 18. bis 19. Februar 1937 fand schließlich bei der Stadt Goggeti (Gojetti) die letzte offene Feldschlacht des Krieges statt. Die äthiopischen Einheiten wurden dabei von den Italienern aufgerieben. Ras Desta Damtu selbst konnte noch fliehen, wurde aber am 24. Februar von einer mit den Italienern kollaborierenden Einheit festgenommen und anschließend erschossen.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 176; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 169.</ref><br />
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=== Guerillakrieg in Italienisch-Ostafrika (1937–1940) ===<br />
[[Datei:Guerillakrieg in Italienisch-Ostafrika 1937.png|miniatur|hochkant=1.5|Zentren des äthiopischen Widerstands („Patrioten“) und italienische Militäroperationen bis Ende 1937]]<br />
[[Datei:Abyssinian Patriots Attacking the Fort of Derba Marcos E2472.jpg|mini|Äthiopische „Patrioten“ belagern die Stadt Debre Markos]]<br />
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Mit dem Tod Ras Desta Damtus hatten die Italiener bis Frühjahr 1937 alle großen abessinischen Militärführer beseitigt. Außerdem hatten sie in der Zwischenzeit auch die Stadt Gore eingenommen und die provisorische abessinische Regierung vertrieben. Die Aussicht auf eine Kontrolle Abessiniens wurde jedoch mit der zur gleichen Zeit losgetretenen Terrorwelle der Faschisten beim [[Pogrom von Addis Abeba]] zunichtegemacht.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 139; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 243 f; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 176, Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 169–171.</ref> Am 19. Februar 1937 führten zwei junge Angehörige des abessinischen Widerstands in Addis Abeba ein Attentatsversuch auf Vizekönig Graziani durch. Nach dessen Fehlschlag reagierte die italienische Besatzungsmacht, und dabei insbesondere die faschistische Parteimiliz der Schwarzhemden, mit tagelangen Massenmorden gegen die schwarze Bevölkerung der Hauptstadt. Diesem italienischen Gewaltakt folgte einerseits eine von Februar bis Juli 1937 andauernde Terrorkampagne der Italiener gegen die Volksgruppe der Amharen. Andererseits leitete das Pogrom den Übergang zur zweiten Phase des abessinischen Widerstands ein: den [[Guerilla]]krieg mit Schwerpunkt auf das Gouvernement Amhara.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 139; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 243 f; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 176; Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 188; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 169–171.</ref> Die Volksgruppen in den anderen Landesteilen akzeptierten überwiegend das neue Regime Italiens, mit welchem sie die amharische Vorherrschaft abschütteln konnten. Insbesondere die Muslime begrüßten das Ende der christlichen Dominanz des äthiopischen Kaiserreiches. Nur die Volksgruppe der Oromo im südlichen Government Galla-Sidama lehnten sowohl das Kaiserreich als auch die italienische Besatzungsherrschaft ab.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 188.</ref><br />
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Die Sicherheitslage war 1937 derart angespannt, dass Vizekönig Graziani aus militärischer Notwendigkeit nicht in den von Rom gewünschten schnellen und massiven Truppenrückzug einwilligen konnte. Seit 15. August 1937 wurden italienische Truppen in den amharischen Regionen Gojjam und Begemeder von „Patrioten“ angegriffen, belagert, zerstört oder gefangen genommen. Die bekanntesten Guerillachefs waren Abebe Aregai, Haile Mariam Mammo, ''Dejazmach'' Tashoma Shankut und ''Fitawrari'' Auraris. Mit Erfolg ließen sie in den amharischen Unruheregionen Shewa, Begemder und insbesondere Gojjam italienische Einheiten und Konvois angreifen, feindliche Befestigungen belagern und Sabotageakte verüben. Auf dem Hochplateau, das sich für eine Guerillataktik ideal eignete, wimmelte es nur so von kleineren und größeren Widerstandsherden. Im September 1937 begann in Gojjam schließlich ein Volksaufstand gegen die italienische Besatzungsmacht. Dieser resultierte einerseits aus der massiven Repression in den vorausgegangenen Monaten, andererseits in von den Italienern betriebenen Landverwüstung und forcierten Entwaffnung der Bevölkerung. Die agrarisch geprägte äthiopische Gesellschaft betrachtete den Besitz von Land und Waffen als unveräußerliche Rechte, deren Abschaffung nicht zu tolerieren war. Ende 1937 hatte der Widerstand der „Patrioten“ der Region Gojjam die Italiener in ihren Befestigungen isoliert. In seinem letzten Bericht als Vizekönig musste Graziani am 21. Dezember 1937 gegenüber Mussolini einräumen, dass seit der Einnahme von Addis Abeba auf italienischer Seite mehr als 13.000 Soldaten gefallen waren – viele Tausend mehr als im „Krieg der sieben Monate“ selber.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 139; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 181 u. 190 f.</ref><br />
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Die Kriegslage in Ostafrika erforderte nun italienische Truppenverstärkungen. Allerdings hatte Mussolini seit Anfang 1937 eine [[Italienische Intervention in Spanien|massiven Militärintervention]] zur Unterstützung von [[Francisco Franco|Francos]] Nationalisten im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] begonnen.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 188–190.</ref><br />
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Der neue Vizekönig von Italienisch-Ostafrika, Amadeus von Aosta, versuchte die Brutalität seines Vorgängers abzumildern und auf eine mehr auf Kooperation mit den lokalen Eliten setzende Kolonialpolitik zu setzen. Hingegen führte der neue Oberbefehlshaber der italienischen Streitkräfte in Ostafrika, General Ugo Cavallero, den Giftgaseinsatz in den Gouvernements Amhara und Shewa fort. Angesichts der offenen Rebellion in diesen Landesteilen mit etwa 15.000 bewaffneten Männern, sowie einigen Tausend im Gouvernement Oroma-Sidama, setzte Cavallero auf einen Rückeroberungsfeldzug gegen die Region Gojjam in Amhara. Zu diesem Zweck baute er ein das Gebiet durchziehendes Straßennetzwerk aus und errichtete 73 Militärlager entlang der Bezirksgrenzen, um Gojjam von der Außenwelt abzuschneiden. Die im Frühjahr 1938 begonnene Militäraktion forderte etwa 2.500 bis 5.000 Tote unter den Widerstandskämpfern, führte jedoch nicht zu einer Unterwerfung der Bevölkerung. Ein zweiter Feldzug wurde Nordwesten der Provinz Shewa gestartet, in deren Rahmen etwa 2.000 Rebellen getötet wurden, jedoch der Anführer der lokalen Revolte entkam. Im darauf folgenden Jahr 1939 stellte sich schließlich eine militärische Pattsituation ein, die zu einem Rückgang von Aktionen des abessinischen Widerstands führte. Die Italiener waren bei der Niederschlagung des abessinischen Guerillakriegs gescheitert, jedoch waren letztere nicht in der Lage, die gut befestigten italienischen Positionen einzunehmen. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, auf dessen Ausbruch die Widerstandsbewegung setzte, hatten die Italiener etwa 10.000 Mann an Toten und gegen 140.000 Mann an Verwundeten zu beklagen.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1025; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 245.</ref><br />
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=== Internationalisierung des Krieges und Befreiung (1940–1941) ===<br />
{{Hauptartikel|Ostafrikafeldzug}}<br />
[[Datei:Der Ostafrikafeldzug 1940-1941.png|mini|hochkant=1.5|Italienische Offensiven und Befreiung Abessiniens während des Ostafrikafeldzuges 1940/41]]<br />
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Das letzte und entscheidende Stadium erreichte der Konflikt im Zuge seiner Internationalisierung, nachdem das faschistische Italien Anfang Juni 1940 an der Seite des Deutschen Reiches in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war. Im Juli 1940 rückten italienische Truppen von Italienisch-Ostafrika aus gegen die britische Kolonie [[Kenia]] und den anglo-ägyptischen [[Sudan]] vor, wobei sie einige grenznahe Ortschaften und Städte eroberten. Nach Frankreichs militärischem Kollaps schloss man mit dessen Kolonie [[Dschibuti]] einen Waffenstillstand, der Italien für die Dauer des Krieges umfassende Kompetenzen, unter anderem die Nutzung der Hafenanlagen in dem französischen Territorium einräumte. Im August 1940 [[Italienische Eroberung der britischen Kolonie Somaliland|eroberten italienische Truppen Britisch-Somaliland]]. Damit kontrollierte Italien für kurze Zeit das ganze Horn von Afrika. Am 13. September griff zusätzlich eine von Marschall Rodolfo Graziani kommandierte Armee von 150.000 Mann von Libyen aus die [[Italienische Invasion Ägyptens|britischen Einheiten in Ägypten an]]. Die italienische Offensive blieb jedoch schon nach wenigen Tagen liegen. Im Dezember gingen die Briten zum Gegenangriff über und überschritten am 2. Januar die Grenze zu Libyen. Das Scheitern des italienischen [[Zweiter Weltkrieg#Italienischer Parallelkrieg im Mittelmeerraum und in Ostafrika, 1940/1941|„Parallelkrieges“]] zwang das nationalsozialistische Deutschland zur Hilfeleistung. Seit Februar 1941 wurde in Libyen das „[[Deutsches Afrikakorps|Deutsche Afrikakorps]]“ unter Generalleutnant [[Erwin Rommel]] aufgebaut. All dies läutete das Ende des souveränen Italien ein, das im Gefolge seiner militärischen Niederlagen immer mehr zu einem untergeordneten Waffenbruder Deutschlands absank, den man in Berlin nicht mehr ernst nahm.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 164; Bahru Zewde: A History of Modern Ethiopia, 1855–1991. 2. Auflage, Ohio University Press/Addis Ababa University Press/James Currey, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 176-</ref><br />
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[[Datei:Haile Selassie, Emperor of Abyssinia, with Brigadier Daniel Arthur Sandford (left) and Colonel Wingate (right) in Dambacha Fort, after it had been captured, 15 April 1941. E2462.jpg|mini|links|Haile Selassie I. mit den britischen Befehlshabern Sandford (links) und Wingate (rechts) im April 1941]]<br />
Die italienischen Offensiven in Afrika zwangen Großbritannien, das die italienische Eroberung Äthiopiens durch seine [[Appeasement-Politik]] begünstigt und die durch Waffengewalt geschaffenen Verhältnisse in Ostafrika 1938 offiziell anerkannt hatte, zu einer radikalen Änderung seiner Politik. Die Italiener bedrohten nicht nur einige britische Besitzungen und Einflussgebiete in Afrika (Sudan, Kenia, Somaliland, Ägypten), sondern auch die Seeroute nach Indien, die [[Achillesferse]] des Empire. Erst diese Bedrohungslage bewog Premier [[Winston Churchill]], dem äthiopischen Widerstand militärische Unterstützung zukommen zu lassen. Die britische Waffenhilfe erwies sich für die Befreiung als entscheidend. Im Januar 1941 lösten die Briten fast gleichzeitig drei Angriffe auf Italienisch-Ostafrika aus. Den ersten Stoß führten anglo-indische Truppen unter General [[William Platt]] vom Sudan aus. Sie drangen nach Eritrea ein und kämpften sich bis in den Tigray vor. Die zweite Offensive, ebenfalls aus dem Sudan, wurde 500 Kilometer südlich begonnen und zielte auf die Provinz Gojjam. An ihr nahm auch Kaiser Haile Selassie I. teil, der aus dem Exil zurückgekehrt war und im sudanesischen [[Khartum]] die weiteren Entwicklungen abgewartet hatte. Zusammen mit den britischen Befehlshabern [[Daniel A. Sandford]] und [[Orde Wingate]] stand er an der Spitze der [[Gideon Force]], einer kleinen [[Brigade]] aus britischen und äthiopischen Truppen. Zusammen mit den „Patrioten“ der Provinz Gojjam rückte die Gideon Force gegen den [[Blauer Nil|Blauen Nil]] und Addis Abeba vor. Den dritten Angriff führten Soldaten von General [[Alan Cunningham (General)|Alan Cunningham]] aus, die von Kenia aus nach Somalia einmarschierten, die Hauptstadt Mogadischu einnahmen und sich von dort aus über Harrar langsam gegen Addis Abeba vorkämpften.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 165; Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], S. 176.</ref><br />
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[[Datei:The Campaign in East Africa 1941 E2367.jpg|mini|Britische Soldaten reißen mit einer Planierraupe das Steinmonument eines faschistischen [[Liktorenbündel]]s in [[Kismaayo]] nieder (1941)]]<br />
Mit vereinten Kräften gelang es den britischen und abessinischen Truppen, die italienischen Besatzer aus Äthiopien in schwere Bedrängnis zu bringen. Die äthiopischen „Patrioten“ spielten eine wichtige Rolle während der Befreiungskampagne. In ihrem vorangegangenen vierjährigen Kampf hatten sie viel dafür getan, um die feindliche Besatzungsmacht zu ermüden. Nun, nach dem Erhalt von militärischer Unterstützung durch die Briten, gingen sie in die Offensive. Mit britischer Luftunterstützung zogen sie durch die Gojjam-Region und hatten bedeutenden Anteil an der Eroberung der Stadt Bure (Buryé). Die Armee der „Patrioten“ rückte derart schnell vor, dass die britischen Befehlsstellen befürchteten, die Abessinier würden noch vor ihren Streitkräften die Hauptstadt erreichen und die dort lebenden europäischen Einwohner gefährden. Daher wurde die Luftunterstützung für die „Patrioten“ wieder beendet. In der Shewa-Region hatte inzwischen Ras [[Abebe Aragai]], dessen Widerstand während der gesamten Besatzungszeit angedauert hat, die Hauptstadt Addis Abeba mit seinen Truppen umstellt. Cunninghams Truppen erreichten die Hauptstadt am 6. April 1941.<ref name="MattioliPankhurst">Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 165 f; Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 249.</ref><br />
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Genau fünf Jahre nach der Einnahme von Addis Abeba durch Marschall Pietro Badoglio zog Kaiser Haile Selassie am 5. Mai 1941 in das befreite Zentrum seines Reiches ein. Abessinische Streitkräfte der „Patrioten“ waren auch bei der Eroberung von vielen weiteren Städten Äthiopiens in den folgenden Monaten beteiligt. Nach teilweise erbitterter Gegenwehr kapitulierten die italienischen Besatzungstruppen am 19. Mai bedingungslos. Vizekönig Amadeus von Savoyen, der sich mit seinen verbliebenen Truppen beim Berg Amba Alagi verschanzt hatte, begab sich in britische Kriegsgefangenschaft. Die [[Schlacht von Gondar|letzte Schlacht]] des Krieges fand am 27. November 1941 in Gondar stand. An diesem Tag mussten sich auch die dortige Garnison von General [[Guglielmo Nasi]] ergeben. Äthiopien, das als erste souveräne Nation in den 1930er Jahren Opfer einer faschistischen Aggression geworden war, war 1941 somit auch das erste faschistisch besetzte Land, das mit alliierter Hilfe befreit werden konnte.<ref name="MattioliPankhurst" /><br />
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== Kriegsführung und Kriegsverbrechen ==<br />
=== Der Luftkrieg ===<br />
Der Abessinienkrieg sah den massivsten und brutalsten Luftwaffeneinsatz, den die Welt bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte, und markierte damit eine entscheidende Etappe in der Geschichte des modernen [[Luftkrieg]]s. Auf dem Kriegsschauplatz am Horn von Afrika kamen 1935/36 weit mehr Menschen durch Luftbombardements ums Leben als in allen früheren Konflikten zusammen. Während sich im Ersten Weltkrieg die Luftwaffe noch in einem Experimentierstadium befunden hatte und lediglich als „Hilfswaffe“ zum Einsatz gelangte, stiegen die Luftwaffen aller europäischen Länder danach zu eigenständigen Teilstreitkräften neben Heer und Marine auf. Die stets größeren Reichweiten und Angriffsgeschwindigkeiten, aber auch die extrem gesteigerte Waffenwirkung des Bombenflugzeugs veränderten das Wesen des Krieges fundamental. Das Bombenflugzeug war ein Symbol und Produkt des beginnenden High-Tech-Zeitalters.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 94 u. 99.</ref><br />
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[[Datei:Regia Aeronautica logo.JPG|mini|Tragflächenkokarde der ''Regia Aeronautica'' ab 1935 mit den faschistischen [[Fascis|Liktorenbündel]]]]<br />
Die Bombardierungen der Siedlungen von Adua und Adigrat am 3. Oktober 1935 markierten den Beginn des militärischen Luftwaffeneinsatzes in Ostafrika. Anhand der Luftangriffe auf Dörfer und Provinzstädte wurde in den ersten Kriegsmonaten eine Handlungsvariante verfolgt, die bereits in den handfesten Kriegsplänen gegen das äthiopische Reich aus den Jahren 1932/33 vorgesehen war. Die bewusste Zerstörung der Ortschaften entsprach somit keiner Ad-hoc-Entscheidung des Hochkommissars Emilio De Bono, sondern war von langer Hand geplant. Diese Strategie wurde später unter dem Kommando Pietro Badoglios im Prinzip beibehalten. Obschon Badoglio nämlich Mitte Februar 1936 den Einsatz von bakteriologischen Waffen im weiteren Kriegsverlauf für nicht mehr notwendig erachtete, plädierte der Feldherr bis zum 29. Februar 1936 dafür, eine „entscheidende terroristische Operation aus der Luft auf alle Zentren im [[Shewa]]-Gebiet, einschließlich der Hauptstadt, durchzuführen“. Die Frage nach der Bombardierung der Hauptstadt oder der Eisenbahnlinie zwischen Addis Abeba und Dschibuti erwies sich während des ganzen Krieges von größter Relevanz und beschäftigte nicht nur die Militärverantwortlichen in Ostafrika, sondern auch Mussolini und die internationale Diplomatie. Es ist letztlich vor allem auf politische Gründe zurückzuführen, dass Addis Abeba und die Eisenbahnlinie im Krieg weitgehend verschont blieben, obwohl in beiden Fällen die Zerstörung zuerst vorgesehen war.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 216 u. 220.</ref><br />
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Nirgendwo sonst kam das militärische Ungleichgewicht zwischen Italien und Abessinien so zum Vorschein wie bei den Luftstreitkräften. Insgesamt kam am Horn von Afrika eine Armada von 450 Kampfflugzeugen zum Einsatz – rund die Hälfte des Gesamtbestandes der italienischen Luftwaffe. Drei Viertel der nach Ostafrika verlegten Luftflotte bestand aus Bombern. Die unter dem Kommando von General [[Mario Ajmone Cat]] stehenden Fliegerkräfte flogen Hunderte von Angriffen, während derer sie Zehntausende von Splitter-, Brand- und Gasbomben auf feindliche Ziele abwarfen. Von Beginn des Krieges an beherrsche die italienische Regia Aeronautica den Luftraum über Abessinien total. Die wenigen Flieger auf abessinischer Seite waren entweder nicht einsatzfähig oder wurden schon kurz nach Beginn der Feindseligkeiten auf dem Boden zerstört.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 97 f.</ref><br />
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Zu einem Symbol dieser neuen Kriegsführung wurde der schwere Luftangriff auf [[Dese|Dessiè]], die Provinzhauptstadt von [[Wällo|Wollo]]. Er wurde am 16. Dezember 1935 von 18 Flugzeugen in zwei Angriffswellen durchgeführt. Sie zerstörten zahlreiche Gebäude und zivile Einrichtungen sowie ein von amerikanischen [[Adventisten]] geführtes Spital. Unter den insgesamt 50 Toten des Angriffs waren die meisten Zivilisten. Relativ stark verwüstet wurden von italienischen Flugzeugen noch die Provinzstädte Neghelli, [[Jijiga]] und [[Harar|Harrar]]. Etwas leichter getroffen wurden [[Adigrat]], Adua, Quoram, Gorahei, [[Debre Markos]], Sassa Baneh, [[Degehabur|Degeh Bur]] und weitere. Nicht zuletzt wegen der heftigen internationalen Reaktionen nach den schweren Luftangriffen auf die Provinzstädte wurden Addis Abeba und [[Dire Dawa]] (Dire Daua), die militärisch lohnendsten Bombenziele, nicht aus der Luft angegriffen. Auf Weisung Mussolinis hin war die Hauptstadt wegen der dort residierenden Ausländer von Terrorangriffen auszunehmen. Die strategischen Bombardements abessinischer Bevölkerungszentren gehörten zu den ersten in der Geschichte überhaupt. Obschon sie schlimmstenfalls wenige Hundert Tote kosteten, wiesen sie laut Aram Mattioli (2005) als systematisch durchgeführte Kriegsakte bereits auf „die Menschen verschlingenden Flächenbombardements des Zweiten Weltkrieges hin“.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 98 f.</ref><br />
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=== Angriffe auf das Rote Kreuz ===<br />
[[Datei:British-Red-Cross-tends-wounded-in-Harar-142348313594.jpg|mini|Feldlazarett des [[British Red Cross|britischen Roten Kreuzes]] in Abessinien]]<br />
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Als bis dahin beispiellose Gewalttaten gelten auch die italienischen Luftschläge gegen [[Feldlazarett]]e des Roten Kreuzes. Die neuere Forschung hat für die rund vier Monate zwischen dem 6. Dezember 1935 und dem 29. März 1936 insgesamt 15 Angriffe auf Rotkreuz-Einrichtungen nachgewiesen, hauptsächlich auf Feldspitäler. Davon wurden sieben absichtlich durchgeführt, in acht weiteren Fällen handelte es sich um Nebenfolgen von Luftschlägen, die anderen Zielen galten. Am schwersten traf es die schwedische Mission bei [[Melka Dida]] an der Südfront. Die rein medizinisch genutzte Einrichtung lag 25 Kilometer hinter der Front und 7 Kilometer vom Hauptquartier von Ras Desta Damtù entfernt. Am 30. Dezember 1935 wurde das gut mit Fahnen markierte Lager in mehreren Wellen von zehn Kampfflugzeugen angriffen. Dabei kamen auch [[Senfgas|Yperit]]-Granaten zum Einsatz. Infolge des Bombenregens kamen 42 Menschen um, die meisten davon Patienten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 100.</ref><br />
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Italien warf Abessinien vor, das Rotkreuz-Zeichen systematisch für zivile und militärische Zwecke missbraucht zu haben. Beide Anschuldigungen wurden über die faschistische Diplomatie, Presse und Propaganda weit verbreitet. Die italienischen Vorwürfe hatten jedoch wenig Substanz. Einzelfälle wurden von der Propaganda oftmals falsch interpretiert, übertrieben oder unzulässig verallgemeinert. Dabei wurden die Italiener laut Rainer Baudendistel (2006) Opfer ihrer eigenen Strategie. Da für sie der Abessinienkrieg ein Krieg zwischen Ungleichen war, zwischen einer zivilisierten Nation und einem Volk von Barbaren, konnte und sollte es keine Kommunikation zwischen den beiden geben. In der Folge nahm das italienische Oberkommando in Kauf, eher das Rote Kreuz zu bombardieren, als genau abzuklären, ob es sich beim möglichen Ziel um ein reguläres Feldspital handelte oder nicht.<ref>Rainer Baudendistel: ''Das Rote Kreuz unter Feuer.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 59–72, hier S. 60 f.</ref><br />
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Insgesamt verursachten die italienischen Luftschläge 47 Todesopfer, mehrere Dutzend Verwundete und großen materiellen Schaden wie die Zerstörung des einzigen Rotkreuz-Flugzeugs, das auf abessinischer Seite im Dienste stand. Die Luftwaffe warf mehr als 10 Tonnen Bomben, darunter auch 252 Kilogramm Senfgasbomben, über dem Roten Kreuz ab. Dass dabei nicht mehr Opfer zu beklagen waren, wird als Glücksfall der Rotkreuzhelfer betrachtet. Den italienischen Luftschlägen gegen das Rote Kreuz lag ein Muster zu Grunde. Je weiter die Feldspitäler zur abessinischen Front vorstießen und je mehr sie italienischen Operationen in die Quere kamen, desto größer war das Risiko, bombardiert zu werden. Praktisch alle ausländischen und abessinischen Feldspitäler, die in eine solche Lage kamen, mussten diese Erfahrung machen. Die Spitäler hingegen, die sich in sicherer Distanz zur Front befanden, blieben unversehrt, obwohl sie regelmäßig von italienischen Kriegsflugzeugen überflogen wurden. Dies widerlegt den abessinischen Vorwurf, das Rote Kreuz sei von den Italienern systematisch bombardiert worden.<ref>Rainer Baudendistel: ''Das Rote Kreuz unter Feuer.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 59–72, hier S. 71.</ref><br />
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=== Der Giftgaskrieg ===<br />
==== Kampfstoffe, Technik, Einsatzgebiete ====<br />
[[Datei:Emblem La Disperata.svg|mini|Das Abzeichen des 15. Bomber-Geschwaders ''La Disperata''. Es galt während des Abessinienkrieges als die am radikalsten faschistisch-orientierte Einheit der italienischen Luftwaffe und wurde persönlich vom ebenfalls am Krieg teilnehmenden Propagandaminister [[Galeazzo Ciano]] kommandiert.]]<br />
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Italien setzte in Abessinien drei chemische Kampfstoffe ein: [[Arsen]], [[Phosgen]] und [[Senfgas|Yperit]], die – in Gasbomben abgefüllt – von Kampfflugzeugen abgeworfen wurden. Daneben kamen in unbekanntem Ausmaße Giftgasgranaten zum Einsatz, die vor Ort präpariert wurden und deren Verwendung, im Gegensatz zu den von der Luftwaffe abgeworfenen Gasbomben, zum Großteil nicht dokumentiert wurde.<ref>Matteo Dominioni: ''Lo sfascio dell’Impero. Gli italiani in Etiopia 1936–1941.'' S. 214.</ref> Eine der wenigen dokumentierten Ausnahmen bildete im Februar 1936 der schwere Artilleriebeschuss des [[Amba Aradam]] durch Arsengranaten. Die italienische Luftwaffe verwendete Sprengkörper verschiedener Größe und Ausführung. Die Hauptrolle spielte dabei das als „Senfgas“ bezeichnete Yperit, das Mitte der dreißiger Jahre der toxischste bekannte Kampfstoff war. Schon in kleinsten Konzentrationen tödlich, führt Yperit als öliges und stechend riechendes [[Hautkampfstoff|Hautgift]] binnen mehrerer Stunden zu einem qualvollen Tod oder schwersten Verletzungen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 261; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 107.</ref><br />
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Zum Symbol des brutalen italienischen Yperit-Einsatzes wurde die schwere, torpedoförmige Bombe C.500.T. Mit einem Gesamtgewicht von 280 Kilogramm umfasste sie insgesamt 212 Kilogramm Senfgas. Dieser großkalibrige Sprengkörper wurde eigens für die Verhältnisse in Ostafrika entwickelt und dort insbesondere an der Nordfront eingesetzt. Nach dem Abwurf durch Kampfflugzeuge wurde die fast mannshohe Bombe mittels eines Zeitzünders in einer Höhe von 250 Metern über der Erde zur Explosion gebracht. Je nach Windstärke ging danach ein feiner Kampfstoffregen mit 500 bis 800 Meter Länge und 100 bis 200 Meter Durchmesser nieder.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 108.</ref> Entsprechend den militärischen Erfolgen übernahm die Luftwaffe die zentrale Rolle im Gaskrieg. Die Flugzeugtypen Caproni Ca.111, [[Caproni Ca.133]] und [[Savoia-Marchetti SM.81]] waren bereits in der Werkstatt mit passenden Aufhängevorrichtungen für Gasbomben ausgerüstet worden. Die leistungsstarken Bomber waren 1932 bzw. 1935 entwickelt worden, hatten eine Reichweite zwischen 980 und 2.275 Kilometern, zählten mehrere Maschinengewehre an Bord und verfügten über eine Ladungskapazität von 800 Kilogramm bis zwei Tonnen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 261 f.</ref><br />
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Der Einsatz chemischer Kampfstoffe hatte von Anfang an offensiven Charakter, wobei sich im Kriegsverlauf die von der Artillerie benutzten Arsen-Granaten allerdings als weniger effektiv erwiesen als die aus der Luft abgeworfenen Giftgasbomben verschiedenen Kalibers. Auf taktischer und strategischer Ebene waren die Auswirkungen des Giftgaseinsatzes enorm. Indem die italienischen Streitkräfte dank des Nachrichtendienstes genau darüber informiert waren, welche Marschrouten die abessinischen Armeen wählten, zu welchem Zeitpunkt sie sich in Bewegung setzten und wo die Hauptquartiere aufgeschlagen wurden, konnten beispielsweise „chemische Blockaden“ auf Pässen oder bei Flussübergängen eingerichtet werden. Die gesperrten Gebiete erwiesen sich nach einem Abwurf allerdings auch für die Italiener für drei bis fünf Tage als unpassierbar, was je nach Zeitdruck der Manöver schwerwiegende Folgen haben konnte. Gerade an der Südfront, wo Graziani dazu drängte, möglichst schnell vorzurücken, war diese „Nebenwirkung“ des taktischen Giftgaseinsatzes problematisch. Die zu Beginn des Krieges formulierten Vorsätze, nicht die Zivilbevölkerung zu treffen oder die Gasbomben für große Ziele aufzubewahren, wurden bereits nach wenigen Wochen aufgegeben. Piloten bombardierten insbesondere an der Südfront auch kleinste Ansammlungen von Menschen, Karawanen und Viehherden mit Sprengstoff, Brandbomben und Giftgas.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 266 f.</ref><br />
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Die chemischen Kampfstoffe sollten den Gegner terrorisieren, ihn in seiner operativen Planung einschränken und die Moral der gegnerischen Einheiten und der Zivilbevölkerung brechen. Am 2. März 1936 gab Mussolini alle Städte Äthiopiens zur Bombardierung frei, außer Addis Abeba und den Eisenbahnknotenpunkt Dire Dawa. Dieser Entscheid fiel, nachdem einige Tage zuvor Badoglio die „terroristische Aktion der Luftwaffe über den äthiopischen Zentren, die Hauptstadt eingeschlossen“, gefordert hatte. Bezüglich des Gaskrieges gestand Mussolini zwar seinen Feldherren zu, „angesichts der Kriegsmethoden des Gegners jegliche Gifte in beliebiger Menge zu verwenden“, aber in Hinsicht auf die Städtebombardierung wiederholte er mehrmals seine Schutzdirektive gegenüber Addis Abeba und Dire Dawa, die jedoch gegen Ende des Feldzuges nur noch formalen Charakter hatte.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 264 f.</ref><br />
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Abessinien hatte der chemischen Kriegsführung der italienischen Streitkräfte nicht viel entgegenzusetzen. Die äthiopische Armee erwartete zwar auch den Gaskrieg, ohne allerdings die Dimension der neuen Kriegsführung abschätzen zu können. Die äthiopische Regierung erteilte den Kommandeuren Instruktionen, wie sich die Soldaten bei einem Flugzeugangriff oder bei Verdacht auf Giftgas zu verhalten hatten. Zur Anweisung der oftmals des Lesens unkundigen Soldaten wurden zudem deutsche Handbücher über den Gaskrieg in die [[amharische Sprache]] übersetzt und mit vielen Handskizzen versehen. Gegen den Giftgaseinsatz standen der äthiopischen Armee kaum Mittel zur Verfügung. Die allermeisten Soldaten der kaiserlichen Armee waren barfuß in den Kampf gezogen und verfügten weder über Schutzanzüge noch über Spezialschuhe oder Gasmasken, die den feinen, sich auch durch [[Ebonit|Hartgummi]] fressenden Kampfstoffregen abgehalten oder die Durchquerung von verseuchtem Gelände erlaubt hätten. Lediglich die kaiserliche Garde verfügte über einige Tausend Gasmasken, welche sich aber gegen Senfgas als von sehr geringem Nutzen erwiesen. Nicht existent war in der kaiserlichen Armee ein Sanitätsdienst, der die Leiden der Giftgasopfer hätte lindern können. Den Verheerungen aus der Luft schutzlos preisgegeben war die Zivilbevölkerung. Wie in ganz Afrika existierten in Äthiopien weder Schutzbunker, noch besaßen die Menschen rudimentäres Schutzwissen, von Gasmasken ganz zu schweigen. Entgiftungsmittel fehlten ganz.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 260; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 104 f.</ref><br />
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==== Ausmaße des Giftgaseinsatzes ====<br />
Genaue Aussagen darüber, wie viele Giftgasbomben insgesamt in Äthiopien eingesetzt wurden, sind schwierig. Ebenfalls schwierig ist zu bestimmen, welche Bomben mit welchen Kampfstoffen gefüllt waren.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 58.</ref> An der Nordfront warf die Luftwaffe vom 22. Dezember 1935 bis 29. März 1936 etwa 1.020 C.500.T-Bomben ab, was insgesamt etwa 300 Tonnen Yperit entspricht. Außerdem ließ Badoglio während der Schlacht auf dem Amba Aradam (11.–15. Februar 1936) 1.367 mit Arsen gefüllte Artilleriegeschosse auf die abessinischen Soldaten abfeuern. An der Südfront warf die Luftwaffe zwischen dem 24. Dezember 1935 und dem 27. April 1936 95 C.500.T-Bomben, 172 bis 186 21 Kilogramm schwere Yperit-Bomben und 302 bis 325 Phosgen-Bomben ab, was insgesamt rund 44 Tonnen Giftgas entspricht. Für die Zeit von 22. Dezember 1935 bis 27. April 1936 ergibt sich somit eine Gesamtmenge von rund 350 Tonnen Giftgas. Von 1936 bis 1939 wurden noch etwa 500 weitere Giftgasbomben auf den abessinischen Widerstand abgeworfen. Daher hatten die Äthiopier während der gesamten Zeit des italienischen Angriffskriegs und der Besatzung von 1935 bis 1941 nach vorsichtigen Schätzungen 2.100 Giftgasbomben bzw. rund 500 Tonnen Giftgas zu erleiden.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 264; Angelo Del Boca: ''Yperit-Regen: Der Giftgaskrieg.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 54; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 59 f.</ref> In Konsequenz davon sprechen Historiker von einem „massiv geführten Gaskrieg“.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 108.</ref><br />
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Die meisten C.500.T-Bomben wurden an der Nordfront bis zur Ersten Tembienschlacht abgeworfen. In der Schlacht selber wurden rund drei Mal weniger Yperit-Bomben als in der Zeit davor abgeworfen. In der Zeitspanne bis zur nächsten Schlacht, jener von Endertà, stieg die Anzahl der abgeworfener Bomben massiv an und war in der Schlacht selber ungefähr wieder gleich groß wie in der Ersten Tembienschlacht. Im Intervall zur nächsten Schlacht nahm die Anzahl abgeworfener Bomben erneut zu. In der Zweiten Tembienschlacht setzte die italienische Luftwaffe relativ wenige C.500.T-Bomben ein und verzichtete in der Schlacht von Scirè möglicherweise ganz darauf. Der Gaskrieg an der Südfront sah anders aus als an der Nordfront. Im Gegensatz zur Nordfront wurden im Süden mehrere verschiedene Typen von Yperit-Bomben und auch Phosgen-Bomben eingesetzt. Außerdem kam es an der Südfront zu vielen Gefechten, aber lediglich zu zwei großen militärischen Konfrontationen: bei der Einnahme der Ortschaft Neghelli und während der Harrar-Offensive. Die Operationen aus der Luft gingen dabei stets jenen am Boden voraus. Die Tendenz, die Bombardierungen mit den C.500.T-Bomben nicht auf den Zeitraum der Schlachten zu beschränken, bestand somit sowohl an der Nord- wie an der Südfront. Auch im Süden erwies sich der Gaskrieg als eine Konstante.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 262 ff.</ref><br />
<br />
Nach der Proklamation des Imperiums gab Mussolini am 8. Juni 1936 Vizekönig Graziani erneut den Einsatz von Giftgas frei, um bewaffnete Erhebungen auszulöschen. Bis Ende November 1936, also Monate nach der offiziellen Proklamation Italienisch-Ostafrikas, verging kein Monat, ohne dass die italienische Luftwaffe über Abessinien nicht 7 bis 38 C.500.T-Sprengkörper eingesetzt hätte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 108, 140 f u. 145.</ref> Bis zur Ablösung Vizekönig Grazianis im Dezember 1937 wurde Giftgas weiterhin regelmäßig in allen Regionen Äthiopiens eingesetzt. Unter Grazianis Nachfolger, Herzog Amadeus von Aosta, wurden Giftgasbomben hauptsächlich in den Gouvernementen Amhara und Shewa eingesetzt. Federführend war dabei der Oberbefehlshaber der italienischen Truppen in Italienisch-Ostafrika, General [[Ugo Cavallero]], der ein Befürworter von Grazianis Vorgehen zur Ausmerzung des äthiopischen Widerstands war.<ref>Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 58 f.</ref> Yperit- und Arsen-Granaten wurden auf Cavalleros Befehl auch beim [[Massaker von Zeret]] im April 1939 eingesetzt.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 20.</ref> Noch im Spätherbst 1940 setzte ein italienisches Flugzeug über einem Rebellenlager Giftgas frei, das fünf Widerstandskämpfer tötete und viele weitere schwer verletzte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 145.</ref><br />
<br />
Entgegen Gerüchten, die schnell Eingang in die internationale Presse fanden, setzten die italienischen Truppen im Abessinienkrieg nicht von Anfang an chemische Kampfstoffe ein. Die ersten Einsätze wurden kurz vor Weihnachten 1935 infolge der abessinischen Gegenoffensive geflogen. Erst diese bedrohliche Situation führte dazu, dass das italienische Oberkommando seine bisherigen Rücksichten fallen ließ.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 104.</ref> Auch ließ die italienische Luftwaffe Yperit nicht wahllos über Dörfern, Städten und Menschenansammlungen ausbringen und setzte überdies auch keine Sprühflugzeuge zur großflächigen Verseuchung landwirtschaftlicher Flächen ein. Mussolini ging davon aus, dass diese letzten Entgrenzungen des Krieges international mehr politischen Schaden als militärischen Nutzen gestiftet hätte. Wenngleich sich die Gasattacken meistens gegen bewaffnete Einheiten in umkämpften Zonen richteten, wurden sie ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung durchgeführt. Allein bis Ende 1936 kamen mehrere Tausend, vielleicht sogar Zehntausende Abessinier durch Giftgas ums Leben, unzählige weitere wurden verstümmelt oder erblindeten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 110 f.</ref><br />
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=== Biologische Waffen ===<br />
Nach dem heutigen Forschungsstand wurden im Abessinienkrieg keine [[Biologische Waffe|biologischen Waffen]] eingesetzt. Dennoch war ihr Einsatz ursprünglich als ein fester Bestandteil der italienischen Kriegsführung vorgesehen. Nach britischen Geheimdienstberichten arbeitete das faschistische Italien bereits seit 1932 an einem geheimen B-Waffen-Programm, Deckname ''Operazione epidemia.''<ref>Gianluca Di Feo: ''Veleni di stato.'' BUR-Rizzoli, Mailand 2009, ISBN 978-88-17-03715-0, S. 18.</ref> In Vorbereitung auf den Einsatz von chemischen Waffen für die geplante Invasion Abessiniens schlug Oberstleutnant E. Venditti dem späteren Leiter des ''Servizio chimico militare'' in Eritrea im Januar 1935 den Einsatz von biologischen Waffen vor. Der Einsatz von Bakterienkulturen sollte nach Venditti gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichtet werden.<ref>Giorgio Rochat: ''L’impiego dei gas nella guerra d’Etiopia 1935–1936.'' In: Angelo Del Boca: ''I gas di Mussolini: il fascismo e la guerra d’Etiopia.'' S. 77.</ref> Mussolini wurde vorgeschlagen, am Institut für klinische Chemie und Bakteriologie in [[Asmara]] die bereits in Italien begonnenen mikrobiologischen Studien fortzusetzen, insbesondere was die Entwicklung von B-Waffen-fähiger Munition für den Einsatz aus der Luft betraf. Nach Di Feo erklärt dies die Anwesenheit von Ugo Reitano und Giuseppe Morselli in Eritrea. Reitano leitete seit Beginn das faschistische B-Waffen-Programm, und Morselli hatte 1934 in Italien mehrere Feldversuche für den militärischen Einsatz von biologischen Waffen durchgeführt.<ref>Gianluca Di Feo: ''Veleni di stato.'' S. 18, 42.</ref><br />
<br />
Obwohl bis dahin kein Land der Welt B-Waffen benutzt hatte, dachte Mussolini im Februar 1936 offen an den Einsatz von Bakterienkulturen. Die abessinischen Truppen Ras Kassas hatten zuvor an der Nordfront Badoglios Armee unter Druck gesetzt. Badoglio plädierte jedoch gegen den Einsatz von bakteriologischen Mitteln, weil weniger die gegnerischen Kampfverbände als die Zivilbevölkerung von diesen Maßnahmen beeinträchtigt gewesen wären. Zudem wäre bei einem Einsatz von Bakterien die Offensive der Italiener zum Stillstand gekommen, weil ganze Gebiete verseucht gewesen wären. Als letzten Grund für den Verzicht auf eine weitere Radikalisierung der Kriegsführung gab der General an, dass der Einsatz von Bakterien in der Weltöffentlichkeit heftige Proteste hervorrufen würde und weiterreichende Sanktionen des Völkerbundes, etwa das Erdölembargo, nicht auszuschließen gewesen seien. Mussolini zeigte sich mit den Ausführungen Badoglios einverstanden. Laut Giulia Brogini Künzi (2006) kann letztlich nur spekuliert werden, wie eine bakteriologische Kriegsführung in Ostafrika in der Praxis ausgesehen hätte. Fest stehe, dass die italienischen Sanitätsdienste die Streitkräfte und die Bevölkerung in den bereits eroberten Gebieten gegen [[Typhus]] und [[Cholera]] impfen ließen. Diese Maßnahme könnte aber auch losgelöst von militärischen Überlegungen zur allgemeinen Vorbeugung gedient haben.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 257 f.; Angelo Del Boca: ''Yperit-Regen: Der Giftgaskrieg.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 45–58, hier S. 54; John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. 22.</ref> Laut Di Feo kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass die Italiener zumindest weitere Tests für ihr B-Waffen-Programm in Afrika durchgeführt haben, zumindest weisen seiner Ansicht nach einige Indizien darauf hin.<ref>Gianluca Di Feo: ''Veleni di stato.'' S. 17.</ref><br />
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=== Vernichtung von Viehbeständen und Ökosystem ===<br />
Da die äthiopischen Truppen ohne die Unterstützung der Bevölkerung auf lange Frist nicht kämpfen konnten, weil sie auf die Informationen und die lokalen Ressourcen angewiesen waren, zielte die italienische Kriegsführung auf die Vernichtung aller militärisch nutzbaren Elemente wie beispielsweise die [[Vieh]]herden. Mit der Vernichtung Zehntausender von [[Herde]]ntieren verfolgten die italienischen Militärs das doppelte Ziel, der äthiopischen Armee die Lebensmittelzufuhr abzuschneiden und die Zivilbevölkerung zu disziplinieren bzw. sie dazu zu zwingen, das umkämpfte Territorium zu verlassen. An beiden Fronten wurde eine regelrechte Jagd auf die Viehbestände aufgenommen, da das Fleisch traditionell die Ernährungsgrundlage der meisten Einwohner darstellte. Die Schafe, Ziegen, Kamele und Rinder waren aber nicht nur die Nahrungsbasis, sondern auch das Kapital der Nomaden im Süden des Landes. An der Südfront wurden die Viehherden systematisch aus den Flugzeugen mit Sprengstoff wie auch mit Giftgasbomben angegriffen. Graziani gab seine ursprünglichen Pläne, nur „große Ziele“ anzugreifen, zugunsten einer flächendeckenden Strategie der verbrannten Erde auf. Ab Dezember 1935 wurden auch kleine und kleinste Gruppen von Menschen und Tieren getroffen, sofern nicht ausgeschlossen werden konnte, dass diese für den Feind von Bedeutung waren.<ref>Giulia Brogini Künzi: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? Paderborn 2006, S. 286 f.</ref><br />
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Eine vergleichbare Art, durch direkte Eingriffe in den Lebensraum einen Vorteil zu gewinnen, bestand im gezielten Abbrennen von Landschaften. Wälder, Steppengebiete oder Flussläufe wurden durch Brandbomben und Benzin in Brand gesetzt, damit sich im Schatten der Bäume keine abessinischen Schützen mehr verstecken konnten. Für die schweizerische Historikerin Giulia Brogini Künzi (2006) kann dieses Vorgehen fast als ein Vorläufer jener chemischer [[Entlaubungsmittel]] betrachtet werden, wie sie etwa später im [[Vietnamkrieg]] eingesetzt wurden. Darüber hinaus ließen die italienischen Generäle Flüsse und Wasserstellen auch mit Giftgas verseuchen. Zahllose Bauern und Tiere kamen um, als sie kontaminiertes Wasser tranken. Besonders General Graziani nutzte an der Südfront diese Art der Kriegsführung. So wies er am 24. Januar 1936 eine Staffel an, einen Wald, in dem sich feindliche Einheiten nach einem Gefecht versteckt hatten, mit Gas- und Brandbomben einzuäschern: „In Brand stecken und zerstören, was brennbar und zerstörbar ist. Alles säubern, was säuberbar ist.“ Der Schaden am Ökosystem und die Zerstörung der Lebensgemeinschaften habe insbesondere im Süden eine Dimension erreicht, welche es rechtfertige, von einem vorsätzlichen Vorgehen der Italiener zu sprechen.<ref>Giulia Brogini Künzi: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? Paderborn 2006, S. 287 f; Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941. Zürich 2005, S. 109.</ref><br />
<br />
=== Ausnutzung ethnischer und religiöser Konflikte ===<br />
Die Italiener schlugen systematisch Kapital aus den ethnischen und religiösen Spannungen zwischen den unterworfenen Völkern. Bereits im Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg von 1922 bis 1932 hatte das faschistische Italien christliche Askari-Kolonialtruppen aus Eritrea gegen den muslimischen Widerstand eingesetzt. Im Abessinienkrieg wurde nun die von General Guglielmo Nasi kommandierte Division „Libia“ eingesetzt, die aus nordafrikanischen Muslimen bestand. Sie trat am 15. April 1936 in Aktion und nahm an Grazianis Schlussoffensive in [[Ogaden]] teil. Mit der Verlegung libyscher Söldner an die Südfront ermöglichte das faschistische Regime diesen, sich für Jahre der zurückliegenden Gewalttaten zu rächen, die aus Eritrea stammende Askaris während der faschistischen „Wiedereroberung Libyens“ an ihren Familien verübt hatten. So waren muslimische Einheiten der Division „Libia“ maßgeblich an der Eroberung des höhlenreichen Geländes von Wadi Corràc an der Südfront beteiligt, wobei sie ihren Gegnern den Fluchtweg abschnitten und anschließend 3.000 Äthiopier niedermachten. Graziani merkte dazu an: „Gefangene wenige, ganz nach Brauch der libyschen Truppen.“ Die Ermordung von Gefangenen wurde an den Wasserstellen von Bircùt, Sagàg, Dagamedò und in Dagahbùr fortgesetzt. Angesichts der Grausamkeit der Askari versprach General Nasi, der weniger radikal eingestellt war als Graziani, seinen libyschen Einheiten für jeden lebenden Gefangenen ein Kopfgeld von 100 Lire. Die Division „Libia“ machte letzten Endes 500 äthiopische Gefangene, die anschließend im [[KZ Danane]] interniert wurden.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 299; Angelo Del Boca: ''Yperit-Regen: Der Giftgaskrieg.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 56.</ref><br />
<br />
Während der Besatzungszeit wurden von den Italienern Angehörige der [[Oromo (Ethnie)|Oromo]]-Ethnie gegen andere Volksgruppen aufgehetzt. In der Folge töteten und verstümmelten die mit der Besatzungsmacht kollaborierenden Oromo viele Bauern anderer Ethnien, wobei sie den Frauen die Brüste und Männern die Geschlechtsteile abschnitten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 145.</ref><br />
<br />
=== Hinrichtung von Kriegsgefangenen ===<br />
Schon während des „Krieges der sieben Monate“ machten die vehement vorrückenden Italiener kaum Gefangene. In großer Zahl hätten diese die ohnehin stark belastete Logistik des Unternehmens zusätzlich strapaziert. Gestellte abessinische Soldaten wurden oft gleich auf der Stelle erschossen oder, nachdem sie militärische Informationen preisgegeben hatten, exekutiert. Selbst Kämpfer, die sich freiwillig ergaben, konnten nicht mit Milde rechnen oder auf die Einhaltung des Genfer [[Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen|Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen]] von 1929 hoffen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 90.</ref> Insbesondere an der Südfront kam es im Ogaden-Gebiet zu außergewöhnlich brutalen „Säuberungsaktionen“ gegen feindliche äthiopische Stellungen. Dazu schrieb General Graziani:<br />
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: „Da uns keine Tanks [Panzer] zur Verfügung stehen, muss jede Erdhöhle einzeln erledigt werden, indem man sie zunächst aus einer Entfernung von 30–40 m mit Artilleriefeuer belegt und sie dann mit Benzin übergießt, das durch Handgranaten in Brand gesetzt wird. Nur auf diese Weise ist es möglich, der hartnäckigen Verteidigung Herr zu werden.“<ref>Zitiert nach Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 90 f.</ref><br />
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An der Nordfront unter Marschall Badoglio kam wiederum der italienischen Luftwaffe die entscheidende Rolle bei der Dezimierung feindlicher Truppen zu. Nach der Schlacht bei Scirè starteten italienische Flugzeuge eine Verfolgungsjagd auf die bereits geschlagenen abessinischen Soldaten, wobei etwa 3.000 Abessinier getötet wurden. Die Reste der kaiserlichen Garde, der abessinischen Eliteeinheit, wurden nach der verlorenen Schlacht von Mai Ceu auf ihrer Flucht ebenfalls von der Luftwaffe verfolgt und im Tiefflug mit Bordgeschützen niedergeschossen oder bei größeren Ansammlungen auch mit Giftgas bombardiert.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 91.</ref> Die Annexion Äthiopiens durch Italien hatte den Effekt, dass Rom fortan auch offiziell alle Widerstandskämpfer als „Rebellen“ gegen eine legitime Ordnung betrachten und hart bestrafen konnte. Am 5. Juni 1936 gab Mussolini sodann auch den offiziellen Befehl heraus, alle in Gefangenschaft geratenen „Rebellen“ umgehend zu erschießen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 141 u. 143.</ref> Angehörige des abessinischen Widerstands und Dissidenten wurden daher meistens nicht eingekerkert, sondern oft gleich nach ihrer Gefangennahme exekutiert. Nur einige hundert hochrangige Mitglieder der äthiopischen Aristokratie erhielten eine Chance auf ein Überleben im Gefängnis. 400 von ihnen wurden auf Mussolinis Befehl nach Italien deportiert und dort zur Verbannung verurteilt.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 142.</ref> Laut Außenminister Galeazzo Ciano ließ [[Achille Starace]], Oberbefehlshaber in der abessinischen Region Gondar, Gefangene nicht nur erschießen, sondern benutzte sie als Übungsziele für Herzschüsse: „Er schoss ihnen zuerst in die Genitalien und dann in die Brust. Augenzeugen haben diese Details berichtet.“<ref>Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' New York 2017, S. 38 f.</ref><br />
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=== Besatzungsverbrechen Italiens ===<br />
[[Datei:Viceroy Graziani 1937 (retouched).jpg|mini|Vizekönig [[Rodolfo Graziani]] (1937)]]<br />
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Durch die neuere Forschung wurde das bereits von Pionieren wie [[Angelo Del Boca]] und [[Giorgio Rochat]] gezeichnete Bild der italienischen Besatzungsverbrechen anhand zahlreicher neuer Informationen bestätigt und erweitert. So waren lange Zeit einige Massaker noch vergessen, bei anderen mussten die Opferzahlen bedeutend nach oben korrigiert werden.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 20; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 152.</ref> Schon während des „Krieges der sieben Monate“ 1935/36, insbesondere seit dem Kommandowechsel zu Pietro Badoglio, kam es in den von italienischen Streitkräften besetzten Gebieten regelmäßig zu schweren Übergriffen gegen die ortsansässige Bevölkerung. Diese umfassten unter anderem Vergewaltigungen, Massaker, Plünderungen, die Schändung äthiopisch-orthodoxer Kirchen und das Abbrennen ganzer Dörfer. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nahm an einigen Frontabschnitten ein derartiges Ausmaß an, dass Oberbefehlshaber Pietro Badoglio sich veranlasst sah, gegen diese Praktiken einzuschreiten. So forderte er im Januar und Februar 1936 General Alessandro Pirzio Biroli auf, die auf dessen Kommando hörenden Truppen in Zaum zu halten: „Wenn wir so weitermachen, wird sich die ganze Bevölkerung gegen uns auflehnen.“<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 14; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 117.</ref><br />
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Nichtsdestotrotz unterzog auch Badoglio wenige Tage nach der Einnahme Addis Abebas die Hauptstadt einer ersten „Säuberung“, bei der es zu einer Welle von Hinrichtungen mit gegen 1.500 Todesopfern kam. Dabei sollten auf Mussolinis Anordnung auch gezielt Angehörige der jungen Bildungsschicht („Young Ethiopians“) liquidiert werden, die der Diktator als „eingebildete und grausame Barbaren“ bezeichnete.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 301; John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1022; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 143.</ref> Am 30. Juli 1936 wurde auf einem öffentlichen Platz in Addis Abeba [[Abuna]] Petros, einer der höchsten Würdenträger der äthiopisch-orthodoxen Kirche, nach einem kurzen Schauprozess von italienischen [[Carabinieri]] erschossen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 144.</ref> Nach der Proklamation des Imperiums wurde Rodolfo Graziani zum Nachfolger Badoglios als Vizekönig ernannt und errichtete im italienischen Besatzungsgebiet mit Billigung Roms eine Terrorherrschaft. Am 8. Juli 1936 bewilligte Mussolini dem Vizekönig den gezielten Massenmord auch an Zivilisten: „Ich autorisiere Ihre Exzellenz noch einmal, systematisch mit einer Politik des Terrors und der Ausrottung gegen die Rebellen und die mitschuldige Bevölkerung zu beginnen und eine solche zu führen. Ohne das Gesetz zu Vergeltung 1 zu 10 kann man der Plage nicht in der nötigen Zeit Herr werden.“<ref>Zitiert nach Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 149 f. und Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 17; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 141.</ref> In ähnlicher Weise forderte Kolonialminister [[Alessandro Lessona]] von Graziani die „Anwendung extremer Mittel“. Die geläufigsten Formen der Hinrichtung waren Erhängungen und Erschießungen, andere Methoden beinhalteten auch das Verbrennen ganzer Familien in ihren Häusern mit Flammenwerfern oder Köpfungen. Die Zurschaustellung abgehackter Köpfe, die an Straßen auf langen Lanzen aufgespießt waren, sollte der Abschreckung dienen.<ref>Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' New York 2017, S. 40; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 141 u. 146.</ref><br />
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In Italienisch-Ostafrika ging der Besatzungsterror nicht nur von regulären Angehörigen der Armee aus, sondern auch von der faschistischen Miliz ([[Schwarzhemden]]), von Polizeieinheiten der Carabinieri und von afrikanischen Kolonialtruppen ([[Askari]]s). Der italienische Unterdrückungsapparat in Ostafrika nutzte auch [[Konzentrationslager]], wobei dieses Lagersystem sehr viel ausgeprägter war als lange von der Forschung angenommen. In der Literatur wurde bisher fast ausschließlich von zwei Konzentrationslagern gesprochen: In Italienisch-Somaliland entstand 1935 das [[Konzentrationslager Danane|Lager Danane]], in Eritrea 1936 das [[Konzentrationslager Nocra|Lager Nocra]]. Bis 1941 wurden in beiden [[Arbeitslager|Straflagern]] zusammen bis zu 10.000 Gefangene interniert, darunter auch Frauen und Kinder.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 142.</ref> Wegen der in beiden Einrichtungen vorherrschenden katastrophalen Verhältnisse und sehr hohen Sterberaten werden sie von Historikern auch als [[Vernichtungslager|Todeslager]] eingeordnet.<ref>Zum KZ Danane vgl. Mariana de Carlo: ''Colonial internment camps in Africa Orientale Italiana. The case of Dhanaane (Somalia).'' In: Lars Berge, Irma Taddia (Hrsg.): ''Themes in African Modern History and Culture. Festschrift for Tekeste Negash.'' Libreriauniversitaria.it, Padua 2013, S. 193–208, hier S. 203 f; Aram Mattioli: ''Eine Veritable Hölle.'' In: [[Die Zeit]], Nr. 51/2001, 13. Dezember 2001; und zum KZ Nocra vgl. Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' London 2017, S. 234.</ref> Neuere Forschungen hingegen konnten in Italienisch-Ostafrika ein System von insgesamt 57 Lagern nachweisen, davon 16 Konzentrationslager, 6 Kriegsgefangenenlager, 6 Zwangsarbeitslager, 2 Transitlager, 8 Internierungslager und 19 Lager, die bisher nicht kategorisiert werden konnten.<ref>Alexis Herr: ''Italian-occupied East Africa (Eritrea, Ethiopia, and Somalia).'' In: [[Geoffrey P. Megargee]], Joseph R. White, Mel Hecker (Hrsg.): ''Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1935. Volume III. Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' The United States Holocaust Memorial Museum/Indiana University Press, Bloomington 2018, ISBN 978-0-253-02373-5, S. 502–504.</ref> Mit den beiden in Äthiopien gelegenen Lagern Shano und Ambo wurde dabei auch die Existenz zweier Konzentrationslager dokumentiert, die „ausschließlich dem Zweck der Eliminierung der Inhaftierten dienten“.<ref>Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 115 u. 117.</ref><br />
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Die schwersten Besatzungsverbrechen ereigneten sich in der Zeit nach dem Bombenattentat auf Vizekönig Graziani, das den Vorwand für summarische Exekutionen und Massaker lieferte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 146 u. 148.</ref> Während einer Zeremonie vor dem Amtssitz des Vizekönigs in Addis Abeba waren am 19. Februar 1937 durch Handgranaten Angehörige der italienischen Besatzungselite, Graziani eingeschlossen, schwer verletzt worden. Einige Soldaten starben. Daraufhin begann der örtliche faschistische Parteiführer Guido Cortese das dreitägige [[Pogrom von Addis Abeba]], bei dem laut der ersten umfassenden Darstellung von Ian Campbell (2017) vor allem faschistische Schwarzhemden etwa 19.200 Menschen ermordeten. Innerhalb kürzester Zeit verlor die Hauptstadt somit bis zu 20 % ihrer Einwohner, wobei faschistische [[Todesschwadron]]en auch gezielt gegen die abessinische Intelligenz vorgingen.<ref>Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' London 2017, S. 327 f; Aram Mattioli: ''Yekatit 12.'' In: ''Neue Politische Literatur'', Jahrgang 63, 2018, S. 308–310 ([https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/npl/63-2018/2/issue.pdf PDF]); Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 146; [https://www.economist.com/books-and-arts/2017/07/20/italy-and-the-addis-ababa-massacre ''Italy and the Addis Ababa massacre.''] In: economist.com, 20. Juli 2017, abgerufen am 11. Juli 2020.</ref> Graziani dehnte in der Folge den Besatzungsterror auf ganze Bevölkerungsgruppen aus, die er für „gefährlich“ hielt und einer antiitalienischen Haltung bezichtigte.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 143.</ref> Ins Visier der Besatzer gerieten der amharische Adel, der Klerus der äthiopisch-orthodoxen Kirche und die Intelligenz. Besonders gefährdet waren Angehörige dieser Gruppen in den Unruheprovinzen Zentraläthiopiens, unter den Volksgruppen vor allem die Amharen. So wies Graziani am 1. März 1937 General Guglielmo Nasi an, im Gouvernement Harrar alle Mitglieder des amharischen Adels und alle ehemaligen Offiziere der kaiserlichen Armee zu erschießen. Ähnlich lautende Erlasse ergingen gegen die „Young Ethiopians“ und das Kollektiv der Weissager, Zauberer und Märchenerzähler, die im einfachen Volk als Seher und Deuter in hohem Ansehen standen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 143 u. 147 f.</ref> Allein von den Polizeieinheiten der Carabinieri wurden bis Anfang Juni 1937 insgesamt 2.509 Menschen erschossen, die vor allem zu diesen Gruppen gehörten.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1024; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 148.</ref> Ebenso ordnete Graziani das [[Massaker von Debre Libanos]] an. Bei diesem „blutigsten Massaker an Christen auf dem afrikanischen Kontinent“ erschossen italienische Offiziere und Kolonialtruppen unter General [[Pietro Maletti]] von 19. bis 26. Mai 1937 etwa 2.000 abessinische Geistliche, Theologiestudenten und Pilger der Klosterstadt Debre Libanos.<ref>Paolo Borruso: ''Debre Libanos 1937: Il più grave crimine di guerra dell’Italia'' [= Debre Libanos 1937: Das größte Kriegsverbrechen Italiens]. Bari 2020 ([https://www.carmillaonline.com/2020/03/12/vuoti-di-memoria/ italienische Rezension]); John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1024; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 149 ff.</ref><br />
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[[Datei:Flag of the Governor-general of AOI and Viceroy of Ethiopia (1938–1941).svg|miniatur|Flagge des italienischen Generalgouverneurs und Vizekönigs von Äthiopien (1938–1941)]]<br />
Auch im fortdauernden Krieg gegen die abessinischen „Patrioten“ setzte Italien auf maßlose Vergeltung. So ermordeten Soldaten von General Sebastiano Gallina im Oktober 1936 Hunderte Bauern und brannten während einer „Säuberungsaktion“ ihre Hütten nieder. Am 27. Oktober ermunterte Vizekönig Graziani den General dazu, „mit dem unerbittlichen Werk der Zerstörung von allem“ fortzufahren. Typisch war auch das Schicksal des 40 Kilometer südlich von Addis Abeba gelegenen Dorfes Gogetti im Februar 1937. Auf Anordnung Mussolinis ließ Brigadegeneral [[Carlo Geloso]] alle männlichen Einwohner über 18 Jahre erschießen und die Dorfhütten niederbrennen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 144 f.</ref> Der für seine brutale Konterguerilla berüchtigte Gouverneur von Amhara, General Pirzio Biroli, befahl nach zahlreichen Massenexekutionen im Sommer 1937 „Luftoperationen großen Stils“ in der Region Gojjam, um die Bevölkerung vom Überlaufen zur Guerilla abzuhalten. Bei ihren Angriffen sollten seine Piloten alles „bombardieren und verbrennen und dabei Kirchen und Vieh nicht verschonen“.<ref>Matteo Dominioni: ''Die Konterguerilla in Zentraläthiopien (1937)''. In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 117–126, hier S. 118 f. u. 122; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 145; Nicolas G. Virtue: ''Technology and Terror in Fascist Italy’s Counterinsurgency Operations: Ethiopia and Yugoslavia 1936–1943.'' In: Miguel Alonso, Alan Kramer, Javier Rodrigo (Hrsg.): ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' o. O. 2019, S. 143–168; hier S. 157</ref><br />
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Grazianis Nachfolger, Herzog [[Amedeo von Savoyen-Aosta]], leitete eine mildere Besatzungspolitik ein, die nicht nur auf Repression beruhte, aber auch nicht vollends auf Gewalt verzichtete. So wurden noch im April 1939 beim [[Massaker von Zeret]] mindestens 1.000 Menschen mit Giftgas, Flammenwerfern oder durch Erschießungen getötet.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 20; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 152; Alfredo González-Ruibal, Yonatan Sahle, Xurxo Ayán Vila: ''A social archaeology of colonial war in Ethiopia.'' In: ''World Archaeology'', Band 43, Nr. 1, 2011, S. 40–65. ([https://core.ac.uk/download/pdf/36054473.pdf PDF])</ref><br />
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=== Abessinische Kriegsverbrechen ===<br />
Auch von abessinischen Truppen und der Widerstandsbewegung wurden bereits 1935/1936 Kriegsverbrechen begangen. So griff am 13. Februar 1936 eine abessinische Kommandoeinheit bei Mai Lahlà (Rama) eine Baustelle der Firma Gondrand an und massakrierte hinter der Front mindestens 68 Arbeiter und eine Frau. Zum Entsetzen der italienischen Öffentlichkeit wurde ein Großteil der getöteten Männer verstümmelt und entmannt. Ebenfalls bekannt ist das Massaker von Lekept. Vizekönig Graziani hatte am 26. Juni 1936 drei Flugzeuge mit 13 Offizieren nach Lekept geschickt, um dort den proitalienisch eingestellten lokalen Anführer Hapte Mariam zu treffen. Die Offiziere wurden mit einer Geldsumme von 3.000 [[Maria-Theresien-Taler]]n ausgestattet, um in Lekept eine lokale Armee im Dienste der Italiener aufzubauen. In der Nacht desselben Tages wurden zwölf von ihnen getötet und die drei Flugzeuge von Studenten der Stadt Holetta und eritreischen Deserteuren verbrannt.<ref>John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032, hier S. 1023; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 138; Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' Lawrenceville 1997, S. 167 f.</ref> Trotzdem fällt laut Aram Mattioli (2005) auf, dass der Widerstand nicht auf willkürlichen Terror setzte. So habe er keine Gewaltakte in belebten Straßen, Restaurants oder auf Märkten verübt, in denen unbeteiligte Passanten zu Schaden kamen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 138.</ref> Auch Rainer Baudendistel (2006) hält fest, dass die Verletzungen der ersten Genfer Konvention von 1929, die sich das faschistische Italien während des siebenmonatigen Feldzuges in Abessinien zuschulden kommen ließ, „sehr viel schwerer wiegen als diejenigen des äthiopischen Kaiserreiches“. Der bis heute in Italien verbreitete Glaube an das Gegenteil sei ein „Mythos“, der dem „nachhaltigen Effekt der faschistischen Propaganda und eigentlicher Verdrängung zuzuschreiben“ sei.<ref>Rainer Baudendistel: ''Das Rote Kreuz unter Feuer.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 59–72, hier S. 71.</ref><br />
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== Folgen ==<br />
=== Opferzahlen ===<br />
Wie in vielen anderen Fällen von Massengewalt ist sich die internationale Forschung auch über die genaue Opferzahl des Abessinienkrieges uneins, insbesondere hinsichtlich der Toten auf abessinischer Seite. Keine der kriegsführenden Parteien führte verlässliche Statistiken. Überdies war in Abessinien eine statistische Erfassung der Einwohner unbekannt, sodass auch die Zahl der Gesamtbevölkerung nur geschätzt werden kann. Die Angaben für die abessinische Gesamtbevölkerung schwanken zwischen 6 und 12 Millionen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 195; Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 195.</ref><br />
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Vor diesem Hintergrund sehen auch Historiker die Anzahl der Abessinier, die dem italienischen Angriffskrieg und Besatzungsregime zwischen 1935 und 1941 zum Opfer fielen, sehr unterschiedlich: Die Angaben bewegen sich zwischen minimal 330.000 und maximal 760.000 Toten. Der Höchstwert entstammt den äthiopischen Regierungsangaben aus dem Jahre 1946.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 13 u. 195.</ref> Obwohl diese Angabe auch die indirekten Besatzungsfolgen durch Hungersnöte berücksichtigt, wird die von Äthiopien vertretene maximale Opferzahl von den meisten europäischen Historikern als zu hoch angesehen. So geht die neuere italienische Forschung für den Zeitraum von 1935 bis 1941 von 350.000 bis 480.000 getöteten Äthiopiern aus, die neuere deutschsprachige Forschung spricht von 330.000 bis 380.000 Toten<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 153; Hans Woller: ''Mussolini. Der Erste Faschist. Eine Biografie.'' 3. Auflage, München 2019 [2016], S. 147.</ref> und der australische Historiker und Mussolini-Biograph [[Richard James Boon Bosworth|R. J. B. Bosworth]] (2010) von über 400.000 Toten.<ref>R. J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' Neue Ausgabe, London/New York 2010, S. 250.</ref> Manche angelsächsischen Historiker gehen jedoch weiterhin von deutlich höheren Opferzahlen aus. So hält Andrew Stewart (2016) an der äthiopischen Regierungsangabe von 760.000 Toten fest,<ref>Andrew Stewart: ''The First Victory. The Second World War and the East Africa Campaign.'' New Haven/London 2016, S. 13.</ref> während Brian R. Sullivan (1993) noch von immerhin 700.000 getöteten Äthiopiern spricht, und daher bei einer niedrig geschätzten Einwohnerzahl von 6 Millionen davon ausgeht, dass Äthiopien infolge des Krieges 11 bis 13 % seiner Gesamtbevölkerung verloren hat.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 194 f.</ref><br />
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Jedenfalls bezahlte das abessinische Kaiserreich im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl den italienischen Eroberungsversuch mit einem höheren Blutzoll als alle durch den Ersten Weltkrieg betroffenen Nationen mit Ausnahme Serbiens. Das zentrale Hochplateau Äthiopiens wurde so zum Schauplatz des ersten kriegsbedingten Massensterbens seit der Gründung des Völkerbundes.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 13 f.</ref> Besonders hoch war der Blutzoll unter der christlich-orthodoxen Volksgruppe der Amharen, deren Verluste im prozentualen Verhältnis zu ihrer Bevölkerungsanzahl sogar jenen der Russen im Zweiten Weltkrieg gleichen.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 194.</ref> Weitgehend überein stimmen Historiker darin, dass im Zeitraum von 1936 bis 1941 weit mehr Äthiopier ums Leben kamen als im „Krieg der sieben Monate“ von 1935/36. Für die erste Kriegsphase schwanken die Zahlen zwischen 55.000 und 275.000 getöteten Abessiniern, während die Angaben für die Jahre 1936 bis 1941 von 180.000 bis 480.000 Toten reichen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 92 u. 152 f.</ref><br />
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Auf italienischer Seite belaufen sich die Verluste von 1935 bis 1941 auf insgesamt 25.000 bis 30.000 militärische und zivile Tote, darunter überdurchschnittlich viele Askaris. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung erlitt Italien damit etwa doppelt so hohe Verluste, als die US-Amerikaner während des etwa gleich lange dauernden Vietnamkrieges. Dies weist für Historiker auf die Erbittertheit der Kämpfe in Ostafrika hin.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 152 f; Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 194.</ref> Die faschistische Regierung in Rom bezifferte für die Kriegsphase von Oktober 1935 bis Mai 1936 offiziell Verluste von 2.800 Italienern und 1.600 Askaris. Brian R. Sullivan (1999) geht von 12.000 getöteten Italienern und 4.000–5.000 getöteten Askaris für den „Krieg der sieben Monate“ aus. Im weiterhin nicht befriedeten Ostafrika seien von Mai 1936 bis Juni 1940 weitere 12.000 Italiener und zwischen 30.000 und 35.000 Askaris getötet worden.<ref name="S187">Brian R. Sullivan: ''More than Meets the Eye. The Ethiopian War and the Origins of the Second World War.'' In: Gordon Martel (Hrsg.): ''The Origins of the Second World War Reconsidered. A.J.P. Taylor and the Historians.'' 2. Aufl., Routledge, London 1999, S. 187.</ref> Laut dem italienischen Historiker Alberto Sbacchi (1978) wurden außerdem bis Mai 1936 etwa 44.000 Italiener verwundet oder erkrankten, bis zum Jahr 1940 dann noch weitere 144.000.<ref>Alberto Sbacchi: ''The Price of Empire. Toward an Enumeration of Italian Casualties in Ethiopia, 1935–40.'' In: ''Ethiopianist Notes'' 2 (1978), S. 36–38.</ref><br />
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=== Abessinien unter italienischer Besatzung ===<br />
{{Hauptartikel|Italienisch-Ostafrika}}<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1939.png|mini|hochkant=1.5|Italienisch-Ostafrika als Teil des faschistischen Kolonialreiches (1939)]]<br />
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Unter der italienischen Besatzung verschwand Abessinien als geographische Einheit von der Landkarte. Die Grenzen des alten Kaiserreiches wurden aufgelöst und sein Territorium mit den bisherigen Kolonien Eritrea und Somaliland vereinigt. Diese formten nun die neugebildete Kolonie „Italienisch-Ostafrika“ (''Africa Orientale Italiana'', kurz AOI). Faktisch handelte es sich jedoch um eine Besatzungsherrschaft und damit um eine illegitime Form der Machtausübung, da Äthiopien vor der Annexion ein souveräner und international anerkannter Staat gewesen war. Völkerrechtlich gesehen stieß dem Land somit nichts grundlegend anderes zu als später der [[Zerschlagung der Tschechoslowakei|Tschechoslowakei]] und [[Überfall auf Polen|Polen]] durch das nationalsozialistische Deutschland. Außerdem ging der Krieg auch nach der Einnahme Addis Abebas unvermindert weiter, da die Italiener erst ein Drittel Abessiniens erobert hatten.<ref>Haile Larebo: ''Empire Building and it’s Limitations: Ethiopia (1936–1941).'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 83–94, hier S. 83 f; Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 16.</ref><br />
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Das Gebiet wurde in sechs halbautonome Verwaltungseinheiten unterteilt. Dabei praktizierten alle faschistischen Gouverneure einen bemerkenswerten Autoritarismus, Paternalismus und Rassismus. Eine zwangsläufige Begleiterscheinung der italienischen Kolonialpolitik war in Abessinien wie auch anderswo der Ausschluss der unterworfenen Bevölkerung von allen Formen der Machtbeteiligung. Die koloniale Administration ging von der Theorie aus, dass Kolonien Erweiterungen des Mutterlandes sind, die von Italienern besiedelt und von italienischem Kapital ausgebeutet werden sollten. Dieser Ansatz zielte auf eine Transformierung der Kolonien in Regionen eines Großitalien ''(Magna Italia)'' ab. Kolonialminister Alessandro Lessona betrachtete die Unterordnung von Interessen der einheimischen afrikanischen Bevölkerung unter die Interessen Roms nicht als im Widerspruch zur proklamierten „Zivilisatorischen Mission“ stehend. Stattdessen ging er davon aus, dass die Abessinier dankbar und unterwürfig sein würden.<ref>Haile Larebo: ''Empire Building and it’s Limitations: Ethiopia (1936–1941).'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 83–94, hier S. 83 f.</ref><br />
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Anders als die umliegenden kolonialen Gebiete, verfügte Abessinien jedoch über eine wachsende und gut artikulierte intellektuelle Elite. Viele von ihnen hatten eine Ausbildung an Schulen und Universitäten im Ausland gemacht. Die Italiener begannen mit der systematischen Liquidierung dieser Abessinier, sowie aller anderen, die verdächtigt wurden irgendeine Form von bedeutender Ausbildung genossen zu haben.<ref>Haile Larebo: ''Empire Building and it’s Limitations: Ethiopia (1936–1941).'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 83–94, hier S. 83 f.</ref> Das künftige Schulwesen wurde für Abessinier auf die Grundschulbildung beschränkt.<ref>Haile Larebo: ''Empire Building and it’s Limitations: Ethiopia (1936–1941).'' In: Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' New York 2005, S. 83–94, hier S. 83 f.</ref> Mussolini war von Anfang an entschlossen alle historischen Symbole zu entfernen, die an die Unabhängigkeit Äthiopiens erinnerten. Er erließ persönlich die Order zur Entfernung der zwei bedeutendsten Statuen in Addis Abeba: jene Kaiser Meneliks und jene des Löwen von Judah. Später befiel der Diktator den Raub einer der beiden Obelisken von Axum, der anschließend nach Rom verschifft wurde. Das nach Italien geschaffte Raubgut umfasste ebenfalls das Monument des Löwen von Judah, fünf Kronen äthiopischer Kaiser sowie mehrere historische Gemälde, die das abessinische Parlament verziert hatten.<ref>Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 239.</ref><br />
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=== Radikalisierung des faschistischen Regimes ===<br />
[[Datei:La Domenica del Corriere 1 Nov 1936.jpg|mini|Mussolini als gefeierter „Begründer des Imperiums“ ''(Il fondatore dell’Impero)'' auf dem Titelblatt von ''La Domenica del Corriere'' (1936)]]<br />
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Für das faschistische Italien markierte der Abessinienkrieg den Wendepunkt hin zu einer bedeutenden Radikalisierung des Mussolini-Regimes,<ref>Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 292 f.</ref> die laut [[Hans Woller]] (2010) eine noch tiefere Zäsur darstellte als die Ausrufung der Diktatur Anfang 1925.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 153.</ref> Italiens Außenpolitik trat mit dem Überfall auf Äthiopien in ein „faschistisches Kriegsjahrzehnt“ ''(a fascist decade of war)'' ein, in dessen Rahmen das Regime von 1935 bis 1945 permanent Krieg führte: Nach dem Angriff auf Abessinien folgten militärische Interventionen in [[Italienische Intervention in Spanien|Spanien]], [[Italienische Besetzung Albaniens|Albanien]], [[Schlacht in den Westalpen|Frankreich]], [[Italienische Invasion Ägyptens|Nord-]] und [[Ostafrikafeldzug|Ostafrika]], [[Griechisch-Italienischer Krieg|Griechenland]], [[Balkanfeldzug (1941)|Jugoslawien]], der Sowjetunion und schließlich in [[Italienfeldzug (Zweiter Weltkrieg)|Italien]] selbst.<ref>Marco Maria Aterrano, Karine Varley: ''Introduction: a Fascist decade of war? The impact of the Italian wars on the international stage, 1935–1945.'' In: Marco Maria Aterrano, Karine Varley (Hrsg.): ''A Fascist Decade of War: 1935–1945 in International Perspective.'' London/New York 2020, S. 1–10, hier S. 1 u. 3.</ref> Dabei entfaltete der Abessinienkrieg seine größte Wirkung als „Experimentierfeld“ auf die italienische Besatzungspolitik auf dem [[Balkanhalbinsel|Balkan]], wo Äthiopien-Veteranen wie die Generäle Alessandro Pirzio-Biroli und Carlo Geloso führende Positionen übernahmen und zwischen 1941 und 1943 eine besonders brutale Repressionspolitik verfolgten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 154; John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' o. O. 2020, S. xvii f. u. xxi f.</ref><br />
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Zugleich setzte der „Duce“ im Inland nun auf eine forcierte Weiterführung der „faschistischen Revolution“, die das Land dem Endziel eines totalitären Staates deutlich näher brachte. Angespornt durch den Krieg in Ostafrika sowie durch die gestärkten Vertreter des radikalen Flügels innerhalb der Staatspartei [[Partito Nazionale Fascista|PNF]], erteilte Mussolini dem faschistischen Parteiapparat nun insbesondere in den Bereichen Propaganda und Pädagogik mehr Kompetenzen. Dieser forderte nun mit Nachdruck eine tiefgreifende Faschisierung von Staat und Gesellschaft: Durch die verstärkte Besetzung von immer mehr politischen Positionen mit überzeugten Faschisten sollte die Umwandlung Italiens zu einer neuen Gesellschaft kriegerischer Menschen, den „Römern der Moderne“, beschleunigt werden. Anfang 1937 führte das Regime auch ein neues [[Ministerium für Volkskultur (Italien)|Ministerium für Volkskultur]] ein, das sich teilweise am deutschen [[Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda|Propagandaministerium]] orientierte. Außerdem verstärkte Mussolini seine persönliche Diktatur: Während sein Kabinett 1933 noch 72 Sitzungen abgehalten hatte, waren es 1936 nur noch vier. Gedankenspiele über die Abschaffung der Monarchie und die zusätzliche Übernahme der Position des Staatsoberhaupts ließ Mussolini zwar schließlich fallen (er entschied sich dafür, den Tod des fast siebzigjährigen Königs abzuwarten). Jedoch ernannte sich Mussolini Anfang 1938 zur Empörung von Viktor Emanuel III. zum „Ersten Marschall“ des italienischen Imperiums, wodurch er in militärischen Belangen auf einer mindestens gleichwertigen Stufe mit dem Monarchen stand.<ref>Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 292 f.; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 153 f.</ref><br />
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Neue Töne schlug das Regime ab März 1936 ebenso in der Wirtschaftspolitik an. Um den vom Völkerbund im Zuge des Überfalls auf Abessinien verhängten Sanktionen langfristig trotzen zu können, strebte man nun nach „[[Autarkie]]“ – die italienische Wirtschaft sollte durch zunehmendes staatliches Eingreifen möglichst unabhängig gemacht werden. Die internationalen Sanktionen wurden zwar drei Monate später wieder aufgehoben, doch die „Autarkie“ blieb die neue wirtschaftliche Leitdoktrin des Faschismus. Der Zugang ausländischer Konkurrenten zum italienischen Markt wurde zunehmend eingeschränkt, was zu einer steigenden Inflation und höheren Steuern führte. Gleichzeitig begann eine zunehmende staatliche Förderung der italienischen Rüstungsindustrie und verwandten Sektoren wie Maschinenbau, Metallverarbeitung und Chemie. Zwar ging damit eine rasche Zunahme der industriellen Produktion einher, dennoch löste das „Autarkie“-Konzept bei Italiens ökonomischer Elite zunehmende Beunruhigung aus. Die verstärkte Einflussnahme und Kontrolle des faschistischen Staates auf den freien Markt, die Bestrebungen der Faschisten nach einer totalen Dominierung des Staates und die stetig aggressivere Außenpolitik kollidierten immer mehr mit den Interessen des [[Großbürger]]tums.<ref>Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 292 f.; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 293 f.</ref><br />
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Nicht zuletzt begann ab 1936 auch die Wende des italienischen Faschismus hin zu einer betonten und systematischen [[Rassismus|Rassenpolitik]]. Erstmals konfrontiert mit der Tatsache, dass im italienischen Herrschaftsbereich Millionen von Afrikanern lebten, sowie Mussolinis Wunsch, die eroberten Gebiete Ostafrikas zu einer italienischen [[Siedlungskolonie]] zu machen, stieg innerhalb der faschistischen Führungsschicht die Angst vor einer „Rassenmischung“. Mussolini erklärte dazu im engsten Kreis unmissverständlich: „Man erobert kein Imperium, um sich zu entarten. Ich will keine Halbblute.“ In den folgenden Monaten und Jahren wurde schrittweise ein [[Italienisch-Ostafrika#Das Apartheidsystem|Apartheidssystem in Italienisch-Ostafrika]] aufgebaut, das bereits viele Elemente der später in [[Südafrika]] praktizierten [[Apartheid|Politik der Rassentrennung]] vorwegnahm und das deutlich über den „üblichen“ Kolonialrassismus anderer Kolonialstaaten hinausging. Die Entdeckung der „Rassenfrage“ im Zuge des Abessinienkriegs beflügelte zudem den steigenden [[Antisemitismus]] des faschistischen Regimes. Nachdem bereits 1934 eine erste Propagandakampagne gegen die italienischen Juden gestartet worden war, verband sich nun der gegen farbige Afrikaner gerichtete Rassismus mit einer „Kampfansage an den überall lauernden bürgerlichen Geist“ in Italien, als dessen Verkörperung die Juden galten. Im Jahr 1938 wurden schließlich die [[Italienische Rassengesetze|Gesetze zum „Schutz der italienischen Rasse“]] erlassen, die sich in erster Linie gegen Juden, aber auch gegen die farbigen Bewohner in den italienischen Kolonien richteten. Der Abessinienkrieg spielte somit eine entscheidende Rolle für die rassistische Gesetzgebung Italiens.<ref>Sarah Berger et al. (Bearb.): ''[[Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945|VEJ]], Band 14, Besetztes Südosteuropa und Italien.'' Berlin/Boston 2017, S. 19; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 154–159.</ref><br />
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=== Verhindertes Kriegsverbrechertribunal ===<br />
==== Völkerrechtliche Ausgangssituation ====<br />
Auf ihren Gipfeltreffen in [[Konferenz von Moskau#Außenministerkonferenz 1943|Moskau (1943)]], [[Teheran-Konferenz|Teheran (1943)]] und [[Konferenz von Jalta|Jalta (1945)]] bekräftigten die Führer der alliierten Mächte ihren Willen, Kriegsverbrecher zu verfolgen und an ihre Ankläger auszuliefern. 1943 wurde zu diesem Zweck die [[United Nations War Crimes Commission]] (UNWCC) eingerichtet, die eine Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher erstellen sollte. Am 8. August 1945 führte das [[Londoner Statut]] neben Kriegsverbrechen, die schon unter Bezug auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 geahndet werden konnten, das „Verbrechen gegen den Frieden“ und das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in das Völkerrecht ein.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 167.</ref> Vor dem Hintergrund der [[Nürnberger Prozesse|Nürnberger]] und [[Tokioter Prozesse]] strengte auch das Kaiserreich Äthiopien als erstes Opfer der späteren [[Achsenmächte]] ein internationales Tribunal zur Aburteilung der italienischen Kriegsverbrecher an. Bei vielen der begangenen Gewalttaten handelte es sich schon nach damaliger Rechtslage um schwere Verstöße gegen das Völkerrecht. So stellte bereits die Invasion als solche einen verbrecherischen Akt dar, weil sie gegen den [[Briand-Kellogg-Pakt]] verstieß, der 1928 Angriffs- und Eroberungskriege prinzipiell geächtet hatte. Der kalkulierte Einbezug der Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen kam einem Bruch mit den Prinzipien der [[Haager Landkriegsordnung]] gleich.<ref name="MattioliTibunal">Aram Mattioli: ''Das sabotierte Kriegsverbrechertribunal.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 153–161, hier S. 154 f.; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 168.</ref><br />
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Völkerrechtswidrig waren die Luftangriffe auf unverteidigte Städte und Dörfer, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die Verseuchung von Wasserstellen und das Abschlachten von Viehherden sowie die willkürliche Hinrichtung von unbeteiligten Zivilisten. Italiens Gaskriegsführung verletzte das 1925 von Italien ohne Einschränkungen unterzeichnete [[Genfer Protokoll]], welches den Gebrauch chemischer und biologischer Waffen verbot. Dadurch, dass italienische Einheiten an einzelnen Frontabschnitten keine Gefangenen machten oder diese in den Konzentrationslagern Danane und Nocra einem oft tödlichen Schicksal überantworteten, brachen die Invasoren auch das Genfer Abkommen von 1929, das einen erweiterten Schutz und eine menschliche Behandlung von Kriegsgefangenen vorsah. Ein völkerrechtswidriges „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ war die blutige Massenrepression unter Vizekönig Graziani, insbesondere die gezielte Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen, die Massenexekutionen ohne vorherigen Prozess und die Massaker an Zivilpersonen.<ref name="MattioliTibunal" /><ref>Giorgio Rochat: ''L’impiego dei gas nella guerra d’Etiopia 1935–1936.'' In: Angelo Del Boca: ''I gas di Mussolini: il fascismo e la guerra d’Etiopia.'' S. 50–51.</ref><br />
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==== Äthiopiens Initiativen bei der UNWCC und Großbritannien ====<br />
Als ein erster Schritt auf dem Weg zu einem „afrikanischen Nürnberg“ sollte die von der Presse- und Informationsabteilung der äthiopischen Regierung erarbeitete Dokumentation ''La Civilisation de l’Italie fasciste en Éthiopie'' werden. Das in französischer Sprache verfasste, zweibändige [[Schwarzbuch]] prangerte auf Grundlage von gefundenen Dokumenten und Fotografien die italienischen Gewalttaten an und sollte westliche Regierungskreise und die Öffentlichkeit für Verbrechen auf dem ostafrikanischen Kriegsschauplatz sensibilisieren. Am 10. Jahrestag des italienischen Überfalls trat Äthiopien dem Londoner Statut bei und gab am 20. Mai 1946 die Errichtung der „Ethiopian War Crimes Commission“ bekannt. Addis Abeba versuchte Druck auf die [[Vereinte Nationen|UNO]]-Kommission auszuüben, da diese bisher insbesondere auf britisches Betreiben hin die italienischen Kriegsverbrechen in Äthiopien nicht in ihr Mandat eingeschlossen hatte. Die UNWCC erklärte, sie sei nur für während des Zweiten Weltkrieges von 1939 bis 1945 begangene Gewaltverbrechen zuständig. Jedoch wurden schon in den Tokyoter Prozessen Verbrechen der japanischen Militärführung verhandelt, die bis ins Jahr 1928 zurückgingen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 169 ff.</ref><br />
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Die UNWCC änderte ihre ablehnende Haltung erst infolge des Inkrafttretens der [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Friedensverträge]] am 10. Februar 1947. Darin verpflichtete sich Italien unter anderem dazu, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um Personen italienischer oder ausländischer Herkunft, die im Verdacht standen, Strafbestände nach Maßgabe des Nürnberger Prozesses verübt, befohlen oder Beihilfe zu ihnen geleistet zu haben, vor Gericht zu stellen. Am 29. Oktober 1947 erklärte sich die UNO-Kommission bereit, auch die von Italienern begangenen Kriegsverbrechen in Äthiopien in ihre Arbeit einzubeziehen. Gleichzeitig forderte sie Äthiopiens Regierung auf, ihre Fälle der Kommission bis zum 31. März 1948 zu unterbreiten. Um die Frist einhalten zu können, entschloss sich Äthiopiens Regierung dazu, der UNWCC nur zehn Anklagen gegen mutmaßliche Hauptkriegsverbrecher zu unterbreiten. Damit war bereits klar, dass alle Täter der mittleren und untersten Kommandoebene nicht belangt werden würden. Andere Hauptverantwortliche wie Benito Mussolini oder Emilio De Bono waren nicht mehr am Leben. Anfang 1948 überreichte Äthiopien der UNWCC detailliertes Beweismaterial zu von Italienern begangenen Kriegs- und Besatzungsverbrechen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 170 f.</ref> Auf der äthiopischen Kriegsverbrecherliste standen sieben hochrangige Militärs, zwei Politiker und ein Parteiexponent in der folgenden Reihenfolge:<br />
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1. Marschall Pietro Badoglio (Oberbefehlshaber der italienischen Streitkräfte in Ostafrika), 2. Marschall Rodolfo Graziani (Kommandeur der Südfront und Vizekönig von Italienisch-Ostafrika), 3. Alessandro Lessona (Kolonialminister), 4. Guido Cortese (Chef der faschistischen Partei in Addis Abeba), 5. General Guglielmo Nasi (Gouverneur von Harrar), 6. General Alessandro Pirzio Biroli (Gouverneur von Amhara), 7. General [[Carlo Geloso]] (Gouverneur von Galla und Sidamo), 8. General Sebastiano Gallina, 9. General [[Ruggero Tracchia]], 10. [[Enrico Cerulli]] (Abteilungsleiter im Kolonialministerium für Ostafrika und Stellvertreter von Vizekönig Graziani). Äthiopien bezichtigte jeden der zehn Haupttäter des verbrecherischen Massenmords. Konkret wurden Badoglio der systematische Einsatz von Giftgas und das gezielte Bombardement von Spitälern zur Last gelegt. Graziani klagte man des systematischen Terrorismus, der Deportation und Internierung von Zivilisten, der Plünderung und mutwilligen Zerstörung, des Einsatzes von Giftgas und der bewussten Bombardierung von Spitälern an. Lessona, den einzigen hochrangigen Vertreter der ehemaligen politischen Führung, und Cerulli beschuldigte man der Beihilfe zum systematischen Terrorismus. Cortese wollte man als Drahtzieher des fürchterlichen Pogroms in Addis Abeba zur Verantwortung ziehen, während die verbliebenen fünf Feldkommandeure für die von ihnen angeordneten Massaker und Massenexekutionen abgeurteilt werden sollten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 171 f.</ref><br />
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Die UNWCC diskutierte und würdigte das von Äthiopien vorgelegte Belastungsmaterial am 4. März 1948. Trotz britischer Bedenken erklärte sie sich bereit, die sieben Militärführer und den faschistischen Parteifunktionär Cortese auf die Liste der Kriegsverbrecher zu setzen. Einzig Alessandro Lessona und Enrico Cerulli sollten, da sie nicht persönlich an Verbrechen teilgenommen hatten, nicht angeklagt, sondern in künftigen Prozessen bloß als Zeugen geladen werden. Dieser UNWCC-Entscheidung, die einem moralischen Sieg Äthiopiens gleichkam, stellten sich jedoch neue Schwierigkeiten entgegen. So befanden sich die acht Beschuldigten nicht in äthiopischem Gewahrsam, sondern lebten als zum Teil geachtete Bürger in Italien. Pietro Badoglio stand trotz seiner Verwicklung in die faschistische Diktatur in hohem Ansehen, da er Italien als erster postfaschistischer Ministerpräsident im Oktober 1943 an der Seite der Alliierten in den Krieg geführt hatte. Gleichzeitig hatte er im April 1944 den demokratischen Parteien den Weg an die Macht geebnet, als er die Parteien des [[Comitato di Liberazione Nazionale|Nationalen Befreiungskomitees]] (CLN) in seine Regierung aufgenommen hatte. Als Garant der staatlichen Kontinuität und rechtsgerichteter Politiker wurde Badoglio vom konservativen Establishment Westeuropas hoch geschätzt. Selbst nach seiner Zeit als Ministerpräsident nahm ihn die britische Regierung bei mehreren Gelegenheiten vor Vorwürfen wegen seiner Rolle in Mussolinis Eroberungskriegen in Schutz.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 172 f.</ref><br />
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Diese Schwierigkeiten vor Augen, entschied sich die äthiopische Regierung 1948 dazu, Italien entgegenzukommen. In einem Schreiben an das britische Außenministerium erklärte sie sich am 23. November 1948 bereit, auf einen Großteil der Verfahren zu verzichten und nur die beiden ehemaligen Marschälle Pietro Badoglio und Rodolfo Graziani zur Verantwortung zu ziehen. Um den beiden Angeklagten einen fairen Prozess zu garantieren, schlug Äthiopiens Regierung ein internationales Tribunal mit einer Mehrheit nichtäthiopischer Richter vor, das nach dem Verfahrensmodell und den Rechtsprinzipien der Nürnberger Prozesse arbeiten sollte. Überdies bat die kaiserliche Regierung Großbritannien um Hilfe und Vermittlung bei der italienischen Regierung. Der britische Außenminister lehnte dies jedoch ab und verwies das afrikanische Land am 31. Januar 1949 auf den direkten Verhandlungsweg mit Italien. Alle britischen Regierungen wollten Italien, das sich ab 1943 am Krieg gegen NS-Deutschland beteiligt hatte, nicht für Verbrechen in Afrika zur Verantwortung ziehen, die in den Jahren der unglücklichen [[Appeasement-Politik]] begangen worden waren. Die damalige nachgiebige Haltung Großbritanniens hatte die italienische Aggression wesentlich erleichtert. Zudem sollte nach dem Ausbruch des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] alles unterbleiben, was die ohnehin schon starke politische Linke in Italien noch stärker gemacht hätte. Großbritannien, Frankreich und die USA wollten Italien unbedingt im westlichen Lager halten und waren für dieses Ziel bereit, das von Äthiopien angestrebte Tribunal zur Aburteilung der italienischen Hauptkriegsverbrecher im Sande verlaufen zu lassen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 174 f.</ref><br />
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==== Letzte bilaterale Initiative und Scheitern ====<br />
Endgültig auf den bilateralen Weg verwiesen, unternahm die äthiopische Regierung im September 1949 einen letzten Versuch, Pietro Badoglio und Rodolfo Graziani doch noch aburteilen zu können. Der äthiopische Botschafter in London berief sich gegenüber seinem italienischen Amtskollegen noch einmal auf Italiens Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag von 1947. Der italienische Botschafter lehnte die Forderungen jedoch mit der Begründung ab, dass zwischen den beiden Ländern keine diplomatischen Beziehungen bestünden. Das ebenfalls informierte britische Außenministerium stellte in seiner Antwort die Berechtigung der äthiopischen Auslieferungsbegehren nicht grundsätzlich in Frage, hielt aber fest, dass der Zeitpunkt dafür unpassend sei. Äthiopien tue gut daran, die Frage des Kriegsverbrecherprozesses nicht weiter zu forcieren, wenn es an einer Föderation mit Eritrea interessiert sei. Diese Demarche bedeutete das Ende für die äthiopischen Bemühungen.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 175.</ref> Die Folgen des ausgebliebenen Kriegsverbrechertribunals beurteilte Aram Mattioli (2006) wie folgt:<br />
: „Die stille ‚Generalamnestie‘ für Mussolinis blutige Veteranen prägte die Erinnerung an die Ereignisse entscheidend. Sie verhinderte nicht nur, dass den vielen Tausend afrikanischen Opfern der faschistischen Gewaltherrschaft Gerechtigkeit und Genugtuung widerfuhr. Die Sabotage eines ‚afrikanischen Nürnberg‘ trug überdies dazu bei, dass Mussolinis Diktatur nie als jenes brutale Massentötungsregime ins kollektive Gedächtnis der Europäer einging, das sie war.“<ref>Aram Mattioli: ''Das sabotierte Kriegsverbrechertribunal.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 153–161, hier S. 161.</ref><br />
<br />
== Rezeption in Gesellschaft und Politik ==<br />
=== Zeitgenössische Rezeption ===<br />
Schon der zeitgenössischen Beurteilung fiel das Leid auf, das der Abessinienkrieg über die zivile Bevölkerung brachte. So berichtete [[John Melly]], der damalige Leiter des Britischen Roten Kreuzes im Kriegsgebiet: „Das ist kein Krieg, es ist auch kein Blutbad, es ist eine Folterung von Zehntausenden wehrloser Männer, Frauen und Kinder mit Bomben und Giftgas.“ [[Marcel Junod]], Delegierter des internationalen Roten Kreuzes, verglich angesichts hunderter Giftgasopfer in der Quoram-Ebene, die schwer verletzt und ohne medizinische Versorgung qualvoll vor sich hin litten, das Geschehen mit einer „veritablen Hölle“. Der Chefdelegierte des Roten Kreuzes in Abessinien, Sidney H. Brown, meldete 1936 an die Genfer Zentrale, dass die Italiener einen wahren „Vernichtungskrieg“ ''(guerre d’extermination)'' führten und keine Unterscheidung zwischen der Armee und der Zivilbevölkerung stattfinde.<ref>Manfred Funke: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/mit-giftgas-zum-imperium-1439425.html ''Mit Giftgas zum Imperium.''] In: [[FAZ]], 19. April 2007, abgerufen am 23. Dezember 2020; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 112.</ref> Der Überfall auf Äthiopien schädigte den internationalen Ruf des faschistischen Italiens in der westlichen Presse und bei den politischen Eliten nachhaltig. Wurde Mussolini zuvor unter anderem noch als „modernisierender Supermann“ gefeiert, galten er und sein Regime nun als „Aggressoren“, die man „in Quarantäne stecken“ solle ([[Franklin D. Roosevelt]]),<ref>Andrew N. Buchanan: ''American policy towards Italy during it’s ‘decade of war’.'' In: Marco Maria Aterrano, Karine Varley (Hrsg.): ''A Fascist Decade of War: 1935–1945 in International Perspective.'' London/New York 2020, S. 28–41, hier S. 30.</ref> oder als „Gangster“ und „[[Antichrist]]“ ([[Anthony Eden]]).<br />
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[[Datei:La Domenica del Corriere (2 Oct 1938).jpg|mini|Propagandistische Darstellung [[Benito Mussolini]]s auf der Titelseite der Zeitung ''La Domenica del Corriere'' (1938)]]<br />
In Italien selbst rief der Abessinienkrieg gewaltige Begeisterung hervor, insbesondere Badoglios Siegesmeldung vom 5. Mai 1936 versetzte die italienische Gesellschaft in einen „kollektiven Rauschzustand“. Für die Faschisten war Italien im „Krieg der sieben Monate“ nun zu einer kolonialen Großmacht aufgestiegen, die gleich hinter Großbritannien und Frankreich über das drittgrößte Kolonialreich der Welt gebot. Vor dem Hintergrund ungeheurer Propagandaanstrengung sah Italiens Öffentlichkeit Mussolini im Allgemeinen als einen Mann, der dort Erfolg gehabt hatte, wo seine liberalen Vorgänger gescheitert waren. Italien habe aus eigener Kraft einen großen Feldzug gewonnen und Mussolini dem Völkerbund und den Großmächten getrotzt und dabei zusätzliches Prestige erworben. Propagandistisch hervorgehoben wurden auch die 50 Millionen Hektar besten äthiopischen Ackerlandes, die nur darauf warten würden, von zwei Millionen italienischen Kolonisten bebaut zu werden. 1936 erklärten sogar kommunistische Geheimberichte, die Themen Nationalismus und „proletarischer Krieg“, die der Faschismus eingesetzt hatte, hätten die einfache Bevölkerung in Bewegung versetzt, und es gebe eine „breite Masse von Arbeitern, die vom Faschismus beeinflusst seien“. Kommunistische Führer kamen zu dem Schluss, patriotische Gefühle respektieren zu müssen, was so weit ging, dass sie ein gewisses Maß an Nationalismus akzeptierten und zu einer Zusammenarbeit mit faschistenfreundlichen Arbeitern bereit waren.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 91 u. 132; Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Wien 2006, S. 291 f.</ref> Es gab jedoch auch öffentlich bekundete Ablehnungen der Invasion von Seiten italienischer Antifaschisten, so z. B. von [[Carlo Rosselli]], der in seinem französischen Exil 1937 auf Mussolinis Befehl hin ermordet wurde.<ref>Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 238.</ref><br />
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Für die breite Unterstützungsfront, die den Abessinienkrieg 1935/36 trug, erwies sich die Unterstützung durch die katholische Kirche als entscheidend. Seit den Lateranverträgen von 1929 hatte sich die Staatskirche zu einem Stützpfeiler des faschistischen Regimes entwickelt. Schon in den Monaten vor Beginn der Aggression hatten katholische Würdenträger das Recht Italiens auf Expansion unterstützt. In einer Ansprache vom 25. August 1935 erweckte Papst Pius XI. den Anschein, dass der Vatikan die italienischen Ansprüche für gerechtfertigt hielt. Nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten nahm der Vatikan zwar eine neutrale Haltung ein und enthielt sich jedes weiteren Kommentars zum Kriegsgeschehen. Das Schweigen wurde jedoch meist so aufgefasst, dass der Papst nicht gegen den Aggressor Stellung beziehen wollte. Im nationalistischen Klima des Herbstes 1935 unterstützten die meisten italienischen Bischöfe den völkerrechtswidrigen Krieg in Ostafrika enthusiastisch, weit begeisterter als zwanzig Jahre zuvor den Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Den von der Propaganda des Regimes vorgeschützten Kriegsgründen (Verbreitung der Zivilisation, Eroberung von Lebensraum, Abschaffung der Sklaverei) schenkten die meisten Kirchenfürsten Glauben und bemühten in ihren Predigten und Ansprachen das Bild vom „gerechten Krieg“.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 121 f.</ref> So erklärte der Bischof von Cremona drei Wochen nach Kriegsbeginn: „Der Segen Gottes möge auf jenen Soldaten ruhen, die auf afrikanischer Erde kämpfen, neues fruchtbares Land für den italienischen Genius erobern und dabei römische und christliche Kultur verbreiten. Möge der ganzen Welt in Italien wieder einmal ein christlicher Ratgeber erscheinen.“<ref>Zitiert nach Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 122.</ref><br />
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[[Datei:Benito Mussolini and Adolf Hitler.jpg|mini|Mussolini mit Hitler während seines Staatsbesuchs in Deutschland (1937)]]<br />
Das Kaiserreich Abessinien, dessen amharische Führungsschicht eine der ältesten christlichen Kulturen hervorgebracht hatte, erschien den italienischen Bischöfen als ein „Barbarenland“, an dem Italien eine zivilisatorische Mission zu erfüllen habe. Mit der Eroberung dieses alten Reiches verbanden sie auch die Hoffnung auf ein neues Missionsgebiet. Ohne dass sie über die Kriegsführung in allen Einzelheiten Bescheid wussten, waren die meisten Bischöfe und Gläubige ein Spiegel der Gesamtgesellschaft, die sich 1935/36 in einem Zustand des nationalistischen Rausches befand. Während der [[Giornata della fede]] am 18. Dezember 1935 riefen die Bischöfe zur Spende von Eheringen auf und leisten auch persönlich Goldspenden. Viele von ihnen segneten in öffentlichen Zeremonien Standarten von Regimentern sowie die in See stechenden Truppentransporter und erbaten Gottes Segen für Italien, den König und den „Duce“. Stärker noch als die Geistlichen an der Heimatfront engagierten sich die zunächst rund 200, zum Schluss 300 Militärkapläne, die den Abessinienkrieg als Angehörige der Armee mitmachten. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um überzeugte Faschisten, die zum einen für den geistlichen Beistand der Truppe zu sorgen hatten und zum anderen die Funktion von Regime-Propagandisten übernahmen: Sie entwarfen die national-katholische Vision eines erneuerten christlichen Römischen Reiches, komponierten glorifizierende Hymnen und Gebete für den Eroberungskrieg in Ostafrika und den zum Erlöser stilisierten italienischen Diktator. Zu den Kriegsverbrechen schwiegen sie sich aus. An den Sonntagen zelebrierten die Militärkapläne Feldmessen, die stets mit einem Gebet für Monarch und „Duce“ endeten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 122 ff.</ref><br />
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In der internationalen Politik leitete Italiens Aggression eine neue Ära des Faustrechts ein. Das passive Verhalten der Westmächte versetzte dem bisher funktionierenden System kollektiver Sicherheit einen schweren Schlag, von dem es sich nicht mehr erholen sollte. Adolf Hitler wurde dadurch im März 1936 zum [[Rheinlandbesetzung (1936)|Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland]] ermutigt, und im Mai 1936 notierte Propagandaminister [[Joseph Goebbels]] in sein Tagebuch: {{"|Mussolini hat sich durchgesetzt. Was wollen England und der sagenhafte Völkerbund nun tuen [sic]! Man sieht: man muss Macht haben, um sich durchzusetzen. Alles andere ist Unsinn.}}<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 131.</ref> Die neuartige Gewaltdimension dieses Krieges wurde auch von den Generalstäben im „Dritten Reich“ wahrgenommen. Bald erschienen die persönlichen Kriegserinnerungen italienischer Befehlshaber in deutschen Lizenzübersetzungen. Um Marschall Graziani, den Inbegriff des neuen faschistischen Heerführers, bildete sich im „Dritten Reich“ ein Heldenkult. Insbesondere der Militärschriftsteller [[Rudolf von Xylander]], der als Dozent an der [[Preußische Kriegsakademie|Berliner Kriegsakademie]] wirkte, propagierte in Deutschland Lehren aus den Ereignissen in Ostafrika für den Krieg der Zukunft zu ziehen. In einer viel gelesenen Studie stellte er die Schnelligkeit und Effizienz der italienischen Kriegsführung als beispielhaft hin und hielt als „Hauptlehre“ fest, dass nur der mit modernster Technologie bestrittene Bewegungskrieg künftig Erfolgsaussichten besitze. Auch deutete Rudolf von Xylander das Geschehen in Ostafrika als eine Zäsur in der Militärgeschichte und sprach vom „ersten neuzeitlichen Vernichtungskrieg auf kolonialem Boden“. Als [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistisches]] Fazit zum Abessinienkrieg hielt er fest: „Man kann es bedauern, dass ein altes Reich zugrunde ging. Man muss aber auch vor Augen halten, wie die Weltgeschichte oft solches Geschehen zeigt, wie in der Natur nur derjenige ein Lebensrecht behält, der der Stärkste ist.“<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 191 f.</ref> Direkte Aussagen Hitlers zum Abessinienkrieg sind nicht überliefert. Jedoch erwies er Mussolini bei dessen Staatsbesuch am 27. September 1937 nicht nur als „genialen Schöpfer des faschistischen Italien“, sondern auch als „Begründer eines neuen Imperiums“ die Ehre.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 191.</ref><br />
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Der Abessinienkrieg hatte zudem eine große Resonanz in Afrika wie auch bei Menschen afrikanischer Herkunft weltweit.<ref>Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 238.</ref> Bereits 1933 waren bis zu 150 [[Afroamerikaner]] aus den USA nach Äthiopien eingereist, die einen Beitrag für den „einzigen wirklich unabhängigen afrikanischen Staat“ leisten wollten. Während des Krieges wurden zwei der drei Flugzeuge, aus welchen die abessinische Luftwaffe bestand, von afroamerikanischen Piloten geflogen: John Robinson und Hubert Julian.<ref>Saheed A. Adejumobi: ''The History of Ethiopia.'' Westport CT 2007, S. 59.</ref> Nach Beginn der Invasion 1935 drückten tausende Afroamerikaner in den USA den Wunsch aus, auf Seiten der äthiopischen Armee zu kämpfen. Die US-Regierung verweigerte ihnen jedoch die Ausreise, während sie gleichzeitig hunderte [[Italoamerikaner]] gewähren ließ, die – wie New Yorks Bürgermeister [[Fiorello LaGuardia|LaGuardia]] – eigene Truppen für das faschistische Italien mobilisierten.<ref>Saheed A. Adejumobi: ''The History of Ethiopia.'' Westport CT 2007, S. 76.</ref> Insgesamt betrachtet entwickelte sich der italienische Überfall auf Abessinien zu einem Katalysator für antirassistische Bewegungen in Afrika, Europa, Nord- und Südamerika. Er beförderte eine gemeinsame Identität schwarzer Menschen in Bezug auf koloniales und rassistisches Unrecht und beförderte damit auch die Entstehung der [[Bürgerrechtsbewegung]]en nach 1945. Die internationalen Reaktionen auf den Abessinienkrieg führten bei vielen schwarzen Intellektuellen zur Hinterfragung der Ideale europäischer Liberaler wie auch des Kommunismus, nachdem öffentlich wurde, dass die Sowjetunion geplante Völkerbund-Sanktionen gegen den Waffenhandel mit Italien hintertrieben hatte.<ref>Saheed A. Adejumobi: ''The History of Ethiopia.'' Westport CT 2007, S. 87.</ref><br />
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=== Erinnerungskultur in Äthiopien und international ===<br />
Äthiopien begeht in weltweit einmaliger Weise drei Gedenktage für den Kampf um die Unabhängigkeit. Während der „Adua-Tag“ am 2. März an die siegreiche Entscheidungsschlacht im Ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg 1896 erinnert, sind gleich zwei äthiopische Nationalfeiertage dem Gedenken an die italienische Besatzung zwischen 1935 und 1941 gewidmet: der 19. Februar und der 5. Mai. Das erste Datum bezieht sich auf das bis heute prägende und dunkelste Ereignis der faschistischen Gewaltherrschaft: jene Tausende Äthiopier, die nach dem Attentat auf Vizekönig Rodolfo Graziani im Februar 1937 von der Besatzungsmacht in brutalen „Vergeltungsaktionen“ ermordet worden waren. Der „Märtyrer-Tag“ war bis zur Revolution 1974 ein arbeitsfreier Feiertag. Nach dem Sturz von Kaiser Haile Selassie I. wurde er in einen nicht arbeitsfreien Gedenktag umgewandelt. Dies hatte weniger mit einer Herabstufung der Ereignisse in der nationalen Gedenkhierarchie zu tun als damit, dass nach der Einführung dreier muslimischer Nationalfeiertage deren Gesamtzahl beschränkt werden sollte. Während es bis heute weder in Addis Abeba noch auf dem damaligen Schlachtfeld selbst ein Adua-Denkmal gibt, ist das [[Yekatit-12-Denkmal]] des „Märtyrer-Tags“ auf dem Seddest-Kilo-Platz, direkt gegenüber vom Hauptcampus der Universität von Addis Abeba, unübersehbar.<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 163 f. u. 168.</ref><br />
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[[Datei:Meles Zenawi - World Economic Forum Annual Meeting 2012.jpg|miniatur|Äthiopiens ehemaliger Ministerpräsident [[Meles Zenawi]] (2012)]]<br />
Der zweite der beiden Gedenktage steht für den symbolträchtigen, triumphalen Einzug Kaiser Haile Selassies in die Hauptstadt vom 5. Mai 1941, genau fünf Jahre nach dem Einmarsch der Faschisten in Addis Abeba. Für den Kaiser stellte seine Rolle in dem von Briten geführten Feldzug in der Endphase des Krieges ein fast unerschöpfliches politisches Kapital dar. Der 5. Mai wurde offiziell zum Beginn einer neuen Ära bestimmt und die Befreiung in der Erinnerung stark idealisiert. Sie sollte die umstrittene Flucht des Kaisers ins Exil vergessen machen. Dem äthiopischen Historiker Bahru Zewde (2006) zufolge war im politischen Leben Äthiopiens ein mit „liberaler“ Dosis imprägnierter Personenkult um die Errungenschaften des Kaisers während und nach dem Krieg bis zur Revolution von 1974 allgegenwärtig. Es überrasche daher kaum, dass diese kaiserliche Version der Geschichte nach der Absetzung Haile Selassies im September 1974 von den neuen Machthabern bestritten wurde. Der Einzug des Kaisers in Addis Abeba wurde nun als die Rückkehr eines Herrschers dargestellt, der sein Volk in der Stunde der höchsten Not im Stich gelassen hatte. Zum neuen wahren Datum des Übergangs von der faschistischen Besatzung in die neu gewonnene Freiheit erklärte man daher die Befreiung Addis Abebas durch britische Truppen und die sie unterstützenden lokalen Widerstandskämpfer, die bereits am 6. April 1941 stattgefunden hatte. Während etwa zwei Jahrzehnten wurde der 6. April als Tag der Befreiung begangen, bis das aus der Partei [[Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker|EPRDF]] hervorgegangene äthiopische Regime von Premier [[Meles Zenawi]] in den 1990er Jahren schließlich zum 5. Mai als „Liberation Day“ zurückkehrte.<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 174.</ref><br />
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Auch der britische Ostafrikafeldzug, der gemeinsam mit dem äthiopischen Widerstand zum Ende der faschistischen Herrschaft in Äthiopien geführt hatte, hat sich bis heute in der äthiopischen Erinnerungskultur erhalten. An Winston Churchill, den Architekten des britischen Kriegseinsatzes in Äthiopien, erinnert immer noch die als „Churchill Road“ benannte zentrale Verkehrsachse in Addis Abeba. Andere Straßen wurden nach [[Anthony Eden]], dem damaligen Außenminister Großbritanniens, und nach verschiedenen britischen Kommandeuren benannt, wobei einige Namen inzwischen wieder geändert wurden. [[Orde Wingate]] und Dan Stanford, die britischen Kommandeure der Gideon Force, mit welcher Kaier Haile Selassie in Gojjam einmarschierte, wurden zu Namensgebern von Schulen: der einst angesehenen „General Wingate Secondary School“ und der „Sandford English Community School“.<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 163–176, hier S. 173.</ref><br />
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[[Datei:Mengiste Maaza 094.jpg|mini|Maaza Mengiste im [[Literaturhaus Frankfurt]] (Januar 2013)]]<br />
Die Zeit der italienischen Okkupation hat eine Flut äthiopischer Literatur hervorgebracht, belletristische wie wissenschaftliche Werke gleichermaßen. Die Besatzungszeit bildet den Hintergrund oder gar das Leitmotiv zahlreicher amharischer Romane, die nach der Befreiung (1941) geschrieben wurden. Typisch dafür sind die Bücher von [[Makonnen Endalkachaw]], der laut Bahru Zewde (2006) als Schriftsteller „weit mehr Talent bewies denn als Premierminister zwischen 1943 und 1957“. Zu den Klassikern der Nachkriegsliteratur gehört auch „Ar’aya“ von Germachaw Takla-Hawaryat. Bedeutend sind auch Werke der Schriftsteller Yoftahe Neguse und Walda-Giyorgis Walda-Yohannes, die als eigentliche Väter der ''Ethiopian Patriotic Association'' gelten, die während des Krieges Äthiopier zur Verteidigung des Vaterlandes aufrief. Neguse begann damals die Niederschrift seines Hauptwerks ''Afajasheñ''. Sein Kollege Walda-Yohannes wiederum schrieb das Buch ''YaWand Lej Kurat'' („Der Stolz eines Sohns des Vaterlands“), das den Soldaten an der Front moralische Unterstützung geben sollte und von dem nachweislich über 40.000 Exemplare in Umlauf gebracht wurden. Die ''Ethiopian Patriotic Association'', in Äthiopien unter dem Namen ''Hagar Feqer'' bekannt, spielte nach der Befreiung eine Pionierrolle bei der Förderung äthiopischer Musik und Theater.<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 164 f.</ref> Die aus Intellektuellen und Militärs bestehende Widerstandsgruppe der „Black Lions“ wurde von Taddasa Mecha im Buch ''Anbasa BaMe’erab Ityopya'' („Black Lion in Western Ethiopia“) beschrieben. Die äthiopischen Guerillakämpfer der „Patrioten“ erfuhren eine literarische Aufarbeitung durch die Werke von Taddasa Zawalde („Zum Erstaunen der Überlebenden“) und Garima Taffara („Gondar mit seinem Schild“), die den Widerstand in den amharischen Provinzen Shewa und Gondar/Begemder thematisieren. Für den äthiopisch-orthodoxen Erzbischof Abuna Petros, der aufgrund seiner Hinrichtung durch die Italiener in Äthiopien als [[Märtyrer]] verehrt wird, wurde in Addis Abeba eine Statue aufgestellt, die zu den bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt zählt. Der äthiopische Hofdichter Tsagaye Gabra-Madhen verfasste zu Abuna Petros das Bühnenstück ''Petros Yahin Sa’at'' („Petros zu jener Stunde“).<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 163–176, hier S. 170–172.</ref><br />
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Die für ''[[The Guardian]]'' tätige äthiopisch-kanadische Journalistin [[Aida Edemariam]] veröffentlichte 2014 mit ''The Wife’s Tale: A Personal History'' ihre Memoiren als Buch, in denen die Erinnerungen ihrer äthiopischen Großmutter an die italienische Invasion und Okkupation eine Schlüsselrolle einnehmen. Edemariams Buch wurde international mehrfach ausgezeichnet.<ref>Alison Flood: [https://www.theguardian.com/books/2019/may/13/royal-society-of-literature-ondaatje-prize-aida-edemariam-the-wifes-tale ''Ondaatje prize: Aida Edemariam wins for vivid biography of her grandmother''.] In: [[The Guardian]], 13. Mai 2019, abgerufen am 24. Januar 2020.</ref> Die äthiopisch-US-amerikanische Autorin [[Maaza Mengiste]] veröffentlichte 2019 den Roman ''The Shadow King'', dessen Handlung sich 1935 während Mussolinis Invasion in Abessinien abspielt und dabei die oft vernachlässigte Rolle äthiopischer Kämpferinnen im bewaffneten Widerstand thematisiert. Im Jahr 2020 wurde eine Verfilmung des Romans unter der Regie von [[Kasi Lemmons]] und der Mitarbeit der Oscar-nominierten Filmproduzenten [[Charles Roven]] und [[Richard Suckle]] zusammen mit [[Stephanie Haymes-Roven]] und [[Curt Kanemoto]] angekündigt.<ref>Joey Nolfi: [https://ew.com/movies/kasi-lemmons-shadow-king-film-adaptation/ ''Harriet director Kasi Lemmons to adapt Maaza Mengiste’s Shadow King.''] In: ew.com, 16. April 2020, abgerufen am 5. September 2020.</ref> Den Abessinienkrieg behandelt auch der vom italienischen Filmemacherteam um [[Angela Ricci Lucchi]] und [[Yervant Gianikian]] in Frankreich produzierte Dokumentarfilm ''Barbarisches Land'' aus dem Jahr 2012, welcher kommentierte Originalaufnahmen von 1935/36 aus privaten Filmarchiven zeigt.<ref>[https://programm.ard.de/TV/arte/barbarisches-land/eid_2872411222844768?list=now Barbarisches Land | Dokumentarfilm Frankreich 2012 | arte], abgerufen am 17. Dezember 2020.</ref> Im Jahr 2015 veröffentlichte der Sender [[Arte]] den Film ''Als mein Onkel für den Duce nach Afrika ging'' von Loredana Bianconi. Diese befasst sich mit dem Abessinienkrieg aus der kritischen Perspektive der eigenen Familiengeschichte.<ref>[https://programm.ard.de/TV/arte/als-mein-onkel-fuer-den-duce-nach-afrika-ging/eid_287242350815752 ''Als mein Onkel für den Duce nach Afrika ging'']. Programmbeschreibung bei ard.de, abgerufen am 15. Mai 2021.</ref> Einen besonderen Fokus auf die Erfahrungen der deutschsprachigen Südtiroler richtet der 2009 erschienene Dokumentarfilm ''Die Südtiroler in Mussolinis Abessinienkrieg 1935–1941'' von Franz J. Haller und Gerald Steinacher, mit Aram Mattioli als historischem Berater.<ref>[http://www.tirolerland.tv/die-sudtiroler-in-mussolinis-abessinienkrieg-1935-37/ ''Die Südtiroler in Mussolinis Abessinienkrieg 1935–1941.''] In: tirolerland.tv, 2009, abgerufen am 25. Januar 2021.</ref><br />
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=== Erinnerungskultur in Italien ===<br />
Die überwiegende Mehrzahl der Italiener behielt die faschistische Aggression gegen Äthiopien nicht wegen ihrer Brutalität im Gedächtnis, sondern als „afrikanisches Abenteuer“ und „typisch italienische[n] Krieg mit wenig Toten und vielen Orden“. Bei Kriegsveteranen, ehemaligen Kolonialbeamten und Rückwanderern manifestierte sich diese Haltung manchmal als offener Stolz auf die zivilisatorische Leistung Italiens in Afrika. Der ehemalige faschistische Kolonialminister Alessandro Lessona schrieb 1973 an seine Landsleute, dass die Eroberung eine „leuchtende Seite“ in Italiens Geschichte bleibe, in der „unsere militärischen Fähigkeiten unter Beweis“ gestellt wurden und sich das Volk „für ein höheres Wohl zu opfern“ wusste.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 176 f.</ref><br />
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Obwohl die große Mehrheit der Italiener den Abessinienkrieg nach 1945 aufgrund der militärischen Niederlage und des schlussendlichen Zusammenbruchs des ''Impero'' keineswegs als Ruhmesblatt der Nationalgeschichte betrachtete, herrschten in der kollektiven Erinnerung an den „größten Kolonialkrieg aller Zeiten“ nachsichtig-mythisierende Bilder vor. Bis zum Zusammenbruch des [[Ostblock]]s 1989 galt es als ausgemacht, dass die italienischen Streitkräfte in Ostafrika einen sauberen und regulären Krieg geführt hatten. Noch Anfang der 1990er Jahre betonte der konservative Starkolumnist [[Indro Montanelli]] gegenüber einem Mitglied des äthiopischen Kaiserhauses, dass sich die italienische Armee nichts habe zuschulden kommen lassen. Die einzige dunkle Episode des Afrika-Feldzuges, so Montanelli, habe die schmähliche Hinrichtung der Brüder Kassa dargestellt, die erschossen wurden, obwohl ihnen vor ihrer freiwilligen Unterwerfung ihr Leben zugesagt worden war.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 176 f.</ref> Das Bild eines italienischen Kolonialismus, der im Verhältnis zur englischen und französischen Variante „humaner“ und „weniger rassistisch“ sei, wurde von Italiens konservativer Geschichtsschreibung gefördert, reichte aber bis hin zu linken Publizisten wie Giorgio Bocca.<ref>Francesco Germinario: ''Gas und „zivilisatorischer Kolonialismus“. Eine historisch aufschlußreiche Debatte im sommerlichen Italien.'' In: ''Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21.Jahrhunderts'', 11. Jg., Heft 2, 1996, S. 97–109, hier S. 102 u. 105 f. ([https://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN884817873_0011%7CLOG_0039 online]); Aram Mattioli: ''»Viva Mussolini!« Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn 2010, S. 76.</ref><br />
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Als besonders emotional gestalteten sich die gesellschaftlichen Diskussionen um den Gaskrieg in Ostafrika. Während des Abessinienkrieges unterstand der Einsatz von chemischen Kampfstoffen der strengsten Zensur von Seiten der italienischen Behörden. Berichte der internationalen Medien über Italiens Giftgaseinsätze wurden von der Führung in Rom kategorisch dementiert. Dieses Verschweigen oder Leugnen „eines der schlimmsten Verbrechen des faschistischen Regimes“ wurde auch nach 1946 in der [[Democrazia Cristiana|christdemokratisch]] dominierten Republik jahrzehntelang fortgesetzt. Öffentliche Auseinandersetzungen um eine Neubewertung der Ereignisse begannen erst ab 1965 mit den Veröffentlichungen [[Angelo Del Boca]]s über Italiens Kriegsverbrechen. Die Bemühungen Del Bocas und anderer kritischer Historiker wie [[Giorgio Rochat]] um eine wissenschaftliche Aufklärung lösten immer wieder in Teilen der italienischen Gesellschaft Empörung aus. Im Jahr 1980 reichte ein Komitee eine Petition bei Staatspräsident [[Sandro Pertini]] ein, in welchem gefordert wurde, die Forschungsarbeiten Del Bocas zu zensieren. 1985 wurde im italienischen Fernsehen eine direkt übertragene Sendung ausgestrahlt, bei welcher der ehemalige faschistische Kolonialminister Lessona (inzwischen 90 Jahre alt) und Del Boca über den Abessinienkrieg diskutierten. Dabei wurde Lessona von Del Boca mit den Telegrammen aus Kriegszeiten konfrontiert. Dennoch behielten bis zum Ende des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] nationalkonservative Geschichtsinterpretationen im öffentlichen Diskurs die Oberhand und denunzierten an einer kritischen Aufarbeitung interessierte Wissenschaftler als „antiitalienisch“ und „Vaterlandsfeinde“.<ref>Angelo Del Boca: ''Yperit-Regen: Der Giftgaskrieg.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 54 f.; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 255 f.; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 178–181.</ref><br />
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[[Datei:Montanell-a-Milano-1992.jpg|mini|hochkant|[[Indro Montanelli]] (1992)]]<br />
Als wichtigster Sprecher dieses Lagers fungierte dabei der Journalist Indro Montanelli, der über fünfzig Jahre lang als der einflussreichste Meinungsmacher Italiens galt. Montanelli, der selbst im Abessinienkrieg als Offizier gekämpft hatte, gab als Veteran wiederholt öffentlich sein Ehrenwort ab, dass er den Einsatz von Giftgas an der Frontlinie weder beobachtet noch gerochen hätte, und denunzierte kritische Historiker als Lügner. Die Jahrzehnte währenden polemischen Auseinandersetzungen zwischen Montanelli und Angelo Del Boca wurden erst Mitte der 1990er zu Gunsten Del Bocas entschieden. Entscheidend war dabei eine parlamentarische Anfrage zweier italienischer Abgeordneter zum Giftgaseinsatz in Abessinien. Im November 1995 räumte zunächst [[Carlo Maria Santoni]], Staatssekretär im Außenministerium, den Gebrauch chemischer Kampfstoffe durch italienische Truppen in Abessinien ein und legte dazu erste Statistiken vor. Am 7. Februar 1996 folgte schließlich auch das Eingeständnis von Italiens Verteidigungsminister [[Domenico Corcione]]. Neben der Tatsache, dass chemische Massenvernichtungswaffen angewendet wurden, hielt der Verteidigungsminister außerdem fest, dass der Giftgaskrieg auch von Marschall Badoglio persönlich autorisiert worden war. Sechs Tage später entschuldigte sich Montanelli mit einer Kolumne in der ''[[Corriere della Sera]]'' bei Del Boca.<ref>Angelo Del Boca: ''Yperit-Regen: Der Giftgaskrieg.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 55; Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn 2006, S. 255 f.</ref><br />
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Die italienische Aggression gegen Äthiopien von 1935 bis 1941 hat auch in Rom ihre Spuren hinterlassen. Zwar wurde der berühmte axumitische Monolith aus dem 4. Jahrhundert, der bis November 2003 nahe der [[Caracalla-Thermen]] stand, im Frühjahr 2005 nach Äthiopien zurücktransportiert. Der Obelisk war 1937 als Kriegstrophäe nach Rom gebracht worden. Seine lange versäumte Rückführung trübte Jahrzehnte lang das Verhältnis zwischen Italien und Äthiopien. Doch im Nordosten Roms erinnern, wie in anderen italienischen Städten, ganze Straßenzüge an die Kolonialzeit: „Viale Eritrea“, „Viale Somalia“, „Via Adua“, „Via Dessie“, „Via Tembien“, „Via Endertà“, „Piazza Addis Abeba“. Sie sind gleichzeitig Namen von Ländern, Städten und großen Schlachten, die im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg stehen. Dies wird unter anderem damit erklärt, dass in der Historiographie dem italienischen Faschismus kaum der gleiche Stellenwert zugemessen wurde wie dem deutschen Nationalsozialismus und dass Italien nach 1945 nicht mit dem Problem der Dekolonisierung konfrontiert wurde, weil es seine Kolonien bereits verloren hatte.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Aspekte der Totalisierung des Kolonialkrieges.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 27–44, hier S. 27.</ref><br />
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Dass sich die italienische Öffentlichkeit mit einer kritischen Aufarbeitung immer noch schwertut, zeigt auch das Beispiel Debre Libanos. Nachdem 2016 in einem Dokumentarfilm von Antonello Carvigiani das Massaker an Vertretern der koptischen Kirche einem breiten Publikum bekannt gemacht wurde, wurde die Einrichtung einer Historikerkommission durch das Verteidigungsministerium zwar angekündigt, aber nicht umgesetzt. Dabei hatte noch der italienische Präsident [[Sergio Mattarella]] bei seinem Staatsbesuch in Äthiopien im März 2016 einen Kranz im Gedenken an die äthiopischen Opfer der italienischen Besatzungszeit niedergelegt.<ref>Paolo Borruso: Debre Libanos 1937: Il più grave crimine di guerra dell’Italia [= Debre Libanos 1937: Das größte Kriegsverbrechen Italiens]. Laterza, Bari 2020, ISBN 978-88-581-3963-9, S. XVII–XVIII.</ref><ref>{{Internetquelle|url= https://www.lastampa.it/politica/2016/03/16/news/mattarella-in-piazza-arat-kilo-stretta-di-mano-ai-partigiani-etiopi-e-una-corona-in-ricordo-dei-caduti-1.36577239|werk= lastampa.it|autor=Ugo Magri|titel= Mattarella in piazza Arat Kilo, stretta di mano ai partigiani etiopi e una corona in ricordo dei caduti|datum=2019-07-08|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref> Die infolge des Bekanntwerdens der Gräueltaten von Debre Libanos erfolgte Umbenennung von Straßennamen, die dem faschistischen General Pietro Maletti und Befehlshaber der italienischen Truppen bei Debre Libanos gewidmet waren, zeigt andererseits, dass ein Umdenkungsprozess auch in der breiten Öffentlichkeit eingesetzt hat.<ref>{{Internetquelle|url= https://gazzettadimantova.gelocal.it/mantova/cronaca/2017/02/26/news/via-maletti-addio-strada-alla-montessori-1.14942796 |werk= gazzettadimantova.gelocal.it|titel= Via Maletti addio, strada alla Montessori|datum=2017-02-26|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><ref>{{Internetquelle|url= https://www.varesenews.it/2020/02/non-vogliamo-piu-ricordare-via-la-strada-dedicata-al-generale-pietro-maletti/898001/|werk= varesenews.it|autor= Andrea Camurani|titel= “Non vogliamo più ricordare”: via la strada dedicata al generale Pietro Maletti|datum=2020-02-07|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref><br />
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== Forschungsgeschichte ==<br />
=== Italienische Historiographie ===<br />
Begünstigt wurde der „Prozess der kollektiven Selbst[[absolution]]“ durch die akademische Geschichtsschreibung, die den faschistischen Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Afrika bis in die 1970er Jahre entweder keine Beachtung schenkte oder aber ihre Dimension unterschätzte. Das 1952 durch Ministerbeschluss eingesetzte „Komitee zur Dokumentation von Italiens Unternehmungen in Afrika“ veröffentlichte 50 Bände zum Thema, vergab jedoch die Chance zu einer selbstkritischen Gesamtbilanz der italienischen Präsenz in Nord- und Ostafrika. Bezeichnenderweise gehörten dem Gremium 15 ehemalige Spitzenbeamte der Kolonialverwaltung an. In dieser offiziellen Dokumentation mit dem harmlosen Titel ''L’Italia in Africa'' zeichneten die ehemaligen Funktionäre ein schmeichelhaftes Bild der kolonialen Vergangenheit. Wissenschaftlich weitgehend wertlos, sicherte das Riesenwerk als eine Art Weißbuch das dominierende Geschichtsbild.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 177 f.</ref><br />
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Bis in die 1980er Jahre schenkten selbst die renommierten Zeithistoriker der Kolonialvergangenheit keine Beachtung und maßen dieser keine Bedeutung für die Gesamtinterpretation der faschistischen Diktatur zu. Bedeutend war in diesem Kontext [[Renzo De Felice]], der als der Faschismusexperte schlechthin einen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung in Italien besaß. Der konservative Geschichtsprofessor hatte wesentliche Verdienste an der frühzeitigen Entwicklung der italienischen Faschismusforschung, gleichzeitig wurde ihm wiederholt ein historischer „Revisionismus“ vorgeworfen. So erwähnte er den Gaskrieg in Abessinien in seiner viele Tausend Seiten starken Mussolini-Biographie in einer einzigen Zeile. De Felices Befunde liefen darauf hinaus, dass sich die Italiener während der zwanzig Jahre des faschistischen Regimes in ihrer großen Mehrheit als gegen Rassismus immun erwiesen hätten und die faschistische Diktatur frei von verbrecherischem Massenmord gewesen sei. 1993 bilanzierte De Felice seine Forschungen dahingehend, dass der Faschismus weder als rassistisch noch als antisemitisch bezeichnet werden könne.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 35; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 178.</ref><br />
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Bis in die 1970er Jahre war der Zugang zu den einschlägigen Archiven insbesondere für kritische Historiker oder Wissenschaftler aus den ehemaligen Kolonien wenn überhaupt, dann nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Anlässlich des 30. Jahrestages der italienischen Aggression veröffentlichte die Zeitung ''Gazetta del popolo'' eine Artikelserie ihres Auslandskorrespondenten [[Angelo Del Boca]]. Dieser verarbeitete umfangreiches Quellenmaterial und griff auch auf Augenzeugenberichte von Persönlichkeiten des äthiopischen Widerstands zurück, die er in Addis Abeba interviewte. Del Bocas 1965 erschienene Studie ''La guerra d’Abissinia 1935–1941'' war die erste wissenschaftliche Rekonstruktion der Ereignisse. Breit dokumentiert wurde darin die Tatsache, dass die italienischen Streitkräfte einen brutalen Eroberungskrieg geführt und massiv Giftgas eingesetzt hatten. In der Öffentlichkeit brach trotz der erdrückenden Belege nach der Veröffentlichung des Buches ein Sturm der Entrüstung los. Vor allem Altfaschisten, Kolonialnostalgiker und Kriegsveteranen warfen dem der Sozialistischen Partei (PSI) angehörenden Del Boca eine bewusste Geschichtsfälschung zu politischen Zwecken vor. Insbesondere der von Del Boca thematisierte systematische Giftgaseinsatz wurde als inakzeptabel betrachtet. Um wissenschaftliche Aufklärung bemühte Historiker wie Angelo Del Boca oder Giorgio Rochat konnten während des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] den öffentlichen Diskurs über die faschistische Vergangenheit nicht entscheidend korrigieren, es dominierten in klarer Weise [[Nationalkonservatismus|nationalkonservative]] Interpretationen und der [[Brava-Gente-Mythos]]. Filmdokumentationen wie ''[[Fascist Legacy]]'' (1989) wurden bis ins 21. Jahrhundert von der [[Radiotelevisione Italiana|RAI]] nicht gesendet.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 178–180.</ref><ref>Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus – Der Mythos von den anständigen Italienern.'' In: Irmtrud Wojak, Susanne Meinl (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Campus, Frankfurt a.&nbsp;M. 2004, ISBN 3-593-37282-7, S. 199 ff.</ref><br />
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Ende der 1990er Jahre begannen die italienischen Teilstreitkräfte mit einer historischen Aufarbeitung des Abessinenkonfliktes und veröffentlichten jeweils Monografien über den Einsatz des Heeres, der Luftstreitkräfte und der Marine in Äthiopien. Zwar konnte der Einsatz von chemischen Kampfstoffen nicht mehr verschwiegen werden, so widmet sich das 2005 in zwei Bänden erschienene Generalstabswerk ''La campagna italo-etiopica (1935–1936)'' ausführlich dem Gaskrieg in Abessinien, aber, so der Historiker [[Nicola Labanca]] in seiner Rezension, „werde in dem Werk der Mythos des anständigen Italieners nicht in Frage gestellt“.<ref>{{Internetquelle|url=https://www.sissco.it/recensione-annale/luigi-emilio-longo-la-campagna-italo-etiopica-1935-1936-2005/|werk= sissco.it|autor=Nicola Labanca|titel= La campagna italo-etiopica (1935–1936)|abruf=2020-10-01|sprache=it}}</ref> Gerade Labanca zählt zu den italienischen Geschichtswissenschaftlern, die in die Fußstapfen von Del Boca und Rochat getreten sind und ab den 2000er Jahren kritisch die italienische Kolonialgeschichte durchleuchtet haben. Darunter zählen aber auch beispielsweise Historiker wie Matteo Dominioni oder Paolo Borruso, die sich mit spezifischen Arbeiten wie der italienischen Besatzungszeit und dem äthiopischen Widerstandskampf (Dominioni) oder dem Massaker von Debre Libanos (Borruso) beschäftigen. So kritisierte Dominioni nach der Veröffentlichung des vom italienischen Generalstab 2011 herausgegebenen Werkes über die italienische Besatzungszeit in Abessinien ''(Etiopia: 1936–1940: le operazioni di polizia coloniale nelle fonti dell’Esercito italiano.)'', dass das Buch nur auf italienischen Quellen beruhe, auch wenn es minutiös geschrieben sei, aber deswegen nicht den Standards der modernen Geschichtsschreibung entspreche. Zwar bekannte Del Boca in Bezug auf die Neuerscheinung, dass er in seinen Arbeiten insbesondere die italienischen Kriegsverbrechen hervorgehoben habe und die äthiopischen vernachlässigt hätte, dass er aber den beschriebenen Bruch mit der Unterdrückungspolitik Grazianis nach der Übernahme durch den Herzog von Aosta nicht teile.<ref>{{Internetquelle|url=http://archiviostorico.corriere.it/2011/gennaio/06/Etiopia_esercito_corregge_gli_storici_co_9_110106082.shtml|werk=archiviostorico.corriere.it|titel=Etiopia, l’ esercito corregge gli storici|autor=Carioti Antonio|datum=2011-01-06|archiv-url=https://web.archive.org/web/20140913014948/http://archiviostorico.corriere.it/2011/gennaio/06/Etiopia_esercito_corregge_gli_storici_co_9_110106082.shtml|archiv-datum=2014-09-13|abruf=2020-10-02|sprache=it|offline=1|archiv-bot=}}</ref><br />
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=== Äthiopische Forschung ===<br />
Die Jahre der Besetzung und des Widerstands wurden zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand am Historischen Institut der [[Universität Addis Abeba]]. Zwischen 1970 und 1995 wurden zwanzig größere Arbeiten zu den verschiedenen Aspekten dieses Themas veröffentlicht. Sie thematisieren die Plünderungen und Zerstörungen kurz vor dem Einmarsch der Faschisten in Addis Abeba, den Alltag unter italienischer Herrschaft, die Rolle der eritreischen [[Askari]]s, die von den italienischen Streitkräften zum Widerstand überliefen, aber auch den Widerstand in den Regionen Gojjam, Shewa, [[Wollega]], [[Begemder]] und [[Arsi (Provinz)|Arsi]]. Eine Doktorarbeit mündet in eine Makrostudie des Widerstands, in der Taktik und Strategie der Widerstandskämpfer analysiert werden. Mit Ausnahme der Arbeit von Tabor Wami (''YaDajjazmach Garasu Dukina Yalenoch Arbaññoch Tarik'', Addis Abeba 1986) blieben diese allerdings unpubliziert. Der Widerstand in Gojjam wurde als derart zentral eingeschätzt, dass sich gleich zwei Dissertationen dieses Themas angenommen haben: neben der italienischen von Matteo Dominioni auch eine äthiopische von Seltene Seyoum (''A History of the Resistance in Gojjam (Ethiopia): 1936–1941'', Addis Abeba 1999).<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 163–176, hier S. 171.</ref><br />
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=== Kriegsmotive ===<br />
Die Historiographie widmete sich über Jahrzehnte der Frage nach den Kriegsmotiven. Faschistische Publizisten begründeten die Landnahme in Ostafrika bereits in der Zwischenkriegszeit damit, dass sie den ökonomischen und demographischen Druck in Italien entschärfen würde. Der Nutzen der Siedlungspolitik wurde gleichzeitig schon in zeitgenössischen Fachzeitschriften bis Mitte der 1920er Jahre deutlich in Frage gestellt. Zudem war bis April 1936 weder in Italien noch in Äthiopien genau geklärt, welchen völkerrechtlichen Status Äthiopien in Zukunft erhalten sollte. Ob Kolonie unter direkter Herrschaft, Mandat oder Protektorat, stand lange Zeit völlig offen. Eine Klärung brachte erst die Flucht des äthiopischen Kaisers ins Exil. Aufgrund der anhaltenden schwierigen Sicherheitslage in Ostafrika gewann die Siedlerfrage jedoch erst spät an Relevanz.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 31 f.</ref><br />
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Ende der 1960er und während der 1970er Jahre erklärten mehrheitlich linke Historiker den Antrieb des italienischen Imperialismus in Ostafrika mit wirtschaftlichen Argumenten. [[George W. Baer]] (1967) sah einen dominanten sozialimperialistisch motivierten Hintergrund für den Krieg in der desolaten Wirtschaftssituation Italiens im Gefolge der Weltwirtschaftskrise. Laut [[Franco Catalano]] (1969 u. 1979) war die Ankurbelung der Volkswirtschaft über die Rüstungsindustrie der einzige Weg für die Regierung in Rom, um die Lira nicht entwerten zu müssen. Für [[Luigi Cattanei]]s (1973) wiederum sollten die sozialen Spannungen innerhalb Italiens durch das Ventil der Außenpolitik abgebaut werden. Giorgio Rochat vertrat vor allem in seinen frühen Publikationen die Ansicht, mittels des Krieges habe das faschistische Regime angestrebt, nach den Jahren wirtschaftlicher Krise eine innere Festigung herbeizuführen. Die Expansionsschübe des faschistischen Italien waren somit seiner Meinung nach (1978) nicht das Resultat einer langfristigen Planung, sondern entsprangen den ungünstigen sozioökonomischen Umständen. Auch neuere Forschungsbeiträge, etwa jene von [[Bahru Zewde]] (1994) und [[Robert Boyce]] (1989), betonen das außerordentlich starke wirtschafts- und finanzpolitische Engagement des Staates. Beide Autoren sahen im Abessinienkrieg eine Antwort auf die ökonomische Krise der frühen 1930er Jahre.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 32–34.</ref><br />
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Obwohl die Berücksichtigung von ökonomischen Interessen in der Vorbereitung des Krieges als gesichert gilt, wird deren Relevanz unterschiedlich eingestuft. [[Wolfgang Reinhard]] (1990) relativiert ihre ausschlaggebende Bedeutung und betont, dass die Regierung Mussolini zur Finanzierung des Krieges nicht vor der Einführung von Zwangsanleihen und Sondersteuern zurückschreckte sowie umfangreiche Auslandskredite insbesondere bei der deutschen Regierung aufnahm. Selbst makroökonomische Steuerungsinstrumente, wie die Geld- und Währungspolitik, wurden in den Dienst der Expansion gestellt. Auch laut [[Giulia Brogini Künzi]] (2006) wurde der Feldzug nicht primär initiiert, um einen Ausweg aus der ökonomischen Krise zu weisen. Sie weist darauf hin, dass seit der Gründung der ersten Kolonie (Eritrea) von Seiten der Finanz- und Wirtschaftsexperten in der Verwaltung, aber auch in der Fachpresse wiederholt betont wurde, dass die Kolonien erhebliche Kosten verursachten. Die Erfahrung habe gezeigt, dass jede zusätzliche Kolonie in Afrika mehr Schulden brachte als ökonomische Prosperität. In diesem Zusammenhang könne auch verneint werden, dass der Krieg von der italienischen Großindustrie angezettelt worden sei.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 34 f.</ref><br />
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Den zweiten wichtigen Forschungsstrang zur Erklärung des Abessinienkriegs stellt der diplomatiegeschichtliche Ansatz dar. Dessen Vertreter interpretieren den Feldzug vor allem als diplomatisch gut abgesicherten Deal mit Frankreich und Großbritannien. Dabei verwarf [[Renzo De Felice]] (1975) resolut die sozial- und wirtschaftsgeschichtlich geprägten Untersuchungen Catalanos, Rochats und Baers. Die ökonomische Krise, so De Felice, sei zum Zeitpunkt der Planung und des Ausbruchs des Krieges bereits bewältigt gewesen und die Popularität des Regimes habe sich auf dem Höhepunkt befunden. Dennoch räumt er ein, dass Mussolini im Zuge weiterer Propagandatätigkeit angestrebt habe, die Jugend und gewisse Kreise der faschistischen Partei noch stärker an sich zu binden. De Felice trat auch der These entgegen, der Abessinienkrieg sei ein Zeugnis des „im Faschismus inhärent wirkenden Imperialismus“ gewesen. Ebenso grenzte sich der Autor von der politik- beziehungsweise kulturhistorischen Interpretation ab, dass der Abessinienkrieg ein Resultat des Großmachtdenkens gewesen sei. Den Ausschlag für die Expansion nach Äthiopien ortete De Felice mit anderen Worten nicht in der Innenpolitik, sondern in der Außenpolitik. Mussolini habe sich erst im Dezember 1934 zum Krieg entschlossen, als sicher war, dass ihm die beiden Großmächte Frankreich und Großbritannien keinen Strich durch die Rechnung machen würden.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 35–37.</ref><br />
<br />
Im Zentrum des Standardwerks von [[Armand Cohen]] (1975) standen die Wechselbeziehungen zwischen den europäischen Großmächten.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 37.</ref><br />
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Der Historiker, der seit den 1960er Jahren den Grundstein für die Interpretationen derjenigen Autoren legte, welche einen klaren Unterschied zwischen der Expansionspolitik des liberalen Italiens und jener des faschistischen Italiens sahen, ist Angelo Del Boca. Zum italienischen Kolonialismus verfasste Del Boca unter anderem eine vier Bände umfassende Kolonialgeschichte Italiens. Als Journalist und Wissenschaftler hatte der Autor dabei wiederholt damit zu kämpfen, freien Zugang zu den Quellen zu erhalten. Seinem Engagement und seinen Forschungsergebnissen standen die eher konservativ gesinnten Archivisten, Bürokraten und Politiker negativ gegenüber.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 42 f.</ref> Für Del Boca standen die politischen, kulturspezifischen und mentalitätsgeschichtlichen Aspekte der Expansion im Zentrum, weniger die unmittelbaren ökonomischen und diplomatischen Rahmenbedingungen. Del Boca betonte, dass – im Gegensatz zur Expansion des liberalen Italiens – die Kolonisierung Nord- und Ostafrikas während des Faschismus einen viel größeren Einbezug der Massen gefordert habe. Dabei verwies er implizit auf den industriellen Charakter der kontrollierten Meinungsbildung. Während der liberalen Ära sei die Expansion vor allem eine Sache der Armee und des Staates gewesen, und die meisten Italiener bis in die 1930er Jahre hätten kaum einen Bezug zu den Kolonien gehabt. Mussolini hingegen habe zuerst mit seinem persönlichen Pressebüro und dann mit Hilfe des eigens aufgebauten Ministeriums für Volkskultur und Propaganda die Kontrolle über nahezu sämtliche Kommunikationsmittel erreicht. So sei eine Bevölkerung von 40 Millionen davon überzeugt worden, dass die Entwicklung Italiens unabänderlich an die Expansion in Afrika gekoppelt sei.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 43.</ref><br />
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Seit den 1980er Jahren gewannen Ansätze der [[Faschismustheorie|vergleichenden Faschismusforschung]] an Bedeutung und lieferten neue Impulse zur Einordnung des italienischen Imperialismus. So konstatierte [[MacGregor Knox]] eine verblüffende Übereinstimmung in Mussolinis und Hitlers Koppelung der Innen- und Außenpolitik: Beide hätten sich an Demographie und Geopolitik orientiert, beide hätten den Erfolg der Expansion als Basis für eine Revolution im Inneren nutzen und damit zu einer „neuen Zivilisation“ gelangen wollen – auch wenn Mussolinis Weltanschauung weniger umfassend gewesen sei als jene Hitlers. Der Abessinienkrieg sei daher laut Knox nicht als eine sozialimperialistische Ablenkung zu verstehen, die Italiens System zu stabilisieren suchte, sondern vielmehr sollte durch den Konflikt die italienische Gesellschaft revolutioniert werden. Die Betrachtung des Faschismus als „nationalistischer Revolution“ mit ihrem gesellschaftsmobilisierenden kriegerischen Charakter betonten seit den 1990er Jahren auch [[George L. Mosse]] und [[Emilio Gentile]]. Auch [[Aristotle A. Kallis]] untersuchte die Regimes in Deutschland und Italien auf Intention und Umsetzung ihrer expansionistischen Ziele. Für Kallis war der Abessinienkrieg das Resultat einer langfristig geplanten Handlung, bei der auch das ideologische Konzept des [[Lebensraum-Politik#Faschistisches Italien|''spazio vitale'']] eine Rolle spielte. Dieses habe im Vergleich zur nationalsozialistischen Weltanschauung allerdings einen weit geringeren Geltungsanspruch gefordert.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 44–46.</ref><br />
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=== Typologische Einordnung des Krieges ===<br />
[[Datei:Rudolf Lill.jpg|miniatur|[[Rudolf Lill]] (2010)]]<br />
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In Italien ist der Abessinienkrieg lange Zeit nur als [[Kolonialkrieg]] betrachtet worden, als begrenzter Konflikt, der nicht nur geographisch fernab gelegen, sondern auch wenig mit den Tragödien des Zweiten Weltkriegs zu tun gehabt habe. Der Krieg – so allerdings mittlerweile mehr die Meinung einer schlecht informierten Öffentlichkeit als der Historiker – habe darauf gezielt, der italienischen Emigration einen „Platz an der Sonne“ zu verschaffen, und sei im Grunde nichts anderes gewesen als eine Art „Entwicklungshilfe der gutherzigen ''bravi italiani''“.<ref>Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer: ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 194–210, hier S. 194.</ref> Differenziertere, jedoch verwandte Interpretationsmuster galten lange auch im deutschsprachigen Raum als weit verbreitet.<ref name="Mattioli19f">Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 19 f.</ref> So erklärte der deutsche Historiker [[Rudolf Lill]] (2002): „Die Italiener kumulierten in diesem eigentlich anachronistischen Kolonialkrieg alle Verbrechen, welche die älteren Kolonialmächte bei ihren Eroberungen begangen hatten; aber sie begaben sich nicht auf die wesentlich schlimmere Ebene des nationalsozialistischen Völkermords. Sobald Äthiopien unterworfen war, erfuhren die Bewohner eine durchaus erträgliche Behandlung, sie sollten ja ins ''Impero'', ins Reich, integriert werden. Der seit 1937 amtierende Vizekönig, Herzog Amadeo von Savoyen-Aosta, dem eine dauerhafte Regierung zugedacht war, hat sehr viel für das Land geleistet, mit dessen Modernisierung nun italienische Beamte und Ingenieure, Ärzte und Lehrer begangen [sic].“<ref>Rudolf Lill: ''Das faschistische Italien (1919/22–1945).'' In: Wolfgang Altgeld (Hrsg.): ''Kleine italienische Geschichte.'' Reclam Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-017036-2, S. 392–454, hier S. 401.</ref><br />
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Derartigen Deutungen wird von neueren Forschungsarbeiten entschieden widersprochen. So weist der schweizerische Historiker Aram Mattioli (2005) darauf hin, dass nach dem italienischen Einmarsch in Addis Abeba unter Vizekönig Graziani zunächst eine von fürchterlichen Gewaltexzessen begleitete Zeit der Massenrepression begann, der Zehntausende von Afrikanern zum Opfer fielen. Eine milde und selbstlose Besatzungsherrschaft habe es in Äthiopien nie gegeben.<ref name="Mattioli19f" /> Auch die schweizerische Historikerin Giulia Brogini Künzi (2006) attestiert dem Abessinienkrieg eine „neue Qualität“. Zwar seien einzelne Elemente der modernen Kolonialkriegsführung, die den Konflikt in der Hauptkriegsphase 1935/36 prägten, tendenziell bereits im [[Zweiter Burenkrieg|Zweiten Burenkrieg]] (1899–1902) oder im [[Rifkrieg (1921–1926)|Rifkrieg]] (1921–1927) vorhanden gewesen. Dennoch habe Italien in Äthiopien keinen Kolonialkrieg alten Stils geführt, sondern phasenweise einen [[Totaler Krieg|totalen Krieg]], der „mit allen damals zur Verfügung stehenden Mitteln finanzieller, wirtschaftlicher und militärischer Art ausgefochten wurde“. Neben dem erstmaligen Einsatz von großen Mengen qualitativ hochwertiger Waffen und technischer Geräte, dem zahlenmäßig imposanten Aufmarsch an Soldaten und Zivilisten betont Brogini Künzi dabei auch das „ideologische Gerüst des Faschismus, welches den Nährboden für die Ausformulierung der italienischen Militärdoktrin lieferte“.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Aspekte der Totalisierung des Kolonialkrieges.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 27–44, hier S. 28; Michael Thöndl: ''Der Abessinienkrieg und das totalitäre Potential des italienischen Faschismus in Italienisch-Ostafrika (1935–1941).'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' Band 87, 2007, S. 402–419, hier S. 407.</ref> In einer Rezension von Brogini Künzis Monographie folgt auch Rudolf Lill (2007) dieser Einschätzung dahingehend, dass das italienische Konzept des „integralen Krieges“ bereits auf den Zweiten Weltkrieg verweise.<ref>[https://www.wissenschaft.de/rezensionen/buecher/italien-und-der-abessinienkrieg-1935-36-kolonialkrieg-oder-totaler-krieg/ Rezension von Rudolf Lill zu Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36 – Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?''] In: wissenschaft.de, 5. Februar 2007, abgerufen am 28. Januar 2021.</ref><br />
<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 146-1969-065-24, Münchener Abkommen, Ankunft Mussolini.jpg|miniatur|Mussolini und Hitler in München (1938)]]<br />
Zur Terrorherrschaft Grazianis urteilten 1978 die polnischen Historiker [[Andrzej Bartnicki]] und [[Joana Mantel-Niécko]], dass dessen Unterdrückungsmethoden nur mit den Repressalien verglichen werden könnten, die „die Hitlerfaschisten gegenüber den unterjochten Völkern Osteuropas“ verübt haben.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 21.</ref> Im Jahr 2008 verlautbarte der an der Universität Turin lehrende Faschismusexperte [[Brunello Mantelli]], dass Mussolini und seine Generäle in Abessinien mit Methoden vorgingen, welche „denen, die später Adolf Hitler anwandte, in nichts nachstanden“.<ref>Brunello Mantelli: ''Kurze Geschichte des italienischen Faschismus.'' 4. Auflage, Berlin 2008, S. 109; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 153.</ref> Um unangebrachte Vergleiche mit dem „Dritten Reich“ zu vermeiden, müssten solche Einschätzungen laut Aram Mattioli (2006) jedoch differenziert und strikt auf die Zeit vor Beginn des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion im Jahr 1941 eingeschränkt werden. Die gezielte Liquidierung der äthiopischen Intelligenz und des Klerus, aber auch von Teilen der amharischen Führungselite sei mit dem deutschen Besatzungsterror in Polen vergleichbar, in dessen Rahmen kurz nach dem Einmarsch mit der gezielten Ausrottung der polnischen Bildungsschichten, des Offizierskorps, der höheren katholischen Geistlichkeit und Tausender von Juden begonnen wurde.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 22.</ref> Den Vergleich mit dem „deutschen Vorgehen in Polen“ 1939/40 ziehen auch [[Wolfgang Schieder]] (2003) und [[Patrizia Dogliani]] (1999).<ref>Patrizia Dogliani: ''L’Italia fascista 1922–1940'' [= Das faschistische Italien 1922–1940]. Mailand 1999, S. 257; Wolfgang Schieder: ''Kriegsregime des 20. Jahrhunderts. Deutschland, Italien und Japan im Vergleich.'' In: [[Christoph Cornelißen]], [[Lutz Klinkhammer]], [[Wolfgang Schwentker]] (Hrsg.): ''Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan im Vergleich seit 1945.'' Frankfurt 2003, S. 28–48, hier S. 37.</ref> Gleichzeitig erinnern Grazianis kollektive Vernichtungsbefehle laut Mattioli aber auch an einzelne Aspekte der deutschen Kriegsführung in der Sowjetunion, beispielsweise Hitlers [[Kommissarbefehl|Erlass von 1941]] zur Hinrichtung aller gefangengenommenen [[Politoffizier|Kommissare]] der [[Rote Armee|Roten Armee]].<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 18.</ref><br />
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Angelo Del Boca hielt schon 1979 in seiner Monographie ''Gli italini in africa orientale'' fest, dass der Konflikt unter dem Oberkommandierenden Pietro Badoglio außer Rand und Band geriet und in der Folge Züge eines „Vernichtungskrieges“ annahm.<ref>Zitiert nach Aram Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936.'' In: ''Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.'' Bd. 51, Heft 3, 2003, S. 311–337, hier S. 327.</ref> In ähnlicher Weise folgt [[Hans Woller]] (2010) der Interpretation des französischen Historikers [[Pierre Milza]] (2000), dem zufolge das faschistische Italien nach dem Kommandowechsel zu Badoglio am Horn von Afrika einen regelrechten „Terror- und Vernichtungskrieg“ geführt habe. Begründet sieht Woller diese Einordnung dadurch, dass im Abessinienkrieg viele jener brutalen Praktiken vorweggenommen wurden, die dann im Zweiten Weltkrieg zur vollen Entfaltung gelangten. Es habe sich beim Abessinienkrieg um den blutigsten militärischen Konflikt der Zwischenkriegszeit gehandelt.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 150 f; Eingehend auf Milza vgl. Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 93.</ref> Auch Brian R. Sullivan (1993) sieht den Abessinienkrieg angesichts der hohen Opferzahlen als ein von Italien angerichtetes „Massaker“, und „mit der möglichen Ausnahme des [[Algerienkrieg]]es [...] der blutigste, der jemals in Afrika dokumentiert wurde“. Laut Sullivan dienten die italienischen Verbrechen dazu, „die äthiopische Bevölkerung zu versklaven und deren Land in ein zweites Südafrika umzuwandeln“.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 169 u. 194.</ref> Aram Mattioli (2005) gesteht zwar einerseits zu, dass „der größte koloniale Eroberungskrieg der Geschichte“ der Begründung einer kurzlebigen italienischen Kolonialherrschaft über Äthiopien diente. Dennoch dürften ihm zufolge die Ereignisse am Horn von Afrika „nicht allein in kolonialen Kategorien“ gedeutet werden. Auf den ersten Blick ein verspätetes Kolonialunternehmen in der langen Geschichte der europäischen Expansion, habe es sich tatsächlich um einen mit ausgeklügelter Logistik, immensem Aufwand und modernster Technologie geführten „Angriffs- und Eroberungskrieg“ gehandelt.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 14.</ref> Zusammen mit dem italienischen Historiker [[Nicola Labanca]] geht Mattioli davon aus, dass sich der Abessinienkrieg nicht mehr im Rahmen einer kolonialen Eroberung fassen lasse, sondern als „faschistischer Krieg“ gedeutet werden müsse.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 93.</ref><br />
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Auch für [[Alan R. Kramer]] (2007 und 2019) und [[Sven Reichardt]] (2017) markiert der Abessinienkrieg den Beginn und Durchbruch der „faschistischen Kriegsführung“ ''(fascist warfare)''. Diese [[Nationalismus#Ultranationalismus|ultranationalistisch]] motivierte Kriegsform mit „eliminatorischer und genozidialer Tendenz“ zeichne sich neben besonderer Brutalität durch ihre Schnelligkeit aus, richte sich umfassend auch gegen die Zivilbevölkerung und verkläre den Luftkrieg. Auch habe der italienische Faschismus für die Eroberung neuen „Lebensraums“ ''(spazio vitale)'' gekämpft und erstmals koloniale und faschistische Kriegsführung explizit miteinander verbunden.<ref>Alan Kramer: ''From Great War to Fascist Warfare.'' In: Miguel Alonso, Alan Kramer, Javier Rodrigo: ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' o. O. 2019, S. 25–50, hier S. 32; Sven Reichardt: ''National Socialist Assessments of Global Fascist Warfare (1935–1938).'' In: Miguel Alonso, Alan Kramer, Javier Rodrigo: ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' o. O. 2019, S. 51–72, hier S. 52; Sven Reichardt: ''Globalgeschichte des Faschismmus. Neue Forschungen und Perspektiven.'' In: ''APuZ'', Band 42–43, 2017, S. 10–16, hier S. 13.</ref> Ähnlich beurteilt auch Mattioli (2006) den Konflikt als „ersten Großkrieg, den eine faschistische Macht […] zur Gewinnung neuen ‚Lebensraums‘ […] und zur Durchsetzung eines imperialen Großraumprojektes führte“.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 9 f.</ref> Laut Mattioli bildet der Abessinienkrieg in globaler Perspektive die „Brücke“ zwischen den Kolonialkriegen des imperialistischen Zeitalters und Hitlers Lebensraumkrieg: „Was Mussolinis Legionäre in Ostafrika erprobten, setzten Hitlers Weltanschauungssoldaten im Osten Europas ein paar Jahre später mit radikalisierter ideologischer Energie, effizienterer Organisation und mit technologisch noch einmal potenzierten Gewaltmitteln im großen Stile um.“<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 24 f.</ref> In der Konsequenz wird der Abessinienkrieg von Mattioli, Wolfgang Schieder und einigen weiteren Historikern auch als der „erste faschistische Vernichtungskrieg“ eingeordnet.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 24; Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 70; Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer: ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 194–210, hier S. 194.</ref> [[Nicola Labanca]] (2010) lehnt die Begriffe ''Vernichtungskrieg'' und ''totaler Krieg'' für die Hauptkriegsphase von 1935/36 ab, sieht aber einzelne derartige Episoden während der italienischen Repression gegen den äthiopischen Widerstand von 1936 bis 1941.<ref>Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer (Hrsg.): ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 194–210, S. 208 f.</ref> Laut [[Michael Thöndl]] (2007) wird die Intensität der italienischen Kriegsführung und Besatzung auch in Zukunft kontrovers beurteilt werden. Als bisheriges Fazit hält er jedoch fest:<br />
: „[…] dass die kurze Herrschaft in Abessinien wohl jene Phase in der Geschichte des italienischen Faschismus bis 1943 gewesen ist, in der er dem Totalitarismus und damit auch der späteren nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in Ost- und Südosteuropa am nächsten gekommen ist.“<ref>Michael Thöndl: ''Der Abessinienkrieg und das totalitäre Potential des Faschismus in Italienisch-Ostafrika (1935–1941).'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' Band 87, 2007, S. 402–419, hier S. 418 f. [http://www.perspectivia.net/content/publikationen/qfiab/87-2007/0402-0419 online]</ref><br />
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=== Genozid-Debatte ===<br />
Anders als von Kaiser Haile Selassie I. in seiner berühmten Rede vor dem Völkerbund in Genf behauptet wurde, weisen bisher keine gefundenen Archivdokumente darauf hin, dass das faschistische Italien aus rassistischen Gründen einen [[Völkermord|Genozid]] an der äthiopischen Bevölkerung verüben wollte.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 289 f.</ref> Dennoch herrscht unter Historikern kein Konsens in der Frage, ob die Ereignisse im überfallenen und besetzten Abessinien von 1935 bis 1941 den Tatbestand des Völkermords erfüllten oder nicht. Während einige Forscher wie Angelo Del Boca und [[Pierre Milza]] die Frage unmissverständlich bejahen, sind andere Fachvertreter zurückhaltender in der Wertung. So ist der [[Turin]]er Historiker [[Nicola Tranfaglia]] der Meinung, dass die italienischen Verbrechen „nahe an Völkermord heranreichen“,<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 192 f.</ref> [[Jost Dülffer]] (1998) spricht der italienischen Vorgangsweise in Ostafrika „Züge eines rassistischen Ausrottungskrieges“ zu,<ref>Jost Dülffer: ''Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt.'' München 1998, S. 47.</ref> und auch laut Roman Herzog (2016) trug die italienische „Vernichtungspolitik“ in Äthiopien einen „genozidialen Charakter“.<ref>Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f.</ref> <br />
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Laut Aram Mattioli (2005) hänge die Beantwortung der Frage letztlich davon ab, wie Genozid definiert wird. Bei einer engen Auslegung der UN-Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 fielen die italienischen Gewalttaten in Äthiopien kaum darunter, weil diese nicht in der klar erkennbaren Absicht begangen wurden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten“. Bei dieser Einschätzung ist lediglich der belegbare Vorsatz und das Moment der systematischen Vorausplanung entscheidend. Weder Mussolini noch seine Generäle hätten ein Äthiopien ohne die Äthiopier geplant oder einen systematischen Genozid an der schwarzen Bevölkerung als ganzer angeordnet.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 192 f.</ref> In der vom faschistischen Italien betriebenen systematischen Ermordung von Mitgliedern bestimmter sozialer Gruppen oder Gesellschaftsschichten sieht Mattioli (2006) jedoch den „Tatbestand des Soziozids“ erfüllt.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltepoche.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 9–26, hier S. 18.</ref> Dem italienischen Historiker [[Matteo Dominioni]] (2008) zufolge könne man zumindest bezogen auf die italienische Vernichtungspolitik gegenüber der Volksgruppe der Amharen, wie sie von März bis Mai 1937 in Zentraläthiopien praktiziert wurde, von Völkermord sprechen.<ref>Matteo Dominioni: ''Lo sfascio dell’Impero. Gli italiani in Etiopia 1936–1941'' [= Das Debakel des Imperiums. Die Italiener in Äthiopien 1936–1941]. Bari 2008, S. 299.</ref><br />
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=== Periodisierung des Krieges ===<br />
Die Faschisten rühmten sich, Äthiopien in sieben Monaten, also zwischen Oktober 1935 und Mai 1936, erobert zu haben, und sprachen konsequent vom „Krieg der sieben Monate“ ''(La guerra dei sette mesi)''. Diese Selbstinterpretation prägte noch über Jahrzehnte nach Kriegsende die Sichtweise auf den Konflikt.<ref>Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerazzi, Thomas Schlemmer: ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945.'' Paderborn u. a. 2010, S. 194–210, hier S. 195; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 21.</ref> Auch die Forschung hat sich lange Zeit fast ausschließlich mit dem Zeitraum von 1935/36 sowie dem Ende des Konfliktes während des Zweiten Weltkrieges 1941 beschäftigt.<ref>Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 168.</ref> Neuere Studien periodisieren den Konflikt hingegen zunehmend auf die gesamte Zeit von Oktober 1935 bis November 1941, also auf sechs Jahre und zwei Monate.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 165; Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Westport 1993, S. 167–202, hier S. 169 u. 194.</ref> Argumentiert wird dabei insbesondere damit, dass der äthiopische Widerstand auch nach dem Fall der Hauptstadt nicht zusammenbrach und die Italiener nie das ganze Land kontrollierten.<ref>Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 21.</ref> In der deutschsprachigen Forschung schloss sich zunächst Aram Mattioli (2005) mit seiner Studie der Datierung 1935–1941 an, ein Jahr später wurde sie im Rahmen eines Sammelbandes auch von weiteren Forschern wie Giulia Brogini Künzi, Petra Terhoeven, Gabriele Schneider, Rainer Baudendistel, Gerald Steinbacher und Wolfgang Schieder übernommen.<ref>Vgl. die Autorenliste bei Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 5 f.</ref><br />
<br />
Nach Angelo Del Boca und Alberto Sbacchi folgte auch Matteo Dominioni, der in seiner 2008 erschienenen Monographie neben der Kriegsphase von 1935/36 vier weitere Phasen des Abessinienkrieges unterscheidet:<br />
# den „nationalen Krieg“ ''(la guerra nazionale)'' von 1936 bis 1937 unter Graziani, der gnadenlos mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen geführt wurde,<br />
# den „Besatzungskrieg“ ''(la guerra di occupazione)'' von 1937 bis 1939, der von den gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen Cavalleros geprägt war,<br />
# den „Kolonialkrieg“ ''(la guerra coloniale)'' von 1939 bis 1940 unter Amedeo von Aosta, der weniger blutig und offen für politische Vermittlung war,<br />
# den „Weltkrieg“ ''(la guerra mondiale)'' von 1940 bis 1941, der durch den internationalen Kontext bestimmt war.<ref>[https://www.sissco.it/recensione-annale/matteo-dominioni-lo-sfascio-dellimpero-gli-italiani-in-etiopia-1936-1941-prefazione-di-angelo-del-boca-2008/ Rezension zu Mattio Dominionis Buch von Giancarlo Monina.] In: sissco.it, abgerufen am 31. Januar 2021.</ref><br />
<br />
Auch Nicola Labanca, der noch 2012 in seiner Monographie zur Eroberung Libyens den Abessinienkrieg traditionell auf die Jahre 1935/36 beschränkt hatte, dehnte die Datierung in seiner 2015 zum Abessinienkrieg erschienenen Monographie auf die Jahre 1935 bis 1941 aus, die nun auch den Guerillakrieg sowie die Internationalisierung des Krieges im Rahmen des Ostafrikafeldzuges umfasst.<ref>[https://www.sissco.it/recensione-annale/la-guerra-detiopia-1935-1941/ Rezension zu Labancas Buch von Gianni Dore.] In: sissco.it, abgerufen am 31. Januar 2021.</ref> Von Seiten der deutschsprachigen Forschung wurde 2006 ein Sammelband herausgegeben, in dem der Abessinienkrieg ebenfalls auf die Zeit von 1935 bis 1941 datiert wird.<ref>[http://www.sehepunkte.de/2007/10/11755.html Rezension zum Band von Thomas Schlemmer.] In: sehenspunkte.de, Ausgabe 7 (2007), Nr. 10, abgerufen am 31. Januar 2021.</ref><br />
<br />
In diesem Zusammenhang besteht auch eine Diskussion um die „richtige“ Periodisierung des Zweiten Weltkrieges. Laut [[Gerhard L. Weinberg]] gehörten die [[Mandschurei-Krise]] und der [[Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg|Zweite Japanisch-Chinesische Krieg]] von 1931 und 1937 sowie der Abessinienkrieg ab 1935 ihrer Brutalität wegen zu den „Vorläufern“ des Zweiten Weltkrieges. Dieser begann nach den Interpretationen Weinbergs und der traditionellen westlichen Geschichtsauffassung jedoch erst im Jahr 1939 mit dem Angriff Deutschlands auf Polen. Forscher wie [[Richard Pankhurst (Historiker)|Richard Pankhurst]] sowie die meisten äthiopischen Historiker betrachten hingegen den Abessinienkrieg in Afrika als den eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkrieges.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 48.</ref> In der äthiopischen Historiographie wird die Bedeutung des Grenzzwischenfalls beim Dorf Ual-Ual für die Eröffnung der Feindseligkeit betont als der eigentliche Kriegsbeginn angesehen. Berhanu Denqe, zunächst Hofgeschichtsschreiber, bevor er sich als äthiopischer Botschafter in den USA einen Namen machte, gab seinem Werk über den Abessinienkrieg den bezeichnenden Titel ''KaWalwal eska Maychew'' („Von Ual-Ual bis May Ceu“). Auch der Populärhistoriker Pawolos Noñño räumt in seinem reich illustrierten Buch (''YaItyopyana YaItalya Torenat'', Addis Abeba 1980) der Frühphase des Krieges viel Platz ein. Noch einen Schritt weiter geht der Historiker Zawde Hayla-Maryam (1991). Dieser sieht in Ual-Ual nicht nur den Auftakt zum Abessinienkrieg, sondern den Beginn des Zweiten Weltkriegs.<ref>Bahru Zewde: ''Die italienische Besatzung in der Geschichte und Erinnerung Äthiopiens.'' In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941.'' Köln 2006, S. 165.</ref><br />
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== Filmdokumentationen ==<br />
* ''[[Fascist Legacy]]'', UK (BBC) 1989, 2×50&nbsp;Minuten, Regie: Ken Kirby; Historische Berater: Michael Palumbo ([https://www.youtube.com/watch?v=acB9O1xR1TA Ausschnitt Online auf Youtube])<br />
* ''[[Inconscio italiano]]'' (2011), Dokumentarfilm von [[Luca Guadagnino]], mit Interviews von [[Angelo Del Boca]], Lucia Ceci (* 1967), Iain Chambers, Michela Fusaschi, Alberto Burgio (* 1955) und Ida Dominijanni (* 1954).<ref>[https://www.torinofilmfest.org/it/29-torino-film-festival/film/inconscio-italiano/9274/ Inconscio italiano, Italian Unconscious, di Luca Guadagnino] 29. Torino Film Festival, abgerufen am 8. September 2022</ref><br />
* ''If I Only Were That Warrior'' (2015), Dokumentarfilm von [[Valerio Ciriaci]].<br />
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== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Italo–Abyssinian War|Italienisch-Äthiopischer Krieg (1935–1936)}}<br />
* [[Aram Mattioli]]: [https://www.zeit.de/2001/51/Eine_veritable_Hoelle ''Eine veritable Hölle.''] In: [[Die Zeit]], 13. Dezember 2001.<br />
* {{Internetquelle |autor=Berthold Seewald |url=https://www.welt.de/kultur/history/article108645229/Mussolinis-Vizekoenig-verwuestete-halb-Aethiopien.html |titel=Mussolinis Vizekönig verwüstete halb Äthiopien |hrsg=[[Die Welt]] |abruf=2016-01-12}}<br />
* Johann Althaus: [https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article147145981/Mit-Senfgas-zogen-die-Duce-Truppen-durch-Aethiopien.html ''Mit Senfgas zogen die Duce-Truppen durch Äthiopien'']. [[Die Welt]], 3. Oktober 2015.<br />
* [[Manfred Funke]]: [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/mit-giftgas-zum-imperium-1439425.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 ''Mit Giftgas zum Imperium.''] In: [[FAZ]], 4. April 2007.<br />
* Oswalt von Nostitz-Wallwitz: [https://www.zaoerv.de/07_1937/7_1937_1_a_38_66.pdf Die Annexion Abessiniens und die Liquidation des abessinischen Konflikts], 1937, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 3. März 2022.<br />
* Susanna Bastaroli: [https://www.diepresse.com/4983889/als-der-duce-mit-giftbomben-sein-imperium-baute ''Als der Duce mit Giftbomben sein Imperium baute.''] In: diepresse.com, 11. Mai 2016, abgerufen am 19. Juni 2020.<br />
* {{Pressemappe|FID=sh/141482,144606}}<br />
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== Literatur ==<br />
'''Monographien, Sammelbände, Aufsätze'''<br />
* [[Asfa-Wossen Asserate]], Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941'' (= ''Italien in der Moderne.'' Bd. 13). SH-Verlag, Köln 2006, ISBN 3-89498-162-8. ([https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/mit-giftgas-zum-imperium-1439425.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 Rezension von Manfred Funke])<br />
* Arthur J. Barker: ''The Civilizing Mission: A History of the Italo-Ethiopian War of 1935–1936.'' Dial Press, New York 1968.<br />
* Arthur J. Barker: ''The Rape of Ethiopia, 1936'' (= ''Ballantine’s Illustrated History of the Violent Century. Politics in Action.'' Nr. 4). Ballantine Books, New York NY 1971.<br />
* Rainer Baudendistel: ''Between Bombs and Good Intentions: The International Committee of the Red Cross (ICRC) and the Italo-Ethiopian War, 1935–1936.'' Berghan Books, New York/Oxford 2006, ISBN 1-84545-035-3.<br />
* Riccardo Bottoni (Hrsg.): ''L’Impero fascista. Italia ed Etiopia (1935–1941).'' Il mulino, Bologna 2008, ISBN 978-88-15-12476-0. (italienisch)<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' (= ''Krieg in der Geschichte.'' Bd. 23). Schoeningh, Paderborn u.&nbsp;a. 2006, ISBN 3-506-72923-3 (Zugleich: Bern, Universität, Dissertation, 2002) ([http://nbn-resolving.de/urn%3Anbn%3Ade%3Abvb%3A12-bsb00061122-5 Volltext]; [http://www.sehepunkte.de/2007/02/10318.html Rezension von Hans Woller])<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Der Wunsch nach einem blitzschnellen und sauberen Krieg: Die italienische Armee in Ostafrika (1935/36).'' In: Thoralf Klein, Frank Schuhmacher (Hrsg.): ''Kolonialkriege: Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus.'' Hamburger Edition, Hamburg 2006, ISBN 978-3-936096-70-5, S. 272–290.<br />
* [[Angelo Del Boca]]: ''La guerra di Abissinia 1935–1941.'' Feltrinelli, Rom 1965. In der englischen Übersetzung: ''The Ethiopian War 1935–1941.'' University of Chicago Press, Chicago 1969.<br />
* Angelo Del Boca: ''Gli Italiani in Africa Orientale. La conquista dell’Impero.'' Laterza, Bari 1979. (italienisch)<br />
* Angelo Del Boca: ''Gli Italiani in Africa Orientale. La caduta dell’Impero.'' Laterza, Bari 1982. (italienisch)<br />
* Angelo Del Boca: ''I gas di Mussolini: il fascismo e la guerra d’Etiopia.'' Editori riuniti, Rom 1996, ISBN 88-359-4091-5. (italienisch)<br />
* Angelo Del Boca: ''La guerra d’Etiopia: l’ultima impresa del colonialismo.'' Longanesi, Mailand 2010, ISBN 978-88-304-2716-7. (italienisch)<br />
* Matteo Dominioni: ''Lo sfascio dell’Impero. Gli italiani in Etiopia 1936–1941'' (= ''Quadrante.'' 143). Prefazione di Angelo Del Boca. Laterza, Bari 2008, ISBN 978-88-420-8533-1. (italienisch)<br />
* Federica Saini Fasanotti: ''Etiopia: 1936–1940: le operazioni di polizia coloniale nelle fonti dell’Esercito italiano.'' Ufficio storico – Stato Maggiore dell’Esercito, Rom 2010, ISBN 978-88-96260-13-5. (italienisch)<br />
* John Gooch: ''Mussolini’s War: Fascist Italy from Triumph to Collapse, 1935–1943.'' Allen Lane, o. O. 2020, ISBN 978-0-241-18570-4.<br />
* John Gooch: ''Re-conquest and Suppression: Fascist Italy’s Pacification of Libya and Ethiopia, 1922–39.'' In: ''Journal of Strategic Studies'', Band 28, Nr. 6, 2005, S. 1005–1032.<br />
* [[Nicola Labanca]]: ''Una guerra per l’impero. Memorie della campagna d’Etiopia 1935–36.'' Il mulino, Bologna 2005, ISBN 88-15-10808-4. (italienisch) ([https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/il-mestiere-di-storico/2016/2/ReviewMonograph846111360 italienische Rezension von Gianni Dore])<br />
* Nicola Labanca: ''Kolonialkrieg in Ostafrika 1935/36: der erste faschistische Vernichtungskrieg?'' In: [[Lutz Klinkhammer]], [[Amedeo Osti Guerrazzi]], [[Thomas Schlemmer]] (Hrsg.): ''Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegsführung 1939–1945'' (= ''Krieg der Geschichte'', Band 64). Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn u. a. 2010, ISBN 978-3-506-76547-5, S. 194–210.<br />
* Nicola Labanca: ''La guerra d’Etiopia: 1935–1941.'' Il mulino, Bologna 2015, ISBN 978-88-15-25718-5. (italienisch)<br />
* Luigi Emilio Longo: ''La campagna italo-etiopica, 1935–1936.'' (2 Bände). Ufficio storico – Stato Maggiore dell’Esercito, Rom 2005, ISBN 88-87940-51-7. (italienisch)<br />
* [[Aram Mattioli]]: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941'' (= ''Kultur – Philosophie – Geschichte.'' Bd. 3). Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca. Orell Füssli, Zürich 2005, ISBN 3-280-06062-1 ([http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7221&count=4915&recno=1&type=rezbuecher&sort=datum&order=down Rezension]). ([http://www.sehepunkte.de/2006/05/10392.html Rezension von Malte König])<br />
** Das Kapitel ''Das Apartheidsystem'' ist eine gekürzte, weitgehend textgleiche Fassung von Aram Mattioli: ''Das faschistische Italien – ein unbekanntes Apartheidregime.'' In: Fritz-Bauer Institut (Hrsg.): ''Gesetzliches Unrecht. Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert.'' Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-593-37873-6, S. 155–178.<br />
* Aram Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]].'' Band 51, Heft 3, 2003, S. 311–337, [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2003_3.pdf online (PDF; 7&nbsp;MB)].<br />
* Anthony Mockler: ''Haile Selassie’s War.'' Olive Branch Press, New York 2003, ISBN 978-1-56656-473-1.<br />
* Marco Montagnani, Antonino Zarcone, Filippo Cappellano: ''Il Servizio chimico militare, 1923–1945: storia, ordinamento, equipaggiamenti.'' (2 Bände) Ufficio storico – Stato Maggiore dell’Esercito, Rom 2011, ISBN 978-88-96260-24-1. (italienisch)<br />
* David Nicolle: ''The Italian Invasion of Abyssinia 1935–36.'' Osprey, Oxford 1997, ISBN 1-85532-692-2.<br />
* Alberto Sbacchi: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' The Red Sea Press, Lawrenceville 1997, ISBN 978-0-932415-74-5.<br />
* Richard Pankhurst: ''Italian Fascist War Crimes in Ethiopia: A History of Their Discussion, from the League of Nations to the United Nations (1936–1949).'' In: ''Northeast African Studies'', Band 6, Nr. 1–2, 1999, S. 83–140. ([https://muse.jhu.edu/article/23691/pdf PDF online])<br />
* Ferdinando Pedriali: ''L’aeronautica italiana nelle guerre coloniali. Guerra etiopica 1935–36.'' Ufficio Storico dell’Aeronautica Militare, Rom 1997. (italienisch)<br />
* Ernesto Pellegrini: ''Le implicazioni navali della conquista dell’impero, 1935–1941.'' Ufficio Storico della Marina militare, Rom 2003. (italienisch)<br />
* Giorgio Rochat: ''Militari e politici nella preparazione della campagna d’Etiopia: studio e documenti, 1932–1936.'' F. Angeli, Mailand 1971. (italienisch)<br />
* Brian R. Sullivan: ''More than meets the eye: the Ethiopian war and the origins of the of the Second World War.'' In: [[Gordon Martel]] (Hrsg.): ''The Origins of the Second World War Reconsidered.'' 2. Auflage, Routledge, London/New York 1999 [1986], ISBN 978-0-415-16325-5, S. 178–203.<br />
* Brian R. Sullivan: ''The Italian-Ethiopian War, October 1935–November 1941: Causes, Conduct, and Consequences.'' In: Ion A. Hamish, Elizabeth Jane Errington (Hrsg.): ''Great Powers and Little Wars: The Limits of Power.'' Praeger Publishers, Westport 1993, ISBN 0-275-93965-0, S. 167–202.<br />
* [[Petra Terhoeven]]: ''Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der Gold- und Eheringsammlung 1935/36'' (= ''Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts Rom.'' Band 105). Verlag Max Niemeyer, Tübingen 2003, ISBN 3-484-82105-1.<br />
* [[Michael Thöndl]]: ''Mussolinis ostafrikanisches Imperium in den Aufzeichnungen und Berichten des deutschen Generalkonsulats in Addis Abeba (1936–1941).'' In: ''[[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]]'' Band 88, 2008, S. 449–488, ([http://www.perspectivia.net/content/publikationen/qfiab/88-2008/0449-0488 online]).<br />
* Michael Thöndl: ''Der Abessinienkrieg und das totalitäre Potential des italienischen Faschismus in Italienisch-Ostafrika (1935–1941).'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' Band 87, 2007, S. 402–419, [http://www.perspectivia.net/content/publikationen/qfiab/87-2007/0402-0419 online].<br />
* Bahru Zewde: ''The Ethiopian Intelligentsia and the Italo-Ethiopian War, 1935–1941.'' In: ''The International Journal of African Historical Studies.'' Band 26, Nr. 2, 1993, S. 271–295.<br />
<br />
'''Internationaler Kontext'''<br />
* [[Manfred Funke]]: ''Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt 1934–1936'' (= ''Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte.'' 2, {{ISSN|0935-1191}}). Droste, Düsseldorf 1970.<br />
* Robert Mallett: ''Mussolini in Ethiopia, 1919–1935: The Origins of Fascist Italy’s African War.'' Cambridge University Press, New York 2015, ISBN 978-1-107-46236-6.<br />
* G. Bruce Strang (Hrsg.): ''Collision of empires: Italy’s invasion of Ethiopia and its international impact.'' Routledge, London/New York 2013, ISBN 978-1-4094-3009-4.<br />
<br />
'''Der Abessinienkrieg und Südtirol'''<br />
* Sebastian de Pretto: ''Im Kampf um Geschichte(n): Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, ISBN 978-3-8470-1108-8.<br />
* Andrea di Michele (Hrsg.): ''Abessinien und Spanien: Kriege und Erinnerung / Dall’Abessinia alla Spagna: guerre e memoria. 1935–1939''. [[Geschichte und Region/Storia e regione]], Nr. 1/2016 (25. Jg.), ISBN 978-3-7065-5555-5.<br />
* [[Gerald Steinacher]] (Hrsg.): ''Zwischen Duce, Führer und Negus. Südtirol und der Abessinienkrieg 1935–1941'' (= ''Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs.'' Bd. 22). Athesia, Bozen 2006, ISBN 88-8266-399-X.<br />
* Markus Wurzer: ''„Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen“. Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935–1936'' (= ''Erfahren – Erinnern – Bewahren.'' Schriftenreihe ZEG 6). Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2016, ISBN 978-3-7030-0943-3.<br />
* Markus Wurzer: ''Kolonialkrieg im visuellen Familiengedächtnis: Erinnerungsproduktion durch transgenerationale Albumpraktiken in Südtirol/Alto Adige.'' In: Zeitgeschichte 49, H. 2, S. 209–235. <br />
<br />
'''Historischer Überblick'''<br />
* Saheed A. Adejumobi: ''The History of Ethiopia.'' Greenwood Press, Westport/London 2007, ISBN 0-313-32273-2.<br />
* Brunello Mantelli: ''Kurze Geschichte des italienischen Faschismus.'' 4. Auflage, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008 [1994], ISBN 978-3-8031-2300-8.<br />
* Richard Pankhurst: ''The Ethiopians: A History.'' Blackwell Publishing, Malden/Oxford/Carlton 2001, ISBN 978-0-631-22493-8.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Mussolini. Der erste Faschist. Eine Biografie.'' 3. Auflage, C.H. Beck, München 2019 [Originalausgabe 2016], ISBN 978-3-406-69837-8.<br />
* Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' Verlag C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60158-3.<br />
* Bahru Zewde: ''A History of Modern Ethiopia, 1855–1991.'' 2. Auflage, Ohio University Press / Addis Ababa University Press / James Currey, Oxford/Athens/Addis Abeba 2001 [1991], ISBN 0-8214-1440-2.<br />
<br />
'''Sonstige Literatur'''<br />
* Miguel Alonso, Alan Kramer, Javier Rodrigo (Hrsg.): ''Fascist Warfare, 1922–1945: Aggression, Occupation, Annihilation.'' Palgrave Macmillan, o. O. 2019, ISBN 978-3-030-27647-8.<br />
* Marco Maria Aterrano, Karine Varley (Hrsg.): ''A Fascist Decade of War: 1935–1945 in International Perspective'' (= ''Routledge Studies in Fascism and the Far Right''). Routledge, London/New York 2020, ISBN 978-1-138-57415-1.<br />
* Ruth Ben-Ghiat, Mia Fuller (Hrsg.): ''Italian Colonialism.'' Palgrave Macmillian, New York 2005, ISBN 978-0-230-60636-4.<br />
* Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' Oxford University Press, New York 2017, ISBN 978-1-84904-692-3.<br />
* Gabriele Schneider: ''Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936–1941'' (= ''Italien in der Moderne.'' Bd. 8). SH-Verlag, Köln 2000, ISBN 3-89498-093-1.<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4162613-8}}<br />
<br />
[[Kategorie:Abessinienkrieg| ]]<br />
[[Kategorie:Kolonialkrieg]]<br />
[[Kategorie:Italienische Kolonialgeschichte (Afrika)]]<br />
[[Kategorie:Krieg in der italienischen Geschichte]]<br />
[[Kategorie:Militärgeschichte (Äthiopien)]]<br />
[[Kategorie:Krieg (Afrika)]]<br />
[[Kategorie:Krieg (20. Jahrhundert)]]<br />
[[Kategorie:Äthiopisch-italienische Beziehungen]]<br />
[[Kategorie:Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1935]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1936]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1937]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1938]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1939]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1940]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1941]]<br />
[[Kategorie:ABC-Kriegsführung]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Konzentrationslager_Rab&diff=255675147Konzentrationslager Rab2025-05-03T01:22:52Z<p>ImageUploader12345: /* Antislawischer Rassismus */ Sorry I don't speak German, hopr Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events.</p>
<hr />
<div>[[Datei:Rab Concentration camp.jpg|mini|300px|Die [[Zeltlager#Beschreibungen|Zeltstadt]] des Konzentrationslagers Rab; im Vordergrund die Flagge Italiens (1942)]]<br />
{{Positionskarte|Kroatien|lat=44.780|long=14.719|region=HR-08|label=K.L. Rab (Arbe)|position=7|width=300|float=right|caption=Lage des ehemaligen italienischen Konzentrationslagers Rab (Arbe) im heutigen [[Kroatien]]}}<br />
<br />
Das '''Konzentrationslager Rab''' (auch '''Arbe''' oder '''Kampor''' genannt) war während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieges]] das größte und brutalste [[Italienische Konzentrationslager#Konzentrationslager des Militärs für Jugoslawen (1941–1943)|italienische Konzentrationslager für jugoslawische Zivilisten]]. Es wurde zwischen Juli 1942 und September 1943 betrieben und befand sich auf der [[Dalmatien|dalmatischen]] Insel [[Rab]] ([[Italienische Sprache|ital.]] ''Arbe'') nahe des Dorfes [[Kampor]]; das [[Italienischer Faschismus|faschistische Italien]] hatte das Gebiet infolge der militärischen [[Balkanfeldzug|Zerschlagung Jugoslawiens]] durch die [[Achsenmächte]] [[Annektion|annektiert]]. Das Lager diente in erster Linie als [[Arbeitslager|Straflager]] für [[Slowenen]] und [[Kroaten]] in der [[Geschichte Jugoslawiens#Die Aufteilung des Landes|italienischen Besatzungszone]] und galt deshalb als ein „Slawenlager“. Zudem bestand von Mai bis September 1943 auf Rab auch Italiens zentrales [[Internierungslager]] für jugoslawische [[Juden]], deren Haftbedingungen jedoch ungleich besser waren als jene der [[Slawen|slawischen]] Insassen. Laut den meisten Schätzungen wurde Rab während des dreizehnmonatigen Lagerbetriebs von zwischen 10.500 und 15.000 Häftlingen durchlaufen, seltenere Maximalangaben nennen eine Gesamtzahl bis zu 21.000 Insassen.<br />
<br />
Das „Slawenlager“ war mit einer Sterblichkeitsrate von rund 20 Prozent mit den Verhältnissen in den deutschen [[Konzentrationslager]]n [[KZ Buchenwald|Buchenwald]] oder [[KZ Dachau|Dachau]] vergleichbar. Von den laut Minimalangaben 7.541 slawischen Insassen (zwei Drittel Slowenen, ein Drittel Kroaten) wurden bisher rund 1.500 Tote namentlich identifiziert. In den maximalen Schätzungen, die von insgesamt höheren Häftlingszahlen ausgehen, wird die Gesamtzahl der Opfer auf 3.000 bis 5.000 Tote geschätzt. Die Haupttodesursachen waren [[Unterernährung]] und [[Krankheit]]en. Im Separatlager für jugoslawische Juden galten die Verhältnisse hingegen als „relativ erträglich“ (Jaša Romano). Das jüdische Lager verfügte mit seinen laut Minimalangaben rund 2.700 Häftlingen über ein gewisses Maß an Selbstverwaltung und entsprach einem gewöhnlichen italienischen [[Italienische Konzentrationslager#Konzentrationslager des Innenministeriums (1940–1943)|Internierungslager]] ohne Todesopfer.<br />
<br />
Historiker stufen das „Slawenlager“ von Rab nach aktuellem Forschungsstand mehrheitlich ''nicht'' als [[Vernichtungslager]] ein, gleichzeitig wird Rab jedoch auch als ein Beweis dafür angeführt, dass italienische Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges durchaus „das gleiche Niveau“ ([[Mark Mazower]]) erreichen konnten wie manche von [[NS-Staat|NS-Deutschland]] betriebene Lager. Ebenso wird Rab in Zusammenhang mit einer Politik der „[[ethnische Säuberung|ethnischen Säuberung]]“ gesehen, welche die italienischen Faschisten motiviert durch [[Antislawismus|antislawischen Rassismus]] auf dem [[Balkanhalbinsel|Balkan]] praktizierten. In der wissenschaftlichen Diskussion wird auch darauf hingewiesen, dass Rab und andere italienische „Slawenlager“ viele Gemeinsamkeiten mit den [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg#Konzentrationslager|Konzentrationslagern]] Italiens während des [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|kolonialen Genozids in Libyen]] (1929–1934) aufweisen.<br />
<br />
Das Konzentrationslager wurde nach dem [[Waffenstillstand von Cassibile|Seitenwechsel Italiens]] am 11. September 1943 von einer im Lager gebildeten Widerstandsgruppe der [[Osvobodilna Fronta|slowenischen Befreiungsfront]] (OF) befreit, einem Ableger der [[Bund der Kommunisten Jugoslawiens|Kommunistischen Partei Jugoslawiens]]. Im Jahr 1953 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Lagerfriedhofs auf Rab, dem größten [[Massengrab]] von Slowenen außerhalb des slowenischen Staates, mit finanziellen Mitteln der jugoslawischen [[Sozialistische Republik Slowenien|Teilrepublik Slowenien]] ein [[#Gedenkfriedhof Kampor auf der Insel Rab|Gedenkfriedhof]] angelegt. Zum Befreiungstag des Konzentrationslagers Anfang September finden dort jährliche Gedenkveranstaltungen statt.<br />
<br />
== Bezeichnung ==<br />
Die offizielle italienische Bezeichnung für das Lager lautete ''Campo di concentramento internati civili Arbe'', zu Deutsch wörtlich „Konzentrationslager für Zivilinternierte Arbe“. Die überwiegend [[Südslawen|südslawischen]] Insassen verwendeten für das Lager nicht den italienischen Inselnamen, sondern den [[Slowenische Sprache|slowenischen]] bzw. [[Serbokroatische Sprache|serbokroatischen]] Namen ''Rab'', oder sie benannten es nach dem nahegelegenen Dorf ''Kampor'' (ital. ''Campora'').<ref>Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541.</ref> In der deutschsprachigen und englischsprachigen Fachliteratur wird meist die Selbstbezeichnung des italienischen Konzentrationslagers ''Arbe'' vorrangig verwendet und der slawische Name ''Rab'' nachrangig in Klammer gesetzt. Oft wird aber auch innerhalb des gleichen wissenschaftlichen Textes zwischen den Begriffen als austauschbaren Synonymen hin- und hergewechselt.<ref>Quellen:<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 113, 284.<br />
* Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S. 176–200, hier S. 189;<br />
* Davide Rodogno: Fascism's European Empire: Italian Occupation during the Second World War. Cambridge / New York 2006, S. 351–355;<br />
* Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 279–283, 360,<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 433 u. 436;<br />
* Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541.</ref> In der slowenischen und kroatischen Literatur ist neben dem Inselnamen ''Rab'' auch der Dorfname ''Kampor'' für das Konzentrationslager üblich.<ref>Herman Janež: ''Kampor na otoku Rabu: koncentracijsko taborišče = koncentracioni logor: 1942–1943.'' Ljubljana 2008 (slowenisch/kroatisch); Ivan Kovačić: ''Kampor 1942–1943: Hrvati, Slovenci i Zidovi u koncentracijskom logoru Kampor na otoku Rabu'' [= Kampor 1942–1943: Kroaten, Slowenen und Juden im Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab]. Rijeka 1998. (kroatisch)</ref><br />
<br />
== Lagerstruktur ==<br />
=== Lagerleitung ===<br />
[[Datei:Guard at the Rab concentration camp.jpg|miniatur|Ein italienischer Wachmann des Konzentrationslagers Rab mit seinem Wachhund]]<br />
<br />
Die Lagerkommandatur oblag einem Oberleutnant der [[Carabinieri]], der gleichzeitig auch den Oberbefehl über die italienische Militärgarnison der gesamten Insel innehatte. Das Arbeitsbüro des Lagerkommandanten wurde in der [[Grundschule]] des Inseldorfes Kampor eingerichtet. Der erste Lagerkommandant war Oberleutnant Vincenzo Venne, der zweite war Oberleutnant Vincenzo Cuiuli, der sowohl von den Häftlingen als auch von den italienischen Soldaten und Offizieren den Spitznamen „die Schlange“ ([[Serbokroatische Sprache|serbokroatisch]] ''zmija'', italienisch ''serpente'') erhielt und für seine [[Sadismus|sadistischen]] Neigungen berüchtigt war.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 120 u. 242; Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 59 (kroatisch).</ref> Der italienische Historiker Giuseppe Piemontese bezeichnete Cuiuli in seiner 1946, also kurz nach Kriegsende veröffentlichten Arbeit über die Besatzungspolitik Italiens auf dem Balkan als einen Lagerkommandanten, der „ein würdiger Schüler der Bestien von [[KZ Bergen-Belsen|Belsen]], [[KZ Auschwitz|Auschwitz]] und [[KZ Dachau|Dachau]] ist“.<ref>Zitiert nach Amedeo Osti Guerazzi: ''„Schonungsloses Handeln gegen den bösartigen Feind“. Italienische Kriegführung und Besatzungspraxis in Slowenien 1941/42.'' In: ''Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte'', Jahrgang 62 (2014), Heft 4, S. 537–567, hier S. 557.</ref> Die Wachmannschaften bestanden aus insgesamt 704 Soldaten, während das Lagerkommando aus 48 Personen bestand.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336.</ref> Rundherum um das Lager wurden [[Bunker]] für etwa 2.200 Soldaten gebaut.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 279.</ref><br />
<br />
=== Lageraufbau ===<br />
[[Datei:Rab concentration camp 01.jpg|miniatur|hochkant=2|Überblick über den ursprünglich geplanten Aufbau des Lagers. Dabei sollte Rab (Arbe) in vier große Teillager (I, II, III, IV) mit einer Gesamtkapazität von 20.000 Häflingen (5.000 pro Teillager) entstehen. <br>Lager I: Slawische Männer<br>Lager II: Jüdische Häftlinge<br>Lager III: Slawische Frauen und Kinder<br>Lager IV: Slawische Zwangsarbeiter<ref>Vgl. Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 242; Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 280.</ref>]]<br />
<br />
Der erste Bereich, der in Betrieb genommen wurde, war das „Campo Primo“ (Lager I), der wiederum in vier Sektoren unterteilt war, die jeweils einem eigenen Offizier unterstellt waren. Hier wurden hauptsächlich „kräftige“ Männer (''validi'') untergebracht. Es lag rechts der von der [[Rab (Stadt)|Hafenstadt Rab]] kommenden Hauptstraße und grenzte an ein [[Urbarmachung]]sgebiet. Auf der linken Seite der Straße befanden sich die Bereiche, die im ursprünglichen Plan für das „Campo Secondo“ (Lager II), „Terzo“ (Lager III) und „Quatro“ (Lager IV) vorgesehen waren. Weiter unten an der Straße wurden die restlichen Einrichtungen eingerichtet und darüber hinaus eine Lichtung für die Bestattung der verstorbenen Internierten. Frauen, Kinder, ältere und kranke Menschen wurden zunächst in einem separaten Bereich des Lagers I untergebracht; später wurden sie in das Lager III verlegt (drei Viertel der dortigen Internierten), bevor sie im Spätherbst 1942 endgültig ins [[Konzentrationslager Gonars]] verlegt wurden. Das Lager II wurde erst im Frühjahr 1943 in Betrieb genommen und beherbergte mehr als 2.700 Juden im Rahmen einer „vorsorglichen Internierung“. Das Lager IV blieb weitgehend ungenutzt.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 242; Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336.</ref><br />
<br />
== Lager für Slawen (Lager I und III) ==<br />
=== Ernährung ===<br />
[[Datei:Inmate at the Rab concentration camp..jpg|mini|Ein abgemagerter Häftling auf Rab]]<br />
[[Datei:Child inmate at the Rab concentration camp.jpg|mini|Ein abgemagerter Kinderhäftling auf Rab]]<br />
<br />
Die [[Mangelernährung]] gilt als das schwerwiegendste Problem des Lagers, über das die Insassen am meisten klagten.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 337.</ref> Die [[Tagesration|Essensrationen]] für die „repressiven“ Internierten, also die slowenische und kroatische Gefangenen die in den Straflagern I und III, wurden auf maximal 1.000 [[Kalorien]] pro Tag festgelegt.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 281.</ref> Die jugoslawischen Internierten erhielten somit im günstigsten Fall tägliche Lebensmittelrationen, die nur der Hälfte ihres [[Kalorienbedarf]]s entsprachen. Dies ist der Grund dafür, dass nur diejenigen, die Lebensmittelpakete von zu Hause erhielten oder in der Lage waren, in den Lagern zusätzliche Lebensmittel zu kaufen, bei guter Gesundheit bleiben konnten.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 116.</ref><br />
<br />
Offiziell bestand die Ration aus 150 [[Gramm]] [[Brot]], 66 Gramm [[Reis]] oder [[Nudeln]] und 20 Gramm [[Gemüse]]. Zusätzlich sollten die Gefangenen zweimal pro Woche 100 Gramm Fleisch und viermal wöchentlich 40 Gramm Käse erhalten. Diese ohnehin schon sehr kargen Rationen wurden jedoch nicht in der vollen Menge an die Häftlinge ausgegeben. Auf dem Weg von den Lagern, in denen die Nahrungsmittel gelagert waren, bis zu den Stellen, die sie an die Gefangenen weitergaben, behielten die italienischen Instanzen jeweils einen Teil der Lieferungen für sich ein. Dies führte zu einem florierenden [[Schwarzmarkt]], sodass jeder Gefangene, der in der Lage war, seine Ration durch Bestechung zu erhöhen, größere Überlebenschancen hatte. Zudem wurden die von Familienangehörigen verschickten Lebensmittelpakete oft nicht an die Insassen weitergegeben. Stattdessen wurden bis zu 12.000 Pakete von den Lagerbehörden gehortet, sodass die Häftlinge erst ab November 1942 die ersten Pakete ihrer Verwandten erhielten. Wenn die Pakete schließlich doch an die Gefangenen verteilt wurden, waren die Lebensmittel meist verdorben. Dadurch beliefen sich die tatsächlichen Rationen für die Insassen nur noch auf etwa 80 Gramm Brot pro Tag. Infolgedessen verloren selbst die jüngsten und kräftigsten Menschen rasch die Hälfte ihres Körpergewichts.<ref>Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541; Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 281.</ref><br />
<br />
Erst als die Sterblichkeitsrate ein untragbares Ausmaß erreichte, untersuchte die Zentralstelle der 2. italienischen Armee in Zusammenarbeit mit dem italienischen Landwirtschaftsministerium Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gefangenen.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 117.</ref> Ab dem 20. November 1942 kam es bei der Mangelernährung zu notdürftigen Verbesserungen: Alle arbeitenden Internierten sollten die höchstmögliche Essensration erhalten und die übrigen eine mittlere Ration. Dennoch stellte ein italienische Inspektor im Dezember 1942 fest, dass die Internierten ausgemergelt waren.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 337.</ref> Der italienische Hauptmann (''capitano'') Giovanni de Filippis beschrieb in einem Bericht vom Januar 1943 die Zustände im Lager als „fast barbarisch“,<ref>Zitiert nach Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541.</ref> und in einem Bericht des Roten Kreuzes vom 22. März 1943 hieß es: „Dieses Lager kann man als den ‚Friedhof der Lebenden‘ bezeichnen [...] Es sterben täglich 40–60 Menschen. Der Hunger ist groß.“<ref>Zitiert nach Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 281.</ref> Die Lagerärzte von Rab notierten bei Lagertoten fast jedes Mal „Herzattacke“ als Todesursache, obwohl der tatsächliche Grund überwiegend Unterernährung war.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 243.</ref><br />
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Die Ärzte des Krankenhauses in der Stadt [[Treviso]], in das später Häftlinge aus Rab mit geringer Überlebenschance eingeliefert wurden, waren schockiert über den schweren Zustand der Unterernährung. Professor Menenio Bortolozzi, damals Chefarzt für Anatomie und Pathologie, berichtete über die Zeit, als die Hälfte der 600 Betten des Krankenhauses mit Internierten belegt waren.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 117.</ref> Er erklärte:<br />
: „Als sich ihr Zustand verschlimmerte, wurden sie aus dem Lager ins Krankenhaus gebracht, aber es war zu spät. Wir konnten nur einige wenige retten. Einjährige Kinder, erst wenige Monate alte Babies, ältere Männer, darunter ein 92-Jähriger, starben. Sie alle starben an Hunger [...].“<ref>Zitiert nach Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 117.</ref><br />
<br />
=== Hygiene und medizinische Versorgung ===<br />
Im Lager gab es kein Wasser für die [[Hygiene|Körperhygiene]], daher konnten die Gefangenen ihre Kleidung und sich selbst nur bei Regen waschen. Die von der Lagerverwaltung bereitgestellten Toiletten bestanden praktisch nur aus Löchern im Boden. Wenn diese voll waren, wurden sie mit Erde bedeckt. Bei stärkerem Regen wurde das Lager jedoch regelmäßig mit [[Exkrement]]en überschwemmt, sodass die gesamte Anlage in eine riesige Kloake verwandelt wurde, die ideale Bedingungen für die Verbreitung von [[Krankheit]]en bot. [[Krankheitserreger|Keime]] forderten das Leben der ohnehin schon geschwächten Gefangenen. Diese Zustände führten zu [[Endemie|endemischen]] Krankheitsausbrüchen. Zudem war das Lager bereits im September 1942 stark überbelegt. Die Hotels in der benachbarten Hafenstadt Arbe (Rab) dienten als provisorische Krankenhäuser. Obwohl dies den Gefangenen eine etwas bessere Gesundheitsversorgung bot, änderte es nichts an den allgemein schlechten Bedingungen auf der Insel.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 281.</ref> Besonders betroffen von den hygienischen Verhältnissen waren schwangere Frauen, die häufig [[Totgeburt]]en erlitten.<ref>Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541.</ref> Professor Menenio Bortolozzi, der im Krankenhaus von [[Treviso]] etwa 30 [[Obduktion]]en an ausgemergelten, geschwollenen Leichen der Internierten durchführte, bezeichnete diese ohne zu zögern als „identisch mit denen in [[KZ Buchenwald|Buchenwald]]“. Fast alle Verstorbenen waren an [[Tuberkulose]] erkrankt, die sie sich höchstwahrscheinlich in den Zelten von Rab zugezogen hatten, dem Lager, aus dem die Internierten mit dem schlechtesten Gesundheitszustand kamen.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 117.</ref><br />
<br />
=== Antislawischer Rassismus ===<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Die [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|Parteifahne der Faschisten]] als antislawisches Symbol]]<br />
Die Haltung der italienischen Lagerbehörden gegenüber den slowenischen und kroatischen Internierten war von Grobheit und Rücksichtslosigkeit geprägt; aus der Sicht des faschistischen Regimes waren sie allesamt „Slawen“ (''slavi'') und damit rassisch und kulturell minderwertige Menschen.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 117.</ref> Tatsächlich gilt es für die Praxis der italienischen Rassenpolitik als bezeichnend, dass die Häftlinge slawischer Herkunft auf Rab eine schlechtere Behandlung erfuhren als die Insassen jüdischer Herkunft.<ref>Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 91.</ref> Ganz anders als die NS-Ideologie, richtete sich der faschistische Rassismus zunächst gegen Slawen und Afrikaner, und erst später auch offiziell gegen die jüdische Bevölkerung.<ref>Aram Mattioli: ''Das faschistische Italien – ein unbekanntes Apartheidregime.'' In: Fritz Bauer Institut (Hg.): ''Gesetzliches Unrecht. Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert.'' Frankfurt am Main 2005, S. 155–178, hier S. 156 f.</ref> Der faschistische [[Antislawismus]] war dabei genuin italienischen Ursprungs und bereits im Italien der 1920er Jahre ein Wesensmerkmal des Frühfaschismus.<ref>Sven Reichardt: ''Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA.'' 2. Auflage, Köln/ Weimar/ Wien 2009 [2002], S. 393; Thomas Schlemmer, Hans Woller: ''Essenz oder Konsequenz? Zur Bedeutung von Rassismus und Antisemitismus für den Faschismus.'' In: Dies.: ''Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung.'' München 2014, S. 123–144, hier S. 130.</ref> [[Carlo Moos]] (2023) konstatiert:<br />
: „Einen Teil seiner Stosskraft bezog der faschistische Antislawismus aus dem Umstand, dass mit Jugoslawien ein starker Südslawenstaat entstanden war, der u. a. das ‚italienische‘ Dalmatien an sich gerissen hatte. Deshalb war die Zerstörung dieses Staates nicht ein beliebiges machtpolitisches Ziel, sondern – als Voraussetzung zur Beherrschung der Adria – ein zentrales Element von Mussolinis Raumpolitik. Dass die Slawen in den mit deutscher Hilfe besetzten Gebieten als ‚Untermenschen‘ eingestuft wurden, führte alte Kontinuitätslinien weiter und hatte System.“<ref>Carlo Moos: ''Italien-Probleme. Texte zu Risorgimento, Faschismus und Republik.'' Wien/ Zürich 2023, S. 256 f.</ref><br />
Auch laut James Walston (1997) müsse als Erklärung für das Verhalten des faschistischen Italien das Gefühl der „rassischen Überlegenheit“ berücksichtigt werden, das die Italiener nicht nur gegenüber den Afrikanern, sondern auch gegenüber den Jugoslawen empfanden. So erklärte etwa ein Artikel in der Triester Zeitung ''[[Il Piccolo]]'' vom 28. Mai 1942, die Jugoslawen seien niedriger zu betrachten als die „unbekanntesten Stämme Westafrikas“.<ref>James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 181.</ref><br />
<br />
=== Repression gegen Slowenen ===<br />
Ab Ende 1941 begann die italienische Armee die slawische Bevölkerung aus den ländlichen Partisanengebieten zu [[Deportation|deportieren]] und die Intellektuellen in den Städten zu inhaftieren. Gleichzeitig führte die italienische Regierung unter Mussolini eine Bevölkerungspolitik durch, die man heute [[ethnische Säuberung]] nennen würde. Dadurch wurden allein aus der Provinz Ljubljana 30.000 Menschen (10 % der Bevölkerung) interniert. Zwei der größten Lager waren das KZ Rab und das [[KZ Gonars]].<ref>Luigi Reale: Mussolini's Concentration Camps for Civilians: An Insight Into the Nature of Fascist Racism. S. 112.</ref> Die Inhaftierten wurden nicht als Kriegsgefangene, sondern als Geiseln behandelt, die man zur Unterdrückung der Partisanentätigkeit verwendete.<ref>Amedeo Osti Guerrazzi und Constantino di Sante: Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien. in: Faschismus in Italien und Deutschland. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 21, Hrsg. Reichardt und Nolzen, Wallstein 2004, ISBN 3-89244-939-2, S. 189.</ref> Da viele Internierte im Rahmen der [[Circular C3|Partisanenbekämpfung]] während der Erntearbeiten im Sommer auf den Feldern verhaftet worden waren, trugen sie nur leichte Kleidung, die für den rauen Winter ungeeignet war.<ref>Luigi Reale: Mussolini's Concentration Camps for Civilians: An Insight Into the Nature of Fascist Racism. S. 113.</ref><br />
<br />
== Lager für Juden (Lager II) ==<br />
Ab Mai 1943 wurden die internierten Juden in sämtlichen vom italienischen Militär besetzten Gebieten Jugoslawiens nach Rab gebracht.<ref>Davide Rodogno: ''Fascism's European Empire. Italian Occupation during the Secont World War.'' Cambrdige / New York 2006, S. 354.</ref> Für die Praxis der italienischen Rassenpolitik gilt unter Historikern als bezeichnend, dass die jüdischen Häftlinge auf Rab eine bessere Behandlung erfuhren als die Häftlinge slawischer Herkunft. Tatsächlich wurden die jugoslawischen Juden sogar durch die Internierung auf der Insel vor dem gezielten Zugriff der deutschen und kroatischen Verfolger geschützt, die sie aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem deutschen [[NS-Staat]] und dem kroatischen [[Unabhängiger Staat Kroatien|Ustascha-Staat]] vom Juli 1942 gemeinsam jagten.<ref>Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 91.</ref> Der jüdische Intellektuelle Jaša Romano (1908–1986), der die erste Monographie über die Verfolgung der Juden Jugoslawiens schrieb, urteilte: „Dank der Maßnahmen, die Internierte selbst zur Verbesserung der Lebensqualität unternommen haben, sowie des toleranten Umgangs des italienischen Lagerkommandos, war das Leben auf Rab relativ erträglich.“<ref>Zitiert nach Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 187.</ref> Diese Einschätzung Romanos wird auch in neueren Forschungsarbeiten geteilt.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 280; Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 186 f.</ref><br />
Tatsächlich wurden nach dem Abschluss aller „Judentransporte“ folgende Befehle ausgegeben, die den jüdischen Häftlingen den Aufenthalt im Konzentrationslager erleichtern sollten:<br />
: „Die Unterbringung der Juden soll graduell verbessert werden. [...] Eine gewisse Toleranz an gemeinsamen Veranstaltungen und Tätigkeiten soll gewährleistet werden. [...] Es sollen neben den normalen Rationen auch weitere Versorgungsmöglichkeiten geschaffen werden. [...] Es sollen Volks- und Mittelschulen organisiert werden. [...] Eine Bibliothek soll eingerichtet werden. [...] Lokale für den Barbier, Schneider, Schreiner etc. sollen zur Verfügung gestellt werden [...].“<ref>Zitiert nach Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 280.</ref><br />
<br />
Innerhalb des jüdischen Lagers wurden zwei Bereiche geschaffen, die mit Stacheldraht voneinander getrennt waren: In dem Teil mit gemauerten Unterkünften wurden die Internierten aus den [[Dubrovnik]]-Lagern untergebracht, im Teil mit Holzbaracken die Internierten aus Porto Re sowie von den Inseln [[Brač]] und [[Hvar]]. Auch für Juden waren die Lebensbedingungen auf Rab deutlich schlechter als in den vorherigen Lagern. Die Bewachung war strenger und die Internierten waren deutlich mehr von der Außenwelt abgeschnitten. Die Lagerverwaltung, die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie die Essenszubereitung wurde jedoch den Häftlingen selbst überlassen. Dafür wählten sie eine eigene Leitung, welche wiederum verschiedene Beratungsgruppen gründete, die sich um die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse oder des Essens kümmerten. Doch die Essensrationen reichten trotzdem nicht aus. Durch Arbeit konnten die Internierten diese ein wenig aufbessern: Einige internierte Frauen nähten Uniformen, andere arbeiteten in Krankenhäusern.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 186.</ref><br />
<br />
=== Bewahrung der Juden ===<br />
{{Hauptartikel|Konzentrationslager Porto Re}}<br />
<br />
Um Juden vor dem Zugriff und der Auslieferung an Deutschland oder den [[Unabhängiger Staat Kroatien|Unabhängigen Staat Kroatien]] zu bewahren, internierte die italienische Armee mit Befehl vom Oktober 1942 etwa 3.000 Juden im italienisch besetzten Jugoslawien. Im [[KZ Kraljevica|Konzentrationslager Kraljevica]] wurden mit etwa 1.160 Menschen die meisten interniert.<ref>Daniel Carpi: ''The Rescue of Jews in the Italian Zone of Occupied Croatia''. S. 23 ff.</ref> General [[Mario Roatta]] besuchte Ende November das Lager und sagte den Internierten den Schutz des [[Geschichte des italienischen Heeres|italienischen Heeres]] zu.<ref>Klaus Voigt: ''Zuflucht auf Widerruf - Exil in Italien 1933–1945''. S. 233 f.</ref> Die Internierten aus allen Orten wurden ab dem 19. Juni 1943 vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Niederlage Italiens aus Sicherheitsgründen in das Konzentrationslager Rab verlegt. Dort wollte der Lagerkommandant die Vorzugsbehandlung der „zur Protektion“ internierten Juden gegenüber den „zur Repression“ gefangen gehaltenen Slowenen in Grenzen halten, um Unruhe zu vermeiden. Die Sterblichkeit im jüdischen Teil des Lagers blieb vermutlich nur deshalb gering, weil die Internierung auf Rab nur zwei Sommermonate währte.<ref>Klaus Voigt: ''Zuflucht auf Widerruf - Exil in Italien 1933–1945''. S. 238 f.</ref> Im September 1943 nach dem [[Waffenstillstand von Cassibile]] und der Selbstbefreiung der Gefangenen schlossen sich die Juden überwiegend den [[Titopartisanen]] an.<ref>Daniel Carpi: ''The Rescue of Jews in the Italian Zone of Occupied Croatia''. S. 35 ff.</ref> Eine kleinere Gruppe, die nicht nach Jugoslawien zurückkehren wollte, konnte mit Hilfe einheimischer Fischer die von England besetzte Insel [[Vis]] erreichen. 204 Alte, Frauen und Kinder, die auf Rab blieben, wurden von Gestapo und SS über die [[KZ Risiera di San Sabba|Risiera di San Sabba]] in Triest nach Auschwitz deportiert.<ref>Klaus Voigt: ''Zuflucht auf Widerruf - Exil in Italien 1933–1945''. S. 239 f.</ref><br />
<br />
== Widerstand und Befreiung des Lagers ==<br />
Die deutsche Niederlage in der [[Schlacht um Stalingrad]] Anfang 1943 löste einen massiven Wandel in der politischen Stimmung der Rab-Häftlinge aus. Bereits am 5. Januar 1943 bildeten sie ein Exekutivkomitee der [[Osvobodilna Fronta|slowenischen Befreiungsfront]] (OF) als ihre zentrale Führung und wählten Jože Jurančič zu deren Sekretär. Bis April 1943 zählte die illegale Organisation der Befreiungsfront im Lager I bereits über 400 Mitglieder. Neben Slowenen gehörten der Befreiungsfront auch kroatische und jüdische Häftlinge an, der gemeinsame italienische Feind schweißte die auch innerhalb ihrer eigenen ethnischen Gemeinschaften sehr heterogenen Häftlingsgruppen zusammen. Obwohl das Lager I für Slawen und das Lager II für Juden durch Stacheldraht voneinander getrennt waren, gelang es den dortigen Ablegern der [[Bund der Kommunisten Jugoslawiens|Kommunistischen Partei Jugoslawiens]] eine Verbindung untereinander herzustellen.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 111 f.</ref><br />
<br />
Im Konzentrationslager Rab war auch eine [[Kommunistische Partei Jugoslawiens|KPJ]]-Organisation aktiv, die nach dem 8. September 1943 die [[Selbstbefreiung von Häftlingen in Konzentrationslagern|Selbstbefreiung]] der Häftlinge organisierte. Nachdem sie den italienischen Wachmannschaften die Waffen in Rab abgenommen hatten, entwaffneten die Häftlinge von Rab am 13. September 1943 auch die italienische Besatzung der Insel [[Cres]]. Mit dem Beginn der deutschen Offensive verteilten sich die bewaffneten Häftlinge auf verschiedene Partisaneneinheiten.<ref>Luigi Reale: Mussolini's Concentration Camps for Civilians: An Insight Into the Nature of Fascist Racism. S. 112.</ref><br />
<br />
Am 10. September 1943 übernahm die Befreiungsfront unter Jože Jurančič schließlich, infolge einer Versammlung der slowenischen, kroatischen und jüdischen Häftlinge, die Kontrolle über das Lager. Gleichzeitig wurde zum Zwecke des militärischen Widerstands die Schaffung einer bewaffneten Einheit beschlossen. Diese sollte [[Brigade]]nstärke besitzen und auf freiwilliger Basis mobilisiert werden. Zum Kommandanten der ''Rab-Brigade'' wurde Franc Potočnik genannt, Jože Jurančič wurde deren Politischer Kommissar.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 111–113.</ref><br />
<br />
Der von den Partisanen festgenommene Lagerkommandant von Rab, Oberstleutnant Vincenzo Cuiuli, beging in slowenischer Haft [[Suizid|Selbstmord]].<ref>Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Schöningh Verlag, Paderborn 2004, ISBN 3-506-70144-4, S. 342f., Anm. 134.</ref><br />
<br />
== Rezeption ==<br />
=== Anzahl der Häftlinge ===<br />
In Bezug auf die Gesamtzahl der Lagerhäftlinge unterscheiden sich die Angaben in den Quellen erheblich,<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943. Berlin/Boston 2017, S. 280.</ref> und schwanken meist zwischen 10.500 und 15.000 Häftlingen.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336 f.</ref> Als zuverlässigste Minimalangabe gelten die Zahlen, die Carlo Spartaco Capogreco (2004) im Standardwerk der italienischen Forschung nennt. Sie basieren auf den zeitgenössischen Angaben der Carabinieri-Korps, die für die Transporte von und zur Insel zuständig waren. Aus ihren Aufzeichnungen geht hervor, dass 27 Konvois mit 7.541 Zwangsinternierten auf der Insel ankamen. Zwei Drittel von ihnen waren slowenische Zivilisten, die übrigen waren Kroaten. Hinzu kommen 2.761 jüdische Einwohner oder Flüchtlinge aus dem italienisch besetzten Kroatien, die im Frühjahr 1943 aus „Vorsichts-“ und „Schutzgründen“ in Arbe interniert wurden. Während des knappen Jahres, in dem das Lager in Betrieb war, wurden also mehr als 10.000 Zivilisten interniert: Männer, Frauen, Kinder und oft ganze Familien.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 243; Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 541.</ref> Insofern gilt die Zahl von rund 10.500 Insassen als die italienische Minimalangabe zu Rab.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336 f.</ref><br />
<br />
{| class="wikitable toptextcells"<br />
|+Entwicklung der Gefangenenzahlen auf Rab (laut Capogreco)<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 244.</ref><br />
| style="text-align:left"|<br />
! align="right"| Juli 1942<br />
! align="right"| August 1942<br />
! align="right"| 1. Dezember 1942<br />
! align="right"| 29. Dezember 1942<br />
! align="right"| Februar 1943<br />
! align="right"| April 1943<br />
! align="right"| Juni 1943<br />
! align="right"| Juli 1943<br />
|-<br />
| Gefangene|| 198||2.532||6.577||5.562||2.853||2.628||2.232||3.296<br />
|-<br />
|}<br />
<br />
Eine weitere italienische Minimalangabe, welche die meisten Historiker jedoch als zu niedrig angesetzt betrachten, stellen die Berichte über die Transporte nach Rab dar, die vom Kommandanten der Carabinieri in [[Sušak]], Luigi Bruchietti, unterzeichnet wurden. Diese wurden auch vom Militärhistorischen Institut Belgrad veröffentlicht. Insgesamt werden 9.537 Personen genannt: 4.958 Männer, 1.296 Frauen und 1.039 Kinder – insgesamt 7.293 Personen aus den Provinzen Lubiana (Ljubljana) und Fiume (Rijeka), sowie 1.097 jüdische Männer, 930 jüdische Frauen und 287 jüdische Kinder. Die Berichte beziehen sich auf den Zeitraum vom 27. Juli 1942 bis zum 22. Juli 1943 und berücksichtigen dreißig Transporte, wobei offenbar nicht alle Transporte erfasst wurden.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 37; Davide Rodogno: ''Fascism's European Empire. Italian Occupation during the Second World War.'' New York 2008 [2003], S. 355.</ref><br />
<br />
Von vielen Historikern werden jedoch unter Berufung auf italienische Verantwortliche des Lagers auch deutlich heuere Häftlingszahlen genannt. So erklärte General Mario Roatta am 16. Dezember 1942 (also noch vor der Ankunft der laut Minimalangaben 2.761 jüdischen Häftlinge) in einem umfangreichen Bericht gegenüber dem Vatikan, dass die Höchstzahl der (slawischen) Häftlinge bis zu diesem Zeitpunkt bereits 10.552 betragen würde.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 118 u. 137.</ref> In ähnlicher Weise gab der italienische Offizier Mario Gaspini bei seiner Zeugenaussage nach Kriegsende am 1. Juni 1945 an, dass rund 13.000 Häftlinge das Lager durchlaufen hätten.<ref>Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Paderborn 2004, S. 343.</ref><br />
<br />
Auch die jugoslawischen Angaben nennen deutlich höhere Zahlen von insgesamt 13.000 bis 15.000 internierten Menschen. In einem Bericht des [[Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung|Internationalen Roten Kreuzes]] (IKRK) vom 10. Dezember 1942 wird die Gesamtzahl der Häftlinge sogar mit 21.000 angegeben.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 280 f.; Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336 f.</ref> Diese Zahlenvariationen finden sich insofern auch in der Fachliteratur: Paul Mojzes (2011) geht von 13.000 Slowenen und Kroaten sowie 2650 Juden aus, die insgesamt auf Rab interniert wurden,<ref>Paul Mojzes: ''Balkan Genocides. Holocaust and Ethnic Cleansing in the Twentieth Century.'' 2011, S. 66 u. 71.</ref> Aram Mattioli (2006)<ref>Aram Mattioli: ''Unter Italiens Stiefel.'' In: ''Die Zeit'' vom 19. Oktober 2006.</ref> und Ivan Kovačić (1998, 2016)<ref>Ivan Kovačić: ''Kampor 1942–1943: Hrvati, Slovenci i Zidovi u koncentracijskom logoru Kampor na otoku Rabu'' [= Kampor 1942–1943: Kroaten, Slowenen und Juden im Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab]. Rijeka 1998, S. 221–228 (kroatisch); Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 63 (kroatisch).</ref> gehen von insgesamt 15.000 Insassen auf Rab aus. Michael R. Marrus (1985) gibt für das Konzentrationslager Rab die Gesamtzahl von 15.000 bis 20.000 Insassen an.<ref>Michael R. Marrus: ''The Unwanted: European Refugees in the Twentieth Century.'' Oxford University Press, New York / Oxford 1985, S. 281.</ref> Milan Ristović (2001) nennt 13.000–15.000 Häftlinge, von denen 3500 Juden waren.<ref>Milan Ristović: ''Yugoslav Jews Fleeing the Holocaust, 1941–1945.'' In: John K. Roth et al (Hg.): ''Remembering for the Future: The Holocaust in an Age of Genocide, Volume One: History.'' New York 2001, S. 512–526, hier S. 517.</ref> Pertti Ahonen et al. (2008) gehen von 10.000 Häftlingen aus, von denen mindestens ein Zehntel gestorben ist.<ref>Pertti Ahonen et al.: ''People on the Move: Forced Population Movements in Europe in the Aftermath of the Second World War.'' Routledge, London / New York 2020 [Originalausgabe 2008], S. 47; Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 63 (kroatisch).</ref> Der französische Historiker Jean-Arnault Deren (2024) geht von ursprünglich 10.000–15.000 Häftlingen auf Rab aus, die bis Dezember 1942 auf den Maximalwert von 21.000 Häftlinge anstiegen.<ref>Jean-Arnault Déren: ''Adriatique. La mer sérénissme.'' Nevicata, Brüssel 2024, S. 36.</ref><br />
<br />
=== Opferzahlen ===<br />
[[Datei:Rab concentation camp 9.jpg|miniatur|Steintafel mit den Namen von 1490 identifizierten Todesopfern (Stand 2013)<ref>''Spomen-groblje Kampor'' [= Der Gedenkfriedhof Kampor]. In: ''Udruga anifašista Rab'' [= Vereinigung der Antifaschisten Rab], zuletzt abgerufen am 6. April 2025 ([https://ua-rab.hr/spomen-groblje-kampor/ online], kroatisch).</ref> von Rab auf dem ''Gedenkfriedhof Kampor'' (2022)]]<br />
<br />
Ähnlich kompliziert wie die Frage nach der der Gesamtzahl der Insassen gestaltet sich auch die Frage nach der exakten Gesamtzahl der Todesopfer auf Rab. Ein erster Grund dafür liegt darin, dass der Forschung mehrere Totenlisten mit unterschiedlichen Angaben vorliegen.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 257.</ref> So verweist etwa der zeitgenössische Chronist und Mönch des nicht weit vom Lager entfernten Klosters [[Euphemia von Chalkedon|St. Euphemia]], [[Pater]] Odorik Badurina, auf „offizielle italienische Aufzeichnungen, die den Tod von 1.267 Internierten belegen“.<ref>Zitiert nach Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 119.</ref><ref>{{Literatur |Autor=Sanela Schmid |Titel=Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45. |Auflage= |Ort=Berlin/Boston |Datum=2020 |ISBN= |Seiten=338}}<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Sanela Schmid<br />
|Titel=Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.<br />
|Ort=Berlin/Boston<br />
|Datum=2020<br />
|Seiten=338}}</ref> Im Gegensatz dazu nennen die übrigen erhaltenen Aufzeichnungen niedrigere Opferzahlen: laut einer Liste des italienischen Staates waren von September 1942 bis Frühjahr 1943 insgesamt 928 Menschen auf Rab interniert. Eine weitere Liste erreichte das Büro des Oberbürgermeisters in Rab Ende 1943; nach den Aussagen des Klosterchronisten wurde sie kurz nach der Kapitulation Italiens geschrieben – mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Slowenen, der im Büro des Lagers beschäftigt war. Die Liste enthält 967 Namen, die in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt sind, sie ist jedoch offensichtlich unvollständig, da einige namentlich identifizierten Opfer darin fehlen. Eine weitere Liste, die von der [[Bistum Krk|Diözese Krk]] aufbewahrt wird, sowie zwei Listen im slowenischen Staatsarchiv führen über 1000 Tote an. Allein anhand der erhaltenen Todeslisten gilt somit eine Opferzahl von über 1000 Toten nach aktuellem Forschungsstand als gesichert.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 257.</ref><br />
<br />
[[Datei:Dead inmates at the Rab concentration camp.png|mini|300px|[[Exhumierung|Exhumierte]] Tote des Konzentrationslagers Rab]]<br />
Ein weiterer Fakt, der die Ausforschung der exakten Todeszahlen erschwert, ist, dass die italienische Lagerleitung von Rab in vielen Fällen auf dem Lagerfriedhof mehrere Menschen unter einem Namen beerdigen ließ. Jene 1079 Menschen, die auf dem Friedhof bisher (Stand 2017) namentlich ausfindig gemacht werden konnten, sind somit als Gesamtopferzahl ebenfalls zu niedrig angesetzt.<ref>Vgl. Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 282.</ref> Der dritte Grund für die unsicheren Zahlen liegt schließlich in der Tatsache, dass laut Historikern auch jene Menschen zu den Opfern von Rab gezählt werden müssen, deren Todesursache zwar aus den harten Haftbedingungen auf Rab resultiert, die jedoch während des Transfers in andere Lager oder erst dort an den Folgen ihrer Rab-Lagerhaft verstorben sind.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 257 f.</ref><br />
<br />
Für das „Slawenlager“ auf Rab gilt in der gegenwärtigen Forschung eine Todesrate von 19 Prozent als gesicherte Minimalangabe. Diese basiert einerseits auf den zeitgenössischen italienischen Angaben zur Gesamtzahl der slawischen Häftlinge (7541 Menschen),<ref>Quellen:<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 119 u. 242;<br />
* Filippo Focardi: ''Italien als Besatzungsmacht auf dem Balkan: Der Umgang mit Kriegserinnerung und Kriegsverbrechen nach 1945.'' In: Jörg Echternkamp, Stefan Martens (Hrsg.): ''Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung.'' Paderborn 2007, S. 163–174, hier S. 165;<br />
* Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S. 176–200, hier S. 189;<br />
* Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 542.</ref> und andererseits auf der Gesamtzahl der unter diesen zu beklagenden Todesopfer, die der slowenische Historiker Tone Ferenc (2001) bisher namentlich identifiziert hat (1435 Menschen).<ref>Tone Ferenc: ''Rab-Arbe-Arbissima. Confinamenti-Rastrellamenti-Internamenti nella Provincia di Lubiana 1941–1943. Documenti.'' Ljubljana 2001, S. 435–460; sein slowenischer Kollege Božidar Jezernik nannte auf Basis eigener Recherchen in den 1990er Jahren noch die niedrigere Angabe von 1252 Toten, vgl. Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 7 u. 329 f.</ref> Beide Zahlen werden auch im italienischen [[Standardwerk]] zur Geschichte der Konzentrationslager des faschistischen Italien von Carlo Spartaco Capogreco (2004)<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 119.</ref> genannt, sowie von der Enzyklopädie des [[United States Holocaust Memorial Museum]] (2018)<ref>Hier mit der minimalen Abweichung von 1436 Menschen, vgl. Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany.'' Bloomington 2018, S. 540–542, hier S. 542.</ref> und zahlreichen weiteren Historikern wie Amedeo Osti Guerazzi und Constantino di Sante (2005),<ref>Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S. 176–200, hier S. 189.</ref> Filippo Focardi (2005)<ref>Filippo Focardi: ''Italien als Besatzungsmacht auf dem Balkan: Der Umgang mit Kriegserinnerung und Kriegsverbrechen nach 1945.'' In: Jörg Echternkamp, Stefan Martens (Hrsg.): ''Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung.'' Paderborn 2007, S. 163–174, hier S. 165.</ref> oder Sanela Schmid (2020).<ref>Hier mit der minimalen Abweichung von 1433 Menschen, vgl. Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338.</ref> Etwas höhere, aber ähnliche Angaben über die bisher namentlich identifizierten Opfer machen der slowenische Historiker Herman Janež (2008)<ref>Herman Janež: ''Kampor na otoku Rabu: koncentracijsko taborišče = koncentracioni logor: 1942–1943.'' Taboriščni odbor Rab-Gonars pri Koordinacijskem odboru [žrtev] vojnega nasilja ZZB NOB Slovenije, Ljubljana 2008, S. 80 (slowenisch).</ref> und der kroatische Historiker Ivan Kovačić (1998, 2016)<ref>Ivan Kovačić: ''Kampor 1942–1943: Hrvati, Slovenci i Zidovi u koncentracijskom logoru Kampor na otoku Rabu'' [= Kampor 1942–1943: Kroaten, Slowenen und Juden im Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab]. Rijeka 1998, S. 221–228 (kroatisch); Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 63 (kroatisch).</ref> mit 1477 Toten. Diese Zahl wird auch vom Forschungsprojekt ''campifascisti.it'' auf seiner Webseite angegeben.<ref>Italienisches Originalzitat: „Ad oggi non è ancora stato stabilito con certezza il numero degli internati morti nel campo, o presso i diversi ospedali. Herman Janež ha redatto sulla base delle proprie e altrui ricerche un elenco nominativo si 1.477 deceduti“; vgl. ''Arbe - Campo di concentramento, Rab - Croazia.'' In: campifascisti.it, zuletzt abgerufen am 13. Januar 2025 (italienisch, [https://campifascisti.it/scheda_campo.php?id_campo=35 online]).</ref> Rolf Wörsdorfer (2004)<ref>Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Paderborn 2004, S. 342.</ref> gibt schließlich den Zahl von 1506 namentlich identifizierten Toten an. Unter Historikern findet sich insofern auch die gerundete Angabe von „mindestens 1500 Menschen“, die im Konzentrationslager Rab in knapp über einem Jahr ums Leben gekommen sind,<ref>Quellen:<br />
* Robert S. C. Gordon im Einführungstext zu Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. xiii;<br />
* Ivan Kovačić im Dokumentarfilm ''Fascist Legacy'', vgl. Ulrich Beuttler: ''Über den Dokumentarfilm „Fascist Legacy“ von Ken Kirby. Ein Beitrag zur längst fälligen Diskussion über die italienischen Kriegsverbrechen.'' In: GR/SR 13 (2004), 2, S. 175–188, hier S. 183;<br />
* Aram Mattioli: ''Unter Italiens Stiefel.'' In: ''Die Zeit'' vom 19. Oktober 2006;<br />
* Alessandra Kersevan: ''Lager italiani. Pulzia etnica e campi di concentramento fascisti per civili jugoslavi 1941–1943.'' Rom 2008, S. 73;<br />
* Vgl. auch die Angaben der kroatischen Menschenrechtsorganisation ''Documenta – Centar za suočavanje s prošlošću'': ''Story of Kampor.'' In: dokumenta.hr, 5. September 2020, zuletzt abgerufen am 7. Januar 2025 ([https://documenta.hr/en/novosti/story-of-kampor/ online]).</ref><br />
was bezogen auf minimale Häftlingszahl des „Slawenlagers“ eine gerundete Sterberate von 20 Prozent bedeutet.<ref>Vgl. Robert S. C. Gordon im Einführungstext zu Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. xiii.</ref> Daher geht die Forschung bezogen auf das gesamte Konzentrationslager Rab (also inklusive der jüdischen Häftlinge) ausgehend von einer Häftlingszahl von 10.000 bis 15.000 von einer Mortalitätsrate von mindestens 10 Prozent aus.<ref>Quellen:<br />
* Pertti Ahonen et al.: ''People on the Move: Forced Population Movements in Europe in the Aftermath of the Second World War.'' Routledge, London / New York 2020 [Originalausgabe 2008], S. 47;<br />
* Tone Ferenc laut der Rezension von Damijan Guštin bei ''Prispevki za novejšo zgodovino XLII'', 1/2002, S. 155–159, hier S. 159 (slowenisch, [https://www.sistory.si/media/legacy/publikacije/1-1000/230/Prispevki_za_novejso_zgodovino_2002_1.pdf online]);<br />
* Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 257;<br />
* Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 63 (kroatisch);<br />
* Mark Mazower: ''Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus.'' München 2009 [2008], S. 326.</ref><br />
<br />
Gleichzeitig stimmen insbesondere slowenische und kroatische Historiker, aber auch andere Experten aus der Forschung in der Annahme überein, dass die tatsächliche Gesamtzahl der Opfer deutlich höher liegt als die Mindestanzahl der namentlich identifizierten Toten.<ref>Quellen:<br />
* Alessandra Kersevan: ''Lager italiani. Pulzia etnica e campi di concentramento fascisti per civili jugoslavi 1941–1943.'' Rom 2008, S. 73 (italienisch);<br />
* Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 282;<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338;<br />
* Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Paderborn 2004, S. 342.</ref> In einem zeitgenössischen Bericht erklärte der [[Liste der Bischöfe von Krk|Bischof von Krk]], Josip Srebrnić, während seinem Aufenthalt im Vatikan<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 258 f.</ref> am 5. August 1943:<br />
: „In Arbe, auf dem Gebiet meiner Diözese, wo Anfang Juli 1942 ein Internierungslager unter den schlimmsten vorstellbaren Bedingungen eröffnet wurde, sind nach den vorhandenen Aufzeichnungen bis zum April dieses Jahres mehr als 1.200 Internierte umgekommen. Augenzeugen, die bei den Beerdigungen geholfen haben, berichten jedoch mit Sicherheit, dass die Zahl der Toten in dieser Zeit mindestens 3.500, wahrscheinlich aber 4.500 und mehr beträgt [...].“<ref>Zitiert nach Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 118 f.</ref><br />
<br />
Die jugoslawische [[Staatskommission zur Feststellung von Verbrechen der Okkupanten und ihrer Helfer|Staatskommission DKZ]], die für die Untersuchung von Kriegsverbrechen der deutschen und italienischen Besatzungsmacht zuständig war, bezifferte nach dem Zweiten Weltkrieg die Zahl der im Konzentrationslager Rab verstorbenen Menschen auf 4641 Personen.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338.</ref> Der italienische Historiker Giuseppe Piemontese (1946) legte bereits kurz nach Kriegsende eine Studie über die Besatzungspolitik Italiens in der Provinz Lubiana vor, in welcher er beträchtliche Teile des in Jugoslawien gegen italienische Kriegsverbrecher zusammengetragenen Materials berücksichtigte. Dabei sprach Piemontese von „über 4700“ Menschen, die „an Erschöpfung starben oder vom Kommandanten, Oberstleutnant Cuiuli, mit voller Absicht zu Tode gebracht wurden“.<ref>Giuseppe Piemontese: ''Ventinove mesi di occupazione italiana nella provincia di Lubiana. Considerazioni e documenti.'' o.&nbsp;O. 1946, S. 5; zitiert nach Osti Guerrazzi: „Schonungsloses Handeln gegen den bösartigen Feind.“ S. 563 u. 557.</ref> In zwei Zeitungsartikeln jugoslawischer Emigranten kursierte die Zahl von 4842 Toten auf Rab,<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 258.</ref> und schließlich sprach der Kommandeur der Rab-Brigade und langjährige Leiter des Gedenkfriedhofs auf Rab, Franc Potočnik, wiederholt von 5000 Toten im Konzentrationslager.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 126 f.</ref><br />
<br />
Diese höheren Angaben bzw. Maximalangaben werden weiterhin von Historikern und in anderweitigen Publikationen aufgegriffen. So hält [[Aram Mattioli]] (2006) in einem Aufsatz für die ''[[Die Zeit]]'' über die italienische Besatzungspolitik in Jugoslawien „sogar 3000“ slawische Todesopfer auf Rab für möglich, die an den erlittenen Entbehrungen starben.<ref>Aram Mattioli: ''Unter Italiens Stiefel.'' In: ''Die Zeit'' vom 19. Oktober 2006.</ref> Rolf Wörsdorfer (2004) nennt insgesamt „3000, vielleicht sogar 4500 Personen“, die in dem Lager umgekommen sind.<ref>Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Paderborn 2004, S. 342.</ref> Paul Mojzes (2011) nennt in seiner Monographie über die Geschichte von Genoziden und Ethnischen Säuberungen auf dem Balkan die Zahl von 4400 Umgekommnen auf Rab.<ref>Paul Mojzes: ''Balkan Genocides. Holocaust and Ethnic Cleansing in the Twentieth Century.'' 2011, S. 67 und 71.</ref> Im Dokumentarfilm ''[[Fascist Legacy]]'' (1989) wird vom kroatischen Historiker Ivan Kovačić ebenfalls die Zahl der jugoslawischen Staatskommission (DKZ) von 4641 Toten für die wahrscheinlichere gehalten.<ref>Ulrich Beuttler: ''Über den Dokumentarfilm „Fascist Legacy“ von Ken Kirby. Ein Beitrag zur längst fälligen Diskussion über die italienischen Kriegsverbrechen.'' In: ''GR/SR 13'' (2004), 2, S. 175–188, hier S. 183</ref> Matthias Koeffler und Matthias Jacob (2014) nennen in Kroatien-Reiseführer die gerundete Zahl 4600 Toten.<ref>Matthias Koeffler, Matthias Jacob: ''Kroatien. Unterwegs zwischen Istrien, Slawonien und Dalmatien.'' Trescher Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-89794-240-0, S. 295.</ref> Karlo Ruzicic-Kessler (2017) geht mit Bezug auf die Arbeit des kroatischen Historikers Mladen Grgurić (2005) von insgesamt rund 5.000 Toten aus, und fügt an, dass die „beinahe 50 Prozent der durchschnittlichen Gesamtzahl an Internierten ausmacht“.<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 282.</ref><br />
Die Homepage des Gedenkfriedhofs Kampor gibt aktuell die Gesamtzahl von rund 2000 Toten an.<ref>''Memorial Cemetery Kampor, Island of Rab.'' In: memorialmuseums.org, zuletzt abgerufen am 7. Januar 2025 ([https://www.memorialmuseums.org/memorialmuseum/gedenkfriedhof-lager-kampor-auf-der-insel-rab online]).</ref><br />
<br />
=== Vergleiche mit nationalsozialistischen Konzentrationslagern ===<br />
[[Datei:Inmate at the Rab concentration camp.jpg|mini|300px|Janez Mihelčič (1885–1943), ein slowenischer Insasse von Rab, auf einem Lagerfoto von 1942. Der stark abgemagerte Mihelčič verstarb am 4. Februar 1943 in Lagerhaft. Italienische Historiker gaben das Foto in den 1960er Jahren fälschlicherweise als ein Bild aus dem deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aus, das einen Häftling „nach der Befreiung“ zeige.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. xiii, 8 u. 150.</ref>]]<br />
[[Datei:Inmate children at the Rab concenctration camp.jpg|mini|300px|Jugoslawische Kinderhäftlinge im Konzentrationslager Rab (1942). Das Foto wurde von italienischen Historikern in den 1960er Jahren fälschlicherweise mit der Bildbeschreibung „Kinder von Auschwitz“ veröffentlicht.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. xiii, 8 u. 146.</ref> Von insgesamt rund 1000 jugoslawischen Kindern auf Rab verstarben bis Ende November 1942 mindestens 104 in Lagerhaft. Die meisten von ihnen waren unter zwei Jahren alt.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336.</ref>]]<br />
<br />
Historiker stimmen darin überein, dass das Konzentrationslager Rab das größte und „für Slawen“ das berüchtigste und brutalste Lager war, dass das faschistische Italien auf dem Boden des von den Achsenmächten besetzten Jugoslawiens betrieben hat.<ref>Quellen:<br />
* H. James Burgwyn: ''Empire on the Adriatic: Mussolini's Conquest of Yugoslavia 1941–1943.'' New York 2005, S. 289;<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 54;<br />
* Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 257;<br />
* Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 62 f. (kroatisch);<br />
* Aram Mattioli: ''Unter Italiens Stiefel.'' In: ''Die Zeit'' vom 19. Oktober 2006;<br />
* Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 279;<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336;<br />
* James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 174 u. 177.</ref> Der physische Zustand der slawischen Lagerinsassen machte auf den erhaltenen zeitgenössischen Fotos einen derart entsetzlichen Eindruck, dass diese Bilder nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt mit Fotos aus den nationalsozialistischen [[Vernichtungslager]]n in Osteuropa verwechselt und vermischt wurden.<ref>Vgl. Robert S. C. Gordon im Einführungstext zu Carlo Spartaco Capogreco: Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943). New York 2019 [2004], S. xiii.</ref><br />
<br />
Tatsächlich wird Rab aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate von einigen Historikern (vor allem jugoslawischen, aber auch anderen) als Vernichtungslager eingeordnet, und sogar mit den von [[NS-Staat|NS-Deutschland]] betriebenen Todeslagern verglichen.<ref>Quellen:<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 118 u. 243;<br />
* Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 60 (kroatisch);<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338;<br />
* James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 177.</ref> Der [[Wien]]er Historiker Karlo Ruzicic-Kessler (2017) etwa, der ausgehend von der höchstmöglichen Opferzahl (5.000 Tote) eine maximale Todesrate von knapp 50 Prozent der durchschnittlich inhaftierten Häftlinge annimmt, sieht die harten Lebensbedingungen als Beleg für eine Tötungsabsicht der italienischen Besatzungsmacht an und merkt an: „Zwar gab es in keinem italienischen Konzentrationslager Gaskammern zur gezielten Vernichtung von Gefangenen, aber das Endziel der italienischen Politik gegenüber den südslawischen Internierten scheint klar gewesen zu sein.“<ref>Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Berlin/Boston 2017, S. 282.</ref> Der französische Historiker Jean-Arnault Deren (2024) spricht bezogen auf die Lagersituation auf Rab von „Bedingungen, die jenen in einem Vernichtungslager ähnelten“.<ref>Französisches Originalzitat: ''des conditions s'apparentant à celle d'un camp d'extermination'', vgl. Jean-Arnault Déren: ''Adriatique. La mer sérénissme.'' Nevicata, Brüssel 2024, S. 36.</ref><br />
<br />
In der Fachwelt wird Rab jedoch von den meisten Historikern gegenwärtig ''nicht'' als Vernichtungslager betrachtet.<ref>Quellen:<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 61 u. 243;<br />
* Tobias Hof: ''Extreme Violence and Military Identity. The Italians in the Balkans (1941–1943).'' In: ''Zeitschrift für Genozidforschung'', Jahrgang 16, Heft 1, 2018, S. 57–84, hier S. 64;<br />
* Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 7;<br />
* Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 91;<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338 f.</ref> Als Argumente gegen eine Klassifizierung als Vernichtungslager führen Forscher vor allem zwei Punkte an:<br />
# Die Tatsache, dass die Insassen von Rab nur im Einzelfall gezielt umgebracht wurden. Die Opfer der faschistischen [[Zivilinternierter|Zivilinternierung]] waren keiner gezielten Erschöpfung durch Ausbeutung ihrer Sklavenarbeit ausgesetzt, sondern starben überwiegend an den Entbehrungen des Winters, an Krankheiten und schlechter Ernährung.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 61; Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 91.</ref><br />
# Eine gezielte generelle Tötungsabsicht der Italiener auf Rab gilt nach bisherigem Forschungsstand auch gegenüber den slawischen Häftlingen als nicht nachgewiesen.<ref>Vgl. dazu Sanela Schmid: ''Rezension zu: Ruzicic-Kessler, Karlo: Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943. Berlin 2017, ISBN 978-3-11-054141-0.'' In: ''H-Soz-Kult'', 18. Dezember 2018 ([https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26394 online]); Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338 f.; Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S. 91.</ref> Zwar erklärte der junge Generalsekretär der faschistischen Partei, Aldo Vidussoni, am 5. Januar 1942 gegenüber Außenminister [[Galeazzo Ciano]] die Absicht, alle eine Million Slowenen im gesamten italienischen Herrschaftsbereich umbringen zu wollen. Diese radikalen Pläne wurden von Ciano jedoch nicht unterstützt und niemals umgesetzt,<ref>Tobias Hof: ''Extreme Violence and Military Identity. The Italians in the Balkans (1941–1943).'' In: ''Zeitschrift für Genozidforschung'', Jahrgang 16, Heft 1, 2018, S. 57–84. S. 64;<br>Die Originalquelle findet sich im Tagebucheintrag vom 5. Januar 1942 bei Galeazzo Ciano: ''The Ciano Ciaries: 1939-1943'' (Hg. von Hugh Gibson und eingeleitet von Sumner Welles). Simon Publications, 2001, S. 432.</ref> sodass Tobias Hof (2016) betont, dass eine „italienische Version des [[Kommissarbefehl]]s oder des [[Generalplan Ost|Generalplans Ost]]“ bisher von Historikern nicht gefunden wurde.<ref>Tobias Hof: ''“Legionaries of Civilization:” The Italian Military, Fascism and Extreme Violence (1922–1943).'' In: Tobias Hof (Hg.): ''Empire, Ideology, Mass Violence: The Italian Military, Fascism and Extreme Violence (1922–1943).'' München 2016, S. 97–140, hier S. 103 f.</ref><br />
<br />
Die Schwächung der internierten Menschen war zwar von der faschistischen Besatzungsmacht durchaus beabsichtigt. So erklärte der italienische General [[Gastone Gambara]], verantwortlich für das XI. Armeekorps in Slowenien, am 17. Dezember 1942 auf die scharfe Kritik an der Mangelernährung auf Rab durch das jugoslawische Rote Kreuz: „Es ist logisch und angemessen, dass ein Konzentrationslager kein Verfettungslager meint. Krankes Individuum = ruhiges Individuum.“<ref>Zitiert nach Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 116.</ref> Carlo Spartago Capogreco (2004) sieht in dieser knappen Äußerung jedoch die Philosophie hinter den Slawenlagern zusammengefasst, die nicht auf Vernichtung abzielte: „Der Hunger, unter dem die Internierten litten, und die unvermeidlichen Krankheiten, die er verursachte, waren, auch wenn sie nicht unbedingt von den Italienern geplant waren, dennoch ein mächtiger Verbündeter bei der Kontrolle von Tausenden von Menschen, die in den Lagern gefangen gehalten wurden.“<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 116.</ref> Auch die Historikerin Sanela Schmid (2020) verneint einen italienischen Liquidierungswillen mit dem Argument, dass die italienische Lagerleitung sich sehr wohl immer wieder bemühte, zumindest den katastrophalsten Bedingungen entgegenzuwirken, etwa durch die Organisation von Kleidung oder höheren Essensrationen im Winter 1942/43.<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 336–339.</ref> Die Ursache für die trotzdem sehr hohen Sterberaten auf Rab erklärt Schmid wie folgt: „Doch auch wenn die physische Vernichtung der Insassen nicht gewollt war, hatte die 2. Armee durch die Internierung die Verantwortung für diese Menschen übernommen, der sie nicht gerecht wurde. Letztlich wurden sie Opfer der faschistischen Selbstüberschätzung gepaart mit der Geringschätzung für das Leben und Überleben der Internierten.“<ref>Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Berlin/Boston 2020, S. 338 f.</ref><br />
<br />
Gegen ein gezielte Liquidierung auf Rab wendet sich auch der italienische Medienhistoriker und Schriftsteller [[Antonio Scurati]] (2024) im vierten Teil seiner fünfbändigen Romanbiographie<ref>Christiane Pöhlmann: ''Der unaufhaltsame Abstieg des Benito M.'' In: ''FAZ'' am 17. Oktober 2024 ([https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-des-vierten-bands-von-antonio-scuratis-romanzyklus-m-110034668.html online]).</ref> „M“ über Benito Mussolini. Im schriftstellerisch-historiographischen Stil zieht Scurati zum Konzentrationslager Rab folgendes Fazit:<br />
: „Hier, zwischen Sand und Verwesung, Matratzen aus Stoppeln und Stacheldrahtspiralen, gibt es keine geplante Vernichtung, gibt es keine Methode, keine unmenschliche Effizienz. Nur eine unorganisierte Konzentration von Männern, Alten, Frauen und Kindern, zusammengepfercht ohne irgendein Kriterium, in aller Eile aus ihren Häusern geholt und wie Vieh zusammengetrieben mit dem einzigen Ziel, sie von den Rebellen zu trennen und den Partisanen jede mögliche Unterstützung zu nehmen, und sie dann in ihrem Schmutz verrotten zu lassen. In Rab ist der Tod nur eine banale Begleiterscheinung der Nachlässigkeit, der bescheuerten Kluft zwische Norm und Praxis. Ethnische Säuberung auf Italienisch.“<ref>Antonio Scurati: ''M. Das Buch des Krieges.'' Aus dem Italienischen von Verena von Koskull und Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, ISBN 978-3-608-98827-7, S. 523 f.</ref><br />
<br />
Abgesehen von NS-Vernichtungslagern wie [[KZ Auschwitz-Birkenau|Auschwitz-Birkenau]] oder [[Vernichtungslager Treblinka|Treblinka]], mit denen Rab allgemein als nicht vergleichbar gilt, wird das italienische Lager von Historikern dennoch zu den „schlimmsten Konzentrationslagern der Welt“ (Božidar Jezernik) gezählt, insbesondere bezogen auf seine Sterblichkeitsrate im Verhältnis zur Zahl der Internierten und im Verhältnis zu seiner vergleichsweise kurzen Betriebsdauer von 13 Monaten.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 7 u. 36.</ref> Gleichzeitig wird das „Slawenlager“ mit seiner minimalen Todesrate von rund 20 Prozent von zahlreichen Historikern dem nationalsozialistischen [[KZ Buchenwald]] gegenübergestellt. Dabei wird ausgehend vom Standardwerk der italienischen Forschung von Carlo Spartaco Capogreco meist angeführt, dass die Sterberate auf Rab – zumindest zeitweise – sogar höher gelegen habe als jene in Buchenwald mit 15 Prozent.<ref>Quellen:<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. xiii u. 243;<br />
* Patrick Bernhard: ''Rezesion von Sven Reichardt / Armin Nolzen (Hgg.): Faschismus in Italien und Deutschland.'' In: ''Sehenspunkte'', Ausgabe 6 (2006), Nr. 9 ([https://www.sehepunkte.de/2006/09/8954.html#fna1 online]);<br />
* Tobias Hof: ''Extreme Violence and Military Identity. The Italians in the Balkans (1941–1943).'' In: ''Zeitschrift für Genozidforschung'', Jahrgang 16, Heft 1, 2018, S. 57–84, hier S. 64;<br />
* Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S. 176–200, hier S. 189.</ref> Der italienische Historiker [[Gianluca Falanga]] (2008) zieht ein ähnliches Fazit auch im Vergleich zwischen Rab und dem deutschen [[KZ Dachau]].<ref>Vgl. Gianluca Falanga: ''Mussolinis Vorposten in Hitlers Reich. Italiens Politik in Berlin 1933–1945.'' C.H.Links Verlag, Berlin 2008, S. 193.</ref><br />
Insgesamt betrachtet lag die Sterberate in Buchenwald laut aktuellem Forschungsstand mit insgesamt 20,2 Prozent tatsächlich in etwa gleichauf mit jenem von Rab.<ref>Für das KZ Buchenwald geht man nach aktuellem Forschungsstand von mindestens 277.800 Häftlingen aus, von welchen mindestens 56.000 umgekommen sind, was einer Todesrate von 20,2 Prozent entspricht. Vgl. ''Fakten und Zahlen zum KZ Buchenwald.'' In: buchenwald.de, zuletzt abgerufen am 8. Januar 2025 ([https://www.buchenwald.de/geschichte/chronologie/konzentrationslager/Zahlen-und-Fakten online]).</ref> Von der neueren Forschung wird Rab als ein Beweis dafür angeführt, dass während des Zweiten Weltkrieges die italienischen Konzentrationslager auf dem Balkan durchaus „das gleiche Niveau“ ([[Mark Mazower]]) erreichen konnten wie manche deutsche Konzentrationslager.<ref>Mark Mazower: ''Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus.'' München 2009, S. 326.</ref><br />
<br />
=== Vergleiche mit faschistischen Todeslagern in Afrika ===<br />
[[Datei:El Abiar Concentration Camp.jpg|miniatur|300px|Das Konzentrationslager El Abiar, betrieben vom faschistischen Italien während des [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg#Genozid in der Cyrenaika (1929–1934)|Genozids in der Kyrenaika]] (1930–1934). Historiker sehen offensichtliche Paralellen zwischen den italienischen „Slawenlagern“ auf dem Balkan den früheren Todeslagern der Faschisten in Libyen und Äthiopien]]<br />
Historiker wie Carlo Spartaco Capogreco (2004) oder James Walston (1997), die Detailstudien zur Geschichte der Konzentrationslager des faschistischen Italien vorgelegt haben, weisen auf offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen dem Konzentrationslager Rab und anderen italienischen „Slawenlagern“ auf dem Balkan einerseits und den von den Faschisten betriebenen Koloniallagern während des [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg#Genozid in der Cyrenaika (1929–1934)|Genozids in der libyschen Kyrenaika]] (1930–1934) und während des [[Abessinienkrieg]]s (1935–1941) andererseits hin.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps. Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 70; James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 181.</ref> So handle es sich in beiden Fällen um Konzentrationslager in Form von [[Zeltlager#Beschreibungen|Zeltstädte]]n, die Erstens dem Zweck dienten, die Partisanen und Widerstandkämpfer in den besetzten Gebieten von der sie unterstützenden örtlichen Bevölkerung zu trennen, in dem diese in großen Teilen eingesperrt wurde. Zweitens dienten die faschistischen Konzentrationslager sowohl in Afrika als auch auf dem Balkan einer Politik der „ethnischen Säuberung“, in deren Rahmen die einheimische Bevölkerung durch italienische Siedler ersetzt werden sollte.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps. Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 115 f. u. 136; James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 181.</ref><br />
<br />
Während des Genozids in der [[Kyrenaika]] wurden rund 100.000 libysche Araber von der italienischen Kolonialmacht auf [[Todesmarsch|Todesmärsche]] in die ersten von einem faschistischen Regime errichteten Konzentrationslager gezwungen, wo zwischen 1930 und 1934 etwa 40.000 Menschen überwiegend an Hunger und Krankheiten ums Leben kamen.<ref>Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Paderborn u. a. 2006, S. 146 f. u. 149 f; Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 10, 35 u. 51; Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010, S. 132 u. 134 f.</ref> Aufgrund der ihrer hohen Sterblichkeitsrate (rund 40 %) gelten unter Historikern mindestens die fünf größten und brutalsten dieser Konzentrationslager als „Todeslager“ bzw. „Vernichtungslager“.<ref>Quellen:<br />
* Ali Abdullatif Ahmida: ''Genocide in Libya: Shar, a Hidden Colonial History.'' London/ New York 2020, S. 9, 47 u. 61; <br />
* Angelo Del Boca: ''Faschismus und Kolonialismus. Der Mythos von den „anständigen Italienern“.'' In: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.): ''Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.'' Frankfurt am Main 2004, S. 193–202, hier S. 195 f.; <br />
* Roman Herzog: ''Zur Topographie des italienischen Lagerkosmos unter dem Faschismus. Ergebnisse des Forschungsprojekts www.campifascisti.it.'' In: Henning Borggräfe (Hrsg.): ''Freilegungen. Wege, Orte und Räume der NS-Verfolgung.'' Göttingen 2016, S. 106–118, hier S. 116 f.; <br />
* Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941.'' Zürich 2005, S. 51.</ref> Auch die während des Abessinienkrieges betriebenen [[Konzentrationslager Danane|Lager Danane]] und [[Konzentrationslager Nocra|Nocra]] werden als Todeslager eingeordnet, in denen tausende äthiopische Männer, Frauen und Kindern starben.<ref>Quellen:<br />
* Mariana de Carlo: ''Colonial internment camps in Africa Orientale Italiana. The case of Dhanaane (Somalia).'' In: Lars Berge, Irma Taddia (Hrsg.): ''Themes in African Modern History and Culture. Festschrift for Tekeste Negash.'' Libreriauniversitaria.it, Padua 2013, S. 193–208, hier S. 203 f; <br />
* Aram Mattioli: ''Eine Veritable Hölle.'' In: ''Die Zeit'', Nr. 51/2001, 13. Dezember 2001; <br />
* Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy’s National Shame.'' London 2017, S. 234.</ref><br />
Laut Carlo Spartaco Capogreco (2004) besteht die Möglichkeit, dass sich die faschistischen Lager für Jugoslawen im Falle eines längeren Bestehens noch mehr in Richtung der Konzentrationslager Italiens auf dem afrikanischen Kontinent hätten entwickeln können.<ref>Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps. Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' New York 2019 [2004], S. 115 f.</ref><br />
<br />
=== Historiographische Aufarbeitung ===<br />
Wichtige Arbeiten der slowenischen Forschung sind etwa die Arbeiten von Božidar Jezernik, der erstmals 1983 seine Monographie ''Boj za obstanek'' („Der Kampf ums Überleben“) veröffentlichte,<ref>Božidar Jezernik: ''Boj za obstanek. O življenju Slovencev v italijanskih koncentracijskih taboriščih'' [= Kampf ums Überleben. Über das Leben der Slowenen in den italienischen Konzentrationslagern]. Založba Borec, Ljubljana 1983. (slowenisch)</ref> die 1997 in einer aktualisierten Auflage unter einem neuen Titel<ref>Božidar Jezernik: ''Italijanska koncentracijska taborišča za Slovence med 2. svetovno vojno'' [= Italienische Konzentrationslager für Slowenen während des 2. Weltkrieges]. Borec, Ljubljana 1997. (slowenisch)</ref> erschien und 1999 unter dem Titel ''Struggle for Survival''<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Drušvto za preučevanje zgodovine, literature i antropologije, Ljubljana 1999 [slowenische Originalausgabe 1997].</ref> erstmals in die englische Sprache übersetzt wurde.<ref>Literaturangaben lt. Capogreco: ''Mussolini's Camps.'' S. 274.</ref> Der slowenische Historiker Tone Ferenc veröffentlichte im Jahr 2000 seine Monographie ''Rab-Arbe-Arbissima'',<ref>Tone Ferenc: ''Rab-Arbe-Arbissima: konfinacije, racije in internacije Ljubljanski pokrajini 1941–1943: dokumenti'' [= Rab-Arbe-Arbissima: Häftlinge, Razzien und Internierung in der Provinz Ljubljana 1941–1943: Dokumente]. Inštitut za novejšo zgodovino in Društvo piscev zgodovine NOB, Ljubljana 2000.</ref> die ein Jahr später auch in italienischer Sprache veröffentlicht wurde.<br />
Jezernik (1997) beklagte nach der Durchsicht der [[Brockhaus Enzyklopädie]], immerhin einer „Weltenzyklopädie“, dass im dortigen Eintrag über „Konzentrationslager“ ausschließlich die vom bolschewistischen und nationalsozialistischen Regime errichteten Lager beschrieben wurden:<br />
: „Gab es also keine anderen, oder waren die italienischen Lager, die die Slowenen nur allzu gut kannten – Rab, Gonars, Padua, Treviso, Renicci und Visco –, so verschieden von den deutschen, dass es sich nicht lohnt, sie in einer Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu erwähnen? Das Konzentrationslager Rab (für Slowenen) [...] ist der Welt nur als Lager für Juden bekannt, aber diese starben nicht auf Rab [...].“<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 7.</ref><br />
Ebenso kritisierte Jezernik die Tatsache, dass italienische Delegierte im [[Europäisches Parlament|Europäischen Parlament]] in den 1990er Jahren zwar die nach dem Zweiten Weltkrieg durch slowenische Partisanen an italienischen Zivilisten begangenen [[Foibe-Massaker]] kritisierten, diese Politiker sich jedoch gleichzeitig über deren Vorgeschichte mit italienischen Kriegsverbrechen, etwa dem Konzentrationslager Rab, ausschweigen würden.<ref>Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Ljubljana 1999 [1997], S. 7.</ref> Der kroatische Historiker Ivan Kovačić (2016) bezeichnet die getöteten Insassen von Rab als „Opfer eines faschistischen Folterlagers“ (''žrtva ovog fašističkog mučilišta'').<ref>Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97, hier S. 63 (kroatisch).</ref><br />
<br />
Zum Stand der italienischen Forschung in den 1990er Jahren hält James Walston (1997) fest:<br />
: Was die Balkangegend betrifft, so herrscht fast völliges Schweigen; das Wenige, das veröffentlicht wurde, stammt von Vereinen oder kleineren Verlagen und hat keine große Verbreitung gefunden. Die Kriege und die offensichtlichen Grausamkeiten, die sich seit 1991 in Ex-Jugoslawien ereignet haben, stellen die italienischen Aktionen im Zweiten Weltkrieg in den Schatten und sind auch zeitlich offensichtlich näher.<ref>James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 179.</ref><br />
<br />
Walston sieht darüber hinaus auch in der innenpolitischen Entwicklung Italiens in den 1990er Jahren einen Grund für die fortdauernde Verdrängung der faschistischen Vergangenheit. So versuchte der neofaschistische [[Movimento Sociale Italiano|MSI]] unter [[Gianfranco Fini]] eine breitere Wählerschicht anzusprechen und politisch anschlussfähiger zu werden. Zu diesem Zweck bezeichneten die Neofaschisten einerseits Mussolini als „den größten Staatsmann des Jahrhunderts“, andererseits versuchten sie Mussolinis negative Rolle herunterzuspielen.<ref>James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183, hier S. 179 f.</ref><br />
<br />
Die italienische Geschichtsschreibung befand sich bei der Vergangenheitsbewältigung des italienischen Faschismus lange im Rückstand, wofür einerseits mangelnde Sprachkenntnisse, vor allem aber auch Probleme des Quellenzugangs insbesondere in den Militärarchiven verantwortlich gemacht werden. Erste Pionierarbeit über die italienischen Kriegsverbrechen auf dem Balkan lieferten in den 1960er Jahren die Bücher von [[Enzo Collotti]] und [[Teodoro Sala]], jedoch hat erst in jüngster Zeit eine neue Generation von Historikern wie [[Davide Rodogno]], [[Lidia Santarelli]], [[Carlo Spartaco Capogreco]], [[Costantino Di Sante]], [[Brunello Mantelli]], [[Eric Gobetti]] und [[Filippo Focardi]] begonnen, den verschiedenen Aspekten der italienischen Besatzungsherrschaft nachzugehen und dabei lange verdrängte Tatsachen wie die Kriegsverbrechen ans Licht zu bringen. Diese Forschungen, so die Einschätzung von Filipo Focardi (2007), finden in der öffentlichen Meinung erst seit den 2000er Jahren langsam Beachtung, nachdem über Jahre hinweg nur Zeitungen der Linken wie ''l’Unità'' oder ''il Manifesto'' darüber berichtet und damit die italienischen Untaten auf dem Balkan und in Afrika öffentlich angeklagt hatten. So sind in den letzten Jahren beispielsweise zwei an ein breites Publikum gerichtete Bücher von [[Angelo Del Boca]] und [[Gianni Oliva]] erschienen, die den Mythos vom guten Italiener zerstören. Vor allem Oliva richtet unter Berücksichtigung neuester historiographischer Ergebnisse sein Augenmerk auf die italienischen Kriegsverbrechen auf dem Balkan und die unterbliebenen Prozesse gegen die Täter.<ref>Filippo Focardi: ''Italien als Besatzungsmacht auf dem Balkan: Der Umgang mit Kriegserinnerung und Kriegsverbrechen nach 1945.'' In: Jörg Echternkamp, Stefan Martens (Hg.): ''Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung.'' Paderborn 2007, S. 163–174, hier S. 174.</ref><br />
<br />
Zur Aufarbeitung in Italien konstatiert Amedeo Osti Guerrazzi (2005):<br />
: „In Italien ruft das Wort ‚Konzentrationslager‘ nach wie vor Assoziationen an den NS-Staat hervor, weil Italiener, Juden und Militärinternierte nach dem 8. September 1943 Opfer nationalsozialistischer Brutalität wurden. Daß aber auch Italiener ein Konzentrationslagersystem geschaffen haben und in der Kleidung der Gefängniswärter und nicht der Opfer auftauchten, ist für die italienische öffentliche Meinung nur schwer zu akzeptieren. Den Mythos eines im Grundsatz ‚guten Italieners‘ [...] kann man mit dem deutschen Image von der ‚sauberen Wehrmacht‘ vergleichen. Diese Vorstellung ist ein tief verwurzelter Mythos, der nur sehr schwer zu korrigieren ist.“<ref>Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S. 176–200, hier S. 177.</ref><br />
<br />
Und auch Brunello Mantelli (2007) merkt kritisch an, dass es ihm „problematisch“ erscheine, dass die italienischen Jugendlichen und oft auch ihre Lehrer zwar zu Recht über deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz, [[KZ Mauthausen|Mauthausen]] oder Dachau sowie eventuell noch über die bolschewistischen Zwangsarbeitslager im [[Liste von Arbeitslagern im Kolymagebiet|Kolymagebiet]] Bescheid wüssten, dass sie jedoch „nichts oder fast nichts“ über Kriegsverbrechen des faschistischen Italiens wie das [[Massaker von Debre Libanos]] oder das Konzentrationslager Arbe (Rab) wüssten.<ref>Brunello Mantelli: ''Die verdrängte Erinnerung: Verfolgungspolitik und Kriegsverbrechen des faschistischen Italien.'' In: Christiane Liermann et al. (Hg.): ''Vom Umgang mit der Vergangenheit / Come Affrontare il Passato?'' Tübingen 2007, S. 77 f.</ref><br />
<br />
=== Gedenkfriedhof Kampor auf der Insel Rab ===<br />
Der ehemalige Lagerfriedhof, gelegen im nördlichen Teil der Insel Rab bei der Bucht von Kampor, wurde nach der Befreiung des Konzentrationslagers im September 1943 zunächst dem Zahn der Zeit überlassen. Im Jahr 1950 beauftragte dann das „Hauptkomitee des Verbandes der Kämpfer des nationalen Befreiungskampfes in Ljubljana“ eine studentische Arbeitsgruppe mit der Reinigung und Instandhaltung des schließlich „stark vernachlässigten“ Friedhofs. Zwei Jahre später beschloss das slowenische Hauptkomitee, dass zum zehnten Jahrestag der Lagerbefreiung und der Gründung der Rab-Brigade ein „würdiges Denkmal“ errichtet werden sollte. Dabei wurde betont, dass es sich bei dem Lagerfriedhof um „das größte Massengrab von Slowenen außerhalb ihrer engeren Heimat“ handelt, und dieses daher „ein schreiendes Dokument der vom italienischen Faschismus vor zehn Jahren begangenen Gräueltaten“ darstellt.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 118.</ref> Der Rat für den Bau des Denkmals auf der Insel Rab wurde beim „Hauptausschuss des Verbandes der Kämpfer des nationalen Befreiungskampfes in Ljubljana“ Ende 1952 gegründet. Seine Mitglieder waren ehemalige Rab-Häftlinge, darunter auch einige Mitglieder des Exekutivkomitees der [[Osvobodilna Fronta|slowenischen Befreiungsfront]] (OF) im Konzentrationslager Rab. Den Vorsitz des Rates führte der Kommandeur der ehemaligen Rab-Brigade, [[Franc Potočnik]], persönlich.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 120.</ref><br />
<br />
[[Datei:Edvard Ravnikar 1961.jpg|miniatur|Edvard Ravnikar (1961), der slowenische Architekt entwickelte das Konzept für den seit 1953 bestehenden Gedenkkomplex auf Rab]]<br />
Der „Rat für den Bau des Rab-Denkmals“ beauftragte den slowenischen Architekten [[Edvard Ravnikar]] (1907–1993) mit der Planung und Ausführung der Arbeiten am Denkmal. Die Kommission des Rates reiste Anfang Januar 1953 nach Rab, um den aktuellen Zustand zu begutachten und Vorarbeiten durchzuführen. Die ursprüngliche Idee war, ein monumentales [[Beinhaus]] zu errichten. Eine Begehung vor Ort ergab jedoch, dass die Aufgabe für den gegebenen Zeitraum zu umfangreich sein würde.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 121.</ref> Stattdessen nahm der Rat schließlich den Vorschlag für ein Denkmal in Form eines gepflegten Friedhofs an ([[Kroatische Sprache|kroatisch]]: ''Spomen-groblje Kampor'', deutsch ''Gedenkfriedhof Kampor''). Dieser wurde so gestaltet und entworfen, dass alle Elemente langlebig sind und keine besondere Pflege erfordern. Der langgestreckte [[Friedhof]] scheint in das Meer überzugehen, und wie der slowenische Schriftsteller Venceslav Winkler (1907–1975) schreibt: „Wenn man ihn betrachtet, geht der Blick direkt in die Heimat – zumindest können die Opfer an ihrem letzten Ruheort ihre Heimat sehen.“ Der Ort wurde in horizontalen Ebenen gestaltet, sodass Regenstürme den Boden nicht mehr [[Erosion (Geologie)|erodieren]], und erhielt zwei architektonische Akzente: eine Eingangsplattform und einen überdachten Raum für das Gedenkbuch, zwei Vitrinen und ein [[Mosaik|Wandmosaik]], das von dem Maler Marij Pregelj (1913–1967) geschaffen wurde. Pregeljs Kunstwerk fasst die ideologische Rhetorik der damaligen Zeit zusammen: Verschiedene Symbole der Gewalt (brennende Häuser, tote Tiere, Galgen, das faschistische [[Fasces|Liktorenbündel]]) und ihre Gegensätze (der [[Roter Stern|fünfzackige Stern]], [[Schornstein|Fabrikschornsteine]], der Berg [[Triglav]]) repräsentieren den Gegensatz zwischen Faschismus, Krieg und Verzweiflung auf der einen Seite und Sozialismus, Frieden und Hoffnung auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund stellte der Maler zwei abgemagerte männliche Figuren dar, von denen eine in Ketten lag, als Metaphern für den Kampf des sterbenden Gefangenen und die Stärke des Rebellen, der die Ketten, die seine Handgelenke fesselten, zerbricht.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 121 f.</ref><br />
<br />
<gallery mode="packed" heights="125" caption="Eindrücke aus dem Gedenkfriedhof Kampor"><br />
Rab konc1.jpg|Gedenktafel für die Opfer<br />
Rab concentration camp 16.jpg|Grabfeld<br />
Rab concentration camp 08.jpg|Grabfeld<br />
Spomen-područje Kampor, mozaik.jpg|Schrein mit Wandmosaik<br />
Rab concentation camp 7.jpg|Zentraler Obelisk des Gedenkfriedhofs<br />
Rab concentration camp 15.jpg|Jüdischer Teil des Lagers<br />
Rab concentration camp 13.jpg|Mausoleum, in dem sich das Wandmosaik befindet<br />
</gallery><br />
<br />
Der Gedenkfriedhof diente von Anfang an auch als ein Instrument von politisierter Erinnerungskultur. So lag der Hintergrund für das verstärkte Interesse jugoslawischer Behörden am Friedhof seit den 1950er Jahren auch in der internationalen Politik. Die ersten Nachkriegsjahre waren außenpolitisch vom [[Internationale Konflikte der Nachfolgestaaten Jugoslawiens#Konflikte mit Italien|Grenzkonflikt mit Italien]] um das [[Freies Territorium von Triest]] geprägt. Als die Westalliierten ohne Wissen und Zustimmung Jugoslawiens ankündigten, dass die Zone A des Gebietes der italienischen Verwaltung unterstellt werden sollte, leistete die jugoslawische Regierung heftigen Widerstand. Auf Massenprotestkundgebungen im ganzen Land nutzten die jugoslawischen Behörden die Erzählung über die slowenischen und kroatischen Opfer des brutalen Regimes im Konzentrationslager Rab als besonders wirksame Waffe der anti-italienischen Propaganda.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 118 f.</ref><br />
<br />
Die kulturhistorische Bedeutung des Gedenkkomplexes wurde von den Kuratoren des slowenischen Beitrags zur 9. [[Architekturbiennale Venedig|Internationalen Architekturausstellung in Venedig]] 2004 hervorgehoben. Damit wollten sie Edvard Ravnikar wieder als einen der großen Meister der Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorheben. Eine ergänzende Ausstellung mit dem Titel ''The Metamorphosis Of Memory: The Memorial Cemetery On The Island Of Rab (1953) By Edvard Ravnikar'' wurde im selben Jahr in der [[Slowenische Nationalgalerie|Slowenischen Nationalgalerie]] in Ljubljana gezeigt. Die Kuratoren der Ausstellung stellten den Architekten Ravnikar als Autor der modernen Stadtzentren von Ljubljana und [[Kranj]], als Stadtplaner für [[Nova Gorica]] und auch als Entwerfer des Gedenkkomplexes auf der Insel Rab vor, der „vielleicht sein lyrischstes Werk ist, das der ewigen Architektur gewidmet ist, die als poetische Erinnerung an die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde“.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 129.</ref><br />
<br />
[[Datei:Minister Šarec na Rabu nagovoril udeležence slovesnosti ob osvoboditve koncentracijskega taborišča Kampor 02.jpg|miniatur|300px|Kranzniederlegung im Gedenkfriedhof im Jahr 2022 durch den damaligen slowenischen Verteidigungsminister [[Marjan Šarec]]]]<br />
Heute finden an dem Wochenende, das dem 11. September am nächsten liegt, Gedenkveranstaltungen in der Gedenkstätte statt. Bei diesen Gelegenheiten legen Vertreter der kroatischen und slowenischen Behörden, der Gemeinden, der Verbände der Veteranen des antifaschistischen Kampfes und der Verbände der überlebenden Internierten sowie die Öffentlichkeit Kränze nieder und zünden Kerzen an. Das bis dahin eindrucksvollste Gedenken fand am 5. September 2020 statt, als der Präsident Sloweniens, [[Borut Pahor]], und der Präsident Kroatiens, [[Zoran Milanović]], an einer Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung ehemaligen italienischen Konzentrationslagers auf der Insel Rab teilnahmen. Die beiden Präsidenten legten einen Kranz am Denkmal für die Opfer des „italienischen faschistischen Terrors“ nieder. Im Anschluss an die Zeremonie besuchten die beiden Präsidenten eine Fotodokumentationsausstellung mit dem Titel ''Die letzten Zeugen – Erinnerungen der Internierten in den faschistischen Lagern Italiens''. Bei dieser Gelegenheit betonte der slowenische Präsident über die Internetplattform [[Twitter]] die Tatsache, dass beide Präsidenten zum ersten Mal gemeinsam an der Gedenkfeier teilnahmen, und „die Bedeutung der Freundschaft und das gegenseitige Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Erinnerung zu bewahren, was auch eine Mahnung sein sollte.“ Die slowenische Zeitung ''[[Primorski dnevnik]]'' erinnerte in ihrem Bericht über dieses Ereignis daran, dass „der Gedenkpark in Kampor [...] bisher noch von keinem offiziellen Vertreter Italiens besucht wurde“.<ref>Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134, hier S. 129.</ref><br />
<br />
[[Datei:Govor Zorana Milanovića ob 80. obletnici osvoboditve koncentracijskega taborišča Rab.webm|miniatur|300px|Auf Kroatisch gehaltene Rede des Präsidenten Kroatiens, [[Zoran Milanović]], zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Rab im Jahr 2023]]<br />
Am Samstag, den 9. September 2023, fand anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Rab eine Gedenkfeier statt, die vom Lagerkomitee Rab-Gonars der „Föderation der Kämpfervereinigungen für die Werte des nationalen Befreiungskampfes Sloweniens“ (''Zveza združenj borcev za vrednote narodnoosvobodilnega boja Slovenije'', kurz ZZB NOB) und der Stadt Rab organisiert wurde. Anlässlich des großen Jubiläums versammelten sich rund 1.000 Besucher aus Slowenien und Kroatien auf dem Kampor-Gedenkfriedhof. Der Präsident Kroatiens, Zoran Milanović, und die Präsidentin Sloweniens, [[Nataša Pirc Musar]], wandten sich an die Menge sprachen in ihren Botschaften über die Verpflichtung, an das Leid der Internierten zu erinnern und die Fortsetzung der internationalen Zusammenarbeit. Sie begrüßten die Renovierung der Gedenkstätte, für die Kroatien und Slowenien gemeinsam Mittel bereitstellen.<ref>''Održana komemoracija na Rabu'' [= Auf Rab abgehaltene Gedenkfeier]. In: documenta.hr, 9. September 2023, abgerufen am 27. März 2025 (kroatisch).</ref><br />
<br />
== Häftlinge ==<br />
Unter den Häftlingen waren<br />
* [[Thea Altaras]]<br />
* [[Mitja Brodar]]<br />
* [[Michael Maor]] mit seinen Eltern<br />
* [[Anton Vratuša]]<br />
* [[Jakob Finci]], wurde 1943 in diesem KZ geboren<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Circular C3]] zur Repression in Slowenien<br />
<br />
== Anhang ==<br />
=== Literatur ===<br />
* Carlo Spartaco Capogreco, Jens Hoppe: ''Arbe.'' In: ''The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume III: Camps and Ghettos under European Regimes Aligned with Nazi Germany''. Indiana University Press, Bloomington 2018, ISBN 978-0-253-02373-5, S. 540–542.<br />
* Carlo Spartaco Capogreco: ''Mussolini's Camps: Civilian Internment in Fascist Italy (1940–1943).'' Routledge Verlag, New York 2019 [italienische Originalausgabe 2004], ISBN 978-1-138-33308-6.<br />
* Mišo Deverić, Ivan Fumić: ''Hrvatska u logorima 1941–1943'' [= Kroatien in Lagern 1941–1943]. Savez antifašističkih boraca, Zagreb 2008. (kroatisch)<br />
* Daniel Carpi: [https://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft%20Word%20-%204803.pdf ''The Rescue of Jews in the Italian Zone of Occupied Croatia'']. Yad Vashem, Shoah Resource Center<br />
* Tone Ferenc: ''Rab-Arbe-Arbissima. Confinamenti-Rastrellamenti-Internamenti nella Provincia di Lubiana 1941–1943. Documenti.'' Institut za novejso zgodovino, Ljubljana 2001 [slowenische Originalausgabe 2000], ISBN 961-6386-01-8. (italienisch, [https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/ploneimport4_derivate_00001625/klinkhammer-ferenc_rab.pdf deutsche Rezension], [https://www.sistory.si/media/legacy/publikacije/1-1000/230/Prispevki_za_novejso_zgodovino_2002_1.pdf slowenische Rezension])<br />
* Mladen Grgurić: ''Talijanski koncentracioni logori u Hrvatskom primorio 1941–1943'' [= Die italienischen Konzentrationslager im kroatischen Küstengebiet 1941–1943]. Muzej grada Rijeke, Rijeka 2005. (kroatisch)<br />
* Herman Janež: ''Kampor na otoku Rabu: koncentracijsko taborišče = koncentracioni logor: 1942–1943.'' Taboriščni odbor Rab-Gonars pri Koordinacijskem odboru [žrtev] vojnega nasilja ZZB NOB Slovenije, Ljubljana 2008. (slowenisch)<br />
* Božidar Jezernik: ''Remaking the Heritage of the Italian Concentration Camp on the Island of Rab.'' In: ''Traditiones.'' 50/1, 2021, S. 107–134. ([https://www.researchgate.net/publication/358067493_Remaking_the_Heritage_of_the_Italian_Concentration_Camp_on_the_Island_of_Rab online])<br />
* Božidar Jezernik: ''Struggle for Survival: Italian Concentration Camps for Slovenes during the Second World War.'' Drušvto za preučevanje zgodovine, literature i antropologije, Ljubljana 1999 [slowenische Originalausgabe 1997], ISBN 961-90628-2-5.<br />
* Alessandra Kersevan: ''Lager italiani. Pulzia etnica e campi di concentramento fascisti per civili jugoslavi 1941–1943.'' Nutrimenti, Rom 2008, ISBN 978-88-88389-94-3. (italienisch)<br />
* Karlo Ruzicic-Kessler: ''Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941–1943.'' Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-054141-0.<br />
* Karlo Ruzicic-Kessler: ''An Italian Job: Italian War Crimes in Yugoslavia and the Consequences After World War II.'' In: ''Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas/History and Culture of South Eastern Europe.'' Band 11–12, 2010/12, 143–158.<br />
* Ivan Kovačić: ''Djelatnost predstavnika Katoličke crkve u spašavanju zatočenika logora Kampor na otoku Rabu 1942. – 1943. godine. Uz 50. obljetnicu smrti krčkog biskupa dr. Josipa Srebrnića'' [= Die Tätigkeit von Vertretern der katholischen Kirche bei der Rettung der Gefangenen des Lagers Kampor auf der Insel Rab in den Jahren 1942–1943. Zum 50. Todestag des Bischofs von Krk, Dr. Josip Srebrnić]. In: ''Krčki zbornik'', Nr. 74, 2016, S. 55–97. (kroatisch, [https://hrcak.srce.hr/file/411738 online])<br />
* Ivan Kovačić: ''Kampor 1942–1943: Hrvati, Slovenci i Zidovi u koncentracijskom logoru Kampor na otoku Rabu'' [= Kampor 1942–1943: Kroaten, Slowenen und Juden im Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab]. Verlag Adamic, Rijeka 1998. (kroatisch)<br />
* Amedeo Osti Guerazzi, Constantino di Sante: ''Die Geschichte der Konzentrationslager im faschistischen Italien.'' In: Sven Reichardt, Reinhard Nolzen (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich'' (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 21). Wallstein Verlag, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-939-2, S. 176–200.<br />
* Sanela Schmid: ''Deutsche und Italienische Besatzung im Unabhängigen Staat Kroatien 1941 bis 1943/45.'' Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-062031-3.<br />
* Giacomo Scotti: ''I massacri di luglio. La storia censurata dei crimini fascisti in Jugoslavia.'' Red Star Press, Rom 2017, ISBN 978-88-6718-112-4. (italienisch)<br />
* James Walston: ''History and Memory of the Italian Concentration Camps.'' In: ''The Historical Journal'', Band 40, Nr. 1, 1997, S. 169–183.<br />
<br />
=== Dokumentationen ===<br />
* ''Rab Concentration Camp, July 27, 1942–September 8, 1943.'' APIS Institute, Slovenia, August 2020 ([https://www.youtube.com/watch?v=QEaodVD9nJU&t=16s online])<br />
<br />
=== Weblinks ===<br />
{{Commonscat|Rab concentration camp|KZ Rab|audio=0|video=1}}<br />
* [http://worldcat.org/identities/lccn-n2003045877/ Kampor--Rab (Concentration camp)] in [[Worldcat]]<br />
* [https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/1208/Gedenkfriedhof-Lager-Kampor-auf-der-Insel-Rab Gedenkfriedhof Lager Kampor], Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa<br />
* [http://www.campifascisti.it/scheda_campo.php?id_campo=35 Campo di Concentramento Rab] auf ''I Campi Fascisti'' (italienisch)<br />
* [https://www.youtube.com/watch?v=rTRum_LDs3E Koncentracijski logor KAMPOR na otoku Rabu - Dokumentarni Film] (jugoslawisch)<br />
* Giancarlo Grazia: ''Il campo della morte: l’isola di Arbe'' [= Das Lager des Todes: die Insel Arbe]. In: ''Patria Indipendente'', Nr. 10 vom 28. November 2010. (italienisch, [https://www.patriaindipendente.it/longform/il-campo-della-morte-lisola-di-arbe/ online])<br />
* Infos & Karte bei documenta.hr ([https://documenta.hr/koncentracijski-logor-kampor-1942-1943/ online], kroatisch)<br />
<br />
=== Einzelnachweise ===<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Coordinate|NS=44.780|EW=14.719|type=landmark|region=HR-08}}<br />
<br />
[[Kategorie:Italienisches Konzentrationslager|Rab]]<br />
[[Kategorie:Italien im Zweiten Weltkrieg]]<br />
[[Kategorie:Rab]]<br />
[[Kategorie:Holocaust in Kroatien]]<br />
[[Kategorie:Jugoslawischer Widerstand 1941–1945]]<br />
[[Kategorie:Gegründet 1942]]<br />
[[Kategorie:Aufgelöst 1943]]<br />
[[Kategorie:Wikipedia:Artikel mit Video]]<br />
<br />
{{Schreibwettbewerb}}</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benito_Mussolini&diff=255675123Benito Mussolini2025-05-03T01:14:54Z<p>ImageUploader12345: /* Inszenierung und Realität der Herrschaft */ Sorry I don't speak German, hopr Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events.</p>
<hr />
<div>{{Weiterleitungshinweis|''Mussolini'' und ''Duce''|Siehe auch [[Mussolini (Begriffsklärung)]] und [[Adam Duce]].|mehrzahl=1}}<br />
[[Datei:Benito Mussolini colored.jpg|mini|Benito Mussolini (1940), Farbfoto von [[Henri Roger-Viollet]][[Datei:Benito Mussolini Signature.svg|rahmenlos|zentriert|hochkant=0.7|Unterschrift von Benito Mussolini]]]]<br />
'''Benito Amilcare Andrea Mussolini''' {{Audio|It-Benito Mussolini.ogg|anhören}} (* [[29. Juli]] [[1883]] in [[Predappio|Dovia di Predappio]], [[Provinz Forlì-Cesena|Provinz Forlì]]; † [[28. April]] [[1945]] in [[Mezzegra|Giulino di Mezzegra]], [[Provinz Como]]) war ein [[Königreich Italien (1861–1946)|italienischer]] [[Politiker]]. Er war von 1922 bis 1943 [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsident]] des [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreiches Italien]]. Als ''Duce del Fascismo'' („Führer des Faschismus“) und ''Capo del Governo'' („Chef der Regierung“) stand er ab 1925 als [[Diktatur|Diktator]] an der Spitze des [[Italienischer Faschismus|faschistischen Regimes in Italien]].<br />
<br />
Nach Anfängen bei der [[Sozialismus|sozialistischen]] Presse stieg Mussolini 1912 zum Chefredakteur von ''[[Avanti! (Zeitung)|Avanti!]]'' auf, dem Zentralorgan des [[Partito Socialista Italiano]] (PSI). Als er dort offen [[Nationalismus|nationalistische]] Positionen vertrat, wurde er im Herbst 1914 entlassen und aus dem PSI ausgeschlossen. Mit finanzieller Unterstützung der italienischen Regierung, einiger Industrieller und ausländischer Diplomaten gründete Mussolini bald darauf die Zeitung ''[[Il Popolo d’Italia]].'' 1919 gehörte er zu den Gründern der radikal nationalistischen und antisozialistischen [[Faschismus|faschistischen]] Bewegung, als deren '''Duce''' (von {{laS|dux}} ''Führer'') er sich bis 1921 etablierte.<br />
<br />
Im Oktober 1922 berief König [[Viktor Emanuel&nbsp;III.]] Mussolini nach dem [[Marsch auf Rom]] an die Spitze eines Mitte-Rechts-Koalitionskabinetts. Die faschistische Partei war durch Fusion mit der nationalkonservativen [[Associazione Nazionalista Italiana]] zur rechten Sammlungsbewegung geworden. Mit einer Wahlrechtsreform sicherte Mussolini ihr 1923/24 die Mehrheit der Parlamentssitze. In der [[Giacomo Matteotti|Matteotti]]-Krise 1924 knapp dem Sturz entgangen, legte er das Fundament der faschistischen Diktatur mit Ausschaltung des Parlaments, Verbot der [[Antifaschismus|antifaschistischen]] Presse und aller Parteien mit Ausnahme des [[Partito Nazionale Fascista|PNF]], Ersetzung der Gewerkschaften durch [[Korporatismus|Korporationen]], Aufbau einer [[Organizzazione di Vigilanza e Repressione dell’Antifascismo|politischen Polizei]] sowie Ernennung statt Wahl der Bürgermeister. Als Regierungschef und oft Inhaber mehrerer Ministerposten gleichzeitig erließ Mussolini [[Dekret]]e mit Gesetzeskraft und war formal nur dem Monarchen verantwortlich.<br />
<br />
Mussolinis Außenpolitik zielte auf eine Vormachtstellung im [[Mittelmeerraum]] und auf dem [[Balkanhalbinsel|Balkan]], wodurch früh ein Gegensatz zu Frankreich entstand. Bis Mitte der 1930er Jahre suchte er die Verständigung mit Großbritannien. 1929 beendete Mussolini mit den [[Lateranverträge]]n den Konflikt des Nationalstaats mit dem [[Papst]]tum. Dem [[Deutsches Reich 1933 bis 1945|deutschen]] Einflussgewinn in Mittel- und Südosteuropa trat er zunächst entgegen. Nach dem von den Westmächten nicht gebilligten und mit Wirtschaftssanktionen beantworteten italienischen [[Abessinienkrieg|Überfall auf Äthiopien]] sowie der [[Italienische Intervention in Spanien|Intervention Italiens]] im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] näherte sich Mussolini bis 1937 Deutschland an und schloss im Mai 1939 ein [[Stahlpakt|Militärbündnis]]. Am 10. Juni 1940 trat er – in der Annahme, der Krieg werde nur wenige Monate dauern – auf deutscher Seite in den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] ein. Die italienischen Angriffe auf britische Positionen [[Italienische Invasion Ägyptens|im östlichen Mittelmeer]] und [[Ostafrikafeldzug|in Ostafrika]] scheiterten jedoch ebenso wie der [[Griechisch-Italienischer Krieg|Angriff auf Griechenland]] im gleichen Jahr, wodurch Italien die Fähigkeit zu selbständiger Kriegführung („Parallelkrieg“) weitgehend verlor.<br />
<br />
Ab Herbst 1942 spitzte sich die politische, soziale und militärische Krise des Regimes rasch zu und untergrub Mussolinis persönliche Diktatur. Im Juli 1943 wurde er von oppositionellen Faschisten und Monarchisten gestürzt, die das Bündnis mit Deutschland lösen und einer antifaschistischen Massenbewegung zuvorkommen wollten. Aus der Haft befreit, stand er bis 1945 an der Spitze der [[Italienische Sozialrepublik|Italienischen Sozialrepublik]] (RSI), des faschistischen Marionettenstaates der deutschen Besatzungsmacht. In den letzten Kriegstagen wurde Mussolini von [[Partito Comunista Italiano|kommunistischen]] [[Partisan]]en festgenommen und hingerichtet.<br />
<br />
== Frühe Jahre (1883–1917) ==<br />
=== Familie, Kindheit und Jugend ===<br />
[[Datei:Predappio house.JPG|mini|Mussolinis Geburtshaus in [[Predappio]]]]<br />
<br />
Benito Mussolini war das erstgeborene Kind der Eheleute Alessandro (1854–1910) und Rosa Mussolini (geb. Maltoni, 1858–1905). Die Familie lebte im Schulhaus von Dovia, einem dörflichen Vorort von [[Predappio]]. Mussolinis Mutter, die Tochter eines kleinen Grundbesitzers, war hier seit 1877 als Grundschullehrerin tätig. Sie hatte den Handwerker Alessandro Mussolini im Januar 1882 gegen den Widerstand ihrer Eltern geheiratet. Er verdiente seinen Lebensunterhalt einige Jahre lang als Schmied, besaß nur geringe formale Schulbildung und wurde im Zuge seiner erfolglosen Arbeitssuche zum Alkoholiker. Im Gegensatz zu seiner katholischen, auch politisch konservativen Frau war Alessandro Mussolini aktiver Sozialist und genoss als Mitglied des Stadtrates und stellvertretender Bürgermeister eine gewisse Prominenz. Als einzige „Intellektuelle“ des Ortes besaß die Familie einen beachtlichen Einfluss, auch wenn sie kaum mehr begütert war als die Bauern und Landarbeiter in ihrer unmittelbaren Umgebung. Alessandro Mussolini hatte Werke von [[Karl Marx]] gelesen und verehrte in seinem politischen Denken italienische Nationalisten wie [[Giuseppe Mazzini|Mazzini]] und [[Garibaldi]], unter Einbezug von [[Sozialreform]]ern und [[Anarchismus|Anarchisten]] wie [[Carlo Cafiero]] und [[Bakunin]]. Die Vornamen seines ältesten Sohnes wählte er mit Blick auf [[Benito Juárez]], [[Amilcare Cipriani]] und [[Andrea Costa (Politiker)|Andrea Costa]]. Alessandro Mussolini zog sich bereits vor dem Tod seiner Frau aus der Politik zurück, pachtete etwas Land und betrieb in den letzten Jahren seines Lebens eine Gastwirtschaft in [[Forlì]].<br />
<br />
Benito Mussolini verließ im Alter von neun Jahren Dovia und wechselte, wohl arrangiert von seiner Mutter, auf eine Internatsschule der [[Oblaten des hl. Franz von Sales|Salesianer]] in [[Faenza]], die vor allem von Jungen aus Familien des städtischen Bürgertums der [[Romagna]] besucht wurde. Hier war Mussolini, der in dieser Umgebung nicht als gleichwertig akzeptiert wurde, immer wieder in handgreifliche Auseinandersetzungen mit Mitschülern verwickelt. Nachdem er bei einem Streit ein Messer gezogen hatte, wurde er nach zwei Jahren der Schule verwiesen. Auf der staatlichen Schule in [[Forlimpopoli]], die er fortan besuchte, entwickelte er sich zum „Musterschüler“. Er beendete sie 1901 mit einem Diplom, das ihn zur Erteilung von Unterricht an Elementarschulen berechtigte. 1900 war er dem ''[[Partito Socialista Italiano]]'' (PSI) beigetreten und befreundete sich dort mit dem späteren Antifaschisten Olindo Vernocchi.<br />
<br />
=== Politische Anfänge ===<br />
Nachdem der Versuch, mit Hilfe seines Vaters die Stelle des Gemeindesekretärs von Predappio zu erhalten, gescheitert war, trat Mussolini im Februar 1902 eine Lehrerstelle in [[Gualtieri (Emilia-Romagna)|Gualtieri]] an. Sein Vertrag wurde jedoch bereits im Juni gekündigt. Es ist unklar, ob dafür Auseinandersetzungen mit dem örtlichen Klerus, eine laxe Dienstauffassung Mussolinis oder die (verbürgte) Affäre mit einer verheirateten Frau verantwortlich waren.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London 2010, S.&nbsp;49.</ref><br />
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[[Datei:Benito Mussolini mugshot 1903.jpg|mini|Benito Mussolini auf einer Aufnahme der Schweizer Polizei, 1903]]<br />
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Einige Wochen später emigrierte Mussolini – wie etwa 50.000 andere Italiener im Jahr 1902 – in die [[Schweiz]]. Er arbeitete hier gelegentlich (in der Summe einige Wochen) als Bauarbeiter und Ladenhelfer, war wegen der Geldsendungen seiner Eltern aber nicht wie andere, häufig völlig mittellose Migranten auf regelmäßige Lohnarbeit angewiesen. Da er im Folgejahr der Einberufung zum Wehrdienst nicht nachkam, verurteilte ihn ein italienisches Militärgericht wegen Desertion. In der Schweiz trat er der Auslandsorganisation des PSI bei und schrieb schon nach kurzer Zeit regelmäßig für das dortige Parteiblatt ''L’Avvenire del Lavoratore.'' Auftritte vor Versammlungen italienischer Arbeitsmigranten zeigten sein Talent als politischer Redner und lenkten die Aufmerksamkeit nicht nur der Schweizer, sondern auch der französischen Polizei auf den „anarchistischen“ Agitator,<ref>Siehe Milza, Pierre, Mussolini, Paris 1999, S.&nbsp;66, 70.</ref> der mehrfach arrestiert wie auch ausgewiesen wurde.<ref name="Ehrendoktor" /> Mussolini fand bald Zugang zu dem Kreis um [[Giacinto Menotti Serrati]] und [[Angelica Balabanova|Angelica Balabanoff]], die ihn beide förderten. Von Balabanoff übernahm Mussolini wesentliche Elemente seines frühen politischen Weltbildes. Wie sie verstand er unter Marxismus vor allem „revolutionären“ Aktivismus.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;62.</ref> Seine fortan häufige Berufung auf Marx diente in erster Linie der innerparteilichen Abgrenzung vom Reformsozialismus der Richtung [[Filippo Turati]]s.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;54, 59.</ref> Mussolinis tatsächliche Beschäftigung mit dem marxistischen Denken blieb hier und später oberflächlich und eklektisch.<ref>Wolfgang Schieder: ''Benito Mussolini.'' München 2014, S.&nbsp;27.</ref><br />
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In der Schweiz<ref>Noëmi Crain Merz: [https://blog.nationalmuseum.ch/2025/04/mussolini-in-der-schweiz/ ''Mussolini und die Schweiz''] Im Blog des [[Schweizerisches Nationalmuseum|Schweizerischen Nationalmuseums]] vom 17. April 2025</ref> las Mussolini auch [[Syndikalismus|syndikalistische]] Schriften, insbesondere die [[Georges Sorel]]s. Dazu kam die Lektüre [[Henri Bergson]]s, [[Gustave Le Bon]]s, [[Max Stirner]]s und [[Friedrich Nietzsche]]s. 1904 studierte er ein Semester an der [[Universität Lausanne]] beim berühmten Soziologen [[Vilfredo Pareto]] und bei dessen Assistenten Pasquale Boninsegni.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;53.</ref> Argumentationen und Begriffe dieser Autoren platzierte Mussolini in seinen journalistischen Beiträgen unvermittelt neben marxistischen Kategorien, ohne deren theoretische Unvereinbarkeit zu erkennen.<ref>Karin Priester: ''Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen.'' Köln 1972, S.&nbsp;88 f.</ref> Trotz eines Entrüstungssturms in der Schweiz über den undemokratischen [[Kaiserreich Abessinien#Italienische Invasion und Zweiter Weltkrieg|Gewaltherrscher]] verlieh die Universität Lausanne zu ihrem 400-jährigen Jubiläum 1937 Mussolini auf Betreiben und aufgrund erfolgter eigenmächtiger Verlautbarungen Boninsegnis den [[Ehrendoktor]].<ref name="Ehrendoktor">Marc Tribelhorn: [https://www.nzz.ch/schweiz/mussolini-und-der-ehrendoktor-der-uni-lausanne-ld.1371228 ''Als Mussolini den Ehrendoktor der Uni Lausanne erhielt''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'' vom 3. April 2018</ref><br />
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Politisch vertrat Mussolini zwischen 1904 und 1914 im Kern den Standpunkt des revolutionären Syndikalismus, ohne allerdings persönlich syndikalistischen Organisationen anzugehören.<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;84–86. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;61.</ref> Früh schon zeigte sich in seinen Schriften die „Tendenz, gesellschaftliche Prozesse durch biologische Konzeptionen zu interpretieren (Art, Beseitigung der Schwachen, Auslese, Pflanze Mensch), was die allmähliche Aufgabe des marxistisch eindeutig definierten Begriffs der Klasse zugunsten der ‚Masse‘ vorbereitet.“<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;89.</ref> Dazu kam ein für einen sozialistischen Autor zumindest ungewöhnlicher, an Sorel geschulter Kult des [[Irrationalismus|Irrationalen]]:<br />
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{{Zitat<br />
|Text=Die sogenannten ‚seriösen‘ Menschen bilden den sozialen Ballast. Die Kultur ist das Werk der sogenannten ‚Wahnsinnigen‘.<br />
|Autor=Karin Priester<br />
|Quelle=''Faschismus''<ref>Zitiert nach Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;90.</ref>}}<br />
<br />
Gegen Ende des Jahres 1904 kehrte Mussolini nach Italien zurück. Seine Mutter starb kurz darauf. Zuvor schon war er der Einberufung zum Wehrdienst gefolgt, den er bis zum September 1906 in einem [[Bersaglieri]]-Regiment ableistete. Anschließend war er erneut als Lehrer tätig, zunächst in [[Tolmezzo]] und danach an einer katholischen Schule in [[Imperia (Ligurien)|Oneglia]]. Im November 1907 bestand er ein Examen an der [[Universität Bologna]] und qualifizierte sich damit als Französischlehrer. In Oneglia begann Mussolini, wieder für die sozialistische Presse zu schreiben. Seine Entlassung im Juli 1908 markierte das endgültige Scheitern als Lehrer; er zog daraufhin wieder zu seinem Vater nach Forlì.<br />
<br />
Nach Fürsprache von Serrati und Balabanoff übertrug man Mussolini im Januar 1909 die Stelle des Sekretärs der sozialistischen Partei im [[Österreich-Ungarn|österreichischen]] [[Trient]]. Zudem übernahm er die Redaktion des lokalen Parteiblatts. In Trient lernte er den [[Irredentismus|Irredentisten]] [[Cesare Battisti]] kennen und schrieb bald regelmäßig für dessen Zeitung ''Il Popolo.''<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;60.</ref> Anfang August 1909 wurde er Chefredakteur dieser Zeitung.<ref>{{ANNO|ibn|03|08|1909|9|Aus der Zeitungswelt}}</ref> Außerdem korrespondierte er mit [[Giuseppe Prezzolini]], dem Herausgeber der Zeitschrift ''[[La Voce]],'' von dem er sich offenbar [[Patronage|Protektion]] erhoffte.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;62 f.</ref> Mussolini begann in Trient, einen positiven Begriff der „Nation“ zu entwickeln, was in der italienischen sozialistischen Bewegung zu dieser Zeit ausgesprochen unüblich war und ebenso wie seine Verbindung zu Prezzolini darauf hindeutet, dass seine persönlichen Ambitionen schon zu dieser Zeit über den Rahmen der sozialistischen Partei hinausgingen.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;63">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;63.</ref><br />
<br />
Das Motiv des persönlichen Ehrgeizes gerade des jungen Mussolini wird in der Literatur oft hervorgehoben. Inzwischen gilt es als unstrittig, dass Mussolini mindestens so sehr von dem Bedürfnis, „irgendwie und irgendwo“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;57.</ref> aufzusteigen, wie von politischer Überzeugung angetrieben wurde. [[Angelo Tasca]], der ihn persönlich kannte, hat die Auffassung vertreten, dass „das letzte Ziel“ für Mussolini „stets nur Mussolini selbst [war]; ein anderes hat er nie gekannt.“<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus.'' Wien / Frankfurt / Zürich 1969, S.&nbsp;51.</ref> Bevor 1910 sein eigentlicher Aufstieg in der sozialistischen Partei begann, gab sich Mussolini der Hoffnung hin, eines Tages als „Intellektueller“ in [[Paris]] anerkannt zu werden.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;63" /> Auf die durch das Examen von 1907 möglich gemachte prestigeträchtige Anrede ''professore'' legte er auch dann noch Wert, als er bereits an der Spitze der faschistischen Bewegung stand.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;40.</ref> Der Historiker Paul O’Brien sieht im jungen Mussolini einen „ambitionierten kleinbürgerlichen Intellektuellen mit einem entschieden individualistischen Gespür für seine persönliche Geltung“,<ref>Paul O’Brien: ''Mussolini in the First World War. The Journalist, the Soldier, the Fascist.'' Oxford / New York 2005, S.&nbsp;49.</ref> der schon seit 1909 unter dem Einfluss der ebenso antiliberalen wie antisozialistischen kulturellen Avantgarde Italiens gestanden habe.<ref>Paul O’Brien: ''Mussolini.'' S.&nbsp;49.</ref><br />
<br />
Ende August 1909 wurde Mussolini im Vorfeld eines Besuches von Kaiser [[Franz Joseph&nbsp;I.]] von der österreichischen Polizei unter einem Vorwand verhaftet und am 13. September unter militärischem Schutz nach [[Rovereto]]<ref>{{ANNO|nwb|15|09|1909|6|Zum Bankdiebstahl in Trient}}</ref> in Italien abgeschoben.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;63" /><br />
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=== Chefredakteur des „Avanti!“ ===<br />
Die Ausweisung aus Österreich machte Mussolinis Namen erstmals zum Thema politischer Debatten in [[Rom]], da die sozialistischen Mitglieder der [[Camera dei deputati|Abgeordnetenkammer]] die Angelegenheit bis zum Frühjahr 1910 mehrfach aufgriffen. Zurück in Forlì, dachte Mussolini kurzzeitig über eine Auswanderung in die [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]] nach, verwarf diese Pläne aber. Eine Bewerbung bei der liberalkonservativen [[Bologna|Bologneser]] Zeitung ''Il Resto del Carlino,'' dem einflussreichsten Blatt seiner Heimatregion, blieb erfolglos.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;66.</ref><br />
<br />
In Forlì begann Mussolini eine Beziehung mit der 19-jährigen [[Rachele Guidi]], Tochter der Lebensgefährtin seines Vaters. Im Januar 1910 übernahm er die Führung der örtlichen Sektion des PSI und die Redaktion der lokalen Parteizeitung ''La lotta di classe.'' Als Redakteur und Redner machte sich Mussolini binnen weniger Monate einen Namen in der Romagna. In den Flügelkämpfen innerhalb der sozialistischen Partei „konstruierte“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;69.</ref> sich Mussolini mit radikaler Polemik als revolutionärer „Extremist“. Zu diesem Zeitpunkt sah sich die reformistische Führungsgruppe des PSI, die die Partei seit 1900 weitgehend kontrolliert und die führenden Syndikalisten 1908 ausgeschlossen hatte, zunehmend angegriffen. Der von [[Costantino Lazzari]] und Serrati geführte linke Flügel, dem sich auch Mussolini anschloss, gewann an Einfluss. Die in Trient angeknüpften Beziehungen zu Prezzolini ließ Mussolini allerdings auch in dieser Phase nicht abreißen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;70.</ref><br />
<br />
Als die Regierung [[Giovanni Giolitti|Giolitti]] im September 1911 der Türkei [[Italienisch-Türkischer Krieg|den Krieg erklärte]], rief Mussolini in Forlì zum Generalstreik auf. Wie in anderen Städten Italiens kam es zu Unruhen und Versuchen, Truppentransporte zu blockieren; Mussolini wurde am 14. Oktober 1911 zusammen mit einigen anderen Sozialisten aus der Region (darunter [[Pietro Nenni]]) verhaftet und im November von einem Gericht in Forlì zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Als er im März 1912 vorzeitig entlassen wurde, war sein Name weit über die Romagna hinaus bekannt. Auf dem 13. Parteitag des PSI, der am 7. Juli 1912 in [[Reggio nell’Emilia|Reggio Emilia]] begann, sprach sich Mussolini zusammen mit den Wortführern des linken Flügels für den Ausschluss der „rechten“ Reformisten um [[Leonida Bissolati]] und [[Ivanoe Bonomi]] aus, die 1911 den Krieg gegen die Türkei unterstützt und sich im März 1912 durch den „Hofgang“ zum König diskreditiert hatten. Er schonte jedoch die „linken“ Reformisten Turatis, die in der Partei verblieben. In Reggio Emilia übernahm Costantino Lazzari den Parteivorsitz; Mussolini wurde ebenso wie Angelica Balabanoff in das Parteidirektorium gewählt.<br />
<br />
Am 1. Dezember 1912 löste Mussolini den Reformisten [[Claudio Treves]] als Chefredakteur des ''[[Avanti! (Zeitung)|Avanti!]]'' ab. Die Redaktion des Zentralorgans der sozialistischen Partei hatte 1911 ihren Sitz von Rom nach Mailand verlegt, wohin nun auch Mussolini übersiedelte. Unter Mussolinis Führung übernahmen Syndikalisten einen großen Teil der Redakteursstellen des ''Avanti!.''<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;94.</ref> Mussolini erwies sich als ausgesprochen fähiger Journalist (ein Biograph nennt ihn den in dieser Zeit „wahrscheinlich besten Journalisten des Landes“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;18.</ref>); es gelang ihm, die Auflage des Blattes binnen weniger Monate zu vervielfachen und bis 1914 auf über 100.000 Exemplare zu steigern.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;81.</ref> Das war eine bemerkenswerte Leistung, da sich der PSI – anders als etwa die [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands|SPD]] – trotz seiner Wahlerfolge vor dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] nicht zur Massenpartei entwickelt hatte (1914 hatte die Partei in Rom rund 500 und selbst in ihrer Hochburg Mailand nur 1.300 Mitglieder) und viele Arbeiter und Bauern Analphabeten waren.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;40, 46.</ref> Seine „wachsende Irrationalität“,<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;95.</ref> sein undifferenzierter Gebrauch von Begriffen nicht- bzw. offen antisozialistischer Autoren („Ich habe noch keine direkte Unvereinbarkeit zwischen Bergson und dem Sozialismus festgestellt.“<ref>Zitiert nach Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;95.</ref>) sorgte ebenso wie seine Verteidigung Nietzsches<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;76.</ref> gleichwohl bald für Kritik. In einem Brief an Prezzolini hatte Mussolini schon unmittelbar nach dem Parteitag von Reggio Emilia betont, dass er sich unter den Revolutionären „ein bisschen fremd“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;77.</ref> fühle. Sein Sozialismus war und blieb eine „unsichere Pflanze“.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;17.</ref> Strukturell war Mussolinis Weltbild, das sich seit 1909 verfestigte, mit Denkfiguren der „europäischen und italienischen kulturellen und intellektuellen Reaktion gegen die Vernunft“<ref>Morgan, Philip, Italian Fascism, 1919–1945, Houndmills-London 1995, S.&nbsp;9.</ref> verwandt, es unterschied sich in grundsätzlichen Fragen von dem anderer Vertreter der PSI-Linken.<br />
<br />
1913 begann Mussolini mit der Publikation einer von ihm persönlich herausgegebenen Zeitschrift ''(Utopia),'' die auf ein intellektuelles Publikum zielte und sich dezidiert überparteilich gab. Im gleichen Jahr kandidierte er erstmals bei einer Parlamentswahl, unterlag in Forlì aber deutlich dem [[Partito Repubblicano Italiano|republikanischen]] Kandidaten.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;82.</ref><br />
<br />
Der Parteitag von [[Ancona]] bestätigte im April 1914 die Vorherrschaft des linken Flügels in der Partei. Von der sogenannten „roten Woche“ ''(Settimana rossa),'' einer Welle von Streiks und Barrikadenkämpfen im Juni 1914, wurde Mussolini ebenso wie der Rest der Parteiführung überrascht, stellte sich im ''Avanti!'' aber mit den gewohnt radikalen Leitartikeln hinter die Arbeiter.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;84.</ref><br />
<br />
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, sprach sich Mussolini im Einklang mit der Parteilinie für die bedingungslose Neutralität Italiens aus. Seine Artikel schlugen gleichwohl von Anfang an einen entschieden „antideutschen“ Ton an; Deutschland, so schrieb Mussolini, sei seit 1870 der „Bandit, der an der Straße der europäischen Zivilisation herumschleicht.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;84. Siehe auch O’Brien: ''Mussolini in the First World War,'' S.&nbsp;34.</ref> Diese Parteinahme unterschied sich nicht wesentlich von der spontanen Sympathie vieler linker italienischer Intellektueller für die französische Republik, die noch durch das im [[Risorgimento]] tradierte Misstrauen gegenüber „den Deutschen“ (hier gemeint: den Österreichern) akzentuiert wurde. Dennoch lehnte Mussolini in den ersten Kriegswochen eine italienische Intervention zugunsten Frankreichs ausdrücklich ab.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;87.</ref> Die Wende kündigte sich an, als er am 13. September 1914 einen interventionistischen Artikel [[Sergio Panunzio]]s im ''Avanti!'' drucken ließ. Gegenüber [[Amadeo Bordiga]] erklärte Mussolini, dass er die Parteinahme für die Neutralität als „reformistisch“ ansehe.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;88.</ref> Damit formulierte er erstmals den in den folgenden Monaten wiederholt bekräftigten Standpunkt, dass „Revolution“ und Intervention unauflösbar miteinander verbunden seien. Inwieweit Mussolini tatsächlich an diese Argumentation glaubte, ist umstritten. Während etwa [[Renzo De Felice]] die These vertritt, dass Mussolini seinem Selbstverständnis nach bis 1920 ein genuiner „Revolutionär“ geblieben sei,<ref>Breit ausgeführt in Renzo De Felice: ''Mussolini il rivoluzionario 1883–1920.'' Turin 1965. Eine klassische Kritik in Franco Catalano: ''Mussolini „rivoluzionario“.'' In: ''Il movimento di liberazione in Italia.'' (Nr. 80/Juli–September 1965), S.&nbsp;101–110.</ref> betont [[Richard James Boon Bosworth|Richard Bosworth]] das politische „Doppelspiel“, das Mussolini spätestens im Oktober 1914 begonnen habe.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;89">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;89.</ref><br />
<br />
Hinter den Kulissen hatte Mussolini schon im September 1914 mehreren Mitarbeitern bürgerlicher Zeitungen versichert, dass die Sozialisten – ginge es nach ihm&nbsp;– eine italienische Mobilmachung nicht behindern und einen Krieg gegen Österreich-Ungarn unterstützen würden. Andeutungen darüber erschienen am 4. Oktober in ''Il Giornale d’Italia'' und am 7. Oktober in ''Il Resto del Carlino.''<ref>O’Brien: ''Mussolini in the First World War,'' S.&nbsp;33.</ref> Der zögernde Mussolini wurde dadurch gezwungen, sich öffentlich zu erklären.<ref>Martin Clark: ''Mussolini.'' Harlow 2005, S.&nbsp;23 f.</ref><br />
<br />
Am 18. Oktober 1914 veröffentlichte er den Artikel „Von der absoluten zur aktiven und tätigen Neutralität“, in dem er die sozialistische Partei aufforderte, die „negative“ Haltung zum Krieg zu revidieren und anzuerkennen, dass „nationale Probleme auch für die Sozialisten existieren“:<ref>Zitiert nach Pierre Milza: ''Mussolini.'' Paris 1999, S.&nbsp;174.</ref><br />
<br />
{{Zitat<br />
|Text=Wollen wir, als Menschen und als Sozialisten, die untertänigen Zuschauer dieses großartigen Dramas sein? Oder wollen wir nicht auf irgendeine Art und in gewissem Sinne seine Protagonisten sein? Sozialisten, Italiener, merkt auf: Manchmal ist es vorgekommen, dass der Buchstabe den Geist getötet hat. Retten wir nicht den Buchstaben der Partei, wenn das bedeutet, den Geist des Sozialismus zu töten!<br />
|Autor=Priester<br />
|Quelle=''Faschismus''<ref>Zitiert nach Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;100.</ref>}}<br />
<br />
Bereits am 19. Oktober trat der Vorstand des PSI in Bologna wegen dieses Artikels zusammen. Er schloss Mussolini, der sich in einer mehrstündigen Diskussion zu rechtfertigen versuchte, aus dem Parteidirektorium aus. Das war gleichbedeutend mit seiner Entfernung aus der Redaktion der Parteizeitung. Mussolini selbst hatte seinen Verbleib beim ''Avanti!'' von der Zustimmung der Parteiführung zu seinen Positionen abhängig gemacht.<ref>Richard Drake: ''Apostles and Agitators. Italy’s Marxist Revolutionary Tradition.'' Cambridge MA 2003, S.&nbsp;127.</ref> Seine dem Parteivorstand unterbreitete Beschlussvorlage erhielt bei der Abstimmung jedoch nur eine Stimme (seine eigene); um das Gesicht zu wahren, „kündigte“ er unmittelbar danach beim ''Avanti!.''<ref>O’Brien: ''Mussolini in the First World War,'' S.&nbsp;34, 39 sowie Milza: ''Mussolini','' S.&nbsp;175.</ref> Große Mailänder Zeitungen wie der ''[[Corriere della Sera]]'' und ''[[Il Secolo]]'' boten Mussolini allerdings sofort eine Plattform.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;89" /> Die rasche und harte, von ihm nicht zuletzt als persönliche Kränkung empfundene Reaktion der Parteiführung hatte Mussolini offenbar nicht erwartet. In den internen Diskussionen, die seinem Parteiausschluss vorausgingen, soll er aschfahl und zitternd aufgetreten sein<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;91.</ref> und angekündigt haben, es „euch heimzuzahlen“.<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;31 f.</ref><br />
<br />
=== Wende nach rechts ===<br />
Am 15. November 1914 meldete sich Mussolini mit einer neuen, zunächst noch als sozialistisch deklarierten Tageszeitung – ''[[Il Popolo d’Italia]]'' – wieder zurück. Das Blatt griff auf der Seite der [[Triple Entente|Entente]]-freundlichen „Interventionisten“ in die Debatte um die Haltung Italiens zum Krieg ein. Die bellizistischen Interventionisten sprachen für eine Minderheit der italienischen Gesellschaft; Unterstützung und Publikum fanden sie vor allem im liberalen Bürgertum und bei radikalen Nationalisten, während die Masse der Industrie- und Landarbeiter einer Beteiligung Italiens am Krieg von Anfang an offen ablehnend gegenüberstand. Auch der einflussreiche [[Römisch-katholische Kirche in Italien|katholische Klerus]] wandte sich gegen den Krieg, da er an einer Schwächung der „katholischen Großmacht“ [[Österreich-Ungarn]] nicht interessiert war. Der fundamentale, im Frühjahr 1915 bis an die Schwelle des Bürgerkrieges ausgetragene Konflikt zwischen „Interventionisten“ und „Neutralisten“ leitete die Krise des liberalen Staates ein, dessen Regierung den Kriegseintritt gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und des Parlaments durchsetzte, wobei sie sich geschickt der kleinen, aber lautstarken interventionistischen Minderheit bediente, unter deren „Druck“ zu handeln sie vorgab. Innenpolitisch trug der Eintritt Italiens in den Krieg Züge eines Staatsstreichs – „die ‚strahlenden Tage‘ vom Mai 1915 erscheinen in mehr als einer Hinsicht als Generalprobe für den Marsch auf Rom.“<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus.'' Wien / Frankfurt / Zürich 1969, S.&nbsp;35.</ref><br />
<br />
In diesen Monaten traten erstmals sogenannte ''fasci'' auf, deren Angehörige Straßendemonstrationen organisierten und mitunter gewaltsam gegen Kriegsgegner – vor allem gegen Einrichtungen und Organisationen der Arbeiterbewegung<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;34.</ref>&nbsp;– vorgingen. Bereits während der „roten Woche“ im Juni 1914 waren rechte Bürgerwehren mit Waffengewalt gegen Arbeiter vorgegangen. Die Mitglieder dieser Gruppen waren im Durchschnitt „jung, aus dem Norden, gebildet, aktivistisch und antisozialistisch“<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945.'' London 2006, S.&nbsp;56.</ref> und kamen aus bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Milieus. Mussolini, der am 24. November 1914 aus dem PSI ausgeschlossen worden war, beteiligte sich im Dezember 1914 am Zusammenschluss mehrerer zuvor unabhängiger ''fasci'' zu den ''Fasci d’azione rivoluzionaria;'' er bezeichnete die Anhänger dieser Gruppen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt als ''fascisti.'' Er war jedoch noch ohne eigene politische Hausmacht – nach wie vor stand er, verglichen mit aristokratischen Wortführern des Interventionismus wie [[Gabriele D’Annunzio]], [[Filippo Tommaso Marinetti]], [[Enrico Corradini]] und [[Luigi Federzoni]], am unteren Ende einer „komplexen Leiter der [[Patronage]]“.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London 2010, S.&nbsp;91.</ref> Diese Patronagebeziehungen bewährten sich erstmals bei der Etablierung des ''Popolo d’Italia,'' dessen Auflage im Mai 1915 bei etwa 80.000 Exemplaren lag. In diesem Zusammenhang spielte Filippo Naldi, ein Journalist aus [[Bologna]], der über enge Beziehungen zu Großgrundbesitzern und zur Regierung in Rom verfügte, eine wichtige Rolle.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;89" /> In der kritischen Anfangsphase versorgte Naldi den mittellosen Mussolini nicht nur mit Geld, sondern stellte ihm auch Druckmaschinen, Papier und sogar einige Redakteure des ''Resto del Carlino'' zur Verfügung.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;25.</ref> Der in dieser Phase bedeutendste finanzielle Förderer Mussolinis war [[Ferdinando Martini]], der Minister für die Kolonien.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;56.</ref> Hohe Beträge kamen von Industriellen, so von [[Giovanni Agnelli senior|Giovanni Agnelli]] ([[Fiat (Marke)|Fiat]]) und den Gebrüdern Perrone ([[Ansaldo]]).<ref>Thomas Widrich: ''„soviel Druckerschwärze wie Menschenblut“ – Propaganda- und Kriegsliteratur im neutralen Italien (August 1914 – Mai 1915).'' Frankfurt am Main 1998, S.&nbsp;48.</ref> Subsidien flossen Mussolini außerdem vom französischen Geheimdienst und von der französischen Botschaft in Rom zu. Als im Herbst 1917 der Zusammenbruch des italienischen Heeres nach der [[Zwölfte Isonzoschlacht|Battaglia di Caporetto]] (der 12. Isonzo-Schlacht) bevorzustehen schien, unterstützte die römische Repräsentanz des britischen Geheimdienstes [[Security Service|MI5]] Mussolinis Blatt für mindestens ein Jahr mit einer wöchentlichen Zahlung von [[Pfund Sterling|£]]&nbsp;100 (etwa 6.400 Euro nach heutigem Wert).<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;90. Siehe auch Christopher Andrew: ''MI5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes.'' Berlin 2010, S.&nbsp;153 und [https://www.theguardian.com/world/2009/oct/13/benito-mussolini-recruited-mi5-italy ''Recruited by MI5: the name’s Mussolini. Benito Mussolini.''] In: ''[[The Guardian]],'' 13. Oktober 2009, abgerufen am 15. Juni 2014.</ref> Der Zufluss dieser Gelder ermöglichte Mussolini auch einen Lebensstil, durch den er habituell zu den ihn unterstützenden Kreisen aufschließen konnte. Er speiste fortan in teuren Restaurants, erwarb ein Pferd für Ausritte und ein Auto.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;92.</ref><br />
<br />
Die Gründer der frühen ''fasci'' waren häufig ehemalige Syndikalisten, die sich von der ''[[Unione Sindacale Italiana]]'' (USI) gelöst hatten und ihre Befürwortung einer Beteiligung Italiens am Krieg gegen die [[Mittelmächte]] mit „linken“ Argumenten begründeten. Der führende Kopf dieser Gruppe war der 1915 an der Isonzofront gefallene [[Filippo Corridoni]], der früh für die Intervention plädiert und von einem „revolutionären Krieg“ gesprochen hatte.<ref>Zum fragwürdigen Gehalt des Revolutionsbegriffs bei den Interventionisten siehe Bosworth, Richard, Italy and the Approach of the First World War, London-Basingstoke 1983, S.&nbsp;127 f. Der interventionistische Flügel der USI gründete nach der Abspaltung die ''Unione Italiana del Lavoro'' (UIL), die erst ab 1918 eine gewisse Bedeutung erlangte. 1919 übernahmen die ''Fasci di combattimento'' den „sozialen“ Teil ihres Programms weitgehend von der UIL.</ref> Auch Mussolini bewegte sich bis 1915 im Umfeld Corridonis. Diese „Linksinterventionisten“ standen nicht in einer genuin sozialistischen oder syndikalistischen Theorietradition, sondern griffen zunächst vorrangig auf modifizierte Ideologiefragmente des [[Risorgimento]] – vor allem des [[Giuseppe Mazzini|Mazzinianismus]]&nbsp;– zurück.<ref>Karin Priester: ''Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen.'' Köln 1972, S.&nbsp;103. Ausführlich dazu O’Brien: ''Mussolini in the First World War,'' S.&nbsp;40–49.</ref> Schon die frühen einschlägigen Beiträge Mussolinis im ''Popolo d’Italia'' waren, „trotz aller sozialrevolutionären Überbleibsel, so weit entfernt vom sozialistischen [[Internationalismus]] und [[Historischer Materialismus|Materialismus]] wie überhaupt möglich.“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;94.</ref> In der teilweise hysterisch geführten Kampagne für die Intervention profilierte sich der ''Popolo d’Italia'' mit besonders schrillen Tönen; als es im Mai 1915 kurze Zeit so schien, als würde der „Verräter“ [[Giovanni Giolitti]] erneut Ministerpräsident werden, verlangte Mussolini, „ein paar dutzend Abgeordnete“ zu erschießen.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;93.</ref> Diese Transformation, die vielen Zeitgenossen als plötzlich und unvermittelt erschien, hatte Mussolini durchaus öffentlich vorbereitet. Neuere Untersuchungen haben herausgearbeitet, dass Mussolini seine Zeitschrift ''Utopia'' bereits vor dem Oktober 1914 zu einem Forum für „imperialistische, rassistische und antidemokratische“<ref>O’Brien: ''Mussolini in the First World War,'' S.&nbsp;40.</ref> Argumentationen gemacht hatte. Ostentativ sagte er sich nun von Marx, „dem Deutschen“, und dem „stock-preußischen“ marxistischen Sozialismus los und propagierte einen „antideutschen Krieg“.<ref>Zitiert nach Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;107.</ref> Am Sozialismus-Begriff hielt Mussolini zunächst noch fest, gab ihm aber einen völlig anderen Inhalt. Der Sozialismus der Zukunft werde ein „antimarxistischer“ und „nationaler“ sein.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;101 und Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;111.</ref> Im August 1918 wurde das Wort „sozialistisch“ aus dem Untertitel des ''Popolo d’Italia'' entfernt.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;101.</ref> Zu diesem Zeitpunkt war bei Mussolini endgültig ein mit [[Sozialdarwinismus|sozialdarwinistischen]] Elementen aufgeladener<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;102.</ref> autoritärer [[Nationalismus]] in den Vordergrund getreten:<br />
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{{Zitat<br />
|Text=Wer Vaterland sagt, sagt Disziplin; wer Disziplin sagt, gibt zu, dass es eine Hierarchie der Autoritäten, der Funktionen, der Intelligenzen gibt. Dort, wo diese Disziplin nicht frei und bewusst angenommen wird, muss sie aufgezwungen werden, auch mit Gewalt, auch – die Zensur möge mir gestatten, es zu sagen – mit jener Diktatur, zu der die Römer der ersten Republik griffen, in den kritischen Stunden ihrer Geschichte.<br />
|Autor=Priester<br />
|Quelle=''Faschismus''<ref>Zitiert nach Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;110.</ref>}}<br />
<br />
Von diesem Standpunkt aus kritisierte Mussolini auch den in Politikern wie [[Antonio Salandra]] und Giolitti verkörperten konservativen Liberalismus der alten Eliten, da dieser an der „Integration der Massen in die Nation“ gescheitert sei. So hielt er etwa an der Forderung nach einer Landreform fest, da allein auf diese Weise „die Landbevölkerung für die Nation gesichert“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;100.</ref> werden könne. Allein von einer „Schützengrabenaristokratie“ ''(trincerocrazia),'' einer „Aristokratie der Funktion“, sei die Bereitschaft zu solchen Maßnahmen zu erwarten.<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;111.</ref><br />
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Mussolinis Gedankengänge reflektierten auf ihre Weise die tiefe Krise der traditionellen Ordnung, die spätestens 1917 von vielen Beobachtern konstatiert wurde. Von 1915 bis 1917 hatten die italienischen Regierungen – „ganz zu schweigen von den reaktionären und brutalen monarchistischen Generälen“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;95.</ref>&nbsp;– versucht, einen „traditionellen“ Krieg zu führen. Sie hatten keinerlei Versuch unternommen, den Krieg vor den Arbeitern und Bauern, die die Masse der Soldaten stellten, zu rechtfertigen oder zu begründen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;95 und derselbe: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;60–63.</ref> Erst nach der katastrophalen Niederlage in der [[Zwölfte Isonzoschlacht|12.&nbsp;Isonzoschlacht]] leitete der neue Ministerpräsident [[Vittorio Emanuele Orlando|Vittorio Orlando]] eine propagandistische Kampagne ein, die den Krieg für diejenigen, die ihn in den Schützengräben auszutragen hatten, plausibel machen sollte. Ende 1917 stießen die Legitimationen und Mechanismen der alten Herrschaftsordnung jedoch unübersehbar an ihre Grenzen, wodurch perspektivisch eine Nachfrage für die politische Ideologie geschaffen wurde, deren Grundlagen im Umfeld des ''Popolo d’Italia'' entstanden waren.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;65.</ref> Der Frühfaschismus war gleichwohl nicht die einzige politische Kraft, die in diesem Zusammenhang auftrat. Der italienische [[Radikalnationalismus]] (vgl. ''[[Associazione Nazionalista Italiana]]'') etwa, der „Rechtsinterventionismus“ der Jahre 1914/15, durchlief bis 1919 eine relativ eigenständige Entwicklung.<br />
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[[Datei:Benito Mussolini 1917.jpg|mini|Mussolini als Soldat im Ersten Weltkrieg, 1917]]<br />
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=== Militärdienst ===<br />
Von August 1915 bis August 1917 leistete Mussolini selbst Militärdienst. Mit dem 11. Bersaglieri-Regiment war er am [[Isonzo]] (bis November 1915, vgl. [[Isonzoschlachten]]), in den [[Karnische Alpen|Karnischen Alpen]] (bis November 1916) und bei [[Doberdò del Lago|Doberdò]] im Einsatz. Während dieser Zeit publizierte er weiterhin im ''Popolo d’Italia.'' Diese Artikel wurden 1923 als „Kriegstagebuch“ neu herausgegeben und im faschistischen Italien in zahlreichen Auflagen verbreitet. Während eines Lazarettaufenthaltes im Dezember 1915 heiratete er Rachele Guidi, die Mutter seiner 1910 geborenen Tochter [[Edda Ciano|Edda]]. 1916 bzw. 1918 kamen die Söhne [[Vittorio Mussolini|Vittorio]] und [[Bruno Mussolini|Bruno]] zur Welt. Obwohl „Gebildete“ im italienischen Heer sehr häufig einen Offiziersrang erhielten, brachte es Mussolini nur bis zum ''caporal maggiore'' (ein niedriger Unteroffiziersdienstgrad). Einen Kurs für Offiziersanwärter musste er nach kurzer Zeit auf Veranlassung der Armeeführung wieder verlassen. Nach allen vorliegenden Zeugnissen begegneten Soldaten der Mannschaftsränge dem Gründer des ''Popolo d’Italia'' mit Misstrauen, zum Teil auch offen feindselig. Das Angebot des Regimentskommandeurs, die Regimentsgeschichte zu schreiben und so den für den „Kriegshetzer“ besonders gefährlichen Schützengräben zu entkommen, lehnte er indes ab. Im Herbst 1916 war Mussolini allerdings so erschöpft, dass er nach Wegen zu suchen begann, aus dem Dienst auszuscheiden.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;30.</ref> Am 23. Februar 1917 wurde Mussolini bei einer Übung hinter der Front schwer verwundet, als eine Mörsergranate beim Abschuss explodierte und mehrere Soldaten in seiner Nähe tötete. Bis zu seiner Entlassung aus dem Militär im August hielt er sich in einem Mailänder Lazarett auf.<br />
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== Mussolini und die italienische Rechte (1919–1922) ==<br />
=== Mussolini und der Frühfaschismus ===<br />
Der Weltkrieg erschütterte das politische System Italiens. Das Kalkül der Regierung [[Antonio Salandra|Salandra]], die sich vom Eintritt in den Krieg vor allem eine Marginalisierung der Sozialisten und eine dauerhafte Verschiebung des politischen Kräftefeldes nach rechts – in Summe eine „hierarchische Reorganisation der Klassenbeziehungen“<ref>Giovanna Procacci, zitiert nach Mark Thompson: ''The White War. Life and Death on the Italian Front 1915–1919.'' London 2009, S.&nbsp;36.</ref>&nbsp;– versprochen hatte, war nicht aufgegangen. Stattdessen hatten die lokal und regional begrenzten Konflikte der Vorkriegszeit „nationale Dimensionen angenommen und waren zu Protesten gegen den Krieg, gegen den Staat, gegen die herrschende Klasse geworden.“<ref>Giovanna Procacci: ''Die politischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges in Italien und die Krise des liberalen Staates.'' In: [[Hans Mommsen]] (Hrsg.): ''Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik.'' Köln/Weimar/Wien 2000, S.&nbsp;165–183, S.&nbsp;171.</ref> Der italienischen Oberschicht gelang es nicht, die Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit wie in Frankreich und Deutschland zu kanalisieren und durch taktische Zugeständnisse abzufedern; der Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie wurde direkt und unvermittelt ausgetragen und überforderte schließlich die liberalen Institutionen.<ref>Charles S. Maier: ''Recasting bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the decade after World War&nbsp;I.'' Princeton 1975, S.&nbsp;305.</ref><br />
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Das prägende, auch für Mussolini zentrale Thema der Nachkriegszeit war der Aufstieg einer radikalen Linken und der damit verbundene Eintritt der „Massen“ in das politische Leben.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;106 f.</ref> Anders als etwa in Deutschland war in Italien die [[Reformismus|reformistische]], zur Zusammenarbeit mit den Parteien des Bürgertums bereite Strömung der Arbeiterbewegung, die innerhalb des PSI vor allem der Kreis um [[Filippo Turati]] repräsentierte, strukturell schwach. Im September 1918 hatten sich in der sozialistischen Partei die sogenannten „Maximalisten“ ''(massimalisti)'' um [[Giacinto Menotti Serrati|Serrati]] durchgesetzt, die sich die bolschewistische [[Oktoberrevolution]] zum Vorbild nahmen und ähnliche Positionen wie die deutsche [[Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands|USPD]] vertraten. 1919 erlebten die Partei und die Gewerkschaften einen beispiellosen Zustrom neuer Mitglieder, bei der Parlamentswahl am 16. November 1919 erhielt der PSI 32,5 % der Stimmen (156 Mandate) und wurde zur stärksten Partei. Im März 1919 erzwangen Massenstreiks die Anerkennung des Achtstundentages. In [[Latium]] und in Teilen Süditaliens begannen Landarbeiter und Kleinbauern im Sommer mit spektakulären Landbesetzungen, während es der sozialistischen Gewerkschaft [[Federterra]] zumindest in der [[Po-Ebene]] gelang, die Landarbeiter fast restlos zu organisieren und den Großgrundbesitzern Löhne und Arbeitsbedingungen zu diktieren. Dennoch war der Aufschwung des italienischen Sozialismus instabil. Die Mehrheit seiner Anhänger war bitterarm, ohne materielle und kulturelle Ressourcen und in der Regel lediglich lokal vernetzt; viele Mitglieder stießen nach dem Ende des Krieges erstmals zur Partei und zu den Gewerkschaften, ihre Bindung an das sozialistische Programm blieb lose und ungefestigt. Der lange Zeit auch in der historischen Literatur reproduzierte zeitgenössische liberale, konservative und faschistische Diskurs über die „rote Gefahr“ (vgl. ''[[biennio rosso]]'') verschleiert, dass es der sozialistischen Partei selbst in ihrer Hochphase zu keinem Zeitpunkt gelang, im gesellschaftlichen Maßstab zur Mehrheitspartei zu werden.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;105.</ref> 43 der 69 Provinzen wiesen auch im November 1919 „weiße“ Mehrheiten auf; der erst am 18. Januar 1919 gegründete katholische [[Partito Popolare Italiano (1919)|PPI]] gewann bei dieser Wahl aus dem Stand 100 Mandate, die verschiedenen liberalen Gruppen zusammen 252.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;101, 106, 108.</ref><br />
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Parallel zum Aufschwung der politischen Linken etablierte sich eine – anfänglich noch stark fragmentierte&nbsp;– „neue Rechte“,<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;109.</ref> die nicht einfach konservativ war, sondern die Institutionen der traditionellen Ordnung mehr oder weniger offen verwarf. Ihr gemeinsamer Nenner war ein ideologisches Amalgam aus nationalistischer Enttäuschung über den „verstümmelten Sieg“ ''(vittoria mutilata)'' im Weltkrieg und aggressiver Auseinandersetzung mit der „roten Gefahr“. Der weithin akklamierte Kopf dieser Rechten war zunächst [[Gabriele D’Annunzio]]. Mussolini war zur Jahreswende 1918/19 zwar als Chefredakteur des ''Popolo d’Italia'' in ganz Italien bekannt, verfügte aber lediglich im lokalen Rahmen Mailands über politisches Gewicht. Er griff in den ersten Nachkriegsmonaten die verbreitete Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung auf, die vor allem unter den zurückkehrenden Frontsoldaten populär war und durchaus in das ideologische Profil des ''Popolo d’Italia'' passte.<br />
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[[Datei:Italian Arditi.jpg|mini|Angehörige der 1917/18 mit einem Elitekult umgebenen [[Arditi (Sturmtruppen)|Arditi]]-Bataillone spielten in der Symbolgeschichte des italienischen Faschismus eine wichtige Rolle. Sie stellten die militantesten Kader der frühen ''fasci'' und brachten das [[Schwarzhemden|Schwarzhemd]], den [[Fes (Kopfbedeckung)|Fez]], die Parole ''A noi!'' und die spätere Parteihymne ''[[Giovinezza]]'' in die faschistische Bewegung ein.]]<br />
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Zum 23. März 1919 rief Mussolini die Vertreter von etwa zwanzig ''fasci,'' die sich nach Kriegsende neu gebildet hatten oder von überlebenden Aktivisten der Jahre 1914/15 wiederbelebt worden waren, in Mailand zusammen. An dem Treffen (das in einem von der Industriellenvereinigung ''Alleanza industriale e commerciale'' zur Verfügung gestellten Saal an der [[Piazza San Sepolcro]] stattfand) nahmen etwa 300 Personen teil, darunter [[Roberto Farinacci]], [[Cesare Maria De Vecchi]], [[Giovanni Marinelli]], [[Piero Bolzon]] und [[Filippo Tommaso Marinetti]]. Die Zusammensetzung der später als ''sansepolcristi'' verehrten Teilnehmer verhalf der bei dieser Gelegenheit gegründeten Dachorganisation (den ''Fasci italiani di combattimento'') zu einem schillernden, „bivalenten“<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;60.</ref> Erscheinungsbild. Ehemalige „Linksinterventionisten“ stellten (noch) die Mehrheit, „neben ihnen aber sitzen die Nationalisten, die Reaktionäre und schlichte Streikbrecher.“<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;65.</ref> Der von Mussolini erhobene und auch in der historischen Literatur oft ohne Relativierung kolportierte Anspruch, die ''combattenti'' (die Kriegsteilnehmer) zu vertreten, traf nur sehr bedingt zu. Die ersten Nachkriegs-''fasci'' zogen vor allem demobilisierte Reserveoffiziere oder Studenten bürgerlicher Herkunft an, die im Krieg Offiziere gewesen waren oder bei den [[Arditi (Sturmtruppen)|Arditi]] gedient hatten. Der weitaus mitgliederstärkste Verband der Kriegsteilnehmer, die ''Associazione Nazionale dei Combattenti'' (ANC), war dagegen – abgesehen von regionalen Sonderfällen – zunächst demokratisch und antifaschistisch ausgerichtet; auch seine soziale Zusammensetzung (überwiegend ehemalige wehrpflichtige Bauern und Offiziere unterer Dienstgrade) war eine ganz andere als die der ''fasci.''<ref>Siehe Morgan, Italian Fascism, S.&nbsp;15. Siehe auch Lyttelton, Adrian, The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929, London 1987, S.&nbsp;48.</ref><br />
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Die in Mailand ins Leben gerufene Organisation blieb – trotz einiger spektakulärer Aktionen, darunter eine von Marinetti dirigierte Brandstiftung im Redaktionsgebäude des ''[[Avanti! (Zeitung)|Avanti!]]'' am 15. April 1919 – zunächst ohne jeden Einfluss. Noch Ende 1919 existierten lediglich 31 ''fasci'' mit zusammen 870 Mitgliedern.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;117.</ref> Erst nach und nach gelang es den ''Fasci di combattimento,'' sich gegen rivalisierende liberale, anarchistische und syndikalistische Gruppen, die den Begriff ''fascio'' (mit jeweils abweichenden Inhalten) ebenfalls für sich reklamierten, durchzusetzen. Im August 1919 lancierte Mussolini eine neue Zeitschrift ''(Il Fascio),'' die vor allem die Aufgabe hatte, den ''fascismo'' im Sinne seiner Organisation auszudeuten.<br />
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Die programmatischen Leitsätze der ''Fasci di combattimento'' waren diffus und für die Praxis der Organisation schon zu diesem Zeitpunkt völlig bedeutungslos.<ref>„The programme was drafted, publicized, and then left to gather dust.“ Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;118.</ref> Im März 1919 war überhaupt kein formales Programm beschlossen worden. Mussolini hatte in Mailand lediglich drei Erklärungen verlesen und sich darin mit den Frontkämpfern solidarisiert, die Annexion [[Rijeka|Fiumes]] und [[Dalmatien]]s verlangt sowie die Bekämpfung der sozialistischen und katholischen „Neutralisten“ angekündigt. Am 6. Juni 1919 veröffentlichte der ''Popolo d’Italia'' schließlich ein Programm, bei dem „unschwer hinter der ‚linken‘ Fassade, die vor allem durch die politische Forderung nach der Republik entsteht, in den Fragen der sozialen Ordnung ein reaktionärer Kern zu erkennen“<ref>Priester: ''Faschismus,'' S.&nbsp;188.</ref> ist. Das Programm war auch in seinen bald vergessenen „radikalen“ Passagen – entgegen einer weitverbreiteten Legende&nbsp;– keineswegs „sozialrevolutionär“, sondern von den Verfassern weitgehend an die reformistische Linie der nationalistischen Gewerkschaft ''[[Unione Italiana del Lavoro (1918–1925)|Unione Italiana del Lavoro]]'' angelehnt worden. Gefordert wurden die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre und das Wahlrecht für Frauen, die Abschaffung des [[Senato del Regno|Senats]] und dessen Ersetzung durch einen „technischen Nationalrat“, Mindestlohn und Achtstundentag, Besteuerung der Kriegsgewinne, eine staatliche Sozialversicherung, die Verteilung unbebauten Bodens an Kriegsveteranen, Beteiligung von Vertretern der Arbeiterorganisationen an der „Verwaltung“ privater und öffentlicher Betriebe („soweit sie dessen moralisch und technisch würdig sind“), die Schließung der katholischen Schulen und die Einziehung des kirchlichen Grundbesitzes. Mussolini vermied es insbesondere in dieser frühen Phase, die ''Fasci di combattimento'' einem der existierenden politischen Lager zuzuordnen. Auf dem ersten Kongress der ''fasci,'' der im Oktober 1919 in [[Florenz]] stattfand, erklärte er, sie seien „nicht republikanisch, nicht sozialistisch, nicht demokratisch, nicht konservativ, nicht nationalistisch“.<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;120.</ref> Er polemisierte gegen den linksliberalen Ministerpräsidenten [[Francesco Saverio Nitti|Nitti]] und solidarisierte sich mit dem [[Italienische Regentschaft am Quarnero|Fiume-Unternehmen]] D’Annunzios, ohne sich oder seine Organisation zu eng an dieses Projekt zu binden.<br />
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Bei der Parlamentswahl am 16. November 1919 erhielt die von Mussolini und Marinetti angeführte faschistische Liste in der gesamten [[Provinz Mailand]] nur 4.675 Stimmen und gewann kein Mandat. Nach dieser Schlappe warfen Mailänder Faschisten am 17. November einen Sprengsatz in eine sozialistische Demonstration. Mussolini wurde als Anstifter verdächtigt und – nachdem bei einer Durchsuchung ein Waffenlager gefunden worden war&nbsp;– verhaftet, aber nach nur einem Tag aufgrund einer Intervention aus [[Rom]] wieder entlassen.<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;66 f. und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;114 f.</ref><br />
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Am 24./25. Mai 1920 fand in Mailand der zweite Kongress der ''Fasci di combattimento'' statt. Die meisten ehemaligen „Linksinterventionisten“ schieden bei dieser Gelegenheit aus dem Nationalrat der Organisation, die nach dem sozialistischen Wahlsieg zahlreiche neue Anhänger in den zerfallenden liberalen Milieus gefunden hatte, aus. Auch Marinetti verließ den Kongress, nachdem Mussolini sich gegen eine Fortsetzung der antikatholischen Polemik ausgesprochen hatte. Die Forderung nach der Republik relativierte Mussolini in Mailand ebenfalls. Die Stoßrichtung gegen den „antiitalienischen“ Sozialismus wurde dagegen noch stärker herausgestellt.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;117.</ref> Der Achtstundentag und der Mindestlohn verschwanden aus dem faschistischen Programm, ebenso die Forderung nach einer „technischen“ Beteiligung der Arbeiter an der Leitung der Betriebe.<ref>Siehe Lyttelton, Seizure of Power, S.&nbsp;46.</ref> Nun richtete sich die faschistische Polemik gegen einen vermeintlichen „Staatskollektivismus“ oder „Staatsbolschewismus“ in Italien; Mussolinis Rede in Mailand, in der er sich zu einer „[[Manchesterliberalismus|Manchester-Konzeption]]“<ref>Zitiert nach Lyttelton, Seizure of Power, S.&nbsp;51.</ref> des Staates bekannte, bewertet der Historiker Adrian Lyttelton als Entwurf eines „kapitalistischen Utopia“.<ref>Lyttelton, Seizure of Power, S.&nbsp;51.</ref> Während der Auseinandersetzungen zwischen der Metallarbeitergewerkschaft [[Federazione Italiana degli operai metallurgici|FIOM]] und dem Unternehmerverband [[Confindustria]], die im September 1920 in die zeitweilige Besetzung vieler Fabriken durch die Belegschaften mündeten, rief Mussolini im ''Popolo d’Italia'' immer wieder zur Klassenzusammenarbeit auf. Den anderen antisozialistischen Parteien warf er vor, den Sozialisten nicht mit der nötigen Entschiedenheit entgegenzutreten – die Faschisten aber würden dies nun tun. Die seien zwar eine Minderheit, aber „eine Million Schafe werden immer vom Brüllen eines einzigen Löwen zerstreut werden.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;118.</ref> Diese Worte kündigten die eigentliche „Geburt“ des Faschismus an, dessen Vorstöße bald „keineswegs nur mehr sporadische Episoden zu Demonstrationszwecken“ waren, sondern „Ausdruck einer bewusst geplanten, systematischen Gewalt“,<ref name="ReferenceA">Procacci: ''Die politischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges in Italien und die Krise des liberalen Staates,'' S.&nbsp;180.</ref> die auf die vollständige Zerstörung der sozialistischen Organisationen zielte.<br />
<br />
=== Vom „blocco nazionale“ zum „Partito Nazionale Fascista“ ===<br />
[[Datei:Flag of Italian Fascism.svg|mini|Flagge der frühen faschistischen Bewegung mit „republikanischem“ [[Liktorenbündel]]]]<br />
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Die „Explosion der antisozialistischen Gewalt“<ref>Maier: ''Recasting bourgeois Europe,'' S.&nbsp;306.</ref> erfolgte im Herbst 1920, als große Teile der bürgerlichen Eliten ihr Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, die Arbeiterbewegung unter Kontrolle zu bringen und zurückzudrängen, verloren hatten. Liberale Zeitungen plädierten nun offen für die autoritäre Herrschaft eines „starken Mannes“ oder eine [[Militärdiktatur]].<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;130 f. und Maier: ''Recasting bourgeois Europe,'' S.&nbsp;307.</ref> Gerade zu dieser Zeit trat die sozialistische Bewegung in eine Phase der Orientierungslosigkeit und inneren Auseinandersetzungen ein, da der Verlauf der Fabrikbesetzungen im September 1920 deutlich gemacht hatte, dass die [[Zentrismus (Marxismus)|zentristischen]] „Maximalisten“ an der Spitze des PSI trotz ihrer radikalen Rhetorik nicht gewillt waren, ernsthaft auf eine sozialistische Revolution hinzuarbeiten (diese Fraktionskämpfe führten im Januar 1921 zur Abspaltung des linken Parteiflügels, der sich als ''[[Partito Comunista Italiano|Partito Comunista d’Italia]]'' konstituierte). So ging im Oktober 1920 fast unvermittelt „die Initiative in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf die besitzenden Klassen und die neue Rechte über.“<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;126.</ref><br />
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Die ''fasci,'' bis dahin „so gut wie bedeutungslos, teils anämische Gebilde, teils überhaupt nicht existent“,<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;106.</ref> erlebten nun einen stetigen Zustrom neuer Mitglieder und einen enormen politischen Bedeutungsgewinn. Die Zahl der lokalen ''fasci'' vervielfachte sich binnen weniger Monate von 190 (Oktober 1920) auf 800 (Ende 1920), 1.000 (Februar 1921) und 2.200 (November 1921).<ref name="ReferenceB">Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;157.</ref> Ihre Reputation im antisozialistischen Lager war schlagartig gestiegen, als am 21. November 1920 mehrere hundert bewaffnete Faschisten die konstituierende Sitzung des neugewählten sozialistischen Gemeinderates von [[Bologna]] überfielen, wobei neun Menschen starben. Die „Schlacht von Bologna“ leitete die Periode des faschistischen ''squadrismo'' ein, der bewaffneten „Strafexpeditionen“ gegen „rote“ Partei- und Gewerkschaftshäuser, Zeitungsredaktionen, Arbeiterheime, Kulturhäuser, Gemeindeverwaltungen, Genossenschaften und Einzelpersonen. Die einzelnen ''squadre'' wurden häufig von Industriellen und Großgrundbesitzern ausgerüstet (mitunter auch direkt geführt), profitierten aber vor allem von der direkten und indirekten Unterstützung durch staatliche Stellen aller Ebenen.<ref>Procacci: ''Die politischen und sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges in Italien und die Krise des liberalen Staates,'' S.&nbsp;180 f. Eine Spezialstudie zu diesem Gegenstand ist Elazar, Dahlia S., ''The Making of Fascism. Class, State and Counter-Revolution, Italy 1919–1922,'' Westport (Conn.)-London 2001. Siehe auch Adrian Lyttelton, ''Seizure of Power,'' S.&nbsp;39f.</ref> Der Kriegsminister im [[Kabinett Giolitti V]], der 1912 aus dem PSI ausgeschlossene rechte Sozialdemokrat [[Ivanoe Bonomi]], regte im Oktober 1920 den Eintritt von entlassenen Reserveoffizieren in die ''fasci'' an, wobei ihnen ein großer Teil des bisherigen Soldes weitergezahlt werden sollte.<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;127.</ref> Justizminister [[Luigi Fera]] wies die Gerichte in einem Rundschreiben an, Verfahren gegen Faschisten nach Möglichkeit einschlafen zu lassen.<ref name="ReferenceB" /> Hunderte sozialistische Gemeindeverwaltungen, die zum Ziel von faschistischen „Strafexpeditionen“ geworden waren, ließ die Regierung im Frühjahr 1921 „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“<ref>Zitiert nach Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;157.</ref> auch offiziell auflösen, darunter die von Bologna, [[Modena]], [[Ferrara]] und [[Perugia]]. Die Dominanz der Sozialisten in vielen Gemeindeparlamenten hatte die liberalen Eliten seit 1919 besonders beunruhigt, da das gesellschaftliche Kräfteverhältnis hier tatsächlich zugunsten der Linken zu kippen drohte.<ref name="ReferenceA" /><br />
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Die Ausbreitung der ''fasci'' erfolgte regional sehr ungleichmäßig und in der Regel ohne direkten politischen, ideologischen oder persönlichen Bezug zu Mussolini. Auch der Großteil der politischen Symbolik des italienischen Faschismus entstand in dieser Phase unabhängig vom Mailänder Zentrum spontan und wurde durch Imitation schrittweise von der gesamten Bewegung übernommen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;121.</ref> [[Triest]], wo sowohl die nationalistische als auch die antisozialistische Agitation besonders intensiv war und in den Auseinandersetzungen mit der slowenischen Minderheit fließend ineinander überging, entwickelte sich zur ersten echten Hochburg des Faschismus. Hier hatte der örtliche ''fascio'' im März 1921 14.756 Mitglieder (18 % der Gesamtmitgliedschaft). Die Organisationen in [[Turin]], Rom und [[Ravenna]] hatten damals dagegen erst 581, 1.480 und 70 Mitglieder.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;153.</ref><br />
<br />
Die persönliche Rolle Mussolinis in der faschistischen Bewegung blieb bis 1921 ungeklärt. Seine Beziehungen zu den Führern des Provinzfaschismus, die die faschistische Gewalt in erster Linie organisierten, waren wiederholt ausgesprochen angespannt.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;121.</ref> Der zukünftige ''Duce'' gehörte nicht zu den Verfechtern eines intransigenten Radikalismus, war nicht zuletzt auf sein eigenes Fortkommen bedacht und neigte zu Kompromissen (eine Einbindung des rechten Flügels der Sozialisten und der Gewerkschaften in einen „nationalen Block“ blieb sein Ziel, bis dies 1924 unmöglich wurde).<ref>Siehe Lyttelton, Seizure of Power, S.&nbsp;48f.: „Primarily the division, it is important to understand, was not one between different social programmes or conceptions, but one between the pragmatism of Mussolini, wishing to use Parliament and make alliances with the old parties, and the pursuit of integral intransigence.“</ref> Von wesentlicher Bedeutung für die Stellung Mussolinis war es, dass er im Finanzzentrum des Landes lebte und die großen „Spenden“ von Industriellen und Bankiers auch nach 1919 meist direkt an ihn und den ''Popolo d’Italia'' gingen; er war damit innerhalb der faschistischen Bewegung vergleichsweise unabhängig und konnte die in der Provinz benötigten Gelder verteilen.<ref>Siehe Lyttelton, Seizure of Power, S.&nbsp;50.</ref><br />
<br />
Mussolini gelang es, die ''Fasci di combattimento'' vor der [[Parlamentswahl in Italien 1921|Parlamentswahl am 15. Mai 1921]] in einen von Giolitti geführten bürgerlichen Wahlblock zu integrieren. Mit dem einflussreichen Politiker, der seit dem 15. Juni 1920 wieder [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsident]] war, stand Mussolini seit Oktober 1920 über einen Mittelsmann in Verbindung.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;123.</ref> Der ''blocco nazionale'' umfasste alle Parteien mit Ausnahme der Sozialisten, der Kommunisten und der katholischen ''[[Partito Popolare Italiano (1919)|popolari]].'' Für Mussolini persönlich bedeutete dieser Erfolg den Eintritt in die von den alten Eliten definierte Zone der „politischen Respektabilität“.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;148.</ref> Zusammen mit Mussolini, der an der Spitze der Listen des ''blocco'' in Mailand und Bologna platziert worden war, zogen 34 weitere Faschisten in die Abgeordnetenkammer ein (bei 275 Mandaten für den gesamten Block).<br />
<br />
Giolitti, der sein wichtigstes Wahlziel – die nachhaltige Schwächung der Sozialisten und der ''popolari'' – nicht erreicht hatte, trat am 27. Juni 1921 zurück. Giolittis Nachfolger Bonomi, der in [[Mantua]] zusammen mit faschistischen Kandidaten auf der Liste des ''blocco nazionale'' angetreten war, versuchte im Juli 1921, den rechten Flügel des PSI von der Partei zu lösen und an das Regierungslager zu binden. Er gewann einige führende Faschisten (darunter Mussolini, [[Cesare Rossi (Politiker)|Cesare Rossi]] und [[Giovanni Giuriati]]), vier sozialistische Abgeordnete und drei Funktionäre des Gewerkschaftsdachverbandes [[Confederazione Generale del Lavoro|CGdL]] für die Unterzeichnung eines „Befriedungspaktes“ (2. August 1921). Mussolini rechtfertigte diesen überraschenden Schritt mit dem Argument, dass es unmöglich sei, die zwei Millionen Sozialisten Italiens zu „liquidieren“; die Option „permanenter Bürgerkrieg“ sei naiv.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;173 f.</ref> Er stand damals unter dem Eindruck der in ganz Italien beachteten Ereignisse von [[Sarzana]] ('fatti di Sarazena'), wo am 21. Juli eine „Strafexpedition“ von 500 [[Ligurien|ligurischen]] und [[Toskana|toskanischen]] ''squadristi'' in die Flucht geschlagen worden war, nachdem sich – für die Faschisten völlig unerwartet&nbsp;– eine Handvoll [[Carabinieri]] auf die Seite der Einwohner gestellt hatte. 14 ''squadristi,'' ein Polizist und einige Bürger starben. Für Mussolini, der offen von einer „Krise des Faschismus“<ref>Zitiert nach Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;180.</ref> sprach, warf dies die Frage auf, was die ''fasci'' „wirklich wert sind, wenn ihnen die Polizeimacht des Staates entgegentritt.“<ref>Angelo Tasca: ''Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus,'' S.&nbsp;175. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;173.</ref> Hinter diesem Schachzug stand jedoch auch die nicht zuletzt in persönlichen Ambitionen wurzelnde Absicht Mussolinis, die fluktuierenden und lose vernetzten ''fasci'' zu „parlamentarisieren“ und zu einer Partei zusammenzufassen, um so mittel- und langfristig an der politischen Macht in Rom zu partizipieren.<br />
<br />
Faschistische Extremisten, vor allem die Exponenten des militanten „Agrarfaschismus“ der Po-Ebene, der [[Emilia (Region)|Emilia]], der Toskana und der [[Romagna]] wie [[Italo Balbo]] und [[Dino Grandi]], die eine völlige Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die Errichtung eines autoritären Regimes ohne Rücksichtnahme auf liberale Interessengruppen für möglich hielten, griffen Mussolini daraufhin offen an. Dieser zog sich am 18. August 1921 aus dem Exekutivkomitee der ''Fasci di combattimento'' zurück, gefolgt von Rossi, der beklagte, dass der Faschismus zu einer „reinen, authentischen und exklusiven Bewegung des Konservatismus und der Reaktion“<ref name="ReferenceC">Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;175.</ref> geworden sei. Die „konservativen“ Faschisten waren jedoch nicht in der Lage, sich auf eine Führungspersönlichkeit zu verständigen, die Mussolini hätte ersetzen können, nachdem Gabriele D’Annunzio das Angebot abgelehnt hatte.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;122.</ref> Im Vorfeld des dritten Kongresses der ''fasci,'' der im November 1921 in Rom stattfand, gingen die beiden Fraktionen aufeinander zu: Mussolini erklärte den – ohnehin nie realisierten&nbsp;– Befriedungspakt am 22. Oktober zu einer „lächerlich bedeutungslosen Episode unserer Geschichte“<ref name="ReferenceC" /> (und kündigte ihn im November ganz auf), während die „Reaktionäre“ um Grandi sich mit der Gründung des ''[[Partito Nazionale Fascista]]'' (PNF) abfanden. In Rom bemühte sich der nunmehr als ''Duce'' etablierte Mussolini, die aufgekommenen Zweifel an der Entschiedenheit seines Antisozialismus zu beseitigen:<br />
<br />
{{Zitat<br />
|Text=Ich bedauere nicht, dass ich Sozialist gewesen bin. Aber ich habe die Brücken zu dieser Vergangenheit abgebrochen. Ich bin nicht nostalgisch. Ich denke nicht darüber nach, zum Sozialismus zu gelangen, sondern darüber, von ihm loszukommen. In wirtschaftlichen Angelegenheiten sind wir Liberale, weil wir glauben, dass die nationale Wirtschaft nicht kollektiven Körperschaften oder der Bürokratie überlassen werden kann.<br />
|Autor=Bosworth<br />
|Quelle=''Mussolini’s Italy''<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;175 f.</ref>}}<br />
<br />
Mussolini sorgte für weitere Klarstellungen am Rande. Aus dem Parteiprogramm wurden die noch vorhandenen Reste republikanischen und antiklerikalen Gedankenguts aus der Frühzeit der ''fasci'' entfernt.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;176.</ref> Von außenpolitischen Abenteuern im Stile D’Annunzios hatte sich Mussolini schon 1920 distanziert; nur „Verrückte und Kriminelle“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;123.</ref> würden nicht begreifen, dass Italien Frieden brauche.<br />
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=== „Marsch auf Rom“ ===<br />
[[Datei:March on Rome.jpg|mini|Mussolini und das [[Quadrumvirat]] während des Marsches auf Rom am 28. Oktober 1922]]<br />
{{Hauptartikel|Marsch auf Rom}}<br />
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Nach dem Kongress von Rom festigte Mussolini zielstrebig seine Position innerhalb der faschistischen Bewegung. Sekretär des PNF wurde [[Michele Bianchi]], ein enger Vertrauter des ''Duce.'' Die ''squadre'' wurden formal den lokalen Parteigruppen zugeordnet und einer Generalinspektion unterstellt. Die Führer des Provinzfaschismus (für die sich bald das äthiopische Lehnwort ''[[Ras (Äthiopien)|ras]]'' einbürgerte) wahrten gleichwohl eine erhebliche Autonomie, die sie auch in den Jahren der Diktatur sichern und zum Teil noch ausbauen konnten.<br />
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Ab Januar 1922 erschien auf Anregung Mussolinis die Zeitschrift ''Gerarchia'' (bis 1933 redigiert von [[Margherita Sarfatti]]), die dem Faschismus einen verbindlichen intellektuellen Überbau verschaffen sollte. Persönlich war Mussolini kein „Fundamentalist“ der nach und nach konturierten faschistischen Ideologie, sondern achtete vor allem auf deren praktischen politischen Nutzen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;135.</ref><br />
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Nach dem Rücktritt Bonomis bildete der Liberale [[Luigi Facta]] im Februar 1922 eine Regierung, die allgemein als Platzhalter für ein neues Kabinett Giolitti angesehen wurde. In der Regierungszeit Factas begann eine „zweite Welle“ des ''squadrismo;'' die sozialistischen Hochburgen in Norditalien wurden Ziel regelrechter Feldzüge der Faschisten, die etwa in der Romagna „wie eine Besatzungsarmee“<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;177.</ref> auftraten. Anfang März besetzten einige tausend ''squadristi'' den [[Freistaat Fiume]]. Bei den erneuten Zügen gegen Bologna und Ferrara im Mai/Juni wurden jeweils mehrere zehntausend Faschisten zusammengezogen. Die sozialistischen und syndikalistischen Gewerkschaften, die im Februar 1922 die ''Alleanza del lavoro'' gebildet hatten, riefen für den 1. August 1922 zu einem politischen Generalstreik gegen den faschistischen Terror auf. Er wurde nach einem faschistischen Ultimatum bereits am 3. August abgebrochen. Im Gegenstoß drangen die Faschisten nun auch in linke Hochburgen wie [[Parma]] und [[Genua]] ein, wo es zu mehrtägigen Straßenkämpfen kam. Bis zum Oktober 1922 kamen nach neueren Berechnungen mindestens 3.000 Menschen bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;141.</ref> Im September erreichten die Faschisten mit Vorstößen nach [[Terni]] und [[Civitavecchia]] das Umland Roms.<br />
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Im Juli 1922 wurde Facta nach faschistischen Ausschreitungen in [[Cremona]], gegen die die Behörden erneut nichts unternommen hatten, mit den Stimmen der ''popolari,'' der Sozialisten und liberaler Demokraten gestürzt (aber sofort wieder mit der Regierungsbildung beauftragt). Mussolini begann nun, mit Giolitti, Orlando und Salandra – den „starken Männern“ der italienischen Politik&nbsp;– über seine Rolle in einem künftigen Kabinett zu verhandeln. Noch war nicht abzusehen, ob er „ein kommender Mann oder ''der'' kommende Mann“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;138.</ref> war. Seine Beiträge im ''Popolo d’Italia'' und seine Reden in der Abgeordnetenkammer waren nicht erst seit dieser Zeit vor allem darauf abgestellt, ein Höchstmaß an „staatsmännischer“ Glaubwürdigkeit und Urteilsfähigkeit zu demonstrieren, während er die radikalen Wortmeldungen Bianchi, Balbo, Farinacci und anderen überließ.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;137. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;179.</ref> Der Demonstration außenpolitischer Kompetenz hatte Mussolinis erste breit beachtete Auslandsreise gedient, die ihn im März 1922 nach [[Weimarer Republik|Deutschland]] führte. In [[Berlin]] traf er mit „bemerkenswert hochrangigen“<ref>Wolfgang Schieder: ''Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce.'' München 2013, S.&nbsp;220.</ref> Gesprächspartnern zusammen, darunter Reichskanzler [[Joseph Wirth]], Außenminister [[Walther Rathenau]], [[Gustav Stresemann]] und dem einflussreichen liberalen Journalisten [[Theodor Wolff]], der Mussolini auch später freundschaftlich verbunden blieb.<ref>Klaus-Peter Hoepke: ''Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus. Ein Beitrag zum Selbstverständnis und zur Politik von Gruppen und Verbänden der deutschen Rechten.'' Düsseldorf 1968, S.&nbsp;14. Ein Bericht Wolffs über eine „Audienz“ bei Mussolini ist abgedruckt bei Schieder: ''Mythos Mussolini,'' S.&nbsp;221–230.</ref><br />
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Im Oktober 1922 erreichte die politische Krise den Höhepunkt. Die sozialistische und kommunistische Linke war als politischer Faktor bereits weitgehend ausgeschaltet. Die Gewerkschaften verloren nach dem Fehlschlag des Generalstreiks im August noch einmal massiv Mitglieder und Einfluss, während sich die sozialistische Partei Anfang Oktober erneut spaltete.<ref>Giuseppe Finaldi: ''Mussolini and Italian Fascism.'' Harlow 2008, S.&nbsp;45.</ref> In den über Mittelsmänner geführten Verhandlungen mit Giolitti gab Mussolini nun zu verstehen, dass er zur Führung einer Koalitionsregierung bereit sei. Da der PNF nur über 35 Mandate in der Abgeordnetenkammer verfügte, war ein von Mussolini geführtes Kabinett – wenn es nicht sofort als Staatsstreichregierung auftrat&nbsp;– auf die Unterstützung der liberalen und konservativen Blöcke des Parlaments angewiesen. In öffentlichen Stellungnahmen würdigte Mussolini nun einmal mehr die Monarchie und die katholische Kirche und stellte in einem Gespräch mit General [[Pietro Badoglio]] die Passivität der Armee bei einer eventuellen, mit einer demonstrativen Aktion der ''fasci'' gegen Rom verbundenen faschistischen Machtübernahme sicher. Bereits am 20. September 1922 hatte er sich in einer Rede in [[Udine]] erneut zu einer liberalen Wirtschaftspolitik bekannt und sich für einen Bruch mit der seit 1919 in Ansätzen ausgebildeten staatlichen Sozialpolitik ausgesprochen.<ref>Finaldi: ''Mussolini.'' S.&nbsp;46. Siehe auch Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S.&nbsp;29.</ref> Die berühmte [[Rede von Udine]] gilt als vorweggenommene Regierungserklärung des Faschismus. Sie kombinierte das Bekenntnis zu Gewalt und Gehorsam mit einer Absage an die Demokratie und der Ankündigung, die Massen zur Unterstützung italienischer Machtpolitik zu mobilisieren. Italiens Größe – statt einer „Politik der Entsagung und der Feigheit“ – war das Hauptziel.<ref>[https://www.woz.ch/-3351 Jens Renner] [[WOZ Die Wochenzeitung|WOZ]], 1. November 2012</ref><br />
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Am 25. Oktober verließ Mussolini den Parteitag des PNF, der am Vortag in [[Neapel]] begonnen hatte, und zog sich nach Mailand zurück. Obwohl er einen gewaltsamen Putsch, mit dem führende Squadristen immer wieder gedroht hatten, nicht ernstlich vorbereitete,<ref>Schieder: ''Faschismus,'' S.&nbsp;30.</ref> hatte er sich vorab mit einem „inszenierten Marsch“<ref>Sven Reichardt: ''Der Zusammenbruch des Parlamentarismus in Italien nach dem Ersten Weltkrieg 1919 bis 1929.'' In: Andreas Wirsching (Hrsg.): ''Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich.'' München 2007, S.&nbsp;61–86, S.&nbsp;80.</ref> auf die Hauptstadt einverstanden erklärt. Dieser später zum Eckstein der „faschistischen Revolution“ verklärte „[[Marsch auf Rom]]“, an dem in strömendem Regen wohl lediglich 5.000<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;181. Schieder: ''Faschismus,'' S.&nbsp;31 spricht von 14.000 Teilnehmern.</ref> ''squadristi'' teilnahmen, begann am Morgen des 28. Oktober. Mit dem Unternehmen wollte Mussolini den König zu einer Entscheidung zwingen, von der er annehmen konnte, dass sie zu seinen Gunsten ausfallen würde. Giolitti, Salandra und Orlando waren zu diesem Zeitpunkt ebenso wie der König, der [[Pius XI.|Papst]], die Armeeführung und die Wirtschaftsverbände mit einem faschistischen Ministerpräsidenten, den Mussolini am 24. Oktober in Neapel erstmals öffentlich gefordert hatte, einverstanden.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;180 und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;139.</ref> Am 29. Oktober ließ [[Viktor Emanuel&nbsp;III.]] Mussolini telefonisch nach Rom bestellen, wo er am Morgen des nächsten Tages eintraf und am 31. Oktober als Ministerpräsident vereidigt wurde. Der Simulation eines politischen Umsturzes diente die faschistische „Siegesparade“ am 31. Oktober, an der Mussolini persönlich teilnahm. Erst dadurch entstand der „politische Mythos vom gewaltsam erzwungenen Umsturz durch den Faschismus.“<ref>Schieder: ''Faschismus,'' S.&nbsp;33.</ref> Der Einzug der Squadristen in Rom endete mit einem Überfall auf das Arbeiterviertel [[Nomentano – San Lorenzo|San Lorenzo]], wo mehrere Menschen getötet wurden.<br />
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== Regierungschef (1922–1943) ==<br />
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=== Weg zur Diktatur (1922–1926) ===<br />
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==== Konsolidierung der Macht ====<br />
Das erste Kabinett Mussolini war eine Koalitionsregierung der italienischen Rechten. Mussolini war das einzige führende Mitglied des PNF mit Ministerrang (Außen- und Innenminister); die Faschisten [[Giacomo Acerbo]] und [[Aldo Finzi]] erhielten lediglich Staatssekretariate. Wichtige Ministerien gingen an Angehörige des konservativen und nationalistischen Establishments ([[Giovanni Gentile]] (Bildung und Erziehung), [[Luigi Federzoni]] (Kolonien), [[Armando Diaz]] (Krieg), [[Paolo Thaon di Revel]] (Marine)). Die Minister [[Alberto De Stefani]] (Finanzen), [[Aldo Oviglio]] (Justiz) und [[Giovanni Giuriati]] (befreite Gebiete), die aus dem gleichen Milieu kamen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits der faschistischen Partei beigetreten.<ref>De Stefani war Professor an der Universität Padua, Oviglio Rechtsanwalt in Bologna, Giuriati Ex-Offizier und Ex-Sekretär Gabriele D’Annunzios. Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;185 f.</ref> Mit [[Stefano Cavazzoni]] (Arbeit und Soziales) war auch der rechte Flügel des ''Partito Popolare Italiano'' in der Regierung vertreten; dazu kamen Vertreter der meisten liberalen Gruppen. Insgesamt handelte es sich um „ein konservatives Ministerium, das den gemeinsamen Willen der Industrie, der Monarchie und auch der Kirche zum Ausdruck brachte; es stand für den Versuch, die lange Periode der politischen Instabilität nach dem Krieg durch die Etablierung einer stabilen Regierung, die sich auf das breite Spektrum der vielen Fraktionen der Rechten stützen konnte, zu beenden.“<ref>Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;47. Siehe auch Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;187.</ref><br />
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Am 16. November 1922 trat Mussolini erstmals als Ministerpräsident vor das Parlament; mit der Drohung, das Haus jederzeit „zu einem Biwak für meine ''squadre''“<ref>Zitiert nach Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;141.</ref> machen zu können, forderte er Vollmachten, um auf dem Verordnungsweg regieren zu können. Nur die Abgeordneten der Sozialisten und Kommunisten stimmten am 24. November gegen die Vorlagen, durch die die Regierung bis zum 31. Dezember 1923 befristete Sondervollmachten erhielt. Sieben liberale Abgeordnete, darunter Nitti und [[Giovanni Amendola]], blieben der Abstimmung fern; dagegen stimmten fünf ehemalige liberale Premierminister – Giolitti, Salandra, Orlando, Bonomi und Facta – für die Regierung. Im Senat war die Stimmenmehrheit für die Regierung noch größer; hier wurde Mussolini offen zur Einrichtung einer Diktatur aufgefordert.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;58.</ref><br />
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Im Winter 1922/1923 kam es insbesondere in den Städten zu schweren Übergriffen der Squadristen auf politische Gegner; in [[Turin]] ermordete ein außer Kontrolle geratenes „faschistisches Exekutionskommando“<ref>Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;62.</ref> gezielt Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter, ohne dass die Polizei – die Mussolini als Innenminister direkt unterstand – einschritt. Stattdessen profitierten tausende Faschisten noch vor dem Jahresende von einer Amnestie. Die im Dezember 1922 eingeleitete Umwandlung der ''squadre'' in eine Nationalmiliz (vgl. [[Schwarzhemden|MVSN]]), in deren Reihen zahlreiche von der „faschistischen Revolution“ enttäuschte Squadristen „Status, Bezahlung und etwas lokale Macht“<ref>Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;67.</ref> erhielten, stellte Mussolini in der Öffentlichkeit als Maßnahme gegen den faschistischen „Illegalismus“ dar. Im gleichen Monat richtete Mussolini mit dem ''[[Großer Faschistischer Rat|Gran Consiglio del Fascismo]],'' dessen Verhältnis zu den verfassungsmäßigen Institutionen vorerst nicht näher definiert wurde, ein Forum für die bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigten faschistischen ''ras'' ein. Dieser Rat war nur durch die Person Mussolinis mit der staatlichen Exekutive verbunden.<br />
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Im Laufe des Jahres 1923 verschmolz die faschistische Partei mit den anderen Strömungen der italienischen Rechten. Der von Mussolini betriebene Zusammenschluss mit der ''Associazione Nazionalista Italiana'' im März wurde zur „Wasserscheide für den Faschismus“.<ref>Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;49. Siehe auch Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;70.</ref> Mit der ANI stießen zahlreiche ebenso „respektable“ wie einflussreiche Persönlichkeiten zur Partei, die im Militär, beim Hof, in der Bürokratie, im diplomatischen Dienst und in der Wirtschaft bestens vernetzt waren und – zu nennen ist hier insbesondere [[Alfredo Rocco]] – in den folgenden Jahren eine entscheidende Rolle bei der Einrichtung und ideologischen Absicherung des faschistischen Regimes spielten. Auch der konservative Flügel des [[Politischer Katholizismus|politischen Katholizismus]] verband sich 1923 mit dem PNF. [[Luigi Sturzo]], der Führer der ''popolari,'' beugte sich im Juli 1923 dem Druck aus dem Vatikan und zog sich zurück.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;187 f. Siehe auch Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;65.</ref> Mussolini konnte sich im Schatten dieser Entwicklung weitgehend aus seiner relativen Abhängigkeit von den Altfaschisten und den ''ras'' lösen. Die Mitgliederzahl des PNF stieg durch den Zustrom zahlreicher „Faschisten der letzten Stunde“ ''(fascisti dell’ultima ora)'' bis Ende 1923 auf 783.000, nachdem sie im Oktober 1922 noch unter 300.000 gelegen hatte.<br />
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==== Neues Wahlgesetz, Beurlaubung des Parlaments Ende 1923 und Wahl 1924 ====<br />
Die Festigkeit des Bündnisses mit den alten Eliten unterstrich das sogenannte [[Acerbo-Gesetz]] ''(legge Acerbo),'' das im November 1923 mit den Stimmen der liberalen Parlamentsmehrheit verabschiedet wurde. Mit diesem neuen Wahlgesetz wurden die Wahlkreise zugunsten nationaler Listen abgeschafft. Es sah vor, dass jene Liste, die national die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen (mindestens 25 %) auf sich vereinigte, zwei Drittel der Abgeordnetenmandate erhalten sollte. Finaldi nannte diesen Vorgang eine „konstitutionellen Revolution“.<ref>Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;50.</ref><br />
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Als das Parlament im Dezember 1923 zur neuen Session zusammentreten wollte, wurde es per Dekret des Königs nach Hause geschickt.<ref>''Neuwahlen in Italien?,'' [[Neue Zürcher Zeitung|NZZ]], 12. Dezember 1923, erstes Morgenblatt, Titelseite; Zitat: „Als die Onoraboli nach kaum begonnener Sesionsarbeit gestern wieder zusammentreten wollten, nicht etwa, um der Regierung schwierigkeiten zu machen – das hat man sich auf Montecitorio längst abgewöhnt – sondern um sie ausserordentlichen Vollmachten Mussolinis stillschweigend zu verlängern, da empfing sie der Ministerpräsident mit einem königlichen Dekret, das die Session als geschlossen erklärt. (…) Mussolini bleibt seiner Rolle als verächter des Parlamentarismus treu; seit einem Jahr spielt er mit dieser Kammer, die es nicht über sich gebracht hat, in Schönheit zu sterben, Katz und Maus.“</ref><br />
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Die Zusammenstellung des ''listone,'' der faschistischen Sammelliste für die [[Parlamentswahlen in Italien 1924|Neuwahl des Parlaments am 6. April 1924]], übernahm Mussolini persönlich. Auf ihr erschienen neben rund 200 Faschisten beinahe ebenso viele Mitglieder anderer Parteien und Organisationen, darunter Salandra und Orlando. Giolitti trat zwar mit einer eigenen Liste an, distanzierte sich jedoch von der antifaschistischen Opposition.<br />
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[[Datei:Gabriele Galantara, LUI, caricatura di Mussolini, L'Asino, 1924.jpg|mini|[[Gabriele Galantara]]: ''LUI'' (deutsch: „ER“). Titelseite der Satirezeitschrift ''L’Asino'' aus dem Jahr 1924]]<br />
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Diese Wahl im April war bereits nicht mehr frei. Schon im Februar war bekannt, dass die „Überwachung der Wahlkabinen“ der ''Milizia Nazionale,'' also den [[Schwarzhemden#Faschistische Miliz MVSN (1923–1943)|Schwarzhemden]] anvertraut werde.<ref>''Mussolinis Wahlen,'' [[Neue Zürcher Zeitung|NZZ]], 27. Februar 1924, Erstes Morgenblatt, Titelseite</ref> Abgesehen von offensichtlichen Fälschungen am Wahltag selbst – so stimmten in Teilen der [[Provinz Ferrara]], einer Hochburg der Linken, angeblich 100 % der Wähler für den ''listone'' –, war im Vorfeld für die Opposition ein ständig verschärfter Zustand der Halblegalität geschaffen worden. Ihre Zeitungen wurden wiederholt verboten oder beschlagnahmt, ihre Kandidaten angegriffen. Faschisten verwüsteten das römische Privathaus des ehemaligen Ministerpräsidenten Nitti. Gewalt wurde vor allem gegen Kommunisten und Sozialisten eingesetzt. Hunderte Menschen wurden verletzt oder getötet, darunter ein Kandidat der Sozialisten. Auch Mussolini dirigierte über sein Büro eine Gruppe faschistischer Schläger, die von Albino Volpi und dem Italoamerikaner [[Amerigo Dumini]], zwei „professionellen Gangstern“,<ref>Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;71. Siehe auch ebenda, S.&nbsp;74 f.</ref> geführt wurde.<br />
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Der PPI, dem die Unterstützung der Kirche entzogen worden war, erhielt bei der Wahl noch 9,1 % der Stimmen (39 Mandate). Die gespaltene Linke spielte parlamentarisch kaum noch eine Rolle (Sozialisten 22, [[Partito Socialista Unitario|Rechtssozialisten]] 24, Kommunisten 19 Mandate). Mussolini hatte „das Unmögliche“ geschafft – „die ‚Subversiven‘ waren nun eine geschlagene und bedeutungslose Minderheit.“<ref>Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;51.</ref> Der faschistische ''listone'' kam nach offiziellen Angaben auf 66,3 % der abgegebenen Stimmen.<br />
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Nachdem sich die vereinigte Rechte die Mehrheit der Sitze gesichert hatte, wurde ab 15. Februar 1925 die Grundlagen dafür geschaffen, dass sich die Abgeordnetenkammer konsequenterweise nicht mehr durch eine eigentliche Wahl konstituierte, sondern durch ein Referendum; im Jahr 1929 konnte sich das Volk nur noch mit ja oder nein zu einer vorgelegten Liste äußern. Diese Liste von 400 Volksvertretern wählte der [[Großer Faschistischer Rat|Große Faschistische Rat]] aus einer Vorschlagsliste von 1000 Personen von Verbänden.<ref>[https://storia.camera.it/legislature/sistema-sistema-plebiscitario-1929-1934#nav Sistema plebiscitario (1929-1934)], Internetauftritt des italienischen Parlaments, abgerufen am 29. November 2020</ref> Die nächste wirkliche Parlamentswahl erfolgte erst 1946.<br />
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==== Matteotti-Krise ====<br />
Am 10. Juni 1924 wurde [[Giacomo Matteotti]], Sekretär des PSU und Reformsozialist, von sechs ''[[Squadristi]]'' entführt, in einen [[Lancia Lambda]] gezwängt und mit einer Feile erstochen. Matteotti hatte am 30. Mai in der Abgeordnetenkammer, unbeeindruckt von inszenierten Tumulten faschistischer Abgeordneter, in Anwesenheit Mussolinis zahlreiche Unregelmäßigkeiten der Aprilwahl offengelegt und die Annullierung der Ergebnisse verlangt. Er reagierte damit auf eine Provokation Mussolinis, der die Kammer zuvor aufgefordert hatte, mehreren tausend Gesetzen en bloc zuzustimmen. Außerdem liefen Gerüchte um, dass Matteotti über Material verfüge, mit dem führende Faschisten der Korruption überführt werden könnten. Es hat sich bislang nicht belegen lassen, dass Mussolini die Ermordung Matteottis in Auftrag gegeben hat. Gleichwohl hat die neuere Forschung sicher nachgewiesen, dass Personen aus dem engsten Umfeld des Regierungschefs – darunter Rossi, Finzi und Marinelli – die Tat mit vorbereiteten oder von den Vorbereitungen wussten. Dabei scheint der drohende Korruptionsskandal, bei dem es um Bestechungszahlungen der amerikanischen Ölgesellschaft [[Standard Oil]] ging, das Motiv geliefert zu haben, nicht aber Matteottis Auftritt im Parlament.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini.'' S.&nbsp;158, 160. Siehe auch derselbe, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;211.</ref><br />
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Der Mord an dem Oppositionspolitiker erwies sich für Mussolini als politische Katastrophe; wegen seiner bürgerlichen Herkunft und seines an der britischen [[Labour Party]] orientierten, höchst gemäßigten Sozialismus wurde Matteotti, der von Mussolini bis zu diesem Zeitpunkt immer wieder umworben worden war, auch von vielen Liberalen respektiert. Mussolini wurde offenbar noch am Abend des 10. Juni von Dumini über die Tat unterrichtet, bestritt am Tag darauf vor dem Parlament aber jedes Wissen über den Verbleib Matteottis, dessen Leichnam schließlich am 16. August an einer römischen Ausfallstraße gefunden wurde. Seinen Stab wies er an, in der Angelegenheit „so viel Konfusion wie möglich“<ref>Zitiert nach Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;78.</ref> zu erzeugen. Allerdings führten die Ermittlungen aufgrund der Identifikation des Fahrzeugs der Entführer binnen weniger Tage direkt in das Vorzimmer Mussolinis. So erhielt die antifaschistische Opposition die unerwartete Möglichkeit, dem schon gefestigten Regime einen schweren und möglicherweise entscheidenden Schlag zu versetzen. Mussolini hat später eingeräumt, dass im Juni 1924 „ein paar entschlossene Männer“ genügt hätten, um einen erfolgreichen Aufstand gegen die völlig diskreditierten Faschisten auszulösen.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;78.</ref> Indessen mobilisierte Mussolini nach kurzer Paralyse die Miliz, entließ [[Emilio De Bono]] als Chef der Polizei, ließ Dumini, Volpi, Rossi und Marinelli festnehmen und übertrug das Innenministerium dem Ex-Nationalisten Federzoni.<br />
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Den entscheidenden Fehler beging die Opposition allerdings selbst. Am 13. Juni verließen Sozialisten, Kommunisten und ''popolari'' zusammen mit einigen Liberalen das Parlament. Dieser rein demonstrative Akt blieb folgenlos; bereits am 18. Juni zogen sich die Kommunisten aus dem sogenannten [[Aventinianer|Aventinblock]] zurück, nachdem ihr Vorschlag, den Generalstreik zu proklamieren und ein Gegenparlament zu konstituieren, von den anderen Parteien abgelehnt worden war. Die verbliebenen Aventinianer „vertrauten törichterweise darauf, dass der König ihre Arbeit für sie erledigen würde.“<ref>Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;86.</ref> Durch die „aventinische Sezession“ wurde aus der für die Faschisten bedrohlichen Debatte um einen politischen Mord, in den dem Anschein nach der Regierungschef verwickelt war, eine direkte „Konfrontation zwischen Faschismus und Antifaschismus. In dieser Auseinandersetzung wussten die italienischen Eliten, wo sie standen.“<ref>Bosworth, ''Mussolini.'' S.&nbsp;163.</ref> Am 24. Juni sprach der Senat Mussolini mit überwältigender Mehrheit das Vertrauen aus und verschaffte der Regierung so die nötige Atempause.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;80.</ref> Mussolinis liberale und konservative Parteigänger, an ihrer Spitze der König, stützten ihn nach einigen Tagen der Unsicherheit weiterhin entschlossen.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;211 f.</ref> Als am 12. September 1924 der faschistische Abgeordnete [[Armando Casalini]] in Rom erschossen wurde, forderten radikale Faschisten wie Farinacci Mussolini immer nachdrücklicher auf, endgültig mit dem Antifaschismus „abzurechnen“ und „ein paar tausend Leute zu erschießen“.<ref>Zitiert nach Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;82.</ref> Mussolini wich diesen Vorstößen zunächst aus.<br />
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Im Dezember 1924 spitzte sich die Krise noch einmal unerwartet zu. Presseveröffentlichungen brachten prominente Faschisten wie Balbo und Grandi mit einer Vielzahl von Gewalttaten in Verbindung. Auch die erste Reihe der Partei musste nun fürchten, demnächst vor Gericht zur Verantwortung gezogen zu werden, da seit einigen Monaten eine Gruppe faschistischer „Normalisierer“ – die das Ohr Mussolinis zu haben schien – die Trennung von den radikalen und kriminellen Elementen verlangte. Am 26. Dezember veröffentlichte ein Oppositionsblatt jedoch ein ihm zugespieltes Memorandum Cesare Rossis, das auch Mussolini zwar nicht mit dem Matteotti-Mord, aber mit ähnlichen Fällen in direkte Verbindung brachte. Nun schien es, als ließen sich Ermittlungen gegen den Regierungschef selbst nicht mehr verhindern. In den folgenden Tagen stand das Kabinett vor dem Auseinanderfallen; Mussolini galt bei Beobachtern als „erledigt“.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;84 f. Siehe auch Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;86.</ref> Führer der Miliz und einige ''ras'' erschienen am 31. Dezember unangemeldet in Mussolinis Büro und verlangten ultimativ, die Opposition endgültig zum Schweigen zu bringen. Wie 1921 sah sich Mussolini nun mit einer offenen Revolte faschistischer Extremisten konfrontiert (und wie 1921 gehörte Balbo zu den Organisatoren). Er ließ noch am gleichen Tag die Abgeordnetenkammer zum 3. Januar 1925 zusammenrufen und übernahm in einer sorgfältig vorbereiteten Rede die „politische, moralische und historische Verantwortung“ für den Mord an Matteotti, nicht jedoch die materielle Verantwortung.<ref>Zitiert nach Bosworth, ''Mussolini.'' S.&nbsp;166.</ref> Bei diesem Auftritt machte Mussolini gleichzeitig deutlich, dass für ihn auf lange Sicht Regierung, Polizei und Präfekten die legitime Autorität repräsentierten, die Unterdrückung der Opposition also „legal“ zu erfolgen habe – genau dies war es, „was das konservative Establishment hören wollte.“<ref>Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;88.</ref> So gelang es ihm, den Grundstein für seine persönliche Diktatur zu legen. Der Aufforderung, ihn für das Verbrechen anzuklagen, kamen seine Gegner aufgrund der Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens nicht nach.<br />
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==== Organisation der Diktatur ====<br />
[[Datei:Benito Mussolini.gif|mini|Benito Mussolini um 1925]]<br />
[[Datei:Flag of Mussolini as Capo del governo of Fascist Italy.svg|mini|Persönliche Flagge Mussolinis als diktatorischer ''Capo del governo'']]<br />
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In seiner Rede hatte Mussolini die aventinische Sezession als „revolutionär“ angegriffen und angekündigt, „binnen 48 Stunden“ für Klarheit zu sorgen. Noch am 3. Januar wiesen Mussolini und Federzoni die [[Präfekt (Italien)|Präfekten]] an, politische Versammlungen und Demonstrationen fortan zu unterbinden und aktiv gegen alle „die Macht des Staates untergrabenden“ Organisationen vorzugehen.<ref name="ReferenceD">Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;216.</ref> Den Abgeordneten der Oppositionsparteien wurde die Rückkehr in die Kammer, die bis dahin zumindest theoretisch möglich gewesen wäre, von diesem Tag an verweigert. Bis 1926 wurden alle nichtfaschistischen Parteien verboten oder aufgelöst. Die Pressezensur wurde nach einer einschlägigen Verordnung vom 10. Januar 1925 noch strenger als zuvor gehandhabt; während die Presseorgane der politischen Linken schrittweise in den Untergrund gedrängt wurden, entließen die großen liberalen Zeitungen im Laufe des Jahres 1925 die wenigen oppositionellen Redakteure, bevor im Dezember 1925 ein repressives Pressegesetz in Kraft trat. Im selben Monat (24. Dezember) beseitigte ein Gesetz über die „Kompetenzen und Vorrechte des Regierungschefs“ die formal noch immer bestehende Abhängigkeit der Regierung vom Parlament. Als ''Capo del Governo'' vertrat Mussolini die Regierung nun allein gegenüber dem König, war ausschließlich diesem verantwortlich und hatte das Recht, Gesetze zu dekretieren, über die die Abgeordneten lediglich noch „diskutieren“ konnten.<br />
<br />
1926 wurden die gewählten Gemeinderäte abgeschafft; fortan führte ein von den Präfekten ernannter Bürgermeister ''([[podestà]])'' die Gemeinden. Diese „Mini-Capos“<ref>Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;216.</ref> wurden bis zum Ende des Regimes in der Regel von den gleichen lokalen Eliten gestellt, die im jeweiligen Ort seit dem Risorgimento das Sagen gehabt hatten.<ref>Siehe Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;55.</ref><br />
<br />
Das Attentat des Anarchisten [[Anteo Zamboni]] auf Mussolini – der erste Attentatsversuch fand durch [[Tito Zaniboni]] am 4. November 1925 statt, ein weiterer am 7. April 1926 durch [[Violet Gibson]]<ref name="Telegraph">{{Internetquelle |autor=Freya Johnston |url=https://www.telegraph.co.uk/culture/books/bookreviews/7316108/The-Woman-Who-Shot-Mussolini-by-Frances-Stonor-Saunders-review.html |titel=The Woman Who Shot Mussolini by Frances Stonor Saunders: review |datum=2010-02-26 |zugriff=2021-02-23 |hrsg=telegraph.co.uk |sprache=en}}</ref> – lieferte schließlich den Vorwand, um im November 1926 die noch verbliebenen antifaschistischen Organisationen samt ihrer Presse zu verbieten; 123 oppositionellen Abgeordneten wurden im gleichen Monat die Mandate entzogen, die kommunistischen, unter ihnen [[Antonio Gramsci]], zudem verhaftet. Das „Gesetz zur Verteidigung des Staates“ (25. November 1926) führte die Todesstrafe für „politische Vergehen“ ein. Es sah außerdem die Schaffung einer politischen Polizei und eines Sondergerichtshofes vor.<br />
<br />
Die Einrichtung der Diktatur betrieb Mussolini – wie am 3. Januar 1925 angekündigt – „legal“, das heißt, ohne die von der [[Statuto Albertino|Verfassung]] definierten politischen Verfahren durch andere zu ersetzen.<ref name="ReferenceD"/> Die 1925/26 von Farinacci geführte faschistische Partei, die mit inneren Auseinandersetzungen beschäftigt war, spielte in diesem Prozess keine aktive Rolle. Das Gleiche gilt für die Miliz, deren Führung nun ehemalige Armeeoffiziere übernahmen. Für die reale politische Herrschaft im faschistischen Italien waren mehr noch als im liberalen Italien die Präfekten entscheidend. Mussolini sorgte hier für eine ausgesprochene strukturelle Kontinuität. Zwischen 1922 und 1929 wurden 86 Präfekten pensioniert oder abgelöst. Ihre Nachfolger waren meist „unpolitische“ Karrierebeamte; die 29 aus dem PNF hervorgegangenen Präfekten erhielten in der Regel kleinere und weniger bedeutende Provinzen. Mussolini setzte diese Machtstruktur entschieden gegen gegenläufige Tendenzen in der faschistischen Partei durch, indem er wiederholt bei Konflikten zwischen den Präfekten und den Parteisekretären der Provinzen intervenierte, so am 5. Januar 1927:<br />
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{{Zitat<br />
|Text=Der Präfekt, ich bestätige dies feierlich, ist die höchste staatliche Autorität in der Provinz. Er ist der direkte Repräsentant der zentralen Exekutive, der höchste politische Repräsentant des faschistischen Regimes.<br />
|Autor=Clark<br />
|Quelle=''Mussolini''<ref>Zitiert nach Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;105.</ref>}}<br />
<br />
Auseinandersetzungen dieser Art begleiteten das Regime allerdings bis 1943. Auch in der Regierung setzte Mussolini nur sehr eingeschränkt auf aus der Partei kommende Faschisten, die häufig lediglich Staatssekretariate erhielten und selten lange im Amt blieben. Nur Dino Grandi und [[Giuseppe Bottai]] gelang es, sich dauerhaft an der Spitze des Staatsapparates zu halten.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;100 f.</ref><br />
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1925 begann Mussolini, die Bezeichnung „totalitär“, die zuerst 1923 von antifaschistischen Intellektuellen verwendet worden war, als Attribut des Regimes zu akzeptieren. In einer Rede zum dritten Jahrestag des Marsches auf Rom definierte er den Faschismus als System, in dem „alles [was geschieht] für den Staat geschieht, nichts außerhalb des Staates steht, nichts und niemand gegen den Staat ist.“<ref>Zitiert nach Bosworth, ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;215.</ref> Er lehnte sich mit dieser Formel an eine Rede des Justizministers Alfredo Rocco an.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;109 f.</ref> Die prägenden Ideologen des italienischen Faschismus, deren Anregungen Mussolini in der Regel folgte, waren fast ausschließlich ehemalige Nationalisten wie Rocco und Giovanni Gentile, die ihren Einfluss gerade 1925/26 „vor allen anderen Tendenzen innerhalb des Faschismus“<ref>Priester, Faschismus, S.&nbsp;276.</ref> behaupten konnten.<ref>Siehe Finaldi, ''Mussolini.'' S.&nbsp;56.</ref> Der „revolutionäre“, auf eine genuine Parteidiktatur hinarbeitende Flügel des Faschismus wurde von Mussolini 1926 endgültig entmachtet (Ablösung Farinaccis am 30. März 1926) und konnte allenfalls einige publizistische Positionen behaupten.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;106 f.</ref><br />
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==== Wirtschafts- und Sozialpolitik ====<br />
Mussolini überließ die Wirtschaftspolitik in den ersten Jahren weitgehend seinem marktliberalen Finanzminister Alberto De Stefani. Die vorsichtigen Versuche insbesondere Nittis und Giolittis, die Steuerlast der „besseren Kreise“ zu erhöhen, die Kriegsgewinne zu besteuern und eine Bodenreform zu initiieren (sog. Visocchi-Dekret von 1919, im Januar 1923 außer Kraft gesetzt), wurden von der neuen Regierung abgebrochen. Sie privatisierte bisherige Staatsmonopole wie das Telefonnetz, die Streichholzproduktion und die Lebensversicherung, senkte die Staatsausgaben und führte neue indirekte Massensteuern ein. Im März 1923 beseitigte ein Dekret den Achtstundentag, wodurch vor allem in der Landwirtschaft die tägliche Arbeitszeit wieder auf bis zu zwölf Stunden ausgedehnt wurde. Mussolini begleitete diese Politik, indem er öffentlich für „Unternehmertum“, Bürokratieabbau und die Abschaffung der ohnehin nur rudimentären Arbeitslosenunterstützung plädierte. Der Staat solle sich aus dem wirtschaftlichen Leben der Nation heraushalten, die Ungleichheit in der Gesellschaft dürfe nicht beseitigt, sondern müsse im Gegenteil noch verschärft werden.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;116 f.</ref> Gleichzeitig wurden ausgewählte Industrieunternehmen und Banken mit Staatsgeldern saniert, darunter im Januar 1923 der eng mit dem Vatikan und den italienischen Bistümern verbundene ''Banco di Roma.'' Mussolini stimmte diesen Schritt persönlich mit Kardinalstaatssekretär [[Pietro Gasparri]] ab und konnte so den „atmosphärischen Grundstein“<ref>Priester, Faschismus, S.&nbsp;244.</ref> für den Ausgleich mit der Kirche legen. Für das Besitzbürgertum erwiesen sich die Jahre 1922–1925 alles in allem als „absolutes Paradies“.<ref>Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;117.</ref> Umgekehrt mussten die Arbeiter in diesem Zeitraum Reallohnsenkungen von 20 bis 25 % hinnehmen.<br />
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Bis 1925 zog sich De Stefani jedoch die Gegnerschaft einflussreicher Interessengruppen zu. Die Freihandelspolitik wurde von den Teilen der Industrie und des Großgrundbesitzes, die unter der ausländischen Konkurrenz litten, und von einzelnen führenden Faschisten, die aus prinzipiellen Gründen für eine Autarkiepolitik eintraten, abgelehnt. Da De Stefani einen ausgeglichenen Haushalt anstrebte, war er gezwungen, gegen erheblichen Widerstand exemplarisch besonders krasse Fälle von Steuerhinterziehung zu ahnden; aus dem gleichen Grund lehnte er es ab, die enorme Vermehrung der Stellen im Staatsapparat, mit denen sich führende Faschisten und deren „Klienten“ versorgen ließen, zu finanzieren. Als es im Sommer 1925 zu einem konjunkturellen Einbruch kam, entließ Mussolini De Stefani. Sein Nachfolger [[Giuseppe Volpi]] war ein Vertreter des protektionistischen Flügels der italienischen Industrie. Seine Ernennung fiel mit der Ausrufung der ersten großen wirtschaftlichen Kampagne des Regimes zusammen. Diese von Mussolini persönlich initiierte „Weizenschlacht“ ''(battaglia del grano)'' hatte das Ziel, die Getreideproduktion deutlich zu erhöhen und so die Abhängigkeit Italiens von Nahrungsmittelimporten zu verringern (Einführung eines Getreideschutzzolls am 24. Juli 1925). Im Hintergrund stand hier bereits das Problem der unausgeglichenen italienischen Zahlungsbilanz und der Wertverlust der Währung; die „Weizenschlacht“ ging im Jahr darauf in die „Schlacht um die Lira“ ''(battaglia della lira)'' über.<br />
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==== Außenpolitik ====<br />
Mit Mussolinis Regierungsantritt wurde das nach faschistischer Lesart auf der [[Pariser Friedenskonferenz 1919|Pariser Friedenskonferenz]] „betrogene“ Italien offiziell zu einer „revisionistischen Macht“, auch wenn sich dieser Revisionismus erst ab 1925/26 klar auszuprägen begann. Er richtete sich in den zwanziger Jahren in erster Linie gegen den Einfluss Frankreichs in Südosteuropa (vgl. [[Kleine Entente]]) und in zweiter Linie gegen [[Königreich Griechenland|Griechenland]] und die [[Türkei]]. Damit setzte sich unter Mussolini eine Tendenz durch, die bereits der Außenpolitik der liberalen Regierungen nicht fremd gewesen war; die These eines außenpolitischen Kontinuitätsbruchs wird in der neueren Forschung überwiegend zurückgewiesen – der „angebliche Gegensatz zwischen moderaten, sensiblen Diplomaten und einem hysterischen, ultranationalistischen ''Duce'' war ein Mythos, den Beamte nach Mussolinis Sturz verbreiteten, um sich der Kritik zu entziehen.“<ref>Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;181.</ref><br />
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Auf der internationalen Bühne führte sich Mussolini mit inszenierten Posen ein. Im November 1922 erschien er bei der [[Vertrag von Lausanne|Lausanner Konferenz]] mit einer Leibwache schwer bewaffneter Schwarzhemden und schien mehr an martialischen Auftritten vor den Journalisten als an den Verhandlungen selbst interessiert zu sein.<ref>Siehe Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;60.</ref> Einen Monat später reiste er nach [[London]], um an der dortigen Reparationskonferenz teilzunehmen. Hier war das von Mussolini sorgfältig registrierte internationale Presseecho noch weitaus weniger vorteilhaft als nach Lausanne. Er verzichtete anschließend – mit der Ausnahme der [[Verträge von Locarno|Konferenz von Locarno]] 1925 – für mehr als ein Jahrzehnt auf Auslandsreisen.<br />
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In den 20er Jahren trat Großbritannien international als „Protektor“<ref>Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;176.</ref> Italiens auf. London sah in dem Land ein Gegengewicht gegen eine französische Hegemonie auf dem Kontinent und einen möglichen Wiederaufstieg Deutschlands. Beide Länder stimmten ihr Auftreten in der Reparationsfrage und beim [[Völkerbund]] ab. Mussolinis (vorerst theoretische) Ambitionen im Mittelmeerraum ([[Korsika]], [[Geschichte Tunesiens#Staatsbankrott, französisches Protektorat (1881 bis 1956)|Tunesien]]) richteten sich – wie auf dem Balkan – vor allem gegen Frankreich, nicht aber gegen Großbritannien, das zu kolonialen Zugeständnissen an Italien bereit war.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;176 f.</ref> Im Sommer 1924 übergaben die Briten [[Oltre Giuba|Jubaland]] an Italien, im Februar 1926 die [[Al-Dschaghbub|Oase Jarabub]]. Der Besuch des britischen Außenministers [[Austen Chamberlain]], bei dem dessen Ehefrau demonstrativ ein Abzeichen der faschistischen Partei ansteckte, stärkte Mussolini im Dezember 1924 während der Matteotti-Krise den Rücken. [[Winston Churchill]], zu diesem Zeitpunkt [[Schatzkanzler]], besuchte Mussolini im Januar 1927 und äußerte sich anschließend äußerst positiv über ihn und das Regime. In konservativen Kreisen Großbritanniens entwickelte sich im Laufe der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ein regelrechter Personenkult um Mussolini.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;167.</ref> Mussolinis Geliebte [[Margherita Sarfatti]] veröffentlichte 1925 ihre Mussolini-Biographie zunächst in Großbritannien, wo sie in konservativen Kreisen viel Anklang fand.<ref>{{Literatur |Autor=[[Werner Rügemer]] |Titel=Verhängnisvolle Freundschaft: Wie die USA Europa eroberten. Erste Stufe: Vom 1. zum 2. Weltkrieg |Verlag=PapyRossa |Ort=Köln |Datum=2023 |ISBN=978-3-89438-803-4 |Seiten=171}}</ref> Auch in den USA hatten Mussolini-Verehrer viel Publikum. Der amerikanische Botschafter in Italien, [[Richard Washburn Child]], trat schon 1922 oder 1923 in Mussolinis Faschistische Partei ein. 1927 veröffentlichten ''New York Sun'' und ''[[New York Tribune|New York Herald Tribune]]'' zwölf von Sarfatti verfasste Lobeshymnen über Mussolinis Privatleben. 1928 redigierte Child Mussolinis Autobiographie für die Zeitschrift ''[[The Saturday Evening Post]].'' 1931 gab der Medienunternehmer [[William Randolph Hearst]] bei Mussolini und Sarfatti eine Artikelkolumne in Auftrag, für die er ihnen 1500 Dollar pro Woche bezahlte.<ref>Rügemer, Verhängnisvolle Freundschaft, S.&nbsp;170</ref><ref>{{Internetquelle |url=https://news.google.com/newspapers?id=ozVPAAAAIBAJ&sjid=RyEEAAAAIBAJ&pg=5945,4192018&dq=richard+washburn+child&hl=en |titel=Richard Washburn Child, Author-Diplomat, Dies |hrsg=United Press |datum=1935-01-30 |abruf=2024-03-19}}</ref><br />
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Am 31. August 1923 ließ Mussolini im Schatten der [[Ruhrbesetzung|Ruhrkrise]] die griechische Insel [[Korfu]] beschießen und besetzen, um „Genugtuung“ für die Ermordung eines italienischen Generals auf griechischem Territorium zu erhalten (vgl. [[Korfu-Krise]]). Im Januar 1924 erkannte [[Königreich Jugoslawien|Jugoslawien]] die Annexion [[Freistaat Fiume|Fiumes]] durch Italien an (vgl. [[Vertrag von Rom (1924)|Vertrag von Rom]]). Seit 1925 konnte Mussolini den Einfluss Jugoslawiens in [[Geschichte Albaniens#Zwischenkriegszeit|Albanien]] ausschalten und das Land politisch und wirtschaftlich eng an Italien binden (vgl. [[Tiranapakt]]). 1926 begann Italien, kroatische und mazedonische Nationalisten finanziell und materiell zu unterstützen, um den jugoslawischen Staat zu untergraben.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;180.</ref> Auch albanische Separatisten im [[Kosovo]] erhielten mit Billigung Mussolinis italienische Subsidien.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;201.</ref><br />
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Die Ergebnisse der Locarno-Konferenz (Oktober 1925) waren für Italien zwiespältig. Die gewünschte Garantie der österreichisch-italienischen Grenze und der Unabhängigkeit Österreichs durch Deutschland hatte Mussolini in den Vorverhandlungen nicht durchsetzen können und deshalb zunächst der Konferenz fernbleiben wollen. Überraschend lud ihn jedoch Chamberlain ein, zusammen mit Großbritannien als Garant der deutsch-französischen und der deutsch-belgischen Grenze aufzutreten. Damit räumte Großbritannien Italien erstmals offiziell den Status einer Großmacht ein. Mussolini nutzte die Gelegenheit für einen dramatischen Auftritt; er reiste am letzten Tag der Verhandlungen überraschend mit einem Schnellboot und großer Leibwache über den [[Lago Maggiore]] an, zeigte sich für wenige Minuten bei den Verhandlungen und fuhr wieder davon.<ref>Siehe Clark, ''Mussolini.'' S.&nbsp;179. Siehe auch Mack Smith, ''Mussolini.'' S.&nbsp;97.</ref><br />
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=== Höhepunkt der persönlichen Diktatur (1927–1934) ===<br />
==== Inszenierung und Realität der Herrschaft ====<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|mini|Die [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|''Schwarze Fahne des Faschismus'']] wurde als Parteiflagge von spätestens 1934 bis 1943 zusammen mit der italienischen Trikolore gehisst]]<br />
Nach dem Sturz Farinaccis, der ein gewisses Maß an Diskussion unter den führenden Faschisten geduldet und nicht gezögert hatte, sich als puristischer „Gegenpapst“ zu inszenieren,<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;107 und Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;149.</ref> richtete der neue Parteisekretär [[Augusto Turati]], ein Schützling von Mussolinis Bruder [[Arnaldo Mussolini|Arnaldo]], die Partei zwischen 1926 und 1930 ganz auf Mussolini aus. Turati ließ bis 1929 50.000 „Extremisten“ aus der Partei ausschließen, etwa 100.000 weitere Altfaschisten traten aus und wurden überwiegend von sozialkonservativen Nachfolgern – nicht selten alteingesessene Notabeln<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;107.</ref> – ersetzt.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;189.</ref> 1926/27 traten dem PNF hunderttausende Neumitglieder bei; 1927 zählte man erstmals mehr als 1 Million organisierte Faschisten. Turati schaffte mit Rückendeckung Mussolinis die parteiinternen Wahlen ab und ließ fast alle lokalen Parteizeitungen einstellen. Nationale Parteikongresse – wie zuletzt im Juni 1925 – fanden nicht mehr statt. Diese Maßnahmen machten Mussolinis Position zwar unangreifbar, entzogen der (einzigen zugelassenen) Partei aber mit überraschender Schnelligkeit jede politische Substanz und Dynamik: „Eine aufgeblähte, zentralisierte Partei der Karrieristen und Konformisten, der Beamten und Bankfilialleiter, die Führer von oben eingesetzt: das war das Gegenteil von Farinaccis Ideal ‚Wenige, aber Gute.‘“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;108.</ref> Eine weitere Ausschlusswelle unter Turatis Nachfolger Giuriati schloss diesen Prozess 1930/31 ab.<br />
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Bereits 1924 war vom Propagandaministerium das Institut LUCE (''L’unione cinematografica educativa'') gegründet und 1925 verstaatlicht worden. Es war systematisch befasst mit der Mystifizierung des ''Duce'' im Medium des Films: Mussolini war zugleich „Auftraggeber, Objekt, Nutznießer und Zensor der LUCE-Produktionen“.<ref>Frank Ernst Müller: ''Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini – die ‚oratoria di piazza’.'' Université de Picardie Jules Verne, o.&nbsp;J. {{Webarchiv|url=https://www.u-picardie.fr/LESCLaP/IMG/pdf/mueller_musso_cle811d1e.pdf |wayback=20190212011531 |text=Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini – die ‚oratoria di piazza’.}} (PDF), S.&nbsp;4.</ref> Die propagandistische Überhöhung Mussolinis – der ''ducismo'' oder ''mussolinismo'' – begleitete auch den Umbau der Partei seit 1926. Arnaldo Mussolini, Chefredakteur des ''Popolo d’Italia,'' und der faschistische Journalist und Politiker Giuseppe Bottai gaben hierbei den Grundton vor. „Mussolini hat immer Recht“ ''(Mussolini ha sempre ragione.)'' wurde zu einer verbreiteten Phrase, der Diktator selbst bald schon zu einer „legendären Figur“,<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;124.</ref> mit deren übermenschlichen Qualitäten – nicht nur als Staatsmann, sondern auch als „Flieger, Fechter, Reiter, erster Sportsmann Italiens“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;172.</ref> – die Italiener bereits in der Schule vertraut gemacht wurden. Millionenfach wurden Fotografien Mussolinis, die ihn in einer seiner charakteristischen Posen (oft mit freiem Oberkörper beim Schwimmen oder bei der Ernte<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;173.</ref>) zeigten, in Italien verbreitet, wo viele Menschen es ohnehin gewohnt waren, Abbildungen von Heiligen zu sammeln. Rom beherbergte nun „einen unfehlbaren Papst und einen unfehlbaren ''Duce.''“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;171.</ref> Das grundlegende Material für den Personenkult lieferten zwei „offizielle“ Biographien (von [[Margherita Sarfatti]] bzw. [[Giorgio Pini]]), die 1926 erschienen und wiederholt neu aufgelegt wurden. Mussolini selbst ergänzte das darin gezeichnete Bild seiner Person hin und wieder durch gezielt gestreute schmeichelhafte Details. So ließ er durch Journalisten in Umlauf bringen, er arbeite 18 oder 19 Stunden täglich, begnüge sich mit fünf Stunden Schlaf und leite jeden Tag im Schnitt 25 Besprechungen. Häufig widersprachen diese Anekdoten einander, da sie jeweils auf ein unterschiedliches Publikum zugeschnitten waren.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;111, 113.</ref> Der ausbleibende gesellschaftliche Wandel wurde durch diese konsensstiftende Mythenbildung kompensiert, „und der größte Mythos von allen war der des ''Duce'' selbst.“<ref>Finaldi, Mussolini, S.&nbsp;77.</ref><br />
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Mussolini kommentierte diese für das überlieferte Bild „seiner“ Diktatur schließlich prägende öffentliche Inszenierung, die nach 1931 in der Ära des Parteisekretärs [[Achille Starace]] endgültig jeden Bezug zur Realität verlor,<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;211.</ref> immer wieder zynisch. Die Biographie Sarfattis, die er vor der Veröffentlichung persönlich durchgesehen und bearbeitet hatte, beweise, dass „Erfindung nützlicher ist als die Wahrheit“;<ref>Zitiert nach Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;125.</ref> seine von den Propagandisten des Regimes bis zum Exzess zitierten (angeblichen) ersten Worte an den König im Oktober 1922 („Majestät, ich bringe Ihnen das Italien von [[Schlacht von Vittorio Veneto|Vittorio Veneto]].“) nannte er im kleinen Kreis „die Art von Blödsinn, die man in Schülerversammlungen erzählt.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;140.</ref> Zeugnisse seiner Verachtung für die „Herde“ sind zahlreich überliefert; die Masse sei „dumm, schmutzig, arbeitet nicht hart genug und ist zufrieden mit ihren kleinen Kinofilmchen.“<ref>Zitiert nach Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;126.</ref> Intellektuelle, die sich mit der Kodifikation einer einigermaßen konsistenten faschistischen „Doktrin“ befassten, bedachte er ebenfalls mit zynischen Kommentaren – was ihn nicht davon abhielt, 1932 den autoritativsten Vorstoß in diese Richtung, den in der Hauptsache von [[Giovanni Gentile]] verfassten Artikel über die ''[[Der Geist des Faschismus|dottrina del fascismo]]'' im vierzehnten Band der ''[[Enciclopedia Italiana]],'' durch namentliche Zeichnung als sein Werk auszugeben.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;143.</ref> Der britische Historiker [[Denis Mack Smith]] stellt angesichts solcher und ähnlicher Widersprüche den „echten“ Mussolini neben den „Schauspieler“,<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;111. Die politische und persönliche, vor seiner nächsten Umgebung mit Zynismus überspielte Unsicherheit Mussolinis ist auch ein wesentlicher Erzählstrang in den Arbeiten von Richard Bosworth.</ref> der der öffentliche ''Duce'' in erster Linie gewesen sei. Dieser sei ein Eigenbrötler und [[Misanthropie|Misanthrop]] gewesen, der Nächstenliebe und Idealismus verachtet habe. Wie [[Niccolò Machiavelli]] unterstellte er jedermann absolute Selbstsucht und Verlogenheit.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;109 f.</ref><br />
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Die zentrale Stellung Mussolinis war im Kern allerdings keine propagandistische Fiktion. Die gesamte Tätigkeit der Regierung hing in einem ständig zunehmenden Maß von seinen Entscheidungen und seiner Präsenz ab – bis zu dem Punkt, dass die Arbeit auch der nicht von ihm geleiteten Ministerien (1929 war Mussolini für einige Zeit achtfacher Minister) zum Stillstand kam, wenn er nicht in Rom war.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;129.</ref> Ganz anders als etwa [[Adolf Hitler|Hitler]] war Mussolini tatsächlich ein disziplinierter Bürokrat und „Aktenfresser“. Er saß gewöhnlich gegen 8 oder 9 Uhr hinter seinem Schreibtisch in der ''sala del mappamondo'' im [[Palazzo Venezia]] (bis 1929 im [[Palazzo Chigi]]) und arbeitete dort etwa 10 Stunden lang allein oder empfing Besucher – als ersten fast täglich Polizeichef [[Arturo Bocchini]], den einige Historiker für den eigentlichen „zweiten Mann“ des Regimes halten.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;146. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;179 f. und derselbe, Mussolini’s Italy, S.&nbsp;327, 361 f.</ref> Mussolini konnte, im Detail zweifellos übertreibend, mit einer gewissen Plausibilität behaupten, persönlich in sieben Jahren knapp 1,9 Millionen bürokratische Vorgänge bearbeitet zu haben.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;177 und Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;111.</ref> Um den Eindruck zu erwecken, er kontrolliere wirklich „das Leben der Nation“, entschied der Diktator freilich über zahllose triviale Einzelheiten, etwa die Anzahl der Knöpfe auf einer Uniform, eine Einstellung an der Polizeischule, den Baumschnitt in einer bestimmten Straße in [[Piacenza]] und die Spielzeit des Orchesters auf dem [[Lido di Venezia|Lido]].<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;129 f.</ref> Er konnte dabei – und versuchte es, abgesehen von den durch ihn verfügten Zensurmaßnahmen und journalistischen Sprachregelungen, auch nicht – mangels eines hierzu geeigneten Apparates kaum systematisch prüfen, ob seine Entscheidungen umgesetzt wurden. In der Regel markierte ein von Mussolini hingeworfener Kommentar oder seine charakteristische Paraphe „M“ entweder das Ende der Regierungstätigkeit oder den Beginn einer ergebnisoffenen „Interpretation“ seines Willens durch die Bürokratie.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;354.</ref> Mit der konkreten Umsetzung einer „Entscheidung“ in praktisches Handeln hat sich Mussolini kaum je befasst. Seine Neigung, auch Minister, Zuarbeiter und Beamte in fünfzehnminütigen „Audienzen“ einzeln zu empfangen, sie dabei allgemein in ihren Auffassungen zu bestätigen und ohne praxisbezogene Anweisungen zu entlassen, stellte sicher, dass es „auf vielen wichtigen Gebieten keinerlei Regierungstätigkeit gab.“<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;356. Siehe auch ebenda, S.&nbsp;355.</ref><br />
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[[Datei:Bundesarchiv Bild 102-09844, Mussolini in Mailand.jpg|mini|Typische Rednergeste Mussolinis (Mailand, 1930)]]<br />
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Den häufig wechselnden Ministern und Staatssekretären gewöhnte er jeden Sinn für Verantwortung und Initiative ab; die meisten hielt er ohnehin für „verkommen bis ins Mark.“<ref>Zitiert nach Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;128.</ref> In der Tat war Mussolini einer der ganz wenigen führenden Faschisten, die ihre Ämter nicht dazu benutzten, sich illegal zu bereichern und das Fortkommen ihrer Familie bzw. ihrer Klienten zu fördern<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;108.</ref>, obwohl er ausgesprochen unfähige Beamte, korrupte ''gerarchi'' und Postenjäger erwiesenermaßen förderte, selbständige, zum Widerspruch neigende Köpfe aber zielsicher kaltstellte.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;128 f.</ref> Diese Tendenz setzte sich in der ersten Hälfte der 30er Jahre voll durch, als das Führungspersonal in Staat und Partei serienweise entlassen oder versetzt wurde.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;146ff.</ref> Prominenteste „Opfer“ waren Balbo (als Gouverneur nach Libyen), Grandi (als Botschafter nach London), Turati (als Redakteur nach Turin) und Mussolinis alter Weggefährte [[Leandro Arpinati]]. Der ''ras'' von Bologna und engste Mitarbeiter Mussolinis im Innenministerium wurde 1933 aus allen Ämtern entlassen, 1934 aus der Partei ausgeschlossen und auf die [[Liparische Inseln|Liparischen Inseln]] verbannt.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;226.</ref> Zudem starb im Dezember 1931 überraschend Mussolinis Bruder Arnaldo, der einzige Vertraute und Ratgeber, dem es gestattet gewesen war, „offen“ mit dem ''Duce'' zu reden. Nach den Kabinettsumbildungen in den Jahren 1932 und 1933 waren die meisten leitenden Männer in den Ministerien „Mediokritäten“,<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;148.</ref> die entweder kein eigenes Urteil hatten oder dasselbe für sich behielten.<br />
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Mussolini ging es in letzter Instanz immer darum, dass ''er'' – oft verbunden mit spektakulären Gesten und Eingriffen in die Zuständigkeitsbereiche anderer – entschied, aber nur bedingt darum, ''was'' entschieden wurde. Diskussionen, auch solchen im kleinen Kreis, ging er konsequent aus dem Weg, gewöhnlich dadurch, dass er dem zustimmte, was ihm vorgetragen oder vorgelegt wurde. In der Ministerialbürokratie und bei informierten Beobachtern erwarb er daher bald den Ruf eines „Löwen aus Pappe“, der immer die Meinung der Person vertrat, mit der er zuletzt gesprochen hatte.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;130.</ref><br />
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==== Korporativstaat ====<br />
[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) COA (lesser).svg|mini|Das aus zwei Teilen bestehende kleine Staatswappen Italiens (1927–1929): Links das Zeichen der Monarchie, rechts das Emblem des Faschismus]]<br />
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Im Januar 1927 löste die Führung der ''[[Confederazione Generale del Lavoro]]'' trotz der Proteste vieler Mitglieder und Funktionäre den Gewerkschaftsbund auf. Fortan war die katholische Laienorganisation ''[[Katholische Aktion|Azione Cattolica]]'' die einzige Massenorganisation, die nicht direkt mit dem faschistischen Regime verbunden war.<br />
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Das Verschwinden der Arbeiterparteien und der sozialistischen Gewerkschaften – propagandistisch wurde insbesondere der Untergang der Eisenbahnergewerkschaft verwertet, die „für die Faschisten das war, was später die ''[[National Union of Mineworkers]]'' für [[Margaret Thatcher]] war“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;73.</ref> – machte den Weg frei für den faschistischen Versuch, die lohnabhängige Bevölkerung in Organisationen zu erfassen, die vom Staat oder der Staatspartei kontrolliert wurden. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Freizeitorganisation [[Opera Nazionale Dopolavoro|OND]], die schon im Frühjahr 1925 gegründet worden war. Der Gedanke, Arbeiter, Angestellte und Unternehmer einzelner Wirtschaftszweige zur Vertretung ihrer „gemeinsamen“ Interessen in [[Korporatismus|Korporationen]] zusammenzufassen, war zuerst bei einzelnen nationalistischen Ideologen und dann bei [[Alceste de Ambris|Alceste De Ambris]] und D’Annunzio in Fiume aufgetaucht. Diese Korporationen sollten – zumindest in der Theorie – Arbeitskämpfe verhindern und so die Wirtschaftsleistung maximieren. Seit 1925 war, zuerst bei Alfredo Rocco, davon die Rede, die Korporationen zum zentralen Instrument der politischen, sozialen und ökonomischen Steuerung der Gesellschaft durch den Staat zu machen. Mussolini griff den Vorstoß Roccos auf und erklärte ihn – drei Jahre nach dem Marsch auf Rom – zum „fundamentalen Programm unserer Partei“.<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;110.</ref> Seit 1925/26 wurde der „Korporativstaat“ zunächst in Italien und dann vor allem im Ausland zum vielrezipierten propagandistischen Aushängeschild des Regimes.<br />
<br />
Die faschistische Partei hatte zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits eigene Gewerkschaften gegründet, die nach einer Reihe symbolischer Streiks im Oktober 1925 von den Industriellen als „exklusive“ Vertretung der Belegschaften anerkannt worden waren (und charakteristischerweise sofort akzeptierten, dass die gewählten Betriebsräte ersatzlos abgeschafft wurden). Dieses im Beisein Mussolinis unterzeichnete Abkommen wurde im April 1926 durch ein von Rocco ausgearbeitetes Gesetz bestätigt, das nunmehr Streiks ausdrücklich verbot (in städtischen und Staatsbetrieben auch die Gewerkschaften) und ein Zwangsschlichtungsverfahren bei allen Konflikten vorschrieb. Mussolini erklärte den Klassenkampf für beendet, fortan werde der „unparteiische“ Staat den Ausgleich der Interessen regulieren.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;110 f.</ref> „Wilde“ Streiks hat das Regime gleichwohl nie ganz verhindern können. Der Presse war es untersagt, über sie zu berichten; das galt ebenso für die Unruhen unter Landarbeitern, die bis in die erste Hälfte der dreißiger Jahre vor allem im Süden relativ häufig waren.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;169.</ref><br />
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Wenig später, im Juli 1926, wurde zwar ein Korporationsministerium gegründet, der Aufbau des Korporativsystems aber stockte. Noch 1929 existierte keine einzige Korporation. Obwohl die im April 1927 mit gewaltigem Propagandaaufwand verkündete ''[[Carta del Lavoro]]'' den Korporativgedanken endgültig zum Eckstein der „faschistischen Revolution“ erklärt hatte,<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;120.</ref> gedieh in den folgenden Jahren im Umfeld des Korporationsministeriums nur eine aufgeblähte Bürokratie, deren soziale Funktion sich in der Bereitstellung von Posten für das von Mussolini mit Misstrauen betrachtete „intellektuelle Proletariat“<ref name="Mack Smith: Mussolini. S.&nbsp;119">Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;119.</ref> erschöpfte; der Korporativgedanke selbst wurde schnell zu einem „Jagdrevier für hunderte stellungsuchende Akademiker, die endlos über dessen Theorie und Praxis diskutierten.“<ref name="Mack Smith: Mussolini. S.&nbsp;119" /> Umgekehrt waren die faschistischen Gewerkschaften, ganz ähnlich wie die Partei, bis zum Ende der zwanziger Jahre von renitenten Funktionären und Mitgliedern „gesäubert“ und durch von oben eingesetzte Führungen diszipliniert worden (während die innere Autonomie der Unternehmerorganisationen vom Regime nicht angetastet worden war).<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;119.</ref> Im November 1928 ließ Mussolini den Gewerkschaftsbund, die Domäne des faschistischen „Arbeiterführers“ [[Edmondo Rossoni]], in sechs miteinander nicht verbundene Industrieverbände aufspalten.<ref name="ReferenceE">Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;112.</ref> Nachdem Giuseppe Bottai 1929 das Korporationsministerium übernommen hatte, wurden schließlich bis 1934 doch noch 22 Korporationen (Getreide, Textilien usw.) gegründet, die zuverlässig kontrollierten faschistischen Gewerkschaften jedoch ebenso wenig aufgelöst wie die Unternehmerverbände. Der 1930 gegründete Nationalrat der Korporationen trat nur fünf Mal zusammen. Die Korporationen, in denen meist Rechtsanwälte, Journalisten und faschistische Parteifunktionäre die Arbeiter „repräsentierten“,<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;156.</ref> übernahmen zu keinem Zeitpunkt tatsächlich die ihnen zehn Jahre zuvor von Rocco zugedachten hoheitlichen Aufgaben und blieben im Kern „wenig mehr als eine nicht realisierte Idee.“<ref name="Mack Smith: Mussolini. S.&nbsp;119" /><br />
<br />
Das 1928 beschlossene neue Wahlgesetz trug indes zumindest korporatistische Züge. Für die im März 1929 zu „wählende“ neue Abgeordnetenkammer kompilierte der faschistische Großrat, der hier erstmals die ihm im Dezember 1928 durch Gesetz übertragenen hoheitlichen Aufgaben wahrnahm, unter dem Vorsitz Mussolinis eine einzige Liste mit 400 Kandidaten (für 400 Sitze), die die faschistischen Gewerkschaften, die Unternehmerorganisationen, die Kriegsveteranen und andere Verbände vorgeschlagen hatten. Charakteristisch war auch hier, dass in diesem de facto ernannten Parlament schließlich 125 Vertreter der Unternehmer, aber nur 89 der Gewerkschaften Platz nahmen.<ref name="ReferenceE"/><br />
<br />
==== Faschistische Wirtschafts- und Sozialpolitik ====<br />
Bereits in den Jahren vor der [[Weltwirtschaftskrise]] forcierte der faschistische Staat seine ökonomische Aktivität. Giuseppe Volpi betrieb seit 1925 eine konsequente Deflationspolitik, die vor allem die bereits stark gesunkenen Löhne belastete. In Verhandlungen konnte er eine Reduzierung der italienischen Kriegsschulden in Großbritannien und den Vereinigten Staaten und einen bedeutenden Kredit der Bank [[JPMorgan Chase|J.P. Morgan]] sichern. Da der Wert der [[Italienische Lira|Lira]] dennoch immer weiter fiel, die Masse der italienischen Schulden aber in fremder Währung zurückgezahlt werden musste, entschloss sich Mussolini – der im Wechselkurs auch eine Frage des „nationalen Prestiges“ sah – im August 1926, publikumswirksam einzugreifen („Schlacht um die Lira“). Im Dezember 1927 verfügte er die Einführung des [[Goldstandard]]s und einen festen Wechselkurs der Lira zum [[Pfund Sterling|Pfund]] (1 Pfund = 92,46 Lire) und zum [[US-Dollar|Dollar]]. Er löste damit einen Absturz der Aktienkurse aus, während die Arbeitslosenzahlen sowie die Produktions- und die Lebenshaltungskosten scharf anstiegen. Nachdem auch große Firmen wie Fiat gegen diese Maßnahme protestierten, gestand Mussolini der Exportindustrie Steuererleichterungen und eine weitere Senkung der Löhne um 10 % zu, hielt aber mehrere Jahre an der ''quota novanta'' fest.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;128 und Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;123.</ref><br />
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Die Aufwertung der Währung brachte auch die „Weizenschlacht“ erst richtig in Schwung, die nun bis in die erste Hälfte der dreißiger Jahre ein stehendes Thema der Propaganda blieb. In diesen Zusammenhang stellte das Regime eines seiner größten Projekte, die Trockenlegung der [[Pontinische Ebene|Pontinischen Sümpfe]], mit der 1930 begonnen wurde. Auch in anderen Teilen des Landes wurden erhebliche Mittel für Trockenlegungen, Bewässerungsbauten, Aufforstungen und andere essentielle ländliche Infrastruktur unter dem Schlagwort der ''bonifica integrale'' mit mitunter beträchtlichen Erfolgen aufgewandt, die Mussolini, der sich immer wieder vor Ort zeigte, für sich zu nutzen wusste. Zumindest bis 1933 stieg die Getreideproduktion stark an, was die Außenhandelsbilanz spürbar entlastete, sich binnenökonomisch aber vor allem als gigantisches Subventionsprogramm für die Großgrundbesitzer entpuppte. Die durch den Schutzzoll und die überbewertete Währung garantierte Gewinnspanne für Getreide nahm auch in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in Italien trotz sinkenden Konsums nicht ab. Dies verschärfte den Modernisierungsstau in der Landwirtschaft und führte in vielen Gebieten zu einer agrarischen Monokultur, verbunden mit einem Absinken des Viehbestandes und dem Verlust von Exportmärkten, etwa für Olivenöl, Wein und Zitrusfrüchte.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;122 und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;132 f.</ref><br />
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Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise waren in Italien nach offiziellen Angaben etwa 1,2 Millionen Menschen arbeitslos. Es erwies sich als „glücklicher“ Zufall, dass bereits in den Jahren zuvor Importe und Konsum massiv eingeschränkt worden waren. Mussolini gelang es sogar, bis 1936 am Goldstandard festzuhalten, wodurch die Lira gegenüber dem Pfund noch einmal um ein Drittel aufwertete, da Großbritannien den Goldstandard 1931 aufgegeben hatte.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;154.</ref> Das Hauptproblem des Regimes war der praktisch vollständig insolvente private Bankensektor, der auch die in ihm bereits stark engagierte ''[[Banca d’Italia]]'' und damit den Staat in den Abgrund zu reißen drohte. 1931 gründete Mussolini auf Vorschlag des Finanzministers [[Guido Jung]] das ''Istituto Mobiliare Italiano'' (IMI), das die Privatbanken aus der mittel- und langfristigen Industriefinanzierung verdrängte, ihnen aber gleichzeitig die in der Krise entwerteten Aktienpakete und Kredittitel zum Nominalwert abkaufte. Das 1933 gegründete ''[[Istituto per la Ricostruzione Industriale]]'' (IRI) vergab staatliche Kreditgarantien und kaufte in Schieflage geratene Betriebe im Bereich des produzierenden Gewerbes auf. Es hielt bald etwa 20 % des gesamten italienischen Aktienkapitals, was im Europa der Zwischenkriegszeit beispiellos war.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;154 f.</ref> Hier entstand gleichsam „unbeabsichtigt“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;156.</ref> ein vom Staat kontrolliertes Finanz- und Industriekonglomerat, das den Faschismus überdauerte und nach einer wechselvollen Entwicklung erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts liquidiert wurde. Gleichfalls nicht langfristig geplant worden waren die „wohlfahrtsstaatlichen“ Elemente, deren Einführung im Rahmen der Bekämpfung der Krise bis 1934 erfolgte (aktive staatliche Beschäftigungsförderung, Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung, 40-Stunden-Woche in der Industrie, Krankenversicherung, bezahlter Urlaub).<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;154, 157.</ref><br />
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Zwischen August 1933 und April 1934 wurde in nur dreizehn Monaten die heute zirka 20 000 Einwohner zählende Planstadt [[Sabaudia]] gebaut, nachdem Benito Mussolini die [[Pontinische Ebene|Paludi Pontine]], das Sumpfgebiet südöstlich von Rom, hatte trockenlegen lassen.<ref>Sabine Gruber: [https://www.nzz.ch/feuilleton/mussolinis-retortenstaedte-zum-beispiel-sabaudia-ld.1417864 ''Mussolinis Retortenstädte, zum Beispiel Sabaudia''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'' vom 7. September 2018</ref><br />
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==== „Schlacht gegen die Mafia“ ====<br />
Auf [[Sizilien]] konnten die Faschisten bis 1922 kaum Fuß fassen.<ref>Siehe Finley, Moses, Mack Smith, Denis, Duggan, Christopher, Geschichte Siziliens und der Sizilianer, 4., bibliographisch überarbeitete Auflage. München 2010, S.&nbsp;332.</ref> Auf der Insel verfügten die Großgrundbesitzer mit dem ''[[Partito agrario]]'' des Prinzen [[Pietro Lanza di Scalea|Scalea]] bereits über eine politische Organisation, die in der Lage war, gegen die 1919 einsetzende, vor allem von den aus dem Militär entlassenen Bauern und Landarbeitern getragene Welle der Streiks und Landbesetzungen mit dem „erforderlichen Maß an Brutalität und Illegalität“<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;168.</ref> vorzugehen. 1922 erhielt ein sizilianischer Liberaler das Ministerium für öffentliche Arbeiten in Mussolinis erster Regierung und trat 1923 dem PNF bei. Bis 1924 wurde auch das Führungspersonal des ''Partito agrario'' von der faschistischen Partei absorbiert. Innerhalb des sizilianischen PNF konnten sich die alten Eliten spätestens 1927 gegen die aus dem Norden „importierten“ bzw. einheimischen, in die Klientelnetzwerke der Insel jedoch nicht eingebundenen Faschisten durchsetzen. Damit war sichergestellt, dass die soziale und wirtschaftliche Struktur Siziliens nicht angetastet wurde.<ref>Siehe Finley, Mack Smith, Duggan, Geschichte Siziliens, S.&nbsp;335, 337. Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;209.</ref><br />
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Diese grundsätzliche Richtungsentscheidung, die die Entwicklungen im Rest des Landes zeitverzögert nachvollzog, relativierte auf lange Sicht auch die bis in die Gegenwart oft wohlwollend kommentierten faschistischen Maßnahmen gegen die [[Mafia]], die vor allem zwischen 1924 und 1929 in der Ära des von Mussolini mit Sondervollmachten ausgestatteten „eisernen Präfekten“ [[Cesare Mori]] (1924 Präfekt von [[Provinz Trapani|Trapani]], 1925 von [[Provinz Palermo|Palermo]]) forciert wurden. Mori, der über beste Beziehungen zu den ''[[Latifundium|latifondisti]]'' verfügte, ging jedoch nicht nur gegen tatsächliche, bis dahin oft von der Landaristokratie ausgehaltene Mafiosi, sondern auch gegen linke Aktivisten und radikale Faschisten wie Alfredo Cucco vor, der zwischen 1922 und 1924 mit Rückendeckung Farinaccis einen eigenen „Krieg gegen die Mafia“ geführt hatte, der „nebenbei“ auch Antifaschisten und die Netzwerke der lokalen Aristokratie erfasste. 1927 wurde Cucco selbst als Mafioso angeklagt und zusammen mit der gesamten faschistischen Parteiorganisation von Palermo politisch ausgeschaltet. Insgesamt wurden rund 11.000 tatsächliche oder vermeintliche Mafiosi inhaftiert (meist aber bald wieder entlassen), viele Anführer emigrierten, meist in die Vereinigten Staaten. Die faschistische Kampagne gegen die Mafia stärkte so vor allem die soziale und politische Vorherrschaft der Großgrundbesitzer – für Mori die eigentlichen „Opfer“ der Mafia – und schuf trotz kurzfristiger Erfolge das Klima für die Renaissance der organisierten Kriminalität nach 1943. Mit besonderer Härte hatte sie die „neureichen“ Mittelbauern getroffen, die den Latifundisten ein Dorn im Auge waren.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;130.</ref> Gerade diese Gruppe kultivierte unter dem Faschismus die Ansicht, „dass in dieser Art von Gesellschaft die einzige Chance in einer rücksichtslosen Durchsetzung des eigenen Willens und in mächtigen Beschützern lag.“<ref>Finley, Mack Smith, Duggan, ''Geschichte Siziliens,'' S.&nbsp;338.</ref><br />
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Mussolini nutzte die „Schlacht gegen die Mafia“ propagandistisch aus. Er interessierte sich aber, entgegen einer zählebigen Legende, nicht sonderlich für die Probleme Siziliens bzw. des italienischen Südens – insgesamt wohl noch weitaus weniger als die Ministerpräsidenten vor ihm.<ref>Siehe Finley, Mack Smith, Duggan: ''Geschichte Siziliens.'' S.&nbsp;335.</ref> Gleichwohl ließ er nach einigen Jahren erklären, dass das faschistische Regime die „südliche Frage“ gelöst und auch die Mafia „zerstört“ habe. In der Realität wurde – trotz eines nominellen Anstiegs der öffentlichen Investitionen und einer zumindest in den zwanziger Jahren genaueren Überwachung der Eintreibung und der Verwendung der Steuern – kaum etwas für die Entwicklung der Insel getan. Während etwa in Libyen beträchtliche Mittel für den Ausbau der Infrastruktur aufgewandt wurden, waren viele sizilianische Dörfer noch in den vierziger Jahren nicht an das Eisenbahnnetz und oft nicht einmal an das Straßennetz angeschlossen.<ref>Finley, Mack Smith, Duggan, ''Geschichte Siziliens,'' S.&nbsp;336, 343.</ref> Als Mussolini im Juni 1923 zum ersten Mal Sizilien besuchte, bezeichnete er es als „Entehrung der Menschheit“, dass fünfzehn Jahre nach dem [[Erdbeben von Messina 1908|Erdbeben von Messina]] immer noch zahlreiche Einwohner in selbstgebauten Hütten dahinvegetierten und versprach, umgehend für Abhilfe zu sorgen: „Aber die Elendsquartiere waren zwanzig Jahre später immer noch da und das ‚südliche Problem‘, ungeachtet wiederholter Behauptungen, es existiere nicht mehr, einer Lösung nicht nähergekommen.“<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;93.</ref> Eine im Mai 1924 mit großem Propagandaaufwand in Anwesenheit Mussolinis gegründete Planstadt für 10.000 Menschen (Mussolinia, heute als Santo Pietro ein Ortsteil der Stadt [[Caltagirone]]) blieb ein Weiler mit kaum 100 Einwohnern.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;103.</ref> Erst gegen Ende der dreißiger Jahre thematisierte Mussolini die ''latifondi'' öffentlich als eigentliche Ursache der Entwicklungsblockade Siziliens. Ein 1940 erlassenes Bodenreformgesetz, das in gewissem Sinne eine strategische Kehrtwende faschistischer Politik darstellte, kam wegen des Kriegsausbruchs jedoch nicht mehr zur Ausführung.<ref>Siehe Finley, Mack Smith, Duggan, ''Geschichte Siziliens,'' S.&nbsp;342.</ref><br />
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==== Ausgleich mit der Kirche ====<br />
Die am 11. Februar 1929 nach über zweijährigen Geheimverhandlungen, in die weniger als ein Dutzend Personen eingeweiht waren, von Mussolini und Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri unterzeichneten [[Lateranverträge]] gelten als Mussolinis größter politischer Erfolg. Mit ihnen wurden Fragen geklärt, die seit dem Risorgimento zwischen dem italienischen Nationalstaat und dem Oberhaupt der katholischen Kirche strittig gewesen und von keiner der liberalen Regierungen gelöst worden waren. Mussolini hatte in den letzten Stadien persönlich in die Verhandlungen eingegriffen und dabei auch den Widerstand des Königs überwinden müssen, der als Kirchengegner erzogen worden war und es anfänglich strikt ablehnte, dem Papst ein Mitspracherecht in den inneren Angelegenheiten Italiens einzuräumen, geschweige denn Territorium mitten in Rom abzutreten.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;115.</ref> Die Bekanntgabe der Verhandlungsergebnisse durch Gasparri am 7. Februar 1929 war eine weltweite Sensation.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;116.</ref><br />
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Italien trat 44 Hektar seines Staatsgebietes an den Papst ab, der dadurch wieder Oberhaupt eines souveränen Staates wurde. Als „Kompensation“ für den Verlust des [[Kirchenstaat]]es 1870 erhielt der Vatikan eine Barzahlung von 750 Millionen Lire und eine Anleihe über eine weitere Milliarde. Im Gegenzug erklärte der Papst die „römische Frage“ für „endgültig und unwiderruflich geschlichtet“. Im Konkordat erkannte der italienische Staat den Katholizismus als „einzige Religion des Staates“ und in diesem Zusammenhang einen substantiellen und institutionalisierten Einfluss der Kirche auf Ehe, Familie und Schule an. Mit der ''Azione Cattolica'' akzeptierte der Staat auch die Arbeit der katholischen Jugendorganisationen, die 1930 etwa 700.000 Mitglieder hatten.<br />
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Die Lateranverträge stabilisierten das faschistische Regime außerordentlich, obwohl sich die Beziehungen zwischen [[Kirche und Staat]] bis 1931 keineswegs harmonisch entwickelten. Papst [[Pius&nbsp;XI.]] nannte Mussolini am 14. Februar 1929 in einer vielzitierten Wendung den Mann, „den uns die Vorsehung gesandt hat“,<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;117.</ref> befahl außerdem allen Priestern zum Abschluss der täglichen Messe ein Gebet für den König und den Duce (»Pro Rege et Duce«),<ref>{{Literatur |Autor=Deschner, Karlheinz |Hrsg= |Titel=Abermals krähte der Hahn |Auflage= |Verlag=Econ Verlag |Ort=Düsseldorf/Wien |Datum=1980 |ISBN=3-430-12064-0 |Seiten=870}}</ref> und empfing ihn drei Jahre später auch persönlich.<br />
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==== Außenpolitik ====<br />
===== Spannungen mit Frankreich und Jugoslawien =====<br />
Über die Einordnung der außenpolitischen Linie Mussolinis wird nach wie vor kontrovers diskutiert.<ref>Eine Einführung bietet Richard J. B. Bosworth, The Italian Dictatorship. Problems and perspectives in the interpretation of Mussolini and Fascism, London 1998, S.&nbsp;82–105 und passim.</ref> Ein Teil der neueren Arbeiten unterscheidet strikt zwischen den Worten und den Taten des Diktators.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;199.</ref> Dabei wird die ältere „intentionalistische“ These, Mussolini habe die Propagandaformeln über das „neue Römische Reich“ ernstgenommen und die italienische Außenpolitik – mit dem letzten Ziel einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich und Großbritannien um die Kontrolle über das Mittelmeer – nach 1926 „ideologisch“ ausgerichtet, als „beinahe absurd“<ref>Finaldi, Mussolini, S.&nbsp;86.</ref> zurückgewiesen. Der profilierteste Kritiker der Intentionalisten ist der australische Historiker Richard Bosworth, der die Ziele und Mittel der Außenpolitik Mussolinis in eine Kontinuität der „Mythen des Risorgimento“<ref>Bosworth, Richard, Italian Foreign Policy and its Historiography, in: Bosworth, Richard, Rizzo, Gino (Hrsg.), Altro Polo: Intellectuals and their Ideas in Contemporary Italy, Sydney 1983, S.&nbsp;65–86, S.&nbsp;78.</ref> einordnet und bestreitet, dass es überhaupt so etwas wie einen genuinen, vom „traditionellen“ unterscheidbaren „faschistischen“ Imperialismus gegeben habe.<ref>Grundlegend dazu Richard J. B. Bosworth, Italy and the wider world 1860–1960, London-New York 1996, hier besonders S.&nbsp;36–54.</ref> Die direkt entgegengesetzte Position vertritt maßgeblich der amerikanische Historiker MacGregor Knox, der die seiner Lesart nach „revolutionäre“ Außenpolitik des Regimes ganz aus dem „Willen“ des Diktators, dessen Programm schon Mitte der 20er Jahre in allen wesentlichen Details festgestanden habe, ableitet; Knox geht dabei – ähnlich wie ältere italienische Historiker, darunter [[Gaetano Salvemini]] – von einem Kontinuitätsbruch in der Außenpolitik aus.<ref>Die beiden hier einschlägigen Arbeiten sind Knox, MacGregor, Mussolini Unleashed 1939–1941. Politics and Strategy in Fascist Italy’s Last War, Cambridge 1982 und derselbe, Common Destiny. Dictatorship, Foreign Policy, and War in Fascist Italy and Nazi Germany, Cambridge 2000.</ref> Eine heute „dominierende nationalistische Denkschule“<ref>Burgwyn, H. James, Diplomacy and World War. The (First) Axis of Evil, in: Richard J. B. Bosworth (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, Oxford 2010, S.&nbsp;317–335, S.&nbsp;318.</ref> in Italien vertritt im Anschluss an die Arbeiten Renzo De Felices eine dritte Position, die den Außenpolitiker Mussolini mit einem nicht selten rechtfertigenden Unterton vor allem als „Realpolitiker“ beschreibt.<ref>Die „klassische“ und in der Aussage deutlichste Studie dieser Richtung ist Quartararo, Rosaria, Roma tra Londra e Berlino. La politica estera fascista dal 1931 al 1940, Rom 1980. Auf den nicht aufgelösten Widerspruch zwischen der Annahme einer in der Tendenz „normalen“, „realistischen“ Außenpolitik und der Neigung gerade der De Feliceaner, den italienischen Faschismus in allen anderen Belangen „wörtlich“ zu nehmen („revolutionär“, „totalitär“ usw.), hat Bosworth, Italy and the wider world, S.&nbsp;38 hingewiesen. Der Widerspruch kennzeichnet auch das Verhältnis dieser Schule zu Knox, der im Kern lediglich De Felices und Gentiles Sichtweise der Innenpolitik des Regimes auf die Außenpolitik überträgt, dafür von De Felice aber als „historischer Journalist“ angegriffen wurde. Siehe ebenda, S.&nbsp;40.</ref><br />
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Im April 1927 schloss Italien einen Freundschaftsvertrag mit [[Königreich Ungarn|Ungarn]], dem am stärksten an einer Revision der Friedensverträge interessierten Land. Italien lieferte Waffen an Ungarn und begann, ungarische Offiziere und Piloten auszubilden, obwohl Ungarn im [[Vertrag von Trianon]] ähnliche Rüstungsbeschränkungen wie Deutschland auferlegt worden waren. Paris und Belgrad antworteten im Dezember 1927 mit einem bilateralen Beistandsvertrag. Mussolini hatte zu diesem Zeitpunkt bereits damit begonnen, den Führer der kroatischen faschistischen [[Ustascha]]-Bewegung [[Ante Pavelić]] zu fördern. In der Nähe von [[Parma]] entstand ein getarntes Ausbildungszentrum, in dem dessen Anhänger politisch und militärisch geschult wurden. Dass Mussolini die kroatischen Faschisten, die in Jugoslawien Anschläge verübten, unterstützte, war in den Außenministerien Europas bald bekannt.<ref name="ReferenceF">Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;154.</ref> Nach der Ausrufung der [[Zweite Spanische Republik|Republik in Spanien]] (April 1931) unterstützte Italien einzelne Protagonisten der antirepublikanischen Rechten.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;256.</ref><br />
<br />
Mussolini war nicht bereit, hinzunehmen, dass sich in Frankreich eine politisch aktive Gemeinde antifaschistischer Emigranten etablierte; 1929 kam es wegen dieser Frage zu zwei schweren diplomatischen Krisen.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;181.</ref> Zur Unterzeichnung des [[Briand-Kellogg-Pakt]]es im August 1928 schickte Mussolini demonstrativ nur den italienischen Botschafter, während andere Unterzeichnerstaaten durch ihre Außenminister vertreten wurden. Bei der [[Flottenkonferenzen#Londoner Konferenz von 1930|Londoner Flottenkonferenz]] lehnte Frankreich 1930 die von Italien geforderte Flottenparität ab, da es keine territorialen Garantien („Mittelmeer-Locarno“) erhalten hatte. Dazu waren weder Großbritannien noch die Vereinigten Staaten bereit.<ref>Siehe Blessing, Ralph, Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929, München 2008, S.&nbsp;310.</ref><br />
<br />
Die Minderheitenfrage war eine weitere Quelle ständiger außenpolitischer Verwicklungen. Mussolini war entschlossen, die „ethnischen Überbleibsel“<ref>Zitiert nach Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;155.</ref> in Italien zu beseitigen (vgl. [[Italianisierung]]) und autorisierte sogar vergleichbare Maßnahmen auf dem [[Italienische Ägäis-Inseln|Dodekanes]], wo das faschistische Regime Italienisch als Schulsprache einführte und alle griechischen Zeitungen verbot.<ref name="ReferenceF"/> Dies hielt ihn nicht davon ab, sich in Paris über die Behandlung der italienischen Gemeinde in [[Tunis]] und in London über die Zurückdrängung der italienischen Sprache auf [[Malta]] zu beklagen.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;155.</ref><br />
<br />
Der Einflussgewinn Deutschlands, der sich ab 1931 abzuzeichnen begann, führte vorübergehend zu einer gewissen Annäherung zwischen Paris und Rom. Im März 1931 gestand Frankreich Italien in einer gemeinsamen Erklärung die maritime Parität zu. Beide Länder gingen gegen den Plan einer [[Deutsch-österreichische Zollunion|deutsch-österreichischen Zollunion]] vor, der im gleichen Monat bekanntgeworden war. Eine regelrechte „Entente“, die die Regierung [[Édouard Herriot|Herriot]] 1932 zumindest erwog, lehnte Mussolini allerdings – anders als der durchaus frankophobe Grandi, der dennoch das erstarkende Deutschland als größte Gefahr für die Stellung Italiens einschätzte – ab. Im Juli 1932 entließ Mussolini Grandi und übernahm wieder selbst das Außenministerium.<br />
<br />
===== Mussolini und der Aufstieg der NSDAP =====<br />
<br />
Die Entwicklung der antidemokratischen Rechten in Deutschland wurde von den italienischen Faschisten aufmerksam beobachtet. Mussolini verfügte neben den Berichten der italienischen Botschaft über eine Vielzahl weiterer ausgezeichneter Informationsquellen, unter denen vor allem [[Giuseppe Renzetti]] herausragt, der Gründer der italienischen Handelskammer in Berlin und „Schattenbotschafter“ des ''Duce.'' Renzetti gelang es im Laufe der zwanziger Jahre, direkte persönliche Beziehungen zu den Führern der [[Deutschnationale Volkspartei|DNVP]], des [[Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten|Stahlhelm]], der [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]] sowie zu einflussreichen konservativen Journalisten und Industriellen herzustellen. Er wurde am 16. Oktober 1930 von Mussolini erstmals zu einer persönlichen Unterredung empfangen und beauftragt, im Namen Mussolinis Kontakt zu Hitler und [[Hermann Göring|Göring]] zu halten.<ref>Zu Renzetti siehe Wolfgang Schieder: ''Faschismus im politischen Transfer. Giuseppe Renzetti als faschistischer Propagandist und Geheimagent in Berlin 1922–1941,'' in: Sven Reichardt, Armin Nolzen (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich.'' Göttingen 2005, S.&nbsp;28–58. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;218.</ref> Am 24. April 1931 empfing Mussolini mit Hermann Göring den ersten führenden Nationalsozialisten in „Audienz“.<br />
<br />
Die Kontaktversuche zwischen dem Führungspersonal der NSDAP und Mussolini waren älter, bis zum Wahlerfolg der Partei bei der [[Reichstagswahl 1930]] aber sehr einseitig. Schon im November 1922 hatte Mussolini einen Bericht des italienischen Diplomaten Adolfo Tedaldi erhalten, in dem dieser auf Hitler, den „Führer der Faschisten“ in Bayern, hinwies. Dieser trete für ein deutsch-italienisches Bündnis ein und erkenne die italienische Position in der [[Südtirol]]-Frage an.<ref>Siehe Edgar R. Rosen: ''Mussolini und Deutschland 1922–1923.'' In: ''Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.'' Jg. 5 (1957), S.&nbsp;17–41, S.&nbsp;23f. ([https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1957_1_2_rosen.pdf PDF] (PDF; 1,2&nbsp;MB) )</ref> Hitler hat offenbar 1922 und 1923 erfolglos versucht, über [[Kurt Lüdecke]] mit dem von ihm bewunderten Mussolini in Verbindung zu treten. Ähnliche Vorstöße wurden 1927 und noch einmal 1930 von Mussolini abgewiesen,<ref>Siehe Schieder, Faschismus im politischen Transfer, S.&nbsp;48.</ref> obwohl ihm bis dahin immer wieder wohlwollende Berichte von Italienern vorgelegt worden waren, die Hitler getroffen hatten.<ref name="ReferenceG">Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;217.</ref> Der Mussolini-Biograph Renzo De Felice hält es dennoch für möglich, dass die NSDAP in dieser Phase unregelmäßig Geld aus einem Fonds des italienischen Konsulats in München erhielt.<ref>Renzo De Felice: ''Mussolini il duce.'' Teil 1: ''Gli anni del consenso 1929–1936.'' Turin 1974, S.&nbsp;423 (Fn. 1).</ref><br />
<br />
Ebenso wie seine faschistischen Untergebenen misstraute Mussolini allen Vertretern des revanchistischen und alldeutschen Nationalismus nördlich der Alpen grundsätzlich. Hitler erschien mit seiner Anerkennung der Annexion Südtirols durch Italien zwar als beinahe singuläre Erscheinung auf der deutschen Rechten, vertrat aber ein mit der Unabhängigkeit Österreichs – wo Mussolini seit 1927 die [[Heimwehr]]-Bewegung mit Geld und Waffen und seit 1932 die Politik des Bundeskanzlers [[Engelbert Dollfuß]] unterstützte<ref>Siehe Lowe, Cedric, Marzari, Frank, Italian Foreign Policy 1870–1940, London 1975, S.&nbsp;231 f.</ref> – unvereinbares großdeutsches Programm, worauf Mussolinis Zeitschrift ''Gerarchia'' im September 1930 warnend hinwies.<ref name="ReferenceG"/><br />
<br />
Persönlich bereitete Mussolini außerdem der aggressive Antisemitismus und völkische Rassismus der Nationalsozialisten Probleme – auch wenn diese Frage zu keinem Zeitpunkt im Vordergrund seiner Überlegungen stand.<ref name="ReferenceH">Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;219.</ref> Im Gespräch mit dem Heimwehr-Führer [[Ernst Rüdiger Starhemberg (Politiker)|Starhemberg]] bekannte er, kein „besonderer Freund der Juden“ zu sein, der nationalsozialistische Antisemitismus aber sei „einer europäischen Nation unwürdig“.<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;217.</ref> Mussolini teilte die den italienischen Eliten geläufigen Abwertungen von Nichteuropäern und Slawen („Demokratie für Slawen ist wie Alkohol für Schwarze.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;220.</ref>), lehnte den biologisch begründeten Rassismus aber zumindest bis 1934 auch öffentlich scharf ab.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;220 f., 227 f.</ref> Die [[Blut-und-Boden-Ideologie]] und das Konzept einer Nation als „Abstammungsgemeinschaft“, das in den Ideologien der deutschen Rechten seit dem Ersten Weltkrieg Gemeingut war, blieben Mussolini zeitlebens fremd.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;220 f.</ref> Sein Rassismus war „voluntaristisch“ – Italiener war für Mussolini, wen er einer bestimmten Spielart sozialer, kultureller und politischer Zivilisation zurechnen konnte. Hingegen war er davon überzeugt, dass Teile des italienischen Volkes (noch) nicht Teil der „Nation“ seien: [[Florenz|Florentiner]] seien Unruhestifter, [[Neapel|Neapolitaner]] nutz- und disziplinlos usw. Dagegen hätten sich die italienischen Juden als Bürger und Soldaten bewährt.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;221.</ref> Gleichwohl tolerierte Mussolini eine antisemitische Strömung des Faschismus, die sich um die Zeitschrift ''La Vita Italiana'' und deren Herausgeber [[Giovanni Preziosi]] gesammelt hatte. Im Frühjahr 1933 forderte er die Faschisten im ''Popolo d’Italia'' auf, den [[Judenboykott]] der Nationalsozialisten im Kontext zu betrachten und darüber nicht zu „moralisieren“.<ref name="ReferenceH"/><br />
<br />
Hitler hat Mussolini noch am [[Machtergreifung|30. Januar 1933]] ein Telegramm gesandt, in dem er einmal mehr seine persönliche Wertschätzung für den ''Duce'' kundtat.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;184.</ref> Mussolini seinerseits versuchte bis 1934, gegenüber Hitler eine gönnerhafte, Patronage simulierende Haltung einzunehmen. So riet er ihm im Frühjahr 1933 schriftlich, vom Antisemitismus (dieser habe „immer ein wenig vom Aroma des Mittelalters“<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;184.</ref>) abzulassen.<ref name="ReferenceH"/> Auch das erste Zusammentreffen der beiden Diktatoren am 14./15. Juni 1934 inszenierte Mussolini mit diesem Vorsatz. Hitler hatte um eine informelle Zusammenkunft gebeten und war als „Privatmann“ wie ein „Klempner im Regenmantel“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;227.</ref> (Mussolini) nach [[Venedig]] gereist, wurde von Mussolini aber mit einem großen Presseaufgebot und einem letztlich fehlgeplanten pompösen Empfang überrascht, der erfolglos Eindruck zu machen suchte.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;227 und Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;184 f.</ref> Beide unterhielten sich mehrmals allein auf Deutsch, was Mussolini mit Sicherheit überforderte. Hitler irritierte Mussolini bereits bei diesem ersten Treffen mit endlosen Monologen; gleichwohl war Mussolini offenbar davon überzeugt, Hitler die Hoffnung auf einen „Anschluss“ Österreichs ausgeredet zu haben, während Hitler Italien mit dem Eindruck verließ, Mussolini habe keine Einwände gegen eine von der NSDAP geführte österreichische Regierung.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;185.</ref><br />
<br />
Diplomatisch suchte Mussolini den deutschen Revisionismus zunächst mit einem [[Viererpakt|Viermächtepakt]], den er bereits im Oktober 1932 vorgeschlagen hatte, unter Kontrolle zu bringen. Vertreter Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und Italiens unterzeichneten ihn im Juli 1933 in Rom. Der Vertrag wurde jedoch durch den Austritt Deutschlands aus dem [[Völkerbund]] am 14. Oktober 1933 im Zusammenhang mit dem [[Reichskonkordat]] vom 20. Juli 1933 gegenstandslos und somit nie ratifiziert. Parallel versuchte Mussolini, die italienische Position durch eine Reihe von diplomatischen Manövern zu festigen, die sich im Kern alle gegen Deutschland richteten; in diese Reihe gehören der Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag mit der [[Sowjetunion]] (2. September 1933) und die Abkommen mit Ungarn und Österreich im März 1934 (vgl. [[Römische Protokolle]]). Hastig entworfene Pläne für ein von Italien kontrolliertes Paktsystem in Südosteuropa, das neben Ungarn auch Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei einbinden sollte, scheiterten an französischem Widerstand, den denkbar schlechten italienisch-jugoslawischen und italienisch-griechischen Beziehungen sowie an der Weigerung Ungarns, seine antijugoslawische Haltung zu mäßigen.<br />
<br />
==== Kolonialpolitik ====<br />
{{Hauptartikel|Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg}}<br />
[[Datei:Coat of arms of Libya (1940).svg|mini|hochkant=1|[[Wappen Libyens|Wappen]] [[Italienisch-Libyen]]s (1940–1943) nach der [[Annexion]] 1939]]<br />
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Während des Ersten Weltkrieges hatte sich der Zugriff Italiens auf seine kolonialen Besitzungen stark gelockert. In [[Tripolitanien]] und der [[Kyrenaika|Cyrenaika]] (beide Gebiete wurden erst 1934 als [[Italienisch-Libyen]] administrativ vereinigt) kontrollierte es 1919 nur noch die größeren Städte an der Küste. Als Mussolini Ministerpräsident wurde, hatte die Kolonialadministration bereits mit der sogenannten ''riconquista'' des Hinterlandes begonnen. Die Planung hierfür war maßgeblich von Giuseppe Volpi (1921 bis 1925 Gouverneur von Tripolitanien) und [[Giovanni Amendola]] (zwischen Februar und Oktober 1922 Kolonialminister und einige Jahre später „Märtyrer“ des liberalen Antifaschismus) vorangetrieben worden.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;205 f.</ref> Während die „Pazifizierung“ Tripolitaniens unter der militärischen Leitung [[Rodolfo Graziani]]s relativ rasch abgeschlossen wurde, zog sie sich in der Cyrenaika bis 1932/33 hin. Hier fiel ein Drittel der Bevölkerung einer Politik zum Opfer, der der italienische Historiker [[Angelo Del Boca]] „Wesen und Ausmaß eines echten Genozids“<ref>Del Boca, Angelo, Gli italiani in Libia (Band 2). Dal fascismo a Gheddafi, Bari 1988, S.&nbsp;183.</ref> bescheinigt hat. Um den fruchtbaren Boden für eine landwirtschaftliche Nutzung durch italienische Siedler zu sichern und eine Reserve günstiger und ständig verfügbarer Arbeitskräfte zu schaffen, zerstörte die italienische Armee (die sich dabei weitgehend auf ostafrikanische Söldner stützte) seit 1930 systematisch die Gesellschaft der halbnomadisch lebenden Viehzüchter des [[Al-Dschabal al-Achdar (Libyen)|Gebel el-Achdar]].<ref>Siehe Rodogno, Davide, Fascism and War, in: Bosworth, Richard J.B. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Fascism, Oxford 2010, S.&nbsp;239–258, S.&nbsp;243 f.</ref> Der Viehbestand wurde fast völlig vernichtet, etwa 100.000 Menschen wurden in [[Italienische Konzentrationslager in Libyen (1930–1933)|Konzentrationslagern]] an der Küste festgehalten, wo die Hälfte bis zur Auflösung der Lager im Jahr 1933 – meist durch Verhungern – zu Tode kam.<ref name="ReferenceI">Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;207.</ref> Bei Luftangriffen kamen immer wieder [[chemische Waffe]]n zum Einsatz, obwohl Italien im Juni 1925 zu den Signatarstaaten des [[Genfer Protokoll]]s gehört hatte.<br />
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Mussolini spielte in diesem Zusammenhang eine eher zweideutige Rolle. Er war jederzeit bereit, brutalste Maßnahmen zu autorisieren oder im Nachhinein zu billigen, ergriff jedoch zu keinem Zeitpunkt die Initiative, die eindeutig bei Badoglio (seit 1929 in Personalunion Gouverneur Tripolitaniens und der Cyrenaika), Graziani und anderen lag.<ref name="ReferenceI"/> Die großflächigen, entschädigungslosen Landenteignungen, das rigorose Steuersystem und die soziale und räumliche Trennung der europäischen, jüdischen und arabischen Einwohner hat maßgeblich Volpi konzipiert.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;380.</ref> Mussolini ließ Kritiker der „Pazifizierung“ wie De Bono (der von 1929 bis 1935 das Kolonialministerium leitete) und [[Roberto Cantalupo]], die beide auf ein gegen Großbritannien und Frankreich gerichtetes Bündnis mit dem arabischen Nationalismus setzten, gewähren. Deren Position scheint auch seinen Intentionen entsprochen zu haben. Als Mussolini im April 1926 zum ersten Mal die nordafrikanische Kolonie besuchte, inszenierte er sich als „Verteidiger des Islam“. 1929 wies er Badoglio an, einen (kurzlebigen) Waffenstillstand mit dem Rebellenführer [[Umar al-Muchtar]] auszuhandeln.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;170.</ref> In der Pose eines wohlwollenden Beschützers gefiel er sich auch bei seinem zweiten Besuch im März 1937, als er sich von einheimischen Würdenträgern in [[Tripolis]] das „[[Zulfikar|Schwert des Islam]]“ überreichen ließ.<ref>Allerdings war mit diesen taktischen Gesten gegenüber dem arabischen Nationalismus keine Festlegung verbunden, da Mussolini sich auch mehrfach mit führenden Zionisten wie Chaim Weizmann traf und den revisionistischen Zionismus (bis 1938) konkret förderte. Siehe Bosworth, Italy and the wider world, S.&nbsp;111 f.</ref> Obwohl das „Imperium“ im Laufe der 30er Jahre zu einem zentralen Element der faschistischen Propaganda wurde, scheint Mussolini keine klare Vorstellung davon gehabt zu haben, welcher politische, militärische oder ökonomische Nutzen aus den Kolonien gezogen werden könne. Die neuere Forschung hat darauf hingewiesen, dass die Eroberung Äthiopiens erfolgte, ohne dass Mussolini „auch nur die blasseste Ahnung hatte, was mit diesem großen Zuwachs an Territorium und Menschen anzufangen war.“<ref>Bosworth, Italy and the wider world, S.&nbsp;50.</ref> Nachdem er im Dezember 1937 Graziani abgelöst und den [[Amadeus, 3. Herzog von Aosta|Herzog von Aosta]] zum Vizekönig von Äthiopien ernannt hatte, überließ er die dortige, von Korruption und Cliquenkämpfen zerrüttete Kolonialverwaltung sich selbst.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;260 f.</ref> Auch Libyen war wirtschaftlich ein Verlustgeschäft (die großen Ölvorkommen wurden trotz der klaren Hinweise auf ihr Vorhandensein von der Kolonialadministration bis zuletzt „hartnäckig“<ref>Bosworth, Italy and the wider world, S.&nbsp;105.</ref> ignoriert); es wurde erst in der zweiten Hälfte der 30er Jahre Aufnahmeort einer nennenswerten Zahl italienischer Auswanderer – nach faschistischer Lesart eine der wichtigsten Funktionen der Kolonien.<br />
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Die Details der „Pazifizierung“ in Libyen (und nach 1936 in Äthiopien) blieben in Italien lange Zeit unbekannt. Erst in den letzten Jahrzehnten sind sie durch die Arbeiten der Historiker [[Giorgio Rochat]]<ref>Siehe vor allem Rochat, Giorgio, Guerre italiane in Libia e in Etiopia, Treviso 1991 und derselbe, Le guerre italiane 1935–1943. Dall’impero d’Etiopia alla disfatta, Turin 2005.</ref> und Angelo Del Boca stärker in den Blickpunkt gerückt. Die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ist vor allem deshalb konfliktträchtig, weil sie eher Teil einer „nationalen“ als einer „faschistischen“ Kolonialgeschichte ist. Schon 1914/15 waren etwa 10.000 Libyer bei der Niederschlagung eines Aufstands ums Leben gekommen. Die Kolonialmacht ging bald nach ihrer Ankunft gegen die Viehzüchter der [[Kyrenaika|Cyrenaika]] systematisch vor. Nationalistische Intellektuelle hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg offen über die „Vorteile“ einer Verdrängung oder Vernichtung der einheimischen Bevölkerung nachgedacht.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;379, derselbe, Mussolini, S.&nbsp;206 und derselbe, Italy and the wider world, S.&nbsp;104.</ref> Den Einsatz chemischer Waffen in den Kolonien räumte das [[Verteidigungsministerium (Italien)|italienische Verteidigungsministerium]] erst Mitte der 90er Jahre offiziell ein.<br />
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=== Kriegs- und Expansionskurs (1935–1939) ===<br />
[[Datei:TB Der Igel, Folge 9, 1. Jg. November 1935..jpg|mini|Der Igel, Folge 9, 1. Jg. November 1935]]<br />
==== Begründung des „Impero“ ====<br />
Auf den Besuch Hitlers in Venedig folgte zunächst eine dramatische Verschlechterung der deutsch-italienischen Beziehungen. Beim [[Juliputsch]] vom 25. Juli 1934, einem Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten, wurde der von Mussolini protegierte Bundeskanzler [[Engelbert Dollfuß]] getötet. Dessen Familie verbrachte gerade den Urlaub zusammen mit den Mussolinis in [[Riccione]], so dass Mussolini persönlich Dollfuß’ Ehefrau die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachte. Am 21. August traf sich Mussolini mit Dollfuß’ Nachfolger [[Kurt Schuschnigg]].<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;185.</ref> Er ließ am [[Brennerpass]] vier voll mobilisierte [[Division (Militär)|Divisionen]] aufmarschieren und initiierte eine antideutsche Pressekampagne, die bis 1935 andauerte.<br />
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Mussolini richtete nun auch öffentlich heftige Angriffe gegen die NS-Ideologie.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;228.</ref> Am 6. September 1934 nahm er in [[Bari]] Stellung zur expansiven [[NS-Außenpolitik]] und erklärte, dass die nationalsozialistische Rassedoktrin von jenseits der Alpen von Nachkommen eines Volkes stamme, das „zur Zeit, als Rom [[Cäsar]], [[Vergil]] und [[Augustus]] hatte, noch keine Schrift kannte.“ Gleichzeitig setzte er in den von ihm beanspruchten Einflusszonen gerade in dieser Phase auf Mittel gewaltsamer Destabilisierung. Am 9. Oktober 1934 ermordete der in einem Lager der [[Ustascha]] in Italien ausgebildete Selbstmordattentäter [[Wlado Tschernosemski]] den [[Königreich Jugoslawien|jugoslawischen König]] [[Alexander I. (Jugoslawien)|Alexander&nbsp;I.]] und den französischen Außenminister [[Louis Barthou]] in [[Marseille]]. Die danach von Frankreich geforderte Auslieferung [[Ante Pavelić|Pavelićs]] und anderer kroatischer Faschisten lehnte Mussolini ab. Im gleichen Jahr konferierte er mit spanischen Offizieren und Monarchisten und versprach ihnen Waffen und Geld, nachdem er bereits den gescheiterten Putsch des Generals [[José Sanjurjo]] im August 1932 auf ähnliche Weise unterstützt hatte.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;229.</ref><br />
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Die „Anschluss-Krise“ des Jahres 1934 führte zunächst zu einer weiteren Annäherung zwischen Italien, Frankreich und Großbritannien. Im Oktober 1934 reiste [[Robert Vansittart, 1. Baron Vansittart|Robert Vansittart]], der höchste Beamte des britischen Außenministeriums, nach Rom und sicherte Mussolini die Rückendeckung Großbritanniens in der Österreich-Frage zu.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;186.</ref> Im Januar 1935 unterzeichneten Mussolini und der neue französische Außenminister [[Pierre Laval]] eine Reihe von Vereinbarungen (sog. [[Französisch-Italienisches Abkommen|Laval-Mussolini-Pakt]]), die Konsultationen bei allen Österreich und Deutschland berührenden Fragen sowie die Aufnahme von Generalstabsbesprechungen vorsahen. Frankreich trat außerdem 110.000 Quadratkilometer von [[Französisch-Äquatorialafrika]] und 20.000 Quadratkilometer von [[Geschichte Dschibutis#Kolonialzeit|Französisch-Somaliland]] an Italien ab, das im Gegenzug auf seit dem 19. Jahrhundert erhobene Ansprüche in Tunesien verzichtete. Außerdem erklärte Laval – allerdings lediglich inoffiziell –, dass Frankreich, das die [[Bahnstrecke Dschibuti–Addis Abeba (Meterspur)|Eisenbahnstrecke Dschibuti-Addis Abeba]] kontrollierte, von allen weitergehenden Ansprüchen in Äthiopien zurücktrete ''(désistement).''<br />
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Am 30. Dezember 1934 hatte Mussolini den italienischen Generalstab angewiesen, einen Krieg gegen Äthiopien vorzubereiten; den Anlass dafür bot ein schwerer Grenzzwischenfall, bei dem am 5. Dezember zwei Italiener (und etwa 100 Äthiopier) getötet worden waren. Mussolini sah in Äthiopien, das [[Italienisch-Äthiopischer Krieg (1895–1896)|1896 einen italienischen Angriff abgewehrt]] hatte und seit 1923 Mitglied des [[Völkerbund]]es war, den „Preis“, den Italien für seine „konstruktive“ Politik in Europa fordern könne. Als er im April 1935 mit Laval, [[Pierre-Étienne Flandin|Flandin]], [[John Allsebrook Simon, 1. Viscount Simon|Simon]] und [[Ramsay MacDonald|MacDonald]] in [[Stresa]] zusammentraf und eine Deklaration unterzeichnete, in der die drei Mächte ihre Entschlossenheit betonten, die durch die Friedensverträge geschaffenen Grenzen in Mitteleuropa zu verteidigen (vgl. [[Stresa-Front|Stresa-Deklaration]]), bemühte er sich, die britische Haltung in dieser Frage zu eruieren. Die Indifferenz der Briten deutete er als Einverständnis.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;190 f.</ref> Mussolinis Denkweise und Taktik war dabei im Ansatz alles andere als innovativ oder genuin „faschistisch“, sondern folgte einem seit dem 19. Jahrhundert etablierten Muster der italienischen Außenpolitik. Zuletzt hatte 25 Jahre früher der liberale Ministerpräsident [[Giovanni Giolitti]] die durch die Spannungen zwischen den stärkeren europäischen Mächten geschaffene günstige Situation genutzt, um den [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg gegen die Türkei]] zu führen. Bei näherer Betrachtung „hat der italienische Krieg von 1935/36 ziemlich viel mit dem italienischen Krieg von 1911/12 gemeinsam.“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;241.</ref><br />
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Stresa stellte die Weichen für eine „diplomatische Katastrophe“,<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;190.</ref> da Mussolini den Einfluss der politischen Kräfte in Großbritannien, die zu einer langfristigen Verständigung mit Deutschland kommen wollten und weder interessiert noch bereit waren, Italien für die Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs kolonial derart weitgehend zu „entschädigen“, völlig unterschätzte. Nicht in Rechnung gestellt hatte Mussolini auch die Gruppe um [[Anthony Eden]], die in Europa weiterhin auf die Mechanismen des Völkerbundes setzte und 1935 die öffentliche Meinung in Großbritannien auf ihrer Seite hatte. Politiker wie Churchill, [[Robert Vansittart, 1. Baron Vansittart|Vansittart]] und [[Austen Chamberlain]] († 1937), die durchaus bereit waren, Italien in Ostafrika freie Hand zu lassen, hatten ihren Einfluss 1935 ganz oder teilweise verloren. Das wurde mit dem [[Deutsch-britisches Flottenabkommen|deutsch-britischen Flottenabkommen]], das die Stresa-Deklaration bereits nach zwei Monaten faktisch entwertete, offensichtlich (Juni 1935). Dass die Briten kurz darauf einen Teil der [[Home Fleet]] ins Mittelmeer verlegten, war für Mussolini ein Schock.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;192.</ref> Für sein „realistisches“ Weltverständnis nicht nachvollziehbar waren die plötzlichen „antikolonialen Predigten von Leuten, die selbst [[Wettlauf um Afrika|halb Afrika kontrollierten]] und es ganz gewiss nicht friedlich erworben hatten.“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;193.</ref> Er ließ trotz der Bedenken seiner Militärs den begonnenen Aufmarsch in [[Kolonie Eritrea|Eritrea]] und [[Italienisch-Somaliland]] fortsetzen und wies die über unterschiedliche Kanäle lancierten Vermittlungsvorschläge zurück. Eine spannungsreiche Unterredung mit Eden im Juni endete ergebnislos. Mussolini, der die Abtretung aller äthiopischen Territorien außerhalb des [[Amharen|amharischen]] Kernlandes und ein italienisches Protektorat über den verbleibenden Rest gefordert hatte, brach das Treffen wütend ab, als Eden ihm „eine weitere Wüste“, den [[Ogaden]], anbot.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;245. Siehe auch Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;192.</ref><br />
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Am 3. Oktober 1935 überschritten italienische Truppen von Eritrea aus die [[Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea|Grenze zu Äthiopien]] (vgl. [[Abessinienkrieg|Italienisch-Äthiopischer Krieg]]). Sechs Tage später erklärte der Völkerbund (gegen die Stimme Italiens und bei Stimmenthaltung [[Kurt Schuschnigg#Außenpolitik|Österreichs]], Ungarns und Albaniens) Italien formell zum Aggressor; Mitte November traten Wirtschaftssanktionen in Kraft. Neben Einschränkungen im Finanzbereich sperrte der Völkerbund zahlreiche Güter für den Handel mit Italien. Das von allen Beobachtern als potenziell einschneidend angesehene [[Ölembargo]] unterblieb jedoch. Ein britisch-französischer Vermittlungsvorschlag (vgl. [[Hoare-Laval-Pakt]]), der Italien sehr weit entgegenkam und von Mussolini wahrscheinlich akzeptiert worden wäre,<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;248 und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;196.</ref> sickerte frühzeitig an die Presse durch und wurde im Dezember 1935 im [[House of Commons|britischen Unterhaus]] abgelehnt. Mussolini, der den unfähigen De Bono nach ersten Rückschlägen im November durch Badoglio ersetzt hatte, ordnete nun einen Vorstoß auf [[Addis Abeba]] und die Verlegung weiterer Kräfte und Mittel nach Ostafrika an. Als am 20. Januar 1936 die Offensive begann, waren zwischen 350.000 und 400.000 Mann mit 30.000 Fahrzeugen und 250 Flugzeugen aufmarschiert – die größte je in einem Kolonialkrieg versammelte Armee. Die italienische Armee setzte auf Initiative Badoglios – und von Mussolini autorisiert<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;248.</ref> – nun auch [[Giftgas]] ein. Flugzeuge warfen bis zum Ende des Krieges etwa 250 Tonnen Bomben mit [[Senfgas]] ab.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;198.</ref> Am 5. Mai 1936 rückten italienische Truppen in Addis Abeba ein.<br />
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Mussolini verkündete am 9. Mai 1936 in Rom vor einer begeisterten Menschenmenge die Annexion Äthiopiens und „die Rückkehr des Imperiums auf die heiligen Hügel von Rom.“<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;198.</ref> Viktor Emanuel&nbsp;III. nahm den Titel eines Kaisers von Äthiopien an. Auch wenn Renzo De Felices affirmative Kennzeichnung des Äthiopienkrieges als „politisches Meisterstück“<ref>Renzo De Felice: Mussolini il duce (Teil 1). Gli anni del consenso 1929–1936, Turin 1974, S.&nbsp;642.</ref> ''(capolavoro politico)'' Mussolinis und die damit zusammenhängende These eines „Konsenses“ zwischen dem „italienischen Volk“ und dem Regime<ref>Siehe De Felice, Mussolini il duce (1), S.&nbsp;3, 616, 758.</ref> höchst umstritten ist, so wird doch kaum bezweifelt, dass das Regime in den Jahren 1935 und 1936 den Höhepunkt innerer Stabilität erreichte; der aktive und bewusste Antifaschismus in Italien war in dieser Phase auf einige wenige isolierte Zirkel beschränkt. Im Juli 1936 hob der Völkerbund die Wirtschaftssanktionen wieder auf. Im westlichen Ausland kehrte der Krieg das Bild des italienischen Faschismus allerdings vollständig um. Er beendete die „Liebesbeziehung zwischen den ausländischen Journalisten und Mussolini“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;246.</ref> und verschaffte dem italienischen Diktator insbesondere in der ihm bis zu diesem Zeitpunkt eher wohlgesinnten konservativen britischen Presse ein langzeitig wirksames Image als „Gangster“ und „unrasierter Rowdy“.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;246. Siehe auch derselbe, Italian Dictatorship, S.&nbsp;76.</ref><br />
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==== Bündnis mit Deutschland ====<br />
===== Von der „Achse“ zum „Anschluss“ =====<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 183-2007-1022-506, Italien, deutsche Frontkämpfer in Rom crop.jpg|mini|Benito Mussolini und [[Galeazzo Ciano]], März 1938]]<br />
[[Datei:Deutsches Reichsgesetzblatt 37T1 105 1013.jpg|mini|hochkant|Anordnung von zusätzlichen Feiertagen anlässlich des Mussolini-Besuches für Berlin und München per Gesetz vom 23. September 1937]]<br />
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Die ersten Schritte zur Verbesserung der deutsch-italienischen Beziehungen unternahm Mussolini noch vor dem Beginn des Äthiopienkrieges. Einige Monate später, am 6. Januar 1936, nach dem Scheitern des Hoare-Laval-Pakts und dem Zusammenbruch der „[[Stresa-Front]]“, teilte Mussolini dem überraschten deutschen Botschafter [[Ulrich von Hassell]] mit, dass Italien nichts gegen eine Ausweitung des deutschen Einflusses in Österreich unternehmen werde, solange das Land formell unabhängig bleibe (vgl. [[Juliabkommen]]). Im Februar deutete er – ebenfalls gegenüber von Hassell – an, dass Italien eine [[Rheinlandbesetzung (1936)|Remilitarisierung des Rheinlandes]] tolerieren werde und trat damit informell von den 1925 in Locarno eingegangenen Verpflichtungen zurück.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;200 f.</ref> Im Juni 1936 entließ Mussolini den „germanophoben“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;264.</ref> Triestiner [[Fulvio Suvich]], der bis dahin als Staatssekretär das Außenministerium geführt hatte. Außenminister wurde Mussolinis 33-jähriger Schwiegersohn [[Galeazzo Ciano]], der zu diesem Zeitpunkt einer der enthusiastischen Befürworter der Annäherung an Deutschland war.<br />
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Der [[Spanischer Bürgerkrieg|Bürgerkrieg in Spanien]] beschleunigte die weitere Vertiefung der Beziehungen. Hitler und Mussolini hatten zunächst unabhängig voneinander entschieden, in Spanien zugunsten der Putschisten zu intervenieren (vgl. [[Corpo Truppe Volontarie]]) – Mussolini allerdings erst nach längerem Zögern am 27. Juli 1936, nachdem klar geworden war, dass die konservative Regierung Großbritanniens die Republik nicht unterstützte und die französische [[Front populaire|Volksfront-Regierung]] unter [[Léon Blum]] ihre anfängliche Unterstützung nach Absprache mit Großbritannien rückgängig gemacht hatte.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;230 f.</ref> Ciano reiste im Oktober 1936 nach [[Berchtesgaden]] und unterzeichnete nach Gesprächen mit Hitler am 25. Oktober ein Abkommen. Deutschland erkannte die italienische Annexion Äthiopiens an und erklärte sich mit einer Abgrenzung der wirtschaftlichen Einflusssphären in Südosteuropa einverstanden. Beide Länder vereinbarten eine Abstimmung ihrer Hilfsmaßnahmen für [[Francisco Franco|Franco]] und ein gemeinsames Vorgehen im sogenannten [[Komitee für Nichteinmischung in die Angelegenheiten Spaniens|Nichteinmischungskomitee]]. Mündlich erklärte Hitler das Mittelmeer zu einem „italienischen Meer“ und beanspruchte im Gegenzug Handlungsfreiheit im Ostseeraum und in Osteuropa.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;265.</ref> Mussolini machte den damit erreichten Stand der deutsch-italienischen Beziehungen am 1. November 1936 in einer Rede auf der [[Piazza del Duomo (Mailand)|Piazza del Duomo]] in Mailand öffentlich. Darin sprach er erstmals von einer politischen „[[Achse Rom-Berlin]]“.<br />
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Die Einladung Hitlers zu einem Besuch in Deutschland, die [[Hans Frank]] Mussolini bereits im September 1936 überreicht hatte, nahm er zwar an, zögerte aber mit der Festlegung auf einen Termin. Auch dem [[Antikominternpakt]] trat Italien zunächst nicht bei. Ein britisch-italienisches ''Gentlemen’s Agreement,'' mit dem beide Länder im Januar 1937 den territorialen Status quo im Mittelmeerraum anerkannten, deutete an, dass Mussolini weiterhin auf einen Ausgleich mit den Briten spekulierte – es wurde jedoch „bald vergessen“,<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;234.</ref> da sich die Beziehungen zwischen beiden Mächten kontinuierlich verschlechterten. Ende August 1937 griff ein italienisches U-Boot vor der spanischen Küste den britischen Zerstörer ''[[Havock (Schiff, 1937)|Havock]]'' an. Den Briten blieb auch nicht verborgen, dass Italien 1936/37 begann, antikoloniale Nationalisten in verschiedenen Teilen des britischen Herrschaftsbereiches finanziell, politisch und materiell zu fördern, darunter in Malta, Ägypten, Palästina und im Irak.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;265 und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;239.</ref><br />
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Im Juni 1937 sagte Mussolini schließlich zu, im September Deutschland zu besuchen. Der Deutschlandbesuch (25.–29. September 1937<ref>{{Internetquelle |url=https://archive.org/details/1937-09-22-UfA-Tonwoche-368 |titel=1937-09-22 – UfA-Tonwoche Nr. 368 |sprache=de |abruf=2022-05-16}}</ref>) war Mussolinis erste Auslandsreise seit 1925 und der einzige offizielle Staatsbesuch, den er je unternommen hat. Mussolini besuchte München, [[Garnisonkirche (Potsdam)|Garnisonkirche]] und [[Schloss Sanssouci]] in Potsdam, die [[Friedrich Krupp AG|Krupp-Werke]] in Essen und ein Manöver der [[Wehrmacht]] in Mecklenburg. Höhepunkt war eine Rede vor (angeblich) 800.000 Menschen auf dem Berliner [[Maifeld (Berlin)|Maifeld]] am 28. September.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;267.</ref> Mussolini war von dem, was er in Deutschland sah, außerordentlich stark beeindruckt. Im November 1937 trat Italien dem Antikominternpakt bei und kurz darauf aus dem Völkerbund aus. Im Gespräch mit [[Joachim von Ribbentrop]] bezeichnete Mussolini den „[[Anschluss Österreichs]]“ an das Reich nun als unvermeidlich.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;238.</ref> Als dieser im März 1938 erfolgte, reagierte Italien nicht.<br />
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===== Münchner Abkommen und „Stahlpakt“ =====<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 146-1969-065-24, Münchener Abkommen, Ankunft Mussolini.jpg|mini|Mussolini und Hitler in München, September 1938]]<br />
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Mussolini rechnete nun mit einer unmittelbar bevorstehenden Konfrontation zwischen Deutschland und der mit Frankreich und der Sowjetunion verbündeten [[Erste Tschechoslowakische Republik|Tschechoslowakei]]. Das von Hitler bei seinem Gegenbesuch in Rom im Mai 1938 ins Gespräch gebrachte Militärbündnis lehnte er deshalb ab,<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;269.</ref> zumal Großbritannien die italienische Annexion Äthiopiens am 16. April 1938 formell anerkannt hatte.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;240.</ref> Während der [[Sudetenkrise]] blieb Mussolini bis zuletzt im Hintergrund, spielte dann aber unvermittelt eine wichtige Rolle. Am 28. September 1938 trug der britische Premierminister [[Neville Chamberlain]] seinen Vorschlag einer Konferenz der vier europäischen Großmächte über Mussolini an Hitler heran. Als dieser eingewilligt hatte, telefonierte der italienische Botschafter die ihm von Göring übermittelten deutschen Forderungen von Berlin nach Rom durch. Mussolini nahm dieses Papier anschließend mit nach München und präsentierte es dort als italienischen „Kompromissvorschlag“, der von der Konferenz in den frühen Morgenstunden des 30. September schließlich angenommen wurde (vgl. [[Münchner Abkommen]]).<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;242.</ref> Da die italienische Presse Mussolinis dem Anschein nach „entscheidende“ Rolle in München gebührend herausstellte, wurde er bei seiner Rückkehr an nahezu jeder Bahnstation von tausenden Menschen als „Retter Europas“ gefeiert.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;270 und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;243.</ref><br />
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Nach München war Mussolini mehr denn je entschlossen, die durch Deutschland ausgelöste europäische Krise zugunsten Italiens auszunutzen. Jetzt ließ er auch die italienischen Maximalforderungen öffentlich machen. Als Ciano am 30. November 1938 vor der Abgeordnetenkammer in Anwesenheit des französischen Botschafters über die „natürlichen Ansprüche des italienischen Volkes“ sprach, sprangen auf ein Stichwort hin plötzlich zahlreiche Abgeordnete auf und riefen „Nizza! Korsika! Savoyen! Tunesien! Djibouti! Malta!“.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;243.</ref> Vor dem Großrat dehnte Mussolini diesen Katalog an diesem Tag noch auf Albanien und einen Teil der Schweiz aus. Vor dem gleichen Gremium nannte er Italien am 4. Februar 1939 einen „Gefangenen des Mittelmeers“:<br />
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: „Die Riegel dieses Gefängnisses sind Korsika, Tunesien, Malta und Zypern. Die Wächter des Gefängnisses sind Gibraltar und Suez. Korsika ist eine auf das Herz Italiens, Tunesien eine auf Sizilien gerichtete Pistole, während Malta und Zypern eine Gefahr für alle unsere Positionen im östlichen und westlichen Mittelmeer darstellen.“<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;244.</ref><br />
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Ein derart umfangreiches Programm ließ sich entweder nur durch Krieg oder durch massiven diplomatischen Druck – und in beiden Fällen nicht ohne das Gewicht Deutschlands – verwirklichen. Mussolini nahm nun, angeregt zum Teil von der italienischen Militärführung,<ref name="ReferenceJ">Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;284.</ref> Kurs auf das im Vorjahr noch abgelehnte Militärbündnis, obwohl die [[Zerschlagung der Tschechoslowakei|Besetzung Böhmens und Mährens]] durch Deutschland im März zu erheblichen Irritationen in Rom führte. In der Sitzung des Großrates vom 21. März 1939, bei der insbesondere Balbo die italienische Außenpolitik angriff, stellte Mussolini Italien ganz offen als Juniorpartner Deutschlands hin: Deutschland sei Italien demographisch im Verhältnis 2:1 und industriell im Verhältnis 12:1 überlegen. Die Gefahr, gegen den eigenen Willen von dem offenbar unberechenbaren Hitler in einen europäischen Krieg verwickelt zu werden, spielte er im Gespräch mit Ciano herunter.<ref name="ReferenceJ"/> Albanien, schon länger unter starkem italienischen Einfluss, wurde am 7. April 1939 [[Italienische Besetzung Albaniens|von italienischen Truppen besetzt]].<br />
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Anfang Mai 1939 stimmte Mussolini nach einem neuerlichen Besuch Ribbentrops schließlich dem deutsch-italienischen Militärbündnis zu. Ciano und Ribbentrop unterzeichneten diesen sogenannten „[[Stahlpakt]]“ (''Patto d’Acciaio,'' eine Wortschöpfung Mussolinis) am 22. Mai 1939 in Anwesenheit Hitlers in Berlin. Italien erhielt in der Präambel endlich die lange angestrebte, bislang aber von Hitler nur mündlich ausgesprochene verbindliche Anerkennung der deutsch-italienischen Grenze. Im Kern war der Vertrag ein militärisches Offensivbündnis; er sah eine fast automatische, nur durch eine vage Bestimmung über rechtzeitige „Konsultationen“ eingeschränkte Beistandsverpflichtung bei allen militärischen Auseinandersetzungen – also auch eindeutigen Angriffskriegen – vor, in die eine der Parteien verwickelt werden würde. Die von Ciano auf Mussolinis Wunsch in den Vorverhandlungen angesprochene erforderliche Friedensphase von drei Jahren wurde von Ribbentrop zwar mündlich zugesagt, tauchte in dem von deutschen Diplomaten verfassten Vertragstext aber nicht auf. Ob die italienische Seite sich über die Konsequenzen des Vertrages klar war oder aber eine „atemberaubende Unfähigkeit“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;246.</ref> Cianos den Deutschen in die Karten spielte, ist umstritten. Mussolini unterstrich den Vorbehalt noch einmal in einem Memorandum, das er Hitler am 30. Mai durch [[Ugo Cavallero]] überbringen ließ.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;247.</ref><br />
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==== Ausbau des totalitären Staates ====<br />
Ab etwa 1936 durchlief das Regime eine selbst proklamierte neue Phase der faschistischen „Revolution“. Die Debatte darüber, ob es sich bei dieser Entwicklung um eine genuine Radikalisierung und die sukzessive Entstehung eines totalitären Parteistaates handelte – eine These, die stilbildend vor allem der De Felice-Schüler [[Emilio Gentile]] vertritt<ref>Siehe etwa Gentile, Emilio, La via italiana al totalitarismo. Il Partito e lo Stato nel regime fascista, Rom 1995, S.&nbsp;136 f., S.&nbsp;189 f.</ref> – oder es aber beim Versuch Mussolinis blieb, es „so ''aussehen'' zu lassen, als durchlaufe der Faschismus eine neue und ultraradikale Phase“,<ref>Finaldi, Mussolini, S.&nbsp;94. Hervorhebung im Original.</ref> ist nicht beendet.<br />
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In der Ära des Parteisekretärs [[Achille Starace]] (1931–1939) änderte sich der politische Stil der faschistischen Partei signifikant. Nach den von Turati und Giuriati betriebenen Massenausschlüssen der „Radikalen“ und dem parallelen Zustrom konservativer Funktionseliten öffnete sich die Partei nach 1932 für die Massen. 1939 soll die Hälfte der italienischen Bevölkerung entweder der Partei oder (häufiger) einer ihrer zahlreichen Vorfeld-, Neben- und Hilfsorganisationen angehört haben. Diese Entwicklung wurde diskret gefördert, etwa dadurch, dass die Mitgliedschaft im PNF bei Bewerbungen auf Stellen im öffentlichen Dienst spätestens seit 1937 als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. 1939 wurde die Mitgliedschaft in der faschistischen Jugendorganisation für heranwachsende Italiener obligatorisch. Durch regelmäßige Aufmärsche und Veranstaltungen aller Art, für die der 1935/36 eingeführte „faschistische Samstag“ ''(sabato fascista)'' reserviert war, besetzte die Partei nun viel stärker den öffentlichen Raum als vorher. Eine Reihe von Kampagnen zielte darauf ab, das gesellschaftliche Leben zu militarisieren und die Italiener härter zu machen. Bekannt geworden ist vor allem die Kampagne gegen die „bürgerliche“ Höflichkeitsform ''Lei,'' die im persönlichen Umgang durch das „volkstümliche“ ''voi'' ersetzt werden sollte. Eine Kampagne gegen Anglizismen setzte für den inzwischen zum Nationalsport gewordenen Fußball – den die Faschisten und insbesondere Mussolini bis in die erste Hälfte der 30er Jahre weitgehend ignoriert und zum Teil sogar mit dem eigens erfundenen konkurrierenden Sport ''[[Volata]]'' bekämpft hatten – endgültig die Bezeichnung ''calcio'' durch, wodurch nebenbei impliziert wurde, das Spiel sei im Florenz des 16. Jahrhunderts erfunden worden. Politisch koordiniert wurden diese Maßnahmen meist über die Partei und Starace (seit 1937 hatte der Parteisekretär Ministerrang), technisch abgewickelt aber zunehmend über den Apparat des 1937 geschaffenen [[Ministerium für Volkskultur (Italien)|Ministeriums für Volkskultur]] ''(Ministero della Cultura Popolare).'' Mussolini trieb diese Entwicklung einer „faschistischen Kultur“ mit einer Vielzahl von Reden voran, in denen er den totalitären und revolutionären Charakter einer „dritten Welle“ des Faschismus herausstellte.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;280.</ref><br />
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Formale Veränderungen in der Struktur der Staatsführung liefen parallel. Mitunter wird der Titel „Erster Marschall des Imperiums“ ''(Primo maresciallo dell’Impero),'' den Mussolini sich im April 1938 übertragen ließ, als Versuch gedeutet, die Stellung des Monarchen zu relativieren. Im Dezember 1938 wurde die aus den Scheinwahlen des Jahres 1934 hervorgegangene Abgeordnetenkammer aufgelöst und im März 1939 ganz abgeschafft. Als Ersatz wurde eine „Kammer der Fasci und der Korporationen“ ''(Camera dei Fasci e delle Corporazioni)'' ernannt. Der Senat, das traditionelle Forum der konservativen Eliten, wurde jedoch nicht angetastet – nach Mussolini war „der Senat römisch, die Kammer aber angelsächsisch“.<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;282.</ref><br />
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Mussolini reagierte zunehmend „überempfindlich“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;258.</ref> auf alle Äußerungen antifaschistischer Dissidenz. Als nach der Demütigung in der [[Schlacht bei Guadalajara]] im Frühjahr 1937 die unter italienischen Freiwilligen der [[Internationale Brigaden|Internationalen Brigaden]] aufgekommene Losung „Heute in Spanien und morgen in Italien!“ an Häusern in Italien auftauchte, forderte er Franco auf, gefangene „rote“ Italiener erschießen zu lassen. Hinter der Ermordung der [[Carlo Rosselli|Rosselli]]-Brüder durch französische Faschisten (9. Juni 1937) standen nachweislich Ciano und der italienische Geheimdienst, das Einverständnis Mussolinis gilt als sicher.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;219 und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;259.</ref><br />
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Das „Flaggschiff“<ref>Finaldi, Mussolini, S.&nbsp;95.</ref> der neuen Radikalität war die im Sommer 1938 eingeleitete rassistische Wende des Faschismus. Am 14. Juli 1938 – als symbolischer Schlag gegen die Ideale der [[Aufklärung]] offenbar bewusst am Jahrestag des [[Sturm auf die Bastille|Sturmes auf die Bastille]]<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;274.</ref> – erschien in ''Il Giornale d’Italia'' ein „[[Manifesto della razza|Manifest der Rasse]]“, das Mussolini von zehn namentlich genannten rassistischen Wissenschaftlern verfassen ließ. Der Text proklamierte in Form eines [[Dekalog]]s die Existenz einer homogenen „italienischen Rasse“ „arischen“ Ursprungs. Juden, „Orientalen“ und Afrikaner seien dieser Rasse fremd. Diesem Prolog folgte bis 1939 eine ganze Serie offen diskriminierender rassistischer und antisemitischer Gesetze. Am 3. August 1938 wurden zunächst die Kinder ausländischer Juden vom Schulbesuch ausgeschlossen, im September folgte ein Dekret, das zu definieren versuchte, wer als Jude zu verstehen sei. Am 17. November 1938 verbot ein umfangreiches Dekret die Verheiratung „arischer“ Italiener mit Angehörigen „anderer Rassen“ und regelte im Detail den Ausschluss der Juden aus dem Militär, dem Bildungswesen, der Verwaltung, dem Wirtschaftsleben (Beschränkung auf Kleinbetriebe und Landwirtschaft) und der faschistischen Partei. Darüber hinaus wurden alle Juden, die nicht italienische Staatsbürger waren (oder die Staatsbürgerschaft nach 1919 erhalten hatten), aus Italien ausgewiesen.<br />
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Obwohl unter seinen Anhängern Rassisten und Antisemiten waren, hatte der italienische Faschismus einen programmatisch verbindlichen Rassismus bis dahin nicht vertreten.<ref>„The assertion that Fascism had always been racist was unconvincing, except in the sense that every European society, and certainly the liberal democratic ones in Britain and France, carried the potential to be overtly racist.“ Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;275.</ref> Der ältere [[Slawenfeindlichkeit#Italien|antislawische Rassismus]] hatte bei der Auseinandersetzung mit der slowenischen Minderheit im Nordosten eine konstitutive Rolle gespielt, der politische Antisemitismus aber hatte in Italien – abgesehen von der katholischen Rechten – keine gefestigte Tradition.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;122.</ref> Das Land, in dem 1938 weniger als 50.000 Juden lebten, hatte nach 1933 sogar 3.000 aus Deutschland geflohene Juden aufgenommen.<ref name="ReferenceK">Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;271.</ref> Zudem waren die italienischen Juden überwiegend sozial etabliert, „patriotisch“ und konservativ. Nicht wenige hatten im lokalen und nationalen Maßstab an sichtbarer Stelle am Aufstieg der faschistischen Bewegung teilgenommen, die Zahl der jüdischen Mitglieder des PNF war überproportional hoch (in den 30er Jahren etwa 25 % der erwachsenen italienischen Juden gegenüber ca. 10 % der erwachsenen Gesamtbevölkerung).<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;219 und Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;415.</ref><br />
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Vor diesem Hintergrund stieß die von Mussolini fast im Alleingang initiierte [[Italienisches Judentum während des Faschismus (1922–1945)#„Arische Rasse“ versus „jüdische Rasse“: Die Ausgrenzung der Juden durch die Einführung antijüdischer Maßnahmen ab 1938 und deren Folgen|antisemitische Wende]] auf Unverständnis und Widerstand bis in den faschistischen Großrat hinein, wo es aus diesem Anlass am 6. Oktober 1938 zu einer der ganz seltenen scharfen Auseinandersetzungen in Anwesenheit des ''Duce'' kam. Dieser Konflikt erklärt zum Teil die große Zahl von Ausnahmeregelungen (die schließlich für mehr als 20 % der italienischen Juden galten) und die allein im Herbst 1938 von etwa 5.000 Menschen genutzte Möglichkeit, sich durch Konversion zum Katholizismus der Diskriminierung zu entziehen. Physische Übergriffe auf Juden unterblieben, die Ausübung der Religion wurde auch nach 1938 nicht behindert.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;221.</ref> Die Bevölkerung lehnte diese Gesetze weithin ab; die Lokalbehörden setzten sie mitunter gar nicht oder nur zum Schein um – auch in dieser Frage „folgte das ‚reale Italien‘ nicht immer der offiziellen Linie des ‚legalen Italien‘“.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;279">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;279.</ref> Mussolini hielt es in dieser Frage für geboten, seine „Glaubwürdigkeit“ gelegentlich auch privat zu demonstrieren. Im Gespräch mit dem Anthropologen Guido Landra betonte er im Juli 1938 die „nordische“ Herkunft seiner Familie.<ref name="ReferenceK"/> Das Tagebuch seiner Geliebten [[Clara Petacci]] verzeichnet antisemitische Ausfälle und rassistische Säuberungsphantasien, etwa über die „Ausrottung“ „rassisch degenerierter“ Italiener, in denen Mussolini die Nachkommen römischer Sklaven und Freigelassener sah.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;277.</ref> In der neueren Literatur wird die rassistische Gesetzgebung indes nicht auf die ohnehin höchst flexiblen ideologischen Fixierungen Mussolinis zurückgeführt. Der ostentative Rassismus war letztlich genauso opportunistisch, inkohärent und hohl<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;279" /> wie andere herausgestellte Elemente der Diktatur. Die [[Italienische Rassengesetze|italienischen Rassengesetze]] gelten auch als Versuch, das Bündnis mit NS-Deutschland durch Angleichung nach innen abzusichern. Eine wesentliche Rolle spielte auch die nach der Begründung des ''Impero'' akut gewordene Überzeugung Mussolinis, dass ein großes Kolonialreich nur von Leuten regiert werden könne, die davon überzeugt waren, einer „höheren Rasse“ anzugehören.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;220.</ref><br />
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Die offene Hinwendung zum Rassismus kühlte die Beziehungen des Regimes zur katholischen Kirche nach dem Tiefpunkt von 1931 (vgl. ''[[Non abbiamo bisogno]]'') erneut ab. Die Eroberung Äthiopiens und mehr noch die Intervention in Spanien hatten den offenen Beifall des Klerus gefunden und zu einer großen öffentlichen Nähe von Kirche und Staat geführt. Die „wissenschaftliche“ Rassenlehre jedoch, wie sie etwa die im Sommer 1938 ins Leben gerufene offiziöse Zeitschrift ''[[La difesa della razza]]'' propagierte, kollidierte direkt mit dem katholischen Universalismus. Mussolini hat, wie nach der Freigabe der einschlägigen Bestände des [[Vatikanisches Apostolisches Archiv|vatikanischen Archivs]] aufgefundene Dokumente belegen, versucht, die Spannungen zu moderieren und dem Papst (nicht ohne Zynismus) am 16. August 1938 schriftlich zugesichert, dass die italienischen Juden keiner schlimmeren Behandlung unterworfen werden würden als die Juden im einstigen Kirchenstaat; eine Rückkehr zu den „farbigen Kappen“ und den Ghettos werde es nicht geben.<ref>Siehe Kertzer, David I., The Pope and Mussolini. The Secret History of Pius XI and the Rise of Fascism in Europe, New York 2014, S.&nbsp;307 f.</ref> Im gleichen Zusammenhang verlangte er, dass die Kirche sich jeder kritischen Stellungnahme zu den ''leggi razziali'' enthalte. Während einzelne italienische Bischöfe und führende katholische Intellektuelle wie [[Agostino Gemelli]] die antijüdischen Maßnahmen öffentlich unterstützten,<ref>Siehe Kertzer, Pope and Mussolini, S.&nbsp;359 f.</ref> war der alternde und kranke Pius&nbsp;XI. – was Mussolini erheblich irritierte und erboste – offenbar zu einer Kraftprobe, bei der es im Kern um Grundfragen des Einflusses der Kirche auf das öffentliche Leben in Italien ging, entschlossen. Sein Tod (10. Februar 1939) verhinderte die Veröffentlichung der vorbereiteten Enzyklika ''[[Humani generis unitas]];'' die gedruckten Exemplare einer nicht mehr gehaltenen Rede zum 10. Jahrestag der Lateranverträge, deren Verteilung an die Bischöfe Pius&nbsp;XI. auf dem Sterbebett angeordnet hatte, ließ Kardinal Pacelli, der spätere Papst [[Pius&nbsp;XII.]], auf Wunsch Mussolinis und Cianos vernichten.<ref>Die Rede, deren vollständiger Text nach der Archivöffnung 2006 bekannt wurde, enthielt allerdings nicht die grundsätzliche Kritik des Faschismus, die mitunter vermutet worden war. Siehe Kertzer, Pope and Mussolini, S.&nbsp;373 f.</ref><br />
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==== Krise der persönlichen Diktatur ====<br />
Mit wenigen Ausnahmen ist sich die neuere Forschung – einschließlich der Schule De Felices – darin einig, dass sich „der ''Duce'' und sein Regime in den späten 30er Jahren im Niedergang befanden“.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;329.</ref> Zynismus und Misanthropie Mussolinis erreichten in dieser Phase ihren Höhepunkt und wurden von ihm auch bei öffentlichen Auftritten nicht mehr verborgen. Führende Faschisten beklagten die Atmosphäre von Argwohn und Misstrauen in der Regierung.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;212.</ref> Bocchinis polizeiliche Lageberichte konstatierten 1938 eine „Welle des Pessimismus“,<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;225.</ref> die durch das Land gehe. Als Mussolini am 15. Mai 1939 die neue Fabrik des Fiat-Konzerns im Turiner Stadtteil Mirafiori einweihte, begrüßten ihn nur einige hundert der 50.000 versammelten Arbeiter mit Beifall; alle anderen verfolgten seinen Auftritt schweigend und mit verschränkten Armen in einer beispiellosen Demonstration der Feindseligkeit.<ref>Siehe Passerini, Luisa, Fascism in Popular Memory. The Cultural Experience of the Turin Working Class, Cambridge 1987, S.&nbsp;189 f.</ref> Die aus Anlass der Wirtschaftssanktionen von 1935/36 eingeleitete und offenkundig der Kriegsvorbereitung dienende „Autarkie“-Kampagne hatte die Lebensverhältnisse vieler Menschen weiter verschlechtert, nun aber durch die Rationierung von Luxusgütern wie Kaffee und Benzin erstmals auch Wohlhabende getroffen. Das Bündnis mit Deutschland, das die Verwicklung des Landes in einen großen Krieg wahrscheinlich machte, wurde nicht nur von den „Massen“, sondern auch von einem nennenswerten Teil der Eliten abgelehnt. Reiche Italiener begannen, ihre Vermögen in die Schweiz zu schaffen oder Geldguthaben in Gold umzutauschen.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;219.</ref><br />
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Der Riss innerhalb des Machtblocks, der durch die „antibürgerliche“ Kampagne der Jahre 1938 und 1939 – im „Bürgertum“ sah Mussolini hier vor allem „eine Chiffre für politische Stagnation, Korruption und ideologische Gleichgültigkeit innerhalb der Führungskader, aber auch an der Basis des PNF“<ref>Schieder, Mussolini, S.&nbsp;88.</ref> – evident wurde, ging jedoch tiefer und berührte die Grundlagen des Regimes. Die Bourgeoisie habe, so der Historiker Martin Clark, ihre ökonomische Unabhängigkeit und ihr soziales Prestige im Faschismus bewahrt.<ref>Siehe dazu bestätigend auch Sarti, Roland, Fascism and the Industrial Leadership in Italy, 1919–1940. A Study in the Expansion of Private Power under Fascism, Berkeley 1971, S.&nbsp;2 und passim.</ref> Sie habe Mussolini in den 20er Jahren akzeptiert, da er die Streiks beendete, die radikale Linke vernichtete und die Fanatiker unter den Faschisten unter Kontrolle brachte:<br />
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: „Aber sie unterstützten nicht seine Versuche, nach 1936 eine ‚Kriegerrasse‘ zu schaffen, und sie schätzten es ganz gewiss nicht, 1938 zum Ziel einer feindseligen Regierungskampagne zu werden. Nun war Mussolini selbst der Fanatiker und seine ‚Schlacht‘ konfrontierte das Establishment. Damit hatte er die gesamte Basis seines Regimes unterminiert. Er rettete die Bourgeoisie vor nichts mehr und verlangte nun echte Opfer von ihr. Und so wandte sie sich von ihm ab.“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;216.</ref><br />
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=== Zweiter Weltkrieg (1939–1943) ===<br />
==== Von der „non belligeranza“ zum „guerra parallela“ ====<br />
[[Datei:Mussoliniposter.jpg|mini|Propagandadarstellung Mussolinis, etwa 1939]]<br />
[[Datei:Dolomiten_20_Nov_1940_Duce.jpg|mini|hochkant|Auch die systemtreue deutschsprachige Presse benutzte den Begriff ''Duce''; Schlagzeile der [[Dolomiten (Zeitung)|Dolomiten]] vom 20. November 1940]]<br />
Beim Abschluss des Bündnisses mit Deutschland im Mai 1939 war Mussolini davon ausgegangen, dass ein großer europäischer Krieg nicht vor 1942 beginnen würde; bis dahin, so die Annahme, könne Italien seine Stellung im Mittelmeer mit deutscher Rückendeckung ausbauen und auch in Südosteuropa vom Zerfall der durch die [[Pariser Vorortverträge]] geschaffenen Nachkriegsordnung profitieren. Dieser Konzeption lag die Überzeugung zugrunde, dass kurzfristig weder Großbritannien und Frankreich noch Deutschland einen Krieg zwischen den Großmächten riskieren würden. Noch Anfang August 1939 war er davon überzeugt, dass die deutsch-[[Zweite Polnische Republik|polnischen]] Spannungen durch ein „neues [[Münchner Abkommen|München]]“ beigelegt werden würden. Erst am 13. August, als [[Galeazzo Ciano|Ciano]] ihn über seine Gespräche mit Hitler und [[Joachim von Ribbentrop|Ribbentrop]] am 11. und 12. August informierte, begriff Mussolini, dass Hitler nicht nur [[Freie Stadt Danzig|Danzig]] besetzen wollte, sondern zum militärischen Vorgehen gegen ganz Polen entschlossen war und damit die Gefahr eines europäischen Krieges heraufbeschwor. Im Gegensatz zu Hitler und Ribbentrop hielt es Mussolini für nahezu sicher, dass Großbritannien und Frankreich in den deutsch-polnischen Krieg eingreifen würden.<ref>Martin Clark: ''Mussolini.'' Harlow 2005, S.&nbsp;248.</ref> Trat aber dieser Fall ein, so entfielen die Voraussetzungen der außenpolitischen Strategie Cianos und Mussolinis.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;287.</ref><br />
<br />
Beide suchten nun fieberhaft nach einer Formel, die Italien eine Nichteinhaltung seiner weitreichenden Verpflichtungen aus dem „Stahlpakt“ ermöglichte, ohne das Bündnis offen aufzukündigen. Am 21. August schrieb Mussolini an Hitler, dass Italien für einen großen Krieg nicht gerüstet sei, aber, sollten Verhandlungen wegen der „Unnachgiebigkeit anderer“ scheitern, auf deutscher Seite eingreifen werde.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;288.</ref> Vier Tage später machte er dieses Eingreifen in einem weiteren Schreiben, das Botschafter [[Bernardo Attolico]] Hitler in der [[Neue Reichskanzlei|Reichskanzlei]] überreichte, von der Lieferung von Rüstungsgütern und Rohstoffen durch Deutschland abhängig. Die am 26. August übermittelte Liste mit dem italienischen Bedarf war aber absichtlich so überzogen (Mussolini verlangte u.&nbsp;a. die Überlassung von 150 [[Batterie (Militär)|Batterien]] schwerer [[Flugabwehrkanone|Flak]] noch vor Kriegsbeginn), dass sie abgelehnt werden musste.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' London 1981, S.&nbsp;236.</ref> Um den deutsch-italienischen Bündnisvertrag nicht offen zu entwerten, bat Mussolini Hitler um eine offizielle Erklärung, dass Deutschland einer italienischen Unterstützung vorerst nicht bedürfe.<ref>Wolfgang Schumann (u.&nbsp;a.): ''Deutschland im zweiten Weltkrieg.'' Band 1. ''Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis zum 22. Juni 1941.'' 2., durchgesehene Auflage. Berlin 1975, S.&nbsp;173.</ref> Diese kam am 1. September per Telegramm und wurde von Hitler sinngemäß auch in seiner [[Hitlers Rede vor dem Deutschen Reichstag am 1. September 1939|Reichstagsrede vom gleichen Tag]] wiederholt.<br />
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Am 1. September 1939 definierte Mussolini – um jegliche Reminiszenz an die italienische „Neutralität“ von 1914–15 zu vermeiden&nbsp;– die italienische Position gegenüber seinem Kabinett als die einer deutschfreundlichen „Nichtkriegführung“ ''(non belligeranza).'' Obwohl die faktische Neutralitätserklärung von der überwältigenden Mehrheit der Italiener begrüßt wurde, führte das unausgesprochene Eingeständnis des Regimes, nicht für einen Krieg gerüstet zu sein, vor dem Hintergrund seiner seit Jahren hochgradig militarisierten Propaganda zu einem schlagartigen Reputationsverlust, der einige Beobachter an die Matteotti-Krise erinnerte.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;239.</ref> In den nächsten Monaten verhielt sich Mussolini abwartend.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;290.</ref> Im September hatte sich im Zuge einer Teilmobilmachung der Streitkräfte herausgestellt, dass deren strukturelle Defizite noch ausgeprägter waren als befürchtet. Die als modernste und schlagkräftigste Teilstreitkraft geltende ''[[Geschichte der italienischen Luftstreitkräfte#Regia Aeronautica|Regia Aeronautica]]'' hatte, wie sich nun zeigte, „Probleme, ihre eigenen Flugzeuge zu zählen“,<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;278.</ref> und verfügte im September 1939 statt der auf dem Papier ausgewiesenen 8.528 nur über 840 zum Teil nicht einsatzbereite Maschinen (was dem Luftfahrtminister Mussolini, der im Oktober 1939 den zuständigen Staatssekretär entließ, offenbar nicht bekannt gewesen war<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;237.</ref>); die Heeresartillerie bestand noch immer zu einem erheblichen Teil aus Geschützen, die 1918 von der k.u.k. Armee erbeutet worden waren, die Flakartillerie besaß nur zwei Suchscheinwerfer und 15 Batterien mit Geschützen moderner Bauart, die Panzerwaffe hatte nur 70 „echte“ Panzer, der Rest waren leichte [[L3/33|Tanketten]].<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;443, 446 und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;276 f.</ref> Für weniger als 1 Million Mann waren Uniformen und Waffen vorhanden. Statt der „150 Divisionen“, mit denen Mussolini wiederholt geprahlt hatte, waren lediglich 10 als kampffähig anzusehen; auch deren Bewaffnung war, gemessen an den Standards des Jahres 1939, sehr veraltet.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;237, 239, 247. Siehe auch Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;253. Wegen der qualitativen und quantitativen Unterbewaffnung hatte eine italienische Infanteriedivision nur ein Neuntel der [[Feuerkraft]] einer deutschen Division. Siehe Schreiber, Gerhard, Stegemann, Bernd, Vogel, Detlef, Der Mittelmeerraum und Südosteuropa. Von der „non belligeranza“ Italiens bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 3), Stuttgart 1984, S.&nbsp;61.</ref><br />
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Auch wegen dieser Situation gewann der Kreis um Ciano, der von einem britisch-französischen Sieg überzeugt war und einen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands rundheraus ablehnte, vorübergehend die Oberhand. Selbst Roberto Farinacci hielt es für zu riskant, mit einer „Spielzeugarmee“ in den Krieg der Großmächte einzugreifen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;291.</ref> Ende Oktober 1939 löste Mussolini [[Achille Starace]], den entschiedensten Befürworter des deutsch-italienischen Bündnisses unter den führenden Faschisten, als Sekretär des PNF ab. Sein Nachfolger [[Ettore Muti]] galt als Unterstützer Cianos.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;293.</ref> Intern rückte Mussolini wiederholt verbal von Deutschland ab. Er bezeichnete den [[Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt|deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag]] als „Verrat“<ref>Zitiert nach Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;237.</ref> und zeigte sich entsetzt über die gezielte physische Vernichtung der polnischen Oberschicht durch deutsche [[Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD|Einsatzgruppen]].<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;240. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;292.</ref> Gesichert ist, dass er [[Belgien|belgische]] Diplomaten auf die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Angriffs hinwies und italienischen Waffenexporten nach Frankreich zustimmte.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;241, 243.</ref> Demonstrativ ließ er die kostspieligen Befestigungsarbeiten an der deutsch-italienischen Grenze (vgl. ''[[Vallo Alpino]]'') fortsetzen.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;241.</ref><br />
<br />
Als im November 1939 der [[Winterkrieg|sowjetisch-finnische Krieg]] begann, unternahm Mussolini einen neuen Versuch, eine Verständigung zwischen Deutschland, Großbritannien und Frankreich herbeizuführen. Auf Betreiben Mussolinis und Cianos gestattete Deutschland den Transit italienischer Waffenlieferungen für [[Finnland]]. Mussolini sah die Chance, auf dem Wege der „Hilfe für Finnland“ die Westmächte und die Signatare des Antikominternpaktes in einem Konflikt gegen die [[Sowjetunion]] zusammenzuführen. Höhepunkt dieser Bemühungen war ein Brief Mussolinis an Hitler,<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;242 und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;294 f.</ref> geschrieben am 3. Januar 1940 und abgesendet zwei Tage später.<ref>Ian Kershaw: ''Wendepunkte: Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg,'' Kap. 4, Fußnoten 58 und 59.</ref> Er könne verstehen, schrieb Mussolini darin mit Blick auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, „dass Sie, nachdem sich die Voraussichten von Ribbentrops über das Nichteingreifen Englands und Frankreichs nicht erfüllt haben, die zweite Front vermieden haben“. Er müsse aber davor warnen, „ständig die Grundsätze Ihrer Revolution zugunsten der taktischen Erfordernisse eines bestimmten politischen Augenblicks [zu] opfern“. Offen drohte Mussolini Hitler damit, dass „ein weiterer Schritt vorwärts in Ihren Beziehungen mit Moskau katastrophische Rückwirkungen in Italien auslösen würde, wo die allgemeine [[antibolschewistisch]]e Gesinnung, besonders unter den faschistischen Massen, absolut, ehern und unerschütterlich ist. (…) Noch vor vier Monaten war Russland der Weltfeind Nummer Eins, es kann nicht der Freund Nummer Eins geworden sein und ist es auch nicht. Dies hat die Faschisten in Italien und vielleicht auch viele Nationalsozialisten in Deutschland tief erregt.“ Er riet Hitler ausdrücklich von einer Offensive im Westen ab, da es „nicht sicher [sei], ob es gelingen wird, die Franzosen und Engländer auf die Knie zu zwingen oder zu trennen.“<ref>Alle Zitate nach Brief Mussolinis an Hitler, in: Gerhard Förster, Olaf Groehler (Hrsg.): ''Der zweite Weltkrieg. Dokumente.'' 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 1989, S.&nbsp;59–61.</ref> Mit einem solchen Schritt setze Hitler sein ganzes Regime aufs Spiel und erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines Kriegseintritts der [[Vereinigte Staaten|Vereinigten Staaten]]. Die Lösung der deutschen „Lebensraumfrage“ liege in Russland. Um den Westmächten gesichtswahrende Verhandlungen zu ermöglichen, empfahl Mussolini die Einstellung der Terrormaßnahmen in Polen und die Wiedererrichtung eines verkleinerten polnischen Staates.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;251.</ref> Hitler soll mit [[Hermann Göring|Göring]] und Ribbentrop ausführlich über den Brief diskutiert haben, ließ Mussolini anschließend aber über zwei Monate auf eine Antwort warten. In der Zwischenzeit unterbreitete Mussolini dem US-Unterhändler [[Sumner Welles]] am 25. Februar 1940 ein detailliertes Programm für Verhandlungen, das unter anderem eine erneute Volksabstimmung über die Zukunft Österreichs und die Wiedererrichtung eines formell unabhängigen Polen vorsah. Die Welles-Mission verlief im Sande, da Hitler es bei seiner Unterredung mit dem Amerikaner, die am 2. März in Berlin stattfand, von vornherein ablehnte, über das „Thema Österreich“ und die „Frage eines zukünftigen polnischen Staates“ zu sprechen.<ref>Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;261 f.</ref><br />
<br />
Als Ribbentrop Hitlers in freundlichem Ton gehaltene Erwiderung auf das Schreiben vom Januar am 10. März 1940 in Rom übergab, wies er zugleich darauf hin, dass ein deutscher Angriff im Westen bevorstehe. Mussolini versicherte dem deutschen Außenminister am 11. März, dass Italien „im richtigen Moment“ in den Krieg eingreifen werde und ging auch bei seinem Treffen mit Hitler am [[Brennerpass|Brenner]] (18. März) nicht über diese vage Festlegung hinaus.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;296 f.</ref><br />
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Seine abwartende Haltung gab Mussolini erst im Gefolge der deutschen Siege [[Unternehmen Weserübung|im Norden]] und [[Westfeldzug|Westen]] Europas auf. Schreiben [[Franklin D. Roosevelt|Roosevelts]] und [[Winston Churchill|Churchills]] vom 14. und 16. Mai 1940, die ihn von einem Eingreifen auf deutscher Seite abzuhalten versuchten, beantwortete er ausweichend.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;254.</ref> Am 26. Mai soll er gegenüber Generalstabschef [[Pietro Badoglio|Badoglio]] geäußert haben, dass er „ein paar tausend Tote“ brauche, um als Kriegführender an einer Friedenskonferenz teilnehmen zu können. Der Krieg werde so oder so im September zu Ende sein. Die endgültige Entscheidung fiel vermutlich am 28. oder 29. Mai, nachdem Mussolini erfahren hatte, dass sich der britische Außenminister [[Edward Frederick Lindley Wood, 1. Earl of Halifax|Halifax]] mit seinem Vorschlag, über Mussolini mit einem Friedensangebot an Hitler heranzutreten, im Kabinett nicht gegen Churchill hatte durchsetzen können.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;255.</ref> Am 29. Mai legte er in einem Treffen mit den Befehlshabern der Teilstreitkräfte den Beginn der Kriegshandlungen gegen Großbritannien und Frankreich auf den 5. Juni 1940 fest, verschob den Termin aber um fünf Tage, nachdem einige Militärs ernste Bedenken geäußert hatten.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;299.</ref> Am 10. Juni verkündete Mussolini [[Italiens Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien|die Kriegserklärung]] in einer Rede vom Balkon des [[Palazzo Venezia]]. Die deutsche Seite beobachtete den im Vorjahr noch erwünschten italienischen Kriegseintritt nun mit Misstrauen. Ende Mai hatte Hitler bei Mussolini ausdrücklich gegen Angriffe auf [[Königreich Jugoslawien|Jugoslawien]] und [[Königreich Griechenland|Griechenland]] interveniert. Mussolini akzeptierte die deutschen Einwände und ordnete die Versammlung einer Armee an der libysch-ägyptischen Grenze an.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;250.</ref><br />
<br />
Die Geschichtsschreibung zum italienischen Kriegseintritt folgte lange Zeit Galeazzo Ciano, nach dessen Tagebucheintragungen „ein Mann allein“ das Land in den Krieg verwickelt habe. Winston Churchill vertritt diesen Standpunkt, der vom Mussolini-Biographen Renzo De Felice unterstützt wird.<ref>Renzo De Felice: ''Mussolini il duce'' (Band 2: ''Lo Stato totalitario 1936–1940''), Turin 1996, S.&nbsp;844 zitiert zustimmend Churchills Rede „one man alone“ über Radio London vom 23. Dezember 1940.</ref> Ein Teil der neueren Forschung betont jedoch, dass in der spezifischen Situation des Juni 1940 alle nennenswerten gesellschaftlichen Einflussgruppen – einschließlich der katholischen Kirche&nbsp;– die Option eines „kurzen Krieges“ unterstützten:<br />
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{{Zitat<br />
|Text=Da sich der italienische Kriegseintritt schon bald als Desaster erwies und in dem peinlichen und zynischen ''sauve qui peut'' der alten herrschenden Eliten am 8. September 1943 kulminierte, als Badoglio und der König den Seitenwechsel vermasselten, hatten viele Italiener jeden Grund, Mussolini als den allein Schuldigen herauszuheben. Es ist in der Tat schwer, einen einzigen italienischen Historiker zu finden, der nicht die intentionalistische These akzeptiert, dass der ‚große Mann‘ hier ausschlaggebend war. […] Aber es gibt Gründe, die Vollständigkeit und Einzigartigkeit von Mussolinis Macht zu bezweifeln […]. Trotz des Unbehagens, das Mussolini angesichts des andauernden Friedens zum Ausdruck brachte, trat er nicht in den Krieg ein, bis dieser tatsächlich von seinem furchteinflößenden deutschen Verbündeten gewonnen zu sein schien. Rechnerisch ausgedrückt, beobachtete das faschistische Italien die Front weitaus sorgfältiger, als es das liberale Italien 1914/15 getan hatte. Es kann gefragt werden, ob irgendein italienischer Politiker, der an den Mythos glaubte, dass Italien eine Großmacht sei oder sein müsse, länger als Mussolini gewartet hätte?<br />
|Autor=Bosworth<br />
|Quelle=''Mussolini''<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;300. Ähnlich Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;255.</ref>}}<br />
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==== Fehlschlag des „guerra parallela“ ====<br />
Mussolini hatte im Juni 1940 die Absicht, einen kurzen Krieg für „italienische Ziele“ zu führen. Nach einem Treffen mit Hitler am [[Brennerpass]] im Oktober 1940 prägte er den Begriff des „Parallelkriegs“ ''(guerra parallela),'' den Italien „nicht für Deutschland, noch mit Deutschland, sondern neben Deutschland“<ref>Davide Rodogno: ''Fascism and War.'' In: Richard J.B. Bosworth (Hrsg.): ''The Oxford Handbook of Fascism.'' Oxford 2010, S.&nbsp;239–258, S.&nbsp;249.</ref> führen werde, und lehnte deshalb deutsche Angebote, Truppen nach Nordafrika zu schicken oder die militärische Planung zu koordinieren, ab.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;251, 255.</ref> Er wollte den deutschen Einfluss in den italienischen Interessengebieten gering halten und sich vollständige Handlungsfreiheit nach allen Richtungen sichern, da er davon ausging, dass Deutschland insbesondere in Südosteuropa eigene, auch gegen Italien gerichtete Ziele verfolgte und die italienische Offensive daher vor allem gegen den [[Naher Osten|Nahen Osten]] zu kanalisieren suchte.<ref>Mack Smith: ''Mussolini,'' S.&nbsp;257, und Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;422.</ref><br />
<br />
Wenige Tage vor der Kriegserklärung hatte sich Mussolini vom König für die Dauer der Kampfhandlungen den militärischen Oberbefehl übertragen lassen. Er befasste sich in dieser Rolle nicht näher mit operativer Planung, behielt sich aber die Entscheidung über wesentliche militärische Entschlüsse vor. Den damit zusätzlich zu seinen anderen Ämtern übernommenen Pflichten glaubte er mit nur einem Assistenten nachkommen zu können.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;249.</ref> Als Oberbefehlshaber war Mussolini für die Entscheidung, das im Sommer 1940 beinahe unverteidigte [[Malta]] nicht zu besetzen<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;254.</ref> ebenso verantwortlich wie für den überstürzten Entschluss, die französische Alpenarmee anzugreifen ([[Schlacht in den Westalpen]]). Den Befehl dazu erteilte er, nachdem ihn Hitler am 17. Juni 1940 über das [[Waffenstillstand von Compiègne (1940)#Politische Rahmenbedingungen|französische Waffenstillstandsersuchen]] informiert hatte. Der am 20. Juni aus dem ursprünglich befohlenen Defensivaufmarsch heraus und ohne ausreichende Artillerieunterstützung begonnene Angriff war ein offensichtlicher Fehlschlag, den die Propaganda des Regimes nicht verschleiern konnte.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;251 f.</ref> Nach dem italienisch-französischen Waffenstillstandsabkommen (24. Juni 1940), bei dem Mussolini auf beinahe alle Forderungen gegenüber Frankreich – insbesondere auf den für die Kontrolle der [[Straße von Sizilien]] und die störungsfreie Versorgung der Truppen in Libyen entscheidenden Hafen von [[Bizerte]]<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;263.</ref>&nbsp;– „vorläufig“ verzichten musste, ließ er die wenigen motorisierten Divisionen des italienischen Heeres an die jugoslawische Grenze verlegen. [[Rodolfo Graziani]], der italienische Befehlshaber in Libyen, den Mussolini im Juni, Juli und August anwies, über die ägyptische Grenze hinweg anzugreifen, weigerte sich, ohne diese Verbände vorzugehen und unternahm im September lediglich einen begrenzten Vorstoß auf [[Sidi Barrani]].<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;255.</ref><br />
<br />
Der [[Griechisch-Italienischer Krieg|Angriff auf Griechenland]], den Mussolini ohne vorherige Konsultation seiner Stabschefs am 15. Oktober 1940 – diesmal nachdrücklich ermuntert von Ciano&nbsp;– befahl, gilt als eklatantes Beispiel für die groteske Überschätzung der militärischen Möglichkeiten Italiens durch die führenden Faschisten. Mit diesem Schritt wollte Mussolini in erster Linie sicherstellen, dass zumindest Griechenland innerhalb der Einflusszone Italiens verblieb, nachdem Deutschland die Ökonomien der [[Balkanstaaten]] an sich gebunden und am 12. Oktober mit der Verlegung von Truppen nach [[Königreich Rumänien|Rumänien]] begonnen hatte.<ref>Rodogno: ''Fascism and War,'' S.&nbsp;250 f., und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;305.</ref> Trotz des bevorstehenden Winters, des schwierigen Geländes und der auch nach Erkenntnissen der italienischen Militäraufklärung beachtlichen Kampfkraft der [[Griechische Streitkräfte|griechischen Armee]] hielt die politische und militärische Führung Italiens eine Armee von zunächst 5&nbsp;Divisionen (60.000 Mann) für ausreichend, um Griechenland von Albanien aus niederzuwerfen. Der am 28. Oktober begonnene Angriff entwickelte sich binnen weniger Wochen zur militärischen und politischen Katastrophe. Nur mit Mühe konnten sich die nach und nach auf 500.000 Mann verstärkten italienischen Verbände im Winter 1940/41 gegen den griechischen Gegenangriff in Albanien behaupten. Der britische [[Angriff auf Tarent|Luftangriff auf den Hafen von Tarent]] und der [[Operation Compass|Zusammenbruch der 10. Armee in Libyen]] ließen den „Parallelkrieg“ bis zum Ende des Jahres 1940 zur Fiktion werden.<br />
<br />
Die bereits nach wenigen Monaten offensichtliche Unfähigkeit des Regimes, eine effektive Kriegführung zu organisieren, erwies sich schon bald als schwere politische Belastung, da hier der „Abgrund zwischen den Worten und den Taten so aberwitzig weit“<ref>Finaldi: ''Mussolini.'' S.&nbsp;101.</ref> war, dass seine Legitimität nun auch außerhalb der antifaschistischen Milieus infrage gestellt wurde. Unzweifelhaft war, dass ein Großteil der italienischen Soldaten es ablehnte, Leib und Leben für das Regime oder für „die Deutschen“ zu riskieren. Darauf hatte Polizeichef [[Arturo Bocchini]] Mussolini bereits im Herbst 1939 hingewiesen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;289.</ref> Vor allem aber machte das Fiasko der italienischen Kriegsbeteiligung das Scheitern des Faschismus in Bereichen deutlich, die von der Propaganda fast zwei Jahrzehnte lang als zentrale Prüfsteine der „faschistischen Modernisierung“ herausgestellt worden waren.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;301.</ref> Der Zustand der italienischen Streitkräfte, die sich bis zuletzt uneingeschränkt in der Hand konservativer, den Militärdoktrinen des Ersten Weltkrieges verhafteter Generäle befanden, wird von einigen Historikern als wesentlicher Beleg dafür angeführt, dass „die Macht des Diktators, irgendwo unterhalb des Geplauders und Getöses, unvollständig und flüchtig war“;<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Dictators, Strong or Weak? The Model of Benito Mussolini.'' In: Derselbe: ''Handbook of Fascism.'' S.&nbsp;259–275, S.&nbsp;272.</ref> der ungebrochene militärische Traditionalismus<ref>„Italiens Generäle zwangen den Streitkräften einen militärisch-technischen, taktischen und operativen Konservatismus auf, der noch abgestumpfter war als der ihrer französischen Kollegen. Bis es zu spät war, vernachlässigte das Heer schwerere Panzer, missachtete die Marine Radar und lehnte die Luftwaffe den Eindecker-Jäger ab. Unzulängliches Training, doktrinäre Lethargie, administrative Desorganisation und die aktive Entmutigung individueller Kreativität schufen ein kaum zum Kommandieren fähiges unteres Offizierskorps und ein beinahe vollständig initiativloses Unteroffizierskorps.“ Rodogno: ''Fascism and War,'' S.&nbsp;248.</ref> habe – zusammen mit den in ähnlicher Weise versagenden anderen Institutionen des Staates und der Partei&nbsp;– „drastisch die Grenzen des Faschismus und die Oberflächlichkeit von Mussolinis angeblicher Revolution“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;300.</ref> demonstriert.<br />
<br />
Am 20. Januar 1941 gestand Mussolini bei einer Unterredung mit Hitler auf dem [[Berghof (Obersalzberg)|Berghof]] Deutschland eine aktive militärische Rolle im Mittelmeerraum zu und akzeptierte die Verlegung von zwei deutschen Divisionen nach Libyen. Von nun an entwickelte sich das faschistische Italien politisch, ökonomisch und vor allem militärisch zu einem „deutschen Satelliten“.<ref>Finaldi: ''Mussolini.'' S.&nbsp;107.</ref> Mussolini war nicht in der Lage, eine neue politische Strategie oder ein klares Kriegszielprogramm zu entwickeln. Nach außen hin wie stets auf die Wahrung seines persönlichen Prestiges bedacht, räumte er im Gespräch mit dem neuen Generalstabschef [[Ugo Cavallero]] ein, dass alles Weitere von den in Berlin gefällten Entscheidungen abhänge, „da wir unfähig sind, irgendetwas zu tun.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;306.</ref> Selbst auf den zentralen „italienischen“ Kriegsschauplätzen konnte sich Mussolini seit 1941 nicht mehr gegen deutsche Entscheidungen durchsetzen. Die von ihm bis zum Frühjahr 1942 wiederholt bei Hitler angemahnte [[Unternehmen Herkules|Besetzung Maltas]] – von wo aus britische See- und Luftstreitkräfte einen Großteil der Nachschubtransporte für Nordafrika versenkten&nbsp;– unterblieb, als dieser sich am 23. Juni 1942 entschloss, die für den Juli vorbereitete Aktion abzusagen und [[Erwin Rommel|Rommels]] Plan für einen unverzüglichen Vorstoß nach Ägypten zu befürworten.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;265.</ref> In charakteristischer Weise machte sich Mussolini daraufhin „die abenteuerliche Lagebeurteilung Hitlers und des OKW zu eigen“<ref>Wolfgang Schumann (u.&nbsp;a.): ''Deutschland im zweiten Weltkrieg. Band 2. Vom Überfall auf die Sowjetunion bis zur sowjetischen Gegenoffensive bei Stalingrad (Juni 1941 bis November 1942).'' Berlin 1975, S.&nbsp;374.</ref> und flog Ende Juni nach Libyen, wo er drei Wochen lang mit einer großen Entourage aus Journalisten und führenden Faschisten vergeblich auf den von Rommel angekündigten Einzug in [[Alexandria]] und [[Kairo]] wartete.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;275.</ref> Gegenüber seiner Umgebung machte er für die Abfolge von Fehl- und Rückschlägen wahlweise das italienische Volk, die Deutschen, faschistische ''gerarchi'' oder seine Generäle verantwortlich. Militärische Grundsatzentscheidungen traf er weiterhin unter politischen Gesichtspunkten; auf diese Weise verteilte er die begrenzten militärischen Ressourcen Italiens auf eine Vielzahl weit auseinanderliegender Kriegsschauplätze. Nach dem deutschen [[Deutsch-Sowjetischer Krieg|Überfall auf die UdSSR]] drängte er dem zögernden Hitler ein [[Italienisches Expeditionskorps in Russland|italienisches Expeditionskorps]] auf, das im Laufe des Jahres 1942 zur Armee aufgewertet wurde. Dieser Verband umfasste einige der kampfstärksten Divisionen des italienischen Heeres, verschlang einen Großteil des Materialnachschubs und war mit zuletzt rund 225.000 Mann stärker als die italienische Armee in Nordafrika. Nach dem [[Balkanfeldzug (1941)|Balkanfeldzug]] im April 1941 hatte Mussolini auf der Einrichtung einer ausgedehnten italienischen Besatzungszone bestanden. Sie band dauerhaft etwa 650.000 Soldaten, die Besetzung [[Korsika]]s und Südostfrankreichs im November 1942 weitere 200.000 Mann.<br />
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Als Regierungschef, Oberbefehlshaber und Minister für alle drei Teilstreitkräfte zentralisierte Mussolini die für die Kriegführung wesentlichen Befugnisse in beispielloser Weise bei sich, unternahm aber nichts, um die einschlägigen Defizite zu beseitigen. Er intervenierte gelegentlich und willkürlich, ließ die Dinge im Ganzen jedoch laufen, da er nicht bereit war, das für das Regime konstitutive Gleichgewicht verschiedener Einflussgruppen durch drastische Eingriffe zu gefährden.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;302. Siehe auch Finaldi: ''Mussolini.'' S.&nbsp;103 f.</ref> Neuere Untersuchungen weisen deshalb überwiegend die in Teilen der älteren, von [[Totalitarismustheorie|totalitarismustheoretischen]] Diskussionen beeinflussten Literatur verbreitete These, Mussolini habe im Krieg vor allem einen Hebel für die Radikalisierung der „faschistischen Revolution“ gesehen, zurück.<ref>„In other words, Italy’s appalling performance was the fruit of the inability and unwillingness of the ''Duce'' to put to the test through war the equilibriums that his Regime had constructed since 1922. Far from the flight into war being a means by which it would be possible to continue and to radicalize Fascisms ‚revolution‘, to topple what was left of the establishment to increase his own power, what Mussolini tried to do was to fight a major European war ''without'' in any way altering the balance of forces that had been the product of his long period in government.“ Finaldi: ''Mussolini.'' S.&nbsp;103.</ref> Auch Industrie und Landwirtschaft unterwarf der ''Stato totalitario'' keiner entschlossenen kriegswirtschaftlichen Mobilisierung. Der faschistische Staat begegnete der Privatwirtschaft mit einer „Ehrerbietung“,<ref name="ReferenceL">Rodogno: ''Fascism and War,'' S.&nbsp;256.</ref> die vor allem den Großunternehmen eine für ein kriegführendes Land beispiellose Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit ließ. Während es dem liberalen Staat zwischen 1915 und 1918 gelungen war, etwa 40 % des italienischen Bruttoinlandsprodukts in den Dienst der Kriegführung zu stellen, betrug der Anteil der Kriegsproduktion am Nationalprodukt auf dem Höhepunkt der Leistungsfähigkeit der faschistischen Kriegswirtschaft im Jahre 1941 lediglich 23 % (zum Vergleich: Deutschland 64 % (1942), Großbritannien 52 %, UdSSR 61 %).<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;466.</ref> Noch Ende 1940 gab es in den norditalienischen Industriestädten zahlreiche Arbeitslose.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;303">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;303.</ref> Erst im Februar 1943 veranlasste Mussolini die Bildung einer mit dem deutschen [[Reichsministerium für Bewaffnung und Munition]] vergleichbaren Behörde. Im Ergebnis produzierte Italien „die ineffektivsten, teuersten und wenigsten Rüstungsgüter unter den großen Teilnehmerstaaten des Zweiten Weltkrieges.“<ref name="ReferenceL"/> Die Landwirtschaft blieb in ähnlicher Weise sich selbst überlassen und litt zusätzlich unter der zunehmenden Desorganisation des Transportwesens. Lebensmittel musste sich die Bevölkerung schon seit 1941 weitgehend über den Schwarzmarkt&nbsp;– wo etwa zwei Drittel der landwirtschaftlichen Produktion verschwanden&nbsp;– beschaffen; die offiziellen Nahrungsmittelrationen entsprachen zwischen 1941 und 1943 jenen im [[Generalgouvernement|besetzten Polen]].<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;303" /><br />
<br />
Auch die faschistische Partei, der 1940 4,25 Millionen Mitglieder angehörten, versagte in vielerlei Hinsicht bei der Unterstützung der Kriegsanstrengungen. Ihr oblag – neben ihren „normalen“ Aufgaben – wesentlich die Organisation der Zivilverteidigung, die Fürsorge für die Evakuierten und Familien der Wehrpflichtigen, die Preiskontrolle und die Bekämpfung des Schwarzmarkts. Mussolini blieben die gravierenden Probleme in diesen Bereichen nicht verborgen, er war jedoch selbst hier nicht willens oder in der Lage, entscheidend einzugreifen. Ettore Muti, der eine Parteireform und sogar die Auflösung des PNF in Erwägung gezogen hatte, entließ er Ende Oktober 1940; der neue Parteisekretär [[Adelchi Serena]] war ein „farbloser Parteibürokrat“,<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;306.</ref> der die Defizite lediglich verwaltete. Mussolini ersetzte ihn bereits im Dezember 1941 durch den gerade 28-jährigen [[Aldo Vidussoni]]. Unter Vidussoni, der bis April 1943 im Amt blieb, fiel die faschistische Partei als Faktor der Kriegsanstrengungen endgültig aus. Viele ''gerarchi'' lehnten es einfach ab, Anweisungen von dem als „Kind“ und „Schwachkopf“ geschmähten Emporkömmling entgegenzunehmen.<ref>Siehe Finaldi, Mussolini, S.&nbsp;103 f. und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;311 f.</ref> Als Dokument und Eingeständnis des Scheiterns gilt Mussolinis Rede vor dem Direktorium des PNF am 26. Mai 1942, in der er offen einräumte, dass der liberale Staat die Kriegführung zwischen 1915 und 1918 konsequenter und erfolgreicher organisiert habe. Im faschistischen Italien, so Mussolini, finde man an jeder Stelle „Disziplinlosigkeit, Sabotage und passiven Widerstand“;<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;317.</ref> auch die Faschisten seien vor allem mit dem Horten von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern für den Schwarzmarkt beschäftigt, politisch aber inaktiv:<br />
<br />
: „Es gibt 4 Millionen Mitglieder der ''fasci,'' 8 Millionen sind in der GIL [''Gioventù Italiana del Littorio,'' die faschistische Jugendorganisation]. (…) Das Regime kontrolliert so ungefähr 25 Millionen Einzelpersonen. (…) Nun, was machen all diese Leute? Ich frage mich, was machen sie?“<ref>Zitiert nach Morgan, ''Italian Fascism,'' S.&nbsp;179.</ref><br />
<br />
==== Krise des Regimes und Sturz ====<br />
===== Machtverfall =====<br />
Unter dem Eindruck der militärischen Katastrophen in Nordafrika und am Don, wo die gegen die Sowjetunion eingesetzte italienische Armee (vgl. [[8ª Armata|ARMIR]]) im Winter 1942/43 fast vollständig vernichtet wurde, kam die schwelende Krise des faschistischen Regimes im Frühjahr 1943 offen zum Ausbruch. Innerhalb der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungsschicht Italiens formierte sich eine schnell an Einfluss gewinnende Gruppe, die die Fortsetzung des Krieges an der Seite Deutschlands ablehnte und eine Verständigung mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten herbeiführen wollte, bevor der Krieg auf italienisches Territorium übergriff.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945.'' London 2006, S.&nbsp;491 f.</ref> Mussolini kam diesen Bestrebungen zunächst entgegen und machte ihnen am 31. Januar 1943 mit der Entlassung des Generalstabschefs Ugo Cavallero, der als „Mann der Deutschen“ galt, ein wichtiges Zugeständnis. Cavalleros Nachfolger [[Vittorio Ambrosio]] war ein Vertrauter des Königs, in dessen Umfeld sich konservative Kräfte sammelten, die befürchteten, dass die Monarchie in den Sturz des Faschismus verwickelt werden könnte. Am 5. Februar übernahm Mussolini im Zuge einer Kabinettsumbildung selbst das Außenministerium, beließ Ciano – der schon im Herbst 1942 versucht hatte, über den italienischen Botschafter in [[Lissabon]] mit Briten und Amerikanern ins Gespräch zu kommen – aber im faschistischen [[Großer Faschistischer Rat|Großrat]] und machte ihn zum Botschafter beim [[Vatikanstadt|Vatikan]], über den zahlreiche Verbindungen in die alliierten Hauptstädte liefen. Zum Staatssekretär im Außenministerium ernannte er [[Giuseppe Bastianini]], der 1939/40 Botschafter in [[London]] gewesen war.<br />
<br />
Mussolini hatte sich zuletzt am 2. Dezember 1942 über das Radio an die Italiener gewandt. Diese „desaströse“<ref>Morgan, Philip, The Fall of Mussolini. Italy, the Italians and the Second World War, Oxford 2008, S.&nbsp;74.</ref> Rede war die erste ihrer Art nach achtzehn Monaten und die vierte seit Beginn des Krieges. Mussolini räumte – offenbar in der Annahme, seine Zuhörer würden dafür nicht ihn verantwortlich machen – mehr oder weniger offen ein, dass die italienischen Soldaten schlecht ausgerüstet und geführt und die Kriegsgegner unterschätzt worden seien. Außerdem schien er den seit der Intensivierung der alliierten Bombenangriffe im Herbst 1942 unter den Italienern verbreiteten Verdacht zu bestätigen, dass das Land über keinerlei nennenswerte Luftverteidigung<ref>Siehe Overy, Richard, The Bombing War. Europe 1939–1945, London 2013, S.&nbsp;513 f.</ref> verfüge; seine Bemerkung, man solle mit der Evakuierung nicht warten, „bis die Uhr zwölf schlägt“,<ref>Zitiert nach Morgan: ''Fall of Mussolini.'' S.&nbsp;82.</ref> löste in einigen Städten eine panische, völlig unkoordinierte Massenflucht in das ländliche Umland aus. Mit diesem Auftritt verlor Mussolini den Propagandakrieg endgültig. Immer mehr Italiener verfolgten den Kriegsverlauf über den italienischen Dienst der [[British Broadcasting Corporation|BBC]], der eine „gut gewählte und äußerst ansprechende“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;282.</ref> Propaganda machte, hörten [[Radio Vatikan]] oder lasen den ''[[L’Osservatore Romano]],'' der als einzige Zeitung mit „neutraler“ Berichterstattung galt und dessen Auflage sich vervielfachte.<br />
<br />
Die von Ciano, [[Dino Grandi]] und anderen angestrebte Aufkündigung der Achse Berlin-Rom lehnte Mussolini ab. Er gab sich der Hoffnung hin, bei Hitler eine entschiedene materielle und personelle Unterstützung der italienischen Kriegführung, ja sogar die Verlagerung des Schwerpunkts der deutschen Kriegsanstrengungen von der [[Deutsch-Sowjetischer Krieg|Ostfront]] in den Mittelmeerraum durchsetzen zu können. Gehe man im Osten zur strategischen Defensive über und setze die freiwerdenden Kräfte gegen die Westmächte ein, dann sei der Sieg, so Mussolini am 1. April 1943 im Gespräch mit dem deutschen Botschafter [[Hans Georg von Mackensen|von Mackensen]], „mit mathematischer Sicherheit unser“.<ref>Zitiert nach Wolfgang Schumann (u.&nbsp;a.): ''Deutschland im zweiten Weltkrieg.'' Band 3. ''Der grundlegende Umschwung im Kriegsverlauf (November 1942 bis September 1943).'' Berlin 1979, S.&nbsp;423.</ref> Diesen Standpunkt vertrat Mussolini bereits im Februar und März 1943 bei Treffen mit [[Joachim von Ribbentrop|Ribbentrop]] und [[Hermann Göring|Göring]] sowie in zwei persönlichen Schreiben an [[Adolf Hitler|Hitler]]. Dieser aber war ebenso wie das [[Oberkommando der Wehrmacht|OKW]] nicht einmal zu einer Ausweitung der materiellen Unterstützung Italiens bereit, da er die innere Stabilität des Mussolini-Regimes überschätzte und – wie schon im Frühjahr 1942, als Mussolini vergeblich deutsche Unterstützung für die beabsichtigte Eroberung des britischen „Flugzeugträgers“ [[Malta]] gefordert hatte&nbsp;– alle Ressourcen für die geplante Sommeroffensive an der deutsch-sowjetischen Front reklamierte (vgl. [[Unternehmen Zitadelle]]).<br />
<br />
Bei den Beratungen auf [[Schloss Kleßheim]] am 8./9. April 1943 lehnte Hitler Mussolinis Vorschläge ab. Die von Mussolini danach noch mehrfach erbetene Lieferung von Panzern und Flugzeugen wurde ebenfalls verweigert, obwohl eine [[Oberkommando des Heeres|OKH]]-Studie im Juni einräumte, dass das italienische Militär über keine einzige Panzerdivision, kaum Panzerabwehrwaffen und eine nur noch „bedingt einsatzfähige“<ref>Zitiert nach Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;610.</ref> Luftwaffe verfüge. Auch diese Analyse sah jedoch „keinen Anlass, mit einer unmittelbar bevorstehenden politischen Krise zu rechnen.“<ref>Zitiert nach Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;614.</ref><br />
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Im Frühjahr 1943 befand sich Mussolini am Tiefpunkt eines körperlichen Verfalls, der 1940/41 eingesetzt und sich im Herbst 1942 beschleunigt hatte, als er in drei Monaten etwa 20 Kilogramm Körpergewicht verlor. Den Januar 1943 verbrachte er zum größten Teil im Bett und bewegte sich noch im April bei seinem Treffen mit Hitler ständig am Rande des physischen Zusammenbruchs.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;289.</ref> Vermutlich litt er an einem [[Magengeschwür]], einer leichten Form von [[Hepatitis&nbsp;B]] und einer schweren [[Depression]].<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;426.</ref><br />
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Die politische und militärische Agonie des Regimes wurde durch die ökonomische und soziale Krise des Landes verschärft. 1943 lag die italienische Industrieproduktion um 31 % unter der des Jahres 1938. Wichtige Grundnahrungsmittel waren nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich, ihre Preise waren seit Kriegsbeginn um das fünf- bis zehnfache gestiegen und wegen des 1940 verfügten Lohnstopps für Arbeiter kaum noch zu bezahlen. In vielen Städten hungerte die Bevölkerung,<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy,'' S.&nbsp;483.</ref> zudem erwiesen sich die staatlichen Stellen als unfähig, die Menschen zu versorgen, die infolge der [[Luftangriffe auf Italien|alliierten Luftangriffe]] obdachlos geworden waren.<ref>Richard Overy: ''The Bombing War. Europe 1939–1945.'' London 2013, S.&nbsp;525 f.</ref> Im März 1943 breitete sich eine Streikwelle ausgehend von den [[Turin]]er [[Fiat S.p.A.|Fiat]]-Werken auf andere norditalienische Städte aus und kam erst Anfang April durch eine Mischung aus „maßvoller“ Repression und Zugeständnissen an die Arbeiter zum Stillstand.<ref>Renzo De Felice: ''Mussolini. L’alleato'' (Band 1: ''L’Italia in guerra 1940–1943,'' Teil 2: ''Crisi e agonia del regime''), Turin 1996, S.&nbsp;926–958. Siehe auch Tim Mason: ''The Turin strikes of March 1943.'' In: Jane Caplan (Hrsg.): ''Nazism, Fascism and the working class.'' Cambridge 1995, S.&nbsp;274–294.</ref> Mussolini hatte den Streik, der in den Augen maßgeblicher Industrieller die „Glaubwürdigkeit des Faschismus als antisozialistische Kraft“<ref>Morgan: ''Fall of Mussolini.'' S.&nbsp;79.</ref> untergrub, mit großer Aufmerksamkeit und Unruhe verfolgt.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;323.</ref> Hitler war außer sich, als er vom Ausmaß der Streikbewegung und der Rolle erfuhr, die dabei illegal tätige Kommunisten gespielt hatten. Wegen des Versagens der faschistischen Partei setzte Mussolini Aldo Vidussoni am 19. April ab.<ref>Siehe Morgan: ''Fall of Mussolini.'' S.&nbsp;78.</ref> [[Carlo Scorza]], eine Führungsfigur des militanten toskanischen „Agrarfaschismus“ der frühen 20er Jahre und ehemaliger ''ras'' von [[Lucca]], war der letzte von Mussolini ernannte Parteisekretär. Nach einer Rundreise durch Italien ließ Scorza Mussolini am 7. Juni 1943 eine Denkschrift zukommen, in der er ein vernichtendes Urteil über den Zustand von Partei, Staat und Armee fällte.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;322 f. Deutsch in Auszügen bei Frederick William Deakin: ''Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussolini und der Untergang des italienischen Faschismus.'' Köln / Berlin 1964, S.&nbsp;378–383.</ref><br />
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===== 25. Juli =====<br />
Am 9./10. Juli 1943 begann die erwartete [[Operation Husky|Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien]]. Einige italienische Verbände ergaben sich kampflos, andere leisteten zusammen mit den beiden auf der Insel stationierten deutschen Divisionen Widerstand. Die Gegenangriffe auf die Landungszonen brachen am 11. und 12. Juli im Feuerhagel der alliierten Schiffsartillerie zusammen. Sowohl der deutschen als auch der italienischen Militärführung war danach klar, dass die Insel nicht zu halten sein würde. Am 14. Juli wies Vittorio Ambrosio Mussolini in einer Denkschrift auf den Ernst der Lage hin und verlangte, bei Hitler erneut eine Schwerpunktverlagerung der deutschen Kriegführung in den Mittelmeerraum zu fordern. Andernfalls könne Italien den Krieg nicht mehr fortsetzen. Mussolini stimmte dieser Einschätzung zu, trug sie aber bei dem Treffen mit Hitler, das am 19. Juli in [[Feltre]] stattfand, trotz wiederholten Drängens seiner Begleiter nicht vor. Stattdessen akzeptierte er am 20. Juli im Grundsatz Hitlers Forderung, die italienischen Truppen in Süditalien deutschen Stäben zu unterstellen.<ref>Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;615, und Ivone Kirkpatrick: ''Mussolini.'' Berlin 1997, S.&nbsp;480, 485.</ref> Die Gegner Mussolinis in der Führung der Partei, im Generalstab, im Großbürgertum und am königlichen Hof – durchweg „einstige Steigbügelhalter, Profiteure und Aktivisten des Faschismus“,<ref>Hans Woller: ''Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948.'' München 1996, S.&nbsp;13.</ref> denen nichts ferner lag als „der Gedanke, die Regierungsgeschäfte den sich langsam reorganisierenden antifaschistischen Parteien zu übertragen“<ref>Hans Woller: ''Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948.'' München 1996, S.&nbsp;14.</ref>&nbsp;– sahen sich nun zum Handeln gezwungen. Neben der Sicherung ihrer politischen und militärischen Handlungsfähigkeit nach außen ging es diesen Eliten vor allem darum, die politische Entfaltung der antifaschistischen Opposition durch schnelles Handeln zu verhindern und so die Voraussetzungen für eine konservative Ausrichtung des postfaschistischen Regimes zu schaffen.<ref>„The monarchist coup against Mussolini intended to exclude any such participation. The aim was not simply to keep its planning as secret as possible, but primarily to ensure a socially and politically conservative succession to Mussolini and Fascism.“ Philip Morgan: ''The Fall of Mussolini. Italy, the Italians and the Second World War.'' Oxford 2008, S.&nbsp;37.</ref> Die politischen Neuordnungsvorstellungen vieler Beteiligter liefen daher zunächst auf einen „Faschismus ohne Mussolini“<ref>Wolfgang Schieder: ''Der italienische Faschismus.'' München 2010, S.&nbsp;95.</ref> hinaus.<br />
<br />
Nach der alliierten Landung auf Sizilien hatten führende Faschisten aus völlig entgegengesetzten Gründen für das Zusammentreten des [[Großer Faschistischer Rat|faschistischen Großrats]] plädiert. Der Großrat war das höchste beratende Gremium der Partei und (seit 1932) des italienischen Staates. Er war seit 1939 nicht mehr zusammengetreten. Während die Gruppe um Ciano, Grandi und [[Giuseppe Bottai]] die Machtfülle Mussolinis einschränken lassen wollte, hatte der mit der deutschen Botschaft in Verbindung stehende Kreis um Roberto Farinacci und Parteisekretär Carlo Scorza die Absicht, einen Beschluss herbeizuführen, der zu einer „Revitalisierung“ des Regimes und einer Stärkung des deutsch-italienischen Bündnisses führen sollte. Der Rat trat am 24. Juli 1943 im [[Palazzo Venezia]] zusammen und verabschiedete nach zehnstündiger Debatte am frühen Morgen des 25. Juli mit 19 gegen 7 Stimmen eine von Grandi eingebrachte Resolution, die dem König empfahl, den Oberbefehl über die Streitkräfte, den Mussolini seit 1940 innehatte, wieder selbst zu übernehmen. Eine „Absetzung“ Mussolinis – wie häufig fälschlich angenommen – beschloss der Rat dagegen nicht und es ist zweifelhaft, ob seine Mitglieder überhaupt damit rechneten, dass die konservativen Kräfte im Umfeld des Königs diese Gelegenheit nutzen würden, um sich völlig von Mussolini und der faschistischen Partei zu trennen.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London 2010, S.&nbsp;324.</ref> Für den Ausgang der Abstimmung war entscheidend, dass „loyale“ Anhänger Mussolinis wie Farinacci die Situation falsch einschätzten und noch entschiedener als Grandi den persönlichen Führungsstil und die Fehlentscheidungen der letzten Jahre angriffen.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;295.</ref> Mussolini fiel auch bei dieser Beratung durch völlige Apathie auf; er ließ zur Verblüffung Scorzas den Entwurf Grandis zur Abstimmung zu, wodurch bei einigen Mitgliedern des Rates der Eindruck entstand, er wünsche dessen Annahme. Möglicherweise war dies – als Auftakt zu einer „ehrenhaften“ Aufkündigung der Bindung an Deutschland&nbsp;– tatsächlich der Fall.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;294, 296.</ref><br />
<br />
Mussolini sah seine Position nach dem Votum nicht als unmittelbar gefährdet an. Er begab sich am Nachmittag des 25. Juli in die Villa Savoia, die heutige [[Villa Ada]], zum König, um diesen offiziell über den Beschluss zu informieren. Mussolini bot dem Monarchen an, die drei Streitkräfte-Ministerien und das Außenministerium abzugeben. Außerdem kündigte er an, mit Göring, der sich für den 29. Juli aus Anlass von Mussolinis 60. Geburtstag in Rom angesagt hatte, noch einmal über den Vorschlag einer strategischen Kräfteverlagerung in den Mittelmeerraum zu reden.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;291.</ref> Überraschend akzeptierte Viktor Emanuel&nbsp;III. jedoch den „Vorschlag“ des Großrats und gab dem konsternierten Mussolini zu verstehen, dass er ihn auch als Ministerpräsidenten entlassen und Marschall [[Pietro Badoglio]] das Amt übertragen werde. Anschließend wurde Mussolini in einem bereitstehenden Krankenwagen abtransportiert und in einer [[Carabinieri]]-Kaserne festgesetzt.<ref>De Felice: ''Crisi e agonia,'' S.&nbsp;1395–1401.</ref> Die Absetzung Mussolinis wurde am späten Abend im Radio bekanntgegeben. Noch in der Nacht versammelten sich tausende Menschen auf Straßen und Plätzen und feierten den Sturz des Diktators. In Rom, wo sich zusätzlich das Gerücht verbreitete, Hitler habe sich das Leben genommen, sollen sich auch deutsche Soldaten an den Kundgebungen beteiligt haben.<ref>Hans Woller: ''Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948.'' München 1996, S.&nbsp;11.</ref> In den „45 Tagen“ ''(quarantacinque giorni)'' zwischen Mussolinis Sturz und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen verschwanden die (von der [[Regierung Badoglio]] mit Wirkung zum 6. August 1943 auch formal aufgelöste) faschistische Partei und die in zwei Jahrzehnten geschaffenen Institutionen des Regimes nahezu geräuschlos.<br />
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[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-567-1503C-13, Gran Sasso, Mussolini verlässt Hotel.jpg|mini|Mussolini mit deutschen Fallschirmjägern nach der Befreiung, 12. September 1943]]<br />
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Nach der Festnahme wurde Mussolini am 28. Juli auf der Insel [[Ponza (Insel)|Ponza]] und am 7. August auf dem Marinestützpunkt [[La Maddalena]] vor [[Sardinien]] interniert. Da hier ein deutscher Zugriff drohte, ordnete die Badoglio-Regierung am 28. August dessen Verlegung nach ''[[Campo Imperatore]]'' in das gleichnamige Hotel im [[Gran Sasso d’Italia|Gran-Sasso]]-Massiv an, wo ihn am 12. September ein Kommandounternehmen deutscher Fallschirmjäger befreite (→ [[Unternehmen Eiche]]). Vier Tage zuvor war der am 3. September unterzeichnete [[Waffenstillstand von Cassibile|Waffenstillstand zwischen Italien und den Westalliierten]] bekannt geworden. Während der König und Badoglio am 9. September Hals über Kopf Rom verließen und nach [[Brindisi]] flohen, leitete das OKW die unter dem Stichwort „[[Fall Achse|Achse]]“ vorbereitete [[Deutsche Besetzung Italiens|Besetzung Italiens]] ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten deutsche Stellen bereits die Einsetzung einer neuen faschistischen Regierung ins Auge gefasst, der Farinacci, [[Alessandro Pavolini]] und Mussolinis Sohn [[Vittorio Mussolini|Vittorio]] angehören sollten, die Ende Juli / Anfang August nach Deutschland ausgeflogen worden waren. Bei einem Treffen mit Hitler, das am 14. September in [[Kętrzyn|Rastenburg]] stattfand, erklärte sich Mussolini bereit, selbst an die Spitze dieser Regierung zu treten. Am 18. September kündigte er über den Sender München seine Rückkehr nach Italien an.<br />
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== Republik von Salò (1943–1945) ==<br />
Mussolini kehrte am 23. September 1943 nach Italien zurück und leitete vier Tage später in seiner Privatresidenz ''Rocca delle Caminate'' in [[Meldola (Emilia-Romagna)|Meldola]] die erste Sitzung der neuen republikanischen Regierung. Deren Zusammenstellung hatte einige Schwierigkeiten bereitet, da Mussolini prodeutsche Hardliner wie Farinacci und Starace nicht in das Kabinett aufnehmen wollte, mehrere „moderate“ Faschisten seine Einladung aber ablehnten. Das Verteidigungsministerium übernahm nach einigem Zögern Marschall [[Rodolfo Graziani]]. An die Spitze der als ''Partito Fascista Repubblicano'' (PFR) neugegründeten faschistischen Partei stellte Mussolini den bis zu diesem Zeitpunkt als „gemäßigt“ geltenden Alessandro Pavolini. Während sich Mussolini in der Frage der Staatsbezeichnung gegen deutsche Vorschläge durchsetzen konnte – Hitler hatte die Bezeichnung „Faschistische Republik“ statt „Soziale Republik“ gewünscht<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;303.</ref>&nbsp;–, blieb es beim deutschen Veto gegen Rom als Regierungssitz. Daraufhin wurden die Behörden der formal erst am 1. Dezember 1943 ausgerufenen ''[[Italienische Sozialrepublik|Repubblica Sociale Italiana]]'' (RSI) auf verschiedene Städte und Gemeinden Norditaliens verteilt. Mussolini bezog die ''Villa Feltrinelli'' in [[Gargnano]] am [[Gardasee]]. Im nahen [[Salò]] nahm das [[Ministerium für Volkskultur (Italien)|Propagandaministerium]] seinen Sitz; dessen regelmäßige Kommuniqués („Salò gibt bekannt&nbsp;…“) ließen bereits die Zeitgenossen von der ''Repubblica di Salò'' sprechen.<br />
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Mussolinis Beweggründe für die Übernahme einer Position, deren relative Bedeutungslosigkeit – er selbst soll sich wiederholt als „Bürgermeister von Gargnano“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;331.</ref> ironisiert haben&nbsp;– ihm von Anfang an völlig klar war, sind in der Forschung umstritten. Die These, Mussolini habe sich „zur Verfügung“ gestellt und, als Person und im historischen Urteil, „geopfert“, um Italien eine direkte deutsche Besatzungsherrschaft zu ersparen, wurde in der Nachkriegszeit zunächst von neofaschistischen Autoren und nach 1990 von Historikern wie [[Renzo De Felice]] vertreten. Sie dominiert in verschiedenen Varianten heute die einschlägige italienische Literatur, wobei häufig vergleichend auf [[Philippe Pétain|Pétain]] und das [[Vichy-Regime]] hingewiesen wird. Andere Historiker weisen diese Argumentation jedoch als ebenso apologetisch wie historisch falsch zurück: Mussolini sei auch im September 1943 nicht ohne – genuin faschistische&nbsp;– politische Ambitionen gewesen<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;327.</ref> und habe die Forderung vieler Faschisten nach „Rache“ an den „Verrätern“ geteilt.<ref>Claudio Pavone: ''A Civil War. A History of the Italian Resistance.'' London / New York 2014, S.&nbsp;276–278.</ref> Es wird außerdem betont, dass die von Mussolini schon in den Jahren zuvor gegenüber Vertrauten zum Ausdruck gebrachte Verachtung für das italienische Volk nach seiner Rückkehr noch ausgeprägter gewesen sei.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;301.</ref> Auch in den letzten, von ihm im Frühjahr 1945 bewusst als „Lebensbilanz“ inszenierten Gesprächen mit Journalisten fehle jeder direkte oder indirekte Hinweis auf eine Beschäftigung mit dem Schicksal Italiens oder der Italiener.<ref>Ray Moseley: ''Mussolini. The last 600 days of il Duce.'' Dallas (u.&nbsp;a.) 2004, S.&nbsp;4.</ref><br />
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Der Handlungsspielraum Mussolinis als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Außenminister der RSI war räumlich und inhaltlich äußerst begrenzt. Die 1919 von Italien annektierten ehemals österreichischen Territorien waren – zusammen mit Teilen Venetiens&nbsp;– noch im September 1943 als sogenannte [[Operationszone Alpenvorland|Operationszonen]] einer „vorläufigen“ deutschen Zivilverwaltung unterstellt worden. Auch im Rest des Staatsgebietes war die Autorität der RSI nur nominell. Die für Politik und Kriegführung wesentlichen Entscheidungen trafen der deutsche Oberbefehlshaber Süd [[Albert Kesselring]], der für den Polizeiapparat zuständige SS-Obergruppenführer [[Karl Wolff (SS-Mitglied)|Karl Wolff]] und der „bevollmächtigte“ Botschafter [[Rudolf Rahn]]. Mit Wolff und Rahn traf Mussolini mehrmals wöchentlich zusammen. Die Wirtschaft Nord- und Mittelitaliens wurde von Generalmajor [[Hans Leyers]], dem „Generalbevollmächtigten“ [[Albert Speer]]s, ohne Konsultation italienischer Behörden rücksichtslos in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft gestellt.<ref>Dietrich Eichholtz: ''Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945.'' Band 2 (1941–1943). Berlin 1985, S.&nbsp;158.</ref> Da Mussolinis Leibwache und persönliche Kommunikationsmittel bis hin zum Telefon nicht von Truppen der RSI, sondern von einer Abteilung der [[Leibstandarte SS Adolf Hitler]] gestellt wurden, konnte er keinen Schritt ohne Einverständnis oder Wissen deutscher Stellen machen. Auch seine medizinische Betreuung übernahmen nun deutsche Ärzte. In Gargnano nahm Mussolini seine alte, nun aber weitgehend irrelevante Praxis wieder auf, täglich mehrere Besucher in viertel- oder halbstündigen „Audienzen“ zu empfangen. Daneben widmete er sich vor allem dem Verfassen von Beiträgen für die faschistische Presse. In der Schrift ''Storia di un anno'' stellte Mussolini seine Sicht auf die Ereignisse des Juli 1943 und deren Vorgeschichte dar.<br />
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[[Datei:War flag of the Italian Social Republic.svg|mini|Kriegsflagge der RSI (1944–1945)]]<br />
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Mussolinis Einfluss auf die Kämpfe mit der bewaffneten [[Resistenza|antifaschistischen Widerstandsbewegung]], die zehntausende Tote forderten und heute in Italien weithin als „Bürgerkrieg“ angesehen werden, blieb marginal. Er deckte die Versuche Pavolinis, den ''squadrismo'' der frühen 1920er Jahre wiederzubeleben, und befürwortete ausdrücklich die Hinrichtung von „Geiseln“ nach Partisanenaktionen.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;309.</ref> Unstrittig ist allerdings, dass er mehrfach gegen die schlimmsten Exzesse der häufig von deutschen Dienststellen protegierten, halbautonomen faschistischen Milizen intervenierte. So ließ er im Januar 1944 [[Junio Valerio Borghese]] und im Oktober 1944 den berüchtigten [[Pietro Koch]] verhaften. Gegenüber Rahn protestierte Mussolini gegen die Auslöschung ganzer Dörfer durch deutsche „Strafaktionen“ und drohte im September 1944 in diesem Zusammenhang mit seinem Rücktritt.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;315.</ref> Ähnliche Stellungnahmen Mussolinis gegen die [[Deportation#Deportationen während des Nationalsozialismus|Deportation]] italienischer Juden in deutsche Vernichtungslager sind nicht bekannt. Seit dem Herbst 1943 wurde ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Italiens auf der Grundlage neuer antisemitischer Gesetze in Lagern zusammengefasst; etwa 7.500 Menschen wurden – meist aus dem seit Februar 1944 unter deutscher Verwaltung stehenden [[Durchgangslager Fossoli|Lager Fossoli]] bei [[Modena]]<ref>Robert S. C. Gordon: ''Race.'' In: Richard J. B. Bosworth (Hrsg.): ''The Oxford Handbook of Fascism.'' Oxford 2010, S.&nbsp;296–316, S.&nbsp;314.</ref>&nbsp;– deportiert, wenige hundert kehrten zurück. Zwar tat Mussolini kaum etwas, um diese Politik zu fördern, schritt aber auch nicht dagegen ein.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;316.</ref><br />
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Am 11. Januar 1944 ließ Mussolini fünf ehemals führende Faschisten, unter ihnen sein Schwiegersohn Ciano und die beiden Altfaschisten [[Giovanni Marinelli|Marinelli]] und [[Emilio De Bono|De Bono]], in [[Verona]] hinrichten (vgl. [[Prozess von Verona]]). Mussolini war vollkommen bewusst, dass der den Angeklagten wegen ihres Votums vom 25. Juli 1943 gemachte Vorwurf des [[Hochverrat]]s nicht zutraf.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;307 f.</ref> Die maßgeblichen „Verschwörer“ Grandi, Bottai und Federzoni hatten sich allerdings inzwischen abgesetzt.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;303.</ref> Unter dem Druck Pavolinis und anderer intransigenter Faschisten, die in Verona die Regie übernahmen und in Mussolinis Namen handelten, ignorierte er die Gnadengesuche<ref>Mack Smith: ''Mussolini,'' S.&nbsp;304, und Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;19.</ref> und nahm den Bruch mit seiner Tochter Edda in Kauf, die im Januar 1944 in die Schweiz floh.<br />
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Ernsthafte Versuche, eine handlungsfähige Regierung zu organisieren oder ein Regierungsprogramm zu entwickeln, unternahm Mussolini nicht mehr. Der staatliche Verwaltungsapparat blieb zwar bis hinunter zur Ebene der Gemeinden intakt, wurde aber von den Deutschen ebenso ignoriert wie von großen Teilen der Bevölkerung. Überdeutlich zeigte sich das, als die Republik am 9. November 1943 vier Jahrgänge zum Militärdienst einberief und sich weniger als 50.000 Mann in den Kasernen meldeten. Bis zum Sommer 1944, als die vier in Deutschland aufgestellten italienischen Divisionen nach Italien verlegt wurden, bestanden die Streitkräfte der RSI – abgesehen von der paramilitärischen ''[[Guardia Nazionale Repubblicana]]''&nbsp;– aus einigen Flak- und Küstenbatterien sowie schwachen Verbänden der Luftwaffe und der Marine.<ref>Schumann: ''Deutschland,'' S.&nbsp;648.</ref> Der von Hitler zunächst anders orientierte Mussolini hatte Ende 1943 einsehen müssen, dass die deutsche Seite keinerlei Interesse am Wiederaufbau italienischer Streitkräfte hatte.<ref>Frederick William Deakin: ''Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussolini und der Untergang des italienischen Faschismus.'' Köln/Berlin 1964, S.&nbsp;666–687.</ref><br />
<br />
Mit einer gewissen Ausdauer verfolgte Mussolini von Gargnano aus das Thema der „Sozialisierung“, mit dem er die Arbeiter der norditalienischen Industriestädte an den Faschismus heranführen wollte (und möglicherweise ein Mittel gegen den deutschen Zugriff auf die italienische Industrie gefunden zu haben glaubte<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;309 f.</ref>). Nachdem dieser Ton, der an die programmatischen Anfänge des Faschismus im Jahr 1919 anknüpfte, bereits im November 1943 im ''Manifesto di Verona'' angeschlagen worden war, kam Mussolini im Laufe des Jahres 1944 immer wieder auf dieses Problem zu sprechen, obwohl sein deutscher „Berater“ Rahn die Verwendung antikapitalistischer Rhetorik grundsätzlich ablehnte.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;23 f.</ref> Noch am 25. März 1945 bestellte Reichsaußenminister von Ribbentrop den italienischen Botschafter [[Filippo Anfuso]] ein, um ihm mitzuteilen, dass Hitler diesen Kurs missbillige.<ref>Siehe Gianluca Falanga: ''Mussolinis Vorposten in Hitlers Reich. Italiens Politik in Berlin 1933–1945.'' Berlin 2008, S.&nbsp;280.</ref> Welchen Sinn der Begriff „Sozialisierung“ und der zur gleichen Zeit ins Gespräch gebrachte „menschliche, italienische und erreichbare“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;24.</ref> Sozialismus im faschistischen Kontext hatten, blieb bis zuletzt selbst hohen RSI-Funktionären unklar.<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;312.</ref> Im Ergebnis führte die „Sozialisierungs“-Gesetzgebung der RSI lediglich zu einer Festigung der staatlichen Kontrolle der Presse- und Verlagshäuser und zur Wahl von Vertretungskörperschaften der Belegschaften in einigen großen Betrieben. Propagandistisch erwiesen sich diese Kampagnen gerade bei den Arbeitern als völliger Fehlschlag und die deutschen Dienststellen waren nicht bereit, in wirtschaftlichen Fragen mit Italienern zu verhandeln, „am allerwenigsten mit Arbeitern oder Gewerkschaftern.“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;310.</ref> Einer der Propagandisten der „Sozialisierung“ war der Journalist [[Nicola Bombacci]], ein ehemaliger Kommunist, der sich in den 1930er Jahren dem Regime zur Verfügung gestellt hatte und in Gargnano zum regelmäßigen Gesprächspartner und „letzten Freund“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;330. Siehe auch ebenda, S.&nbsp;30, und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;306.</ref> Mussolinis wurde.<br />
<br />
Am 22./23. April 1944 und am 20. Juli 1944 traf Mussolini zu seinen letzten persönlichen Unterredungen mit Hitler zusammen. Bei dem Treffen auf Schloss Kleßheim im April hielt Mussolini dem deutschen Diktator einen längeren Vortrag in deutscher Sprache. Er betonte, dass das Ansehen der RSI vor allem durch die Handlungen deutscher Dienststellen untergraben werde, verlangte Klarheit über die deutschen Absichten in den „Operationszonen“ und mahnte eine menschliche Behandlung der italienischen [[Militärinternierte]]n in Deutschland an. Mussolini schlug bei dieser Gelegenheit noch einmal vor, einen „Kompromissfrieden“ oder Waffenstillstand mit der UdSSR anzustreben und die Hauptkräfte der [[Wehrmacht]] in den Westen zu verlegen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;21.</ref> Hitler suchte Mussolini davon zu überzeugen, dass die „unnatürliche Allianz“ zwischen der Sowjetunion und den Westmächten nicht von Dauer sein werde, und kündigte den bevorstehenden Einsatz neuartiger deutscher Waffen an. Am 20. Juli 1944 hielt sich Mussolini für etwa drei Stunden in der [[Führerhauptquartier Wolfsschanze|Wolfsschanze]] auf, wo kurz zuvor der Attentatsversuch [[Claus Schenk Graf von Stauffenberg|Claus von Stauffenbergs]] gescheitert war. Hier stimmte Hitler der Verlegung der beiden noch in Deutschland verbliebenen italienischen Divisionen nach Italien zu.<ref>Frederick William Deakin: ''Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussolini und der Untergang des italienischen Faschismus.'' Köln/Berlin 1964, S.&nbsp;805.</ref> Hitler bekundete bis zuletzt einen sentimentalen Respekt vor Mussolini und soll noch im Frühjahr 1945 geäußert haben, dass sich an seiner „persönlichen Verbundenheit mit dem Duce“ nichts geändert habe, auch wenn das Bündnis mit Italien ein Fehler gewesen sei.<ref>Wolfgang Schieder: ''Faschistische Diktaturen.'' Studien zu Italien und Deutschland. Göttingen 2008, S.&nbsp;149.</ref><br />
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== Tod ==<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-316-1181-11, Italien, Benito Mussolini mit italienischen Soldaten.jpg|mini|Mussolini im Gespräch mit einem Angehörigen der ''[[Guardia Nazionale Repubblicana]],'' 1944]]<br />
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=== Verständigungsversuche mit dem Widerstand ===<br />
Mussolini trat am 16. Dezember 1944 im Mailänder [[Teatro Lirico (Mailand)|Teatro Lirico]] zum letzten Mal öffentlich auf. Anfang April 1945 nahmen die britischen und amerikanischen Truppen in Norditalien ihren Vormarsch wieder auf, nachdem mehrere Monate eine faktische Kampfruhe geherrscht hatte. Am 24. April überschritten sie den [[Po (Fluss)|Po]], am nächsten Tag brach in Mailand ein Aufstand kommunistischer und sozialistischer Partisanen aus, dem der in voller Auflösung befindliche faschistische Staatsapparat nicht mehr gewachsen war.<br />
<br />
Mussolini hatte in den Wochen zuvor – unter anderem durch Vermittlung des Mailänder Kardinals [[Alfredo Ildefonso Schuster|Schuster]]&nbsp;– versucht, mit dem ''[[Comitato di Liberazione Nazionale]]'' (CLN) in Verbindung zu treten.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London 2010, S.&nbsp;27&nbsp;f.</ref> Er hatte dieses letzte politische Manöver mit der Entlassung des Innenministers [[Guido Buffarini-Guidi]] vorbereitet, eines in der Bevölkerung besonders verhassten, fanatischen Faschisten (21. Februar 1945). Eine weitere Geste gegenüber der linken Widerstandsbewegung war die am 22. März verkündete sofortige „Sozialisierung“ der gesamten Industrie. Über [[Carlo Silvestri]] bot er nun an, die Macht an die [[Partito d’Azione|Aktionspartei]] und die Sozialisten zu übergeben, falls ihm eine geordnete Kapitulation gegenüber den alliierten Streitkräften gestattet werde.<br />
<br />
Die versuchte „Verständigung“ mit dem nichtkommunistischen Flügel der [[Resistenza]] scheiterte endgültig am 25. April. An diesem Tag erfuhr Mussolini durch Mitarbeiter Schusters, dass der SS-General [[Karl Wolff (SS-Mitglied)|Karl Wolff]] seit Wochen mit Vertretern der Westmächte über eine [[Operation Sunrise|Teilkapitulation der deutschen Truppen in Italien]] verhandelte.<ref>Ivone Kirkpatrick: ''Mussolini.'' Berlin 1997, S.&nbsp;568&nbsp;f.; Bosworth: ''Mussolini,'' S.&nbsp;29.</ref><br />
<br />
=== Flucht und Erschießung ===<br />
Nach wütenden Verratsvorwürfen an seine deutschen Begleiter floh Mussolini noch am Abend des 25. April zusammen mit seiner Geliebten [[Clara Petacci]] und einigen faschistischen Funktionären unter Mitnahme zahlreicher – bis heute verschollener&nbsp;– Geheimdokumente nach Norden. Ungeklärt ist, ob er die Absicht hatte, in die [[Schweiz]] zu entkommen, oder, wie in verschiedenen Gesprächen angedeutet, mit den im [[Veltlin]] versammelten ''[[Schwarze Brigaden|Brigate Nere]]'' ein „letztes Gefecht“ liefern wollte.<br />
<br />
In [[Menaggio]] schloss sich Mussolini mit seiner zusammengeschmolzenen Entourage einer motorisierten deutschen [[Flugabwehrkanone|Flak]]-Einheit an. An einer Straßensperre zwischen [[Musso (Lombardei)|Musso]] und [[Dongo (Lombardei)|Dongo]] am [[Comer See]] wurde die Fahrzeugkolonne am 27. April 1945 von kommunistischen Partisanen angehalten. Bei der Durchsuchung wurde der als Flakkanonier verkleidete Mussolini erkannt und gefangen genommen.<br />
<br />
Noch am 27. April verbreitete der Mailänder Radiosender diese Nachricht. Am Folgetag traf eine Partisanengruppe aus Mailand in Dongo ein. Sie hatte den Befehl erhalten, den vom ''Nationalen Befreiungskomitee für Norditalien'' (CLNAI), dem Führungsorgan der Resistenza, gegen Mussolini und andere führende Faschisten verhängten Tötungsbefehl zu vollstrecken.<br />
<br />
Am Rande des Dorfes [[Mezzegra|San Giulino di Mezzegra]] wurden Mussolini und Petacci, die sich von ihm nicht lossagen wollte und vergewaltigt worden war, am 28. April 1945 hinterrücks erschossen.<ref>Bosworth: ''Mussolini,'' S.&nbsp;32.</ref><ref name=Rüb>[[Matthias Rüb]], ''Die letzten Tage des Duce'', in: ''Frankfurter Allgemeine Zeitung'' vom 30. April 2025.</ref> Die Todesumstände Mussolinis sind bis in die Gegenwart Gegenstand von Spekulation und Mythenbildung geblieben. Die jüngere wissenschaftliche Literatur hat die zuletzt in den 1990er Jahren als „kommunistische Geschichtslegende“<ref>So wörtlich {{Der Spiegel |ID=9086132 |Titel=Der Tod des Duce |Jahr=1996 |Nr=5 |Seiten=134–136}}</ref> angegriffene, „offizielle“ Version indes im Kern bestätigt.<ref>Eine Zusammenfassung bietet Moseley: ''Mussolini,'' S.&nbsp;279–307. Ergänzungen im Detail bei Cavalleri, Giorgio, Giannantoni, Franco, Cereghino, Mario J., ''La fine. Gli ultimi giorni di Benito Mussolini nei documenti dei servizi segreti americani 1945–1946,'' Mailand 2009. Über die These einer Verwicklung des britischen Geheimdienstes, die sich auch Renzo De Felice kurz vor seinem Tod zu eigen gemacht hatte, spekulierte dennoch zuletzt zustimmend Pierre Milza: ''Les derniers jours de Mussolini,'' Paris 2012, S.&nbsp;290–318.</ref> Die über Jahrzehnte verbreitete Version der Geschichtsschreibung, wonach Mussolini und Petacci erst nach einem Gerichtsverfahren am Morgen des 28. April 1945 am Nachmittag des gleichen Tages hingerichtet wurden, gilt heute als überholt.<ref name=Rüb /><br />
<br />
=== Verbleib des Leichnams ===<br />
Die Leichen Mussolinis, Petaccis, Nicola Bombaccis, Alessandro Pavolinis und einiger anderer wurden anschließend nach Mailand transportiert und am 29. April auf dem [[Piazzale Loreto]], wo am 10. August 1944 15 hingerichtete Partisanen zur Schau gestellt worden waren, kopfüber am Dach einer Tankstelle aufgehängt. Dabei kam es zu Schändungen der Leichen.<br />
<br />
[[Datei:Predappio, cimitero di san cassiano, cripta, tomba di benito mussolini 02.JPG|mini|Mussolinis Grab in Predappio]]<br />
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Der Leichnam Mussolinis wurde durch amerikanische Ärzte einer Autopsie unterzogen und anschließend auf einem anonymen Gräberfeld des [[Cimitero maggiore (Mailand)|Mailänder Hauptfriedhofs Musocco]] beerdigt.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;334.</ref> In der Nacht zum 23. April 1946 wurde er von faschistischen Aktivisten um [[Domenico Leccisi]] ausgegraben, obwohl die genaue Lage der Grabstätte nur drei bis vier Personen bekannt gewesen sein soll.<ref>{{ANNO|wku|24|04|1946|8|Mussolinis Leiche vom Mailänder Friedhof verschwunden}}</ref> Der Leichnam wurde mit Unterstützung profaschistischer Priester zunächst im Veltlin, in einer Mailänder Kirche und zuletzt in einer Mönchszelle der [[Certosa di Pavia]] versteckt.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;341">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;341.</ref><br />
<br />
Nach dreieinhalb Monaten entdeckt, veranlasste die italienische Regierung eine anonyme Beerdigung im Kapuzinerkloster [[Cerro Maggiore]]. Am 1. September 1957 wurde Mussolini im Beisein seiner Witwe [[Rachele Mussolini]] in der Familiengruft in [[Predappio]] unter dem [[Liktorenbündel]], dem Symbol seiner Macht und des [[Faschismus]], beigesetzt. Den Weg dafür hatte der [[Democrazia Cristiana|christdemokratische]] Ministerpräsident [[Adone Zoli]] geebnet, der sich von dieser Geste gegenüber der radikalen Rechten die parlamentarische Unterstützung des neofaschistischen [[Movimento Sociale Italiano|MSI]] erhoffte (und diese auch erhielt).<br />
<br />
== Persönlichkeit, Privatleben und Familie ==<br />
<br />
=== Rhetorik und Propagandafigur ===<br />
Erscheinung und persönliche Lebensführung Mussolinis – oder das, was er dafür ausgeben ließ – waren ein integraler Bestandteil des ''Duce''-Mythos, zu dem untrennbar die „theatralische Persönlichkeit“ gehört.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;332.</ref> Mussolini war ein Pionier der Politik als Schaugeschäft,<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;332, S.&nbsp;1 f. Siehe auch Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;354 f. und passim.</ref> als es – nicht nur in Italien – noch nicht üblich war, dass rhetorische Gesten und Sentenzen, inszenierte Auftritte, Äußerlichkeiten und Manierismen führender Politiker die öffentliche Debatte bestimmten. Das Regime sei, so Richard Bosworth, „vom ''spin'' getragen“ gewesen (siehe [[Spin-Doctor]]) und als „Propagandastaat“ zu verstehen, „in dem nichts so war wie behauptet und in dem Worte das waren, was zählte.“<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;6.</ref><br />
<br />
Mussolini sorgte in den verschiedenen Phasen der Entwicklung des Regimes für die verbindlichen „Worte“ und lieferte die emblematischen Posen. Seine charakteristische Physiognomie, seine „herrische“ Haltung, seine „mimische“ Präsenz als Redner – Aufreißen und Rollen der Augen, unterstreichendes, abgestuftes Gestikulieren, abruptes Vor- oder Zurückbeugen – waren schnell Gegenstand von Fotografie und Karikatur.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;106.</ref> In den 1920er Jahren galt er als der am meisten fotografierte Mensch der Geschichte. Die zu seinen Lebzeiten offiziell – durch Postkarten, Plakate, Sammelbilder und die Presse – in Umlauf gebrachten, mehr oder weniger gestellten Aufnahmen Mussolinis zeigen rund 2.500 verschiedene Motive.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;172.</ref><br />
<br />
Der von der faschistischen Propaganda durch Bild und Text nach und nach konstruierte ''Duce'' war immer Herr der Situation, Vater und Ehemann, lebte sparsam und anspruchslos, arbeitete hart und konzentriert, trieb Sport, war Flieger, Fechter, körperlich fit und obendrein ein „Mann der Kultur“. Mussolini kontrollierte und steuerte diese Mythenbildung in hohem Maße selbst, etwa durch lange Interviews, die er über Jahre ausgewählten ausländischen Journalisten gewährte.<br />
<br />
=== Gesundheitlicher Zustand ===<br />
Vieles an diesen Zuschreibungen war erfunden oder in charakteristischer Weise überzeichnet. Schon der als Staatsgeheimnis behandelte Gesundheitszustand Mussolinis war zweifelhaft: Seit seiner Verwundung 1917 hatte Mussolini Probleme, sich ohne fremde Hilfe die Schuhe anzuziehen. Im Februar 1925 erkrankte er erstmals ernsthaft und lag mit inneren Blutungen mehrere Wochen lang im Bett. Wahrscheinlich litt er schon zu diesem Zeitpunkt an einem Magen- oder Darmgeschwür. Eine Operation erfolgte auf seinen Wunsch hin nicht. Er ernährte sich fortan fast ausschließlich von Nudeln, Milch und Früchten und verzichtete auf Alkohol und Zigaretten, konnte damit aber lediglich einige Jahre lang die Symptome kontrollieren. Später musste er immer wieder – auch in der Sitzung des Großrats am 24./25. Juli 1943 – unvermittelt die Hände gegen den Bauch pressen, wenn die Schmerzen zu heftig wurden.<br />
<br />
Bereits vor seinem 50. Geburtstag begann er sichtbar zu altern und verfiel nach 1940 rasch physisch und psychisch. 1943 beschrieb ein ungarischer Besucher ihn als „sehr krank. Sein Kopf war kahl, seine Haut gelblich-weiß, und er sprach schnell, mit nervösen Gesten.“<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;315.</ref> Die deutschen Ärzte, die ihn im September 1943 umfassend untersuchten, diagnostizierten ein Darmgeschwür und eine vergrößerte Leber. Der Arzt Georg Zachariae nannte ihn in seinen Aufzeichnungen ein „physisches Wrack am Rande des Grabes“.<ref>Zitiert nach Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;328.</ref> Anzeichen für die Mussolini bis heute – mit Implikationen für die Interpretation seiner persönlichen Entwicklung und Politik – nachgesagte [[Syphilis]] fanden sie jedoch nicht, ebenso wenig wie die amerikanischen Ärzte, die 1945 die Leiche untersuchten.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;334. Siehe auch ebenda, S.&nbsp;97.</ref><br />
<br />
=== Mussolini als „Sportler“ ===<br />
Ein typisches Beispiel für die Konstruktion des ''Duce'' ist der „Flieger“ Mussolini. Zwar hatte Mussolini im Juli 1920 begonnen, Flugunterricht zu nehmen, saß später aber nur gelegentlich am Steuer eines Flugzeugs. Dennoch ließ er Jahr für Jahr die Zahl seiner angeblichen Flugstunden, die in der Summe den Flugstunden eines Berufspiloten entsprachen, veröffentlichen.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;113.</ref> Das geschah nicht zufällig. Der Kult um Piloten und Flugzeuge war nach dem Ersten Weltkrieg bei der „neuen Rechten“ vieler Länder verbreitet, bei den italienischen Faschisten aber besonders ausgeprägt. Die Fliegerei erhob den „Einzelnen“ über die „Masse“ und galt als ebenso modern wie „antimarxistisch“.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;119.</ref> In der Frühphase der faschistischen Bewegung trat Mussolini vor Anhängern gelegentlich in Pilotenmontur auf, später ließ er sich immer wieder neben oder in Flugzeugen fotografieren. Im Januar 1937 erhielt er eine militärische Pilotenlizenz. Seine Gewohnheit war und blieb es allerdings, Flugzeuge dann zu steuern, wenn sie bereits in der Luft waren.<br />
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Im August 1941 sorgte Mussolini bei der [[Gefolge|Entourage]] Hitlers für Entsetzen, als er darauf bestand, das Steuer der Maschine zu übernehmen, in der beide auf dem Weg zu einem Truppenbesuch an der Ostfront waren.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;120.</ref> Zur Konstruktion des ''Duce'' gehörte es auch, dass Mussolini als Fahrer schneller Autos, aggressiver Fechter, Tennisspieler, tollkühner Reiter, Schwimmer und Skifahrer inszeniert wurde,<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;113f.</ref> der die Begeisterung der Italiener für den Sport auch durch Funktionalisierung des Olympischen Komitees ([[Comitato Olimpico Nazionale Italiano|CONI]]) und der Sportzeitungen für die Unterstützung seiner Person und seiner Politik nutzte.<ref>[[Arnd Krüger]]: ''Sport im faschistischen Italien (1922–1933).'' In: G. Spitzer, D. Schmidt (Hrsg.): ''Sport zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung. Festschrift für Prof. Dr. Hajo Bernett.'' P. Wegener, Bonn 1986, S.&nbsp;213–226; Felice Fabrizio: ''Sport e fascismo. La politica sportiva del regime, 1924–1936.'' Guaraldi, Rimini 1976.</ref><br />
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Ein seinerzeit neues, mit einem „humanisierenden“ Subtext versehenes Element dieser Rollen war der „schwitzende“ Mussolini. Kein anderer Politiker der Zwischenkriegszeit war „auf diese Weise sichtbar ‚Mensch‘.“<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;173">Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;173.</ref> Die so entstandene „eigentümliche Mischung des Göttlichen und des Profanen“<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;173" /> hatte auch eine „männliche“, sexuelle Komponente, die von der Propaganda nie dementiert, sondern unausgesprochen in den ''Duce''-Kult integriert wurde.<br />
<br />
=== Affären ===<br />
Details zu Mussolinis [[Promiskuität]] – einige Schätzungen gehen von etwa 400 verschiedenen Sexualpartnerinnen aus<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;64.</ref> – wurden erst lange nach 1945 bekannt. Mussolini unterhielt bereits vor 1922 häufig Beziehungen mit mehreren Frauen gleichzeitig. Mit der Näherin Angela Cucciati hatte Mussolini eine uneheliche Tochter namens Elena (1922–2022). Diese erfuhr erst im Alter von 20&nbsp;Jahren, dass er ihr leiblicher Vater war.<ref>[https://www.oe24.at/welt/weltchronik/heimliche-tochter-mussolinis-im-alter-von-99-jahren-gestorben/507530794 ''Heimliche Tochter Mussolinis im Alter von 99 Jahren gestorben.''] In: [[Österreich (Zeitung)|oe24.at]], 17. Januar 2022, abgerufen am 17. Januar 2022.</ref><br />
<br />
Die für seine persönliche Entwicklung bedeutendste Beziehung war die mit [[Margherita Sarfatti]], die dem Neuankömmling aus der Provinz nach 1912 die Salons des „respektablen“ Mailänder Bürgertums zugänglich machte. Bekannt ist auch sein Verhältnis mit der Kosmetikerin [[Ida Dalser]], aus dem 1915 der Sohn Benito Albino (1915–1942) hervorging. Mussolini erkannte auf Drängen Dalsers die Vaterschaft an und zahlte Unterhalt für das Kind, hielt aber strikt Distanz zu den beiden, nachdem er im Dezember 1915 eine Zivilehe mit [[Rachele Guidi]] eingegangen war. Möglicherweise hat Mussolini Dalser im Dezember 1914 kirchlich geheiratet.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;98.</ref> Da Dalser ihm über Jahre hinweg immer wieder „Szenen“ machte, ließ er sie 1926 in eine Nervenheilanstalt einweisen, wo sie 1937 starb.<br />
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Es gilt als sicher, dass Mussolini weitere uneheliche Nachkommen hatte. Als Diktator nutzte Mussolini die Möglichkeit, seine einschlägigen Aktivitäten optimal zu organisieren. Im Palazzo Venezia befand sich direkt neben seinem Arbeitszimmer ein „Erholungsraum“, in dem er zahlreiche „Besucherinnen“ empfing. Mussolinis Verhalten gegenüber seinen Partnerinnen wird als körperlich und emotional rücksichtslos beschrieben. Rachele Mussolini hat die Affären ihres Mannes offenbar lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen. Erst als Petacci ebenfalls ein Haus in Gargnano bezog, suchte sie die Rivalin im Oktober 1944 auf und forderte sie erfolglos auf zu verschwinden.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;305.</ref><br />
<br />
Die „Enthüllungen“ über sein Sexualleben haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder die populärwissenschaftliche und journalistische Publizistik beschäftigt, werden in der wissenschaftlichen Literatur aber meist nur am Rande vermerkt. Auch die Affäre mit der wohlhabenden Arzttochter [[Clara Petacci|Claretta Petacci]], die 1936 begann und bis 1945 andauerte, könnte man, so der Historiker Richard Bosworth, ebenso wie alle anderen ignorieren, wenn sie nicht so lange gedauert und schließlich die Reputation des Regimes beeinträchtigt hätte: Während des Zweiten Weltkrieges sorgte die BBC dafür, dass die Machenschaften des „Petacci-Clans“ in ganz Italien bekannt wurden.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;364 f. und Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;283.</ref> Bosworth sieht in der Beziehung Mussolinis mit der ihm intellektuell weit unterlegenen Petacci ein „Symbol für den Niedergang des Diktators im letzten Jahrzehnt seiner Herrschaft“.<ref>Bosworth: ''Mussolini’s Italy.'' S.&nbsp;363.</ref><br />
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[[Datei:Benito e Edda Mussolini, Cattolica 1925.jpg|mini|Benito Mussolini mit seiner ältesten Tochter Edda (1925)]]<br />
<br />
=== Als „Familienmensch“ ===<br />
In einem Spannungsverhältnis dazu stand das verzerrte Bild des „Familienmenschen“ Mussolini, das erst nach der ''conciliazione'' mit der Kirche von der Propaganda stärker bemüht wurde. Nach 1922 hatte Mussolini einige Jahre lang fast keinen Kontakt zu Frau und Kindern. Er lebte zunächst einige Monate in einem römischen Hotel, danach in einer Wohnung im Palazzo Tittoni, wo ihn eine Haushälterin unterstützte. Die Familie blieb in Mailand bzw. in Forlì, er traf sie zwei oder drei Mal im Jahr.<br />
<br />
Erst im Herbst 1929 holte Mussolini die Familie nach Rom, wo er inzwischen die repräsentative [[Villa Torlonia (Rom)|Villa Torlonia]] bezogen hatte. Dort empfing er nach 1929 nur äußerst selten Besuch, offenbar auf Wunsch seiner Frau, die innerhalb der Familie der „Diktator“<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;142.</ref> war. Rachele Mussolini pflegte auch in der Villa Torlonia weiter einen „bäuerlichen“ Lebensstil und begann, auf dem aristokratischen Anwesen Hühner, Kaninchen und Schweine zu züchten. Sie war auf ihre Weise „geschäftstüchtig“ und etablierte in der Romagna ein von ihr abhängiges Klientelnetzwerk. Ihre geschäftlichen Interessen waren 1933 einer der Auslöser für den Sturz [[Leandro Arpinati|Arpinatis]], der sich ihr gegenüber wenig kooperativ gezeigt hatte.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;149.</ref> Mussolini zog sich in der Villa Torlonia so häufig wie möglich aus dem Kreis der Familie zurück, nahm Mahlzeiten allein ein und ließ sich in den Abendstunden die neuesten Filme, vorzugsweise amerikanische, vorführen.<br />
<br />
Zu seinen Kindern hatte er – abgesehen von der ältesten Tochter [[Edda Ciano|Edda]] – kein engeres Verhältnis. Die Söhne [[Vittorio Mussolini|Vittorio]] und [[Bruno Mussolini|Bruno]] waren, wie Mussolini bald einsah, ohne politisches Talent.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;253.</ref> Nach dem Äthiopienkrieg, an dem beide als Piloten teilnahmen, traten sie öffentlich kaum mehr hervor. Vittorio ging in die Filmwirtschaft und versuchte erst 1943/44 zum Missfallen seines Vaters, eine aktive politische Rolle zu spielen. Bruno schlug eine Offizierslaufbahn ein und verunglückte im August 1941 bei einem Testflug mit der [[Piaggio P.108]] tödlich. Die beiden zuletzt geborenen Kinder – der Sohn [[Romano Mussolini|Romano]] (1927–2006) und die seit dem siebten Lebensjahr an Kinderlähmung erkrankte Tochter Anna Maria (1929–1968) – waren zu jung, um im Regime noch eine Rolle zu spielen.<br />
<br />
=== Der „Intellektuelle“ und „Kulturmensch“ ===<br />
Der „Intellektuelle“ und „Kulturmensch“ Mussolini ist schwierig einzuordnen. Mussolini war ein produktiver Autor.<ref>Siehe [[Toni Bernhart]]: ''Benito Mussolini als Schriftsteller und seine Übersetzungen ins Deutsche.'' In: [[Andrea Albrecht]], [[Lutz Danneberg]], Simone De Angelis (Hrsg.): ''Die akademische 'Achse Rom-Berlin'? Der wissenschaftlich-kulturelle Austausch zwischen Italien und Deutschland 1920 bis 1945.'' Berlin, Boston 2017, S.&nbsp;345–399.</ref> Sein Stil war durchaus geschliffen und er äußerte sich – mit unterschiedlichem Tiefgang – zu allen großen politischen und kulturellen Debatten seiner Zeit. Seine nach dem Zweiten Weltkrieg von Anhängern zusammengestellten Reden und Schriften füllen 44 Bände.<ref>Siehe Edoardo und Duilio Susmel (Hrsg.): ''Opera omnia di Benito Mussolini.'' 36 Bände, Florenz 1951–1963 (Neuauflage mit 8 Ergänzungsbänden Rom 1978–1980).</ref> Auch im persönlichen Gespräch vermochte Mussolini zu beeindrucken; er teilte nicht Hitlers Vorliebe für „zielloses Geplauder“<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;177.</ref> und wird von Zeitgenossen, die mit beiden Diktatoren zu tun hatten, als der interessantere Gesprächspartner beschrieben. Allerdings neigte auch der ''Duce'' mit zunehmendem Alter zum anekdotischen Monologisieren.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;170.</ref><br />
<br />
Zu beachten ist bei den überlieferten Äußerungen Mussolinis immer, dass diese selten in einem primär sach- oder problembezogenen Kontext stehen, sondern bei ihm in erster Linie darauf berechnet waren, beim Gegenüber oder Leser einen bestimmten Eindruck hervorzurufen. Sie verraten also allenfalls indirekt etwas über sein Wissen und seine Weltsicht, die über alle Brüche und Widersprüche hinweg [[Irrationalismus|irrationalen]] und [[Reaktion (Politik)|reaktionären]] Ideologien verpflichtet blieb,<ref>Siehe Morgan, Italian Fascism, S.&nbsp;9.</ref> aber viel darüber, wie er sein Publikum bzw. seine Gesprächspartner einschätzte und von ihnen gesehen werden wollte: „Sogar in den Gesprächen unter vier Augen setzte sich die Schauspielerei fort: seinen aufmerksameren Besuchern fiel auf, dass Mussolini seine Standpunkte änderte, um sie ihren anzupassen“.<ref>Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;2.</ref> So lehnte er 1932 im Gespräch mit [[Emil Ludwig]] jegliche [[Rassentheorie]] als unhaltbar ab, nannte Ludwig später aber gegenüber einem anderen Gesprächspartner einen „schmutzigen und anmaßenden Juden“.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;212.</ref><br />
<br />
Gerade in seinen Äußerungen über Wissenschaft, Kunst und Kultur finden sich viele Übertreibungen, Erfindungen und einander ausschließende Widersprüche. Da Mussolini glaubte, als Experte auf allen Gebieten gelten zu müssen,<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;177.</ref> stellte er absurde Behauptungen auf wie die, er habe alle 35 Bände der ''Enciclopedia Italiana'' gelesen, lese die Texte antiker griechischer Philosophen im Original oder schaffe es, trotz der auf ihm lastenden Arbeitslast pro Jahr etwa 70 Bücher zu lesen.<ref>Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;131 f.</ref> Zutreffend war, dass er beispielsweise [[Platon]] in Übersetzung las und auch seine sonstige Lektüre durchaus umfangreich war; italienischen Autoren ließ er nach Neuerscheinungen gelegentlich Anmerkungen und Kommentare zukommen.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;7.</ref> Deutsche und französische Autoren konnte er in der Originalsprache lesen. Hitlers Geschenk zu seinem 60. Geburtstag war eine 24-bändige Gesamtausgabe der Werke Nietzsches.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;328.</ref> Trotz gegenteiliger Behauptungen blieb ihm die englischsprachige Literatur vergleichsweise fremd.<ref name="ReferenceM">Siehe Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;132.</ref><br />
<br />
Sein Verhältnis zur darstellenden Kunst war widersprüchlich. Er sorgte persönlich für die Auslobung hochdotierter Preise, beklagte aber gern und häufig, dass ein Übermaß an ästhetischer Verfeinerung die Italiener über Jahrhunderte korrumpiert und verweichlicht habe. Werke der Malerei verstand er nach eigener Aussage nicht, Ausstellungen suchte er so gut wie nie auf. Die üblichen martialischen Worte über ein „totalitäres Konzept der Kultur“ hatten in diesem Bereich kaum unmittelbare Folgen für die künstlerische Produktion und auch die Populärkultur – insbesondere der Film – wurde im faschistischen Italien nicht annähernd so eng „geführt“ wie in Deutschland.<br />
<br />
In der Architektur zeigte Mussolini eine Vorliebe für Monumentalbauten. Rom sollte – in eklatantem Widerspruch zu seinen häufigen Stellungnahmen gegen die Verstädterung Italiens – wieder eine Metropole wie in der Antike werden, seine Bevölkerung verdoppeln und die 20 Kilometer bis zum Meer „überwinden“. Im Zentrum der Stadt wollte er alle Bauwerke aus den „Jahrhunderten der Dekadenz“ (worunter Mussolini die 1500 Jahre zwischen dem Untergang des alten Rom und dem Risorgimento verstand<ref name="ReferenceM"/>) abreißen lassen. Kaum etwas von diesen Plänen, darunter die Errichtung einer den Faschismus symbolisierenden 80 Meter hohen Kolossalstatue, wurde umgesetzt – „einmal mehr war die Ankündigung das, worauf es ankam, die Ausführung war weniger wichtig.“<ref>Mack Smith: ''Mussolini.'' S.&nbsp;136.</ref> Das für die 1942 geplante Weltausstellung errichtete [[Esposizione Universale di Roma|EUR-Viertel]] blieb die auffälligste architektonische Hinterlassenschaft des Faschismus in der Hauptstadt.<br />
<br />
=== Der „bescheidene Lebensstil“ Mussolinis ===<br />
Den von der Propaganda herausgestellten „bescheidenen“ Lebensstil Mussolinis hat die Forschung relativiert. Bereits 1919 konnte die Familie Mussolini eine repräsentative Wohnung am Mailänder Foro Buonaparte beziehen; Mussolini besaß zu diesem Zeitpunkt nicht nur ein Auto, sondern als einer der ersten Menschen in Europa auch ein Privatflugzeug.<ref>Siehe Clark: ''Mussolini.'' S.&nbsp;39.</ref> Persönlich war Mussolini in gewisser Weise gleichgültig gegenüber Luxus und Geld, wurde aber als Ministerpräsident schnell sehr wohlhabend. Das Gehalt als Regierungschef (jährlich 32.000 Lire) bezog er nur bis 1928 (und dann wieder ab 1943).<br />
<br />
Ein großer Teil seines Einkommens bestand aus Honoraren und Tantiemen für Artikel, Reden und andere Schriften. Eine Zeit lang zahlte ihm beispielsweise der amerikanische Pressemagnat [[William Randolph Hearst]] die seinerzeit hohe Summe von 1.500 Dollar pro Woche für gelegentliche Beiträge in dessen Zeitungen. Für eine Autobiographie, die Mussolini 1927/28 schrieb (bzw. schreiben ließ), zahlte ihm ein britischer Verlag einen Vorschuss von 10.000 Pfund Sterling. Der ''Popolo d’Italia'' war nicht nur das Sprachrohr des Regimes, sondern auch Eigentum Mussolinis und mit etwa 700 Mitarbeitern ein profitabler Pressegroßbetrieb.<br />
<br />
Die Familie Mussolini besaß außerdem etwa 30 ha gutes Ackerland in der Romagna, das sie von einem modern ausgestatteten landwirtschaftlichen Modellbetrieb bewirtschaften ließ. Die von Mussolini persönlich zu bestreitenden Ausgaben waren demgegenüber gering. Die großgrundbesitzenden [[Torlonia (Adelsgeschlecht)|Torlonias]] überließen dem ''Duce'' ihre römische Villa für eine symbolische Miete.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;195.</ref> Das von Mussolini als Alters- und Familiensitz ausersehene Anwesen ''Rocca delle Caminate'' bei Predappio schenkte ihm 1927 „die Nation“.<br />
<br />
== Nachleben ==<br />
Nach der Beisetzung im Jahr 1957 wurde die Kleinstadt Predappio zu einer „[[Wallfahrt#Säkularer Begriffsgebrauch|Pilgerstätte]]“ für Mussolinis Anhänger. [[Devotionalie]]n waren an jeder Straßenecke erhältlich, bis die Gemeindeverwaltung den Ladenverkauf im April 2009 verbot.<ref name="Bosworth: Mussolini. S.&nbsp;341" /> In jedem Jahr versammeln sich zum Geburts- und Todestag Mussolinis im Juli bzw. April sowie im Oktober am Jahrestag der ''Marcia su Roma'' jeweils mehrere tausend Neofaschisten in Predappio; ihr Marsch zum Friedhof ''San Cassiano'' wurde lange von einem Priester der [[Priesterbruderschaft St. Pius X.|Piusbruderschaft]] angeführt.<br />
<br />
Das öffentliche Bild Mussolinis in Italien wandelte sich stark.<ref>Andrea Spalinger: [https://www.nzz.ch/international/italien-und-mussolini-die-maer-vom-guten-duce-ld.1478270 ''Italien und Mussolini: Die Mär vom guten Duce''] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung]]'' vom 3. Mai 2019</ref> Bis in die 1980er Jahre hinein bekannten sich die drei großen Parteien – [[Partito Comunista Italiano|PCI]], [[Partito Socialista Italiano|PSI]] und mit Einschränkungen auch die [[Democrazia Cristiana|DC]]&nbsp;– gleichermaßen zum Erbe der Resistenza. Die offene Verehrung für den ''Duce'' blieb dem neofaschistischen [[Movimento Sociale Italiano|MSI]] vorbehalten, der bei Wahlen in seinen Hochburgen in Mittel- und Süditalien zum Teil über 20 Prozent der Stimmen erhielt. Weniger sichtbar, aber politisch gewichtiger waren die in den Netzwerken des italienischen Bürgertums sowie im Militär-, Polizei- und Geheimdienstapparat konservierten faschistischen Orientierungen.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;343.</ref> Bereits in den Nachkriegsjahrzehnten pflegte ein einflussreicher Teil der italienischen Publizistik – prominent etwa der konservative Journalist und vielgelesene Sachbuchautor [[Indro Montanelli]] – das Bild vom „guten Onkel Mussolini“, der als paternalistischer Diktator nichts Schlimmeres getan habe als „Grimassen zu schneiden“.<ref>Aram Mattioli: ''„Viva Mussolini!“ Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Paderborn 2010, S.&nbsp;73.</ref> Die Veröffentlichung des ersten Teils des dritten Bandes der Mussolini-Biographie [[Renzo De Felice]]s und die anschließende, durch ein Interview mit dem [[Neokonservatismus|neokonservativen]] amerikanischen Autor Michael Ledeen<ref>Renzo De Felice: ''Intervista sul fascismo.'' Bari 1975. Deutsche Übersetzung: ''Der Faschismus.'' Ein Interview von Michael A. Ledeen (Nachwort von [[Jens Petersen (Historiker)|Jens Petersen]]), Stuttgart 1977.</ref> ausgelöste Kontroverse signalisierte 1974/75 den Übergang maßgeblicher Zeithistoriker auf „anti-antifaschistische“ Positionen. De Felices Konsens-These und seine Unterscheidung zwischen faschistischem „Regime“ und faschistischer „Bewegung“ (der er grundsätzlich auch Mussolini zuordnete), die nicht reaktionär und repressiv, sondern zukunftsorientiert, optimistisch und von den modernisierungswilligen „aufsteigenden Mittelschichten“ getragen gewesen sei, wiesen linke Kritiker wie der Historiker [[Nicola Tranfaglia]] als großangelegten „Versuch einer Rehabilitierung der faschistischen Bewegung“ zurück.<ref>Zitiert nach Wolfgang Schieder: ''Benito Mussolini.'' In: ders.: ''Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland.'' Göttingen 2008, S.&nbsp;54. Eine Zusammenfassung der Auseinandersetzung bietet Richard J. B. Bosworth: ''Explaining Auschwitz and Hiroshima. History Writing and the Second World War 1945–1990.'' London / New York 1993, S.&nbsp;134–137.</ref><br />
<br />
Nach 1980 traten im öffentlichen Diskurs über Mussolini und das faschistische Regime immer deutlicher relativierende Züge hervor, von der zunächst vorsichtigen Infragestellung tatsächlicher oder vermeintlicher „Legenden“ der antifaschistischen Erinnerungskultur zur offenen Rechtfertigung des ''Duce.'' Zur Jahreswende 1987/88 sagte De Felice, unterstützt von Journalisten wie Montanelli und Stimmen aus dem Umfeld des ehemaligen Ministerpräsidenten [[Bettino Craxi]], der „offiziellen Kultur des Antifaschismus“ in mehreren Zeitungsbeiträgen den Kampf an.<ref>Siehe Bosworth: ''History Writing,'' S.&nbsp;138 f.</ref> Auf dem Höhepunkt dieser Kampagne wurde der Mussolini der Jahre 1943–45 in einem 1995 in Buchform veröffentlichten und mehrfach neu aufgelegten umfangreichen Interview ''(Rosso e Nero)'' als „tragischer Held“ dargestellt, der sich für das Vaterland geopfert habe.<ref>Mattioli: ''Aufwertung,'' S.&nbsp;74.</ref> Mit dem [[Mani pulite|Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems]] zu Beginn der 1990er Jahre und der Neugruppierung des konservativen Lagers um [[Silvio Berlusconi]] in den Jahren danach setzte sich auch im Mainstream der italienischen Politik eine zum Teil offene Apologie Mussolinis durch. Grundsätzlich kritisiert werden seither häufig nur noch die Rassengesetze des Jahres 1938 und das „verhängnisvolle“ Bündnis mit Deutschland. 2003 erregte Berlusconi mit der Äußerung Aufsehen, Mussolini sei für keinen einzigen Toten verantwortlich, zudem seien die Straflager und Gefängnisse des Regimes „Ferienlager“ gewesen.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945.'' London 2006, S.&nbsp;531.</ref> Als Ministerpräsident ließ Berlusconi es zu, dass Anhänger ihn bei öffentlichen Auftritten mit dem ''[[saluto romano]]'' grüßten und mit „Duce, Duce“-Rufen feierten.<ref>Mattioli: ''Aufwertung,'' S.&nbsp;51.</ref> Der Schweizer Historiker [[Aram Mattioli]] konstatierte 2010 eine inzwischen durchgesetzte „revisionistische ‚Normalität‘“,<ref>Mattioli: ''Aufwertung,'' S.&nbsp;9.</ref> die bis hinein in die „Mitte der Gesellschaft“ nicht mehr als problematisch empfunden werde – mit Straßenbenennungen, „guten Faschisten“ als Filmhelden und Gesetzesvorschlägen, „die Mussolinis letztes Aufgebot und die Kollaborateure von Salò den Kämpfern der Resistenza gleichstellen wollen“.<ref>Mattioli: ''Aufwertung,'' S.&nbsp;11.</ref><br />
<br />
Der australische Historiker [[Richard James Boon Bosworth|Richard Bosworth]] sieht für diese Neubewertung drei Wurzeln:<br />
# Die durch Renzo De Felices monumentale Mussolini-Biographie angestoßene konservative Trendwende in der italienischen Faschismus-Historiographie, die in den 1990er Jahren durch eine Welle autobiographischer Veröffentlichungen von Altfaschisten flankiert und international durch die „[[Kulturalismus|kulturalistische]]“ Strömung der Geschichtswissenschaft begünstigt wurde, die sich weniger für politische Herrschaft und deren Inhalte interessiert,<br />
# die durch das völlige Verschwinden des Nachkriegsparteiensystems besonders weit fortgeschrittene „Entideologisierung“ der italienischen Alltagskultur, in deren Sog auch die jüngere Geschichte des Landes in den „Schmelztiegel des [[Infotainment]]“ geraten ist,<br />
# der in den großen Medien omnipräsente Gestus des „Anti-Antifaschismus“ und die prominent im Umfeld von [[Silvio Berlusconi|Berlusconi]] vertretene These, der „Kommunismus“ sei letztlich für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und die Probleme der italienischen Nachkriegsgeschichte verantwortlich.<ref>Bosworth: ''Mussolini.'' S.&nbsp;344 f.</ref><br />
<br />
Mussolinis Ehrenbürgerschaft wurde in mehreren italienischen Städten, darunter [[Anzio]]<ref>{{Internetquelle |autor= |hrsg= |url=https://www.juedische-allgemeine.de/politik/auschwitz-ueberlebende-lehnt-friedenspreis-ab/?q=Mussolini |titel=Auschwitz-Überlebende lehnt Friedenspreis ab |werk=Jüdische Allgemeine |datum=2021-11-03 |abruf=2021-11-05}}</ref>, bis heute nicht ausdrücklich widerrufen. Der Gemeinderat von [[Salò]] hat am 26. Februar 2025 Mussolini postum die Ehrenbürgerschaft entzogen.<ref>''Salò entzieht Mussolini die Ehrenbürgerschaft''. In: ''Spiegel online'', 27. Februar 2025 ([https://www.spiegel.de/panorama/italien-salo-entzieht-benito-mussolini-die-ehrenbuergerschaft-a-2a814068-f7ff-4682-ab14-d8c82823b066 spiegel.de]).</ref><br />
<br />
{{Anker|Mussolinismus}}Für die Regierungsform unter Benito Mussolini hat sich unter anderem durch Publikationen die Bezeichnung Mussolinismus etabliert.<ref>''[https://www.spiegel.de/politik/furcht-vor-dem-boesen-blick-a-2c21806d-0002-0001-0000-000014018229 Furcht vor dem »bösen Blick«]'' von [[Heinz Höhne]], [[Der Spiegel]] 24. Juli 1983</ref><ref>''[https://www.tagesspiegel.de/kultur/kein-neuer-duce/291076.html Kein neuer Duce],'' von Gian Enrico Rusconi, [[Der Tagesspiegel]] 15. Februar 2002</ref><ref>[[Georg-August-Universität Göttingen]] 4. Mai 2004: ''[https://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?archive=true&archive_id=1374&archive_source=presse Presseinformation: Gastvortrag über das „Leben im faschistischen Italien“]''</ref><ref>''[https://www.lit-verlag.de/isbn/978-3-643-13642-8?c=8160 Totalitäre Körper-Kultur Ein Jahrhundert Leistungssport]'' Buch von [[Peter Kühnst]], 2018</ref><br />
<br />
== Quellen ==<br />
'''Editionen und Dokumentensammlungen'''<br />
* [[Renzo De Felice]] (Hrsg.): ''Autobiografia del fascismo. Antologia di testi fascisti 1919–1945.'' Bergamo 1978.<br />
* Renzo De Felice (Hrsg.): ''Galeazzo Ciano. Diario 1937–1943.'' Mailand 1980.<br />
* [[Charles Delzell]] (Hrsg.): ''Mediterranean Fascism 1919–1945.'' London 1971.<br />
* Giordano Bruno Guerri (Hrsg.): ''Giuseppe Bottai. Diario 1935–1944.'' Mailand 1982.<br />
* Giordano Bruno Guerri (Hrsg.): ''Rapporto al Duce. Il testo stenografico inedito dei colloqui tra i federali e Mussolini nel 1942.'' Mailand 1978.<br />
* Edoardo Susmel, Duilio Susmel (Hrsg.): ''Opera omnia di Benito Mussolini.'' 36 Bände. Florenz 1951–1963. (Neuauflage mit 8 Ergänzungsbänden Rom 1978–1980.)<br />
* Mauro Suttora (Hrsg.): ''Claretta Petacci. Mussolini segreto. Diari 1932–1938.'' Mailand 2009.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Überblickswerke und Biographien ===<br />
* [[Margherita Sarfatti|Margherita G. Sarfatti]]: ''Mussolini – Lebensgeschichte.'' Herausgegeben von Alfred M. Balte. Einzig autorisierte Deutsche Ausgabe. Paul List Verlag, Leipzig 1927.<br />
* [[Richard James Boon Bosworth|Richard J. B. Bosworth]]: ''Dictators, Strong or Weak? The Model of Benito Mussolini.'' In: Richard J. B. Bosworth (Hrsg.): ''The Oxford Handbook of Fascism.'' Oxford 2010, S.&nbsp;259–275.<br />
* Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini.'' London 2002.<br />
* Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship.'' London 2005.<br />
* Richard J. B. Bosworth: ''The Italian Dictatorship. Problems and perspectives in the interpretation of Mussolini and Fascism.'' London 1998.<br />
* Martin Clark: ''Mussolini.'' Harlow 2005.<br />
* Paul Corner: ''Italian Fascism: Whatever Happened to Dictatorship?'' In: ''The Journal of Modern History.'' Jg. 74 (2002), S.&nbsp;325–351.<br />
* Renzo De Felice: ''Mussolini.''<br />
** ''Il rivoluzionario 1883–1920.'' Turin 1965.<br />
** ''Il fascista.''<br />
*** ''La conquista del potere 1921–1925.'' Turin 1966.<br />
*** ''L’organizzazione dello Stato fascista 1925–1929.'' Turin 1968.<br />
** ''Il duce.''<br />
*** ''Gli anni del consenso 1929–1936.'' Turin 1974.<br />
*** ''Lo Stato totalitario 1936–1940.'' Turin 1981.<br />
** ''L’alleato.''<br />
*** ''L’Italia in guerra 1940–1943.''<br />
**** ''Dalla guerra “breve” alla guerra lunga.'' Turin 1990.<br />
**** ''Crisi e agonia del regime.'' Turin 1990.<br />
*** ''La guerra civile 1943–1945.'' Turin 1997.<br />
* Nicholas Farrell: ''Mussolini. A New Life.'' London 2003.<br />
* Giuseppe Finaldi: ''Mussolini and Italian Fascism.'' Harlow 2008.<br />
* MacGregor Knox: ''Mussolini Unleashed 1939–1941. Politics and Strategy in Fascist Italy’s Last War.'' Cambridge 1982.<br />
* Aurelio Lepre: ''Mussolini l’Italiano. Il Duce nel mito e nella realtà.'' Mailand 1995.<br />
* [[Denis Mack Smith]]: ''Mussolini.'' London 1981.<br />
* [[Pierre Milza]]: ''Mussolini.'' Paris 1999.<br />
* Luisa Passerini: ''Mussolini immaginario. Storia di una biografia 1915–1939.'' Bari 1991.<br />
* Giorgio Pini, Duilio Susmel: ''Mussolini. L’uomo e l’opera.'' 4 Bände, Florenz 1953–1955 (Die erste umfangreiche Nachkriegsbiographie Mussolinis wird trotz des faschistischen Hintergrunds der Verfasser wegen ihres Detailreichtums bis in die Gegenwart als Referenz herangezogen.)<br />
* [[Wolfgang Schieder]]: ''Benito Mussolini.'' In: Wolfgang Schieder: ''Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland.'' Göttingen 2008, S.&nbsp;31–56.<br />
* Wolfgang Schieder: ''Benito Mussolini.'' Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66982-8.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Mussolini. Der erste Faschist.'' 2., korrigierte Auflage. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69837-8.<br />
* [[Rengha Rodewill]]; [[Hans Pappenheim|Hans E. Pappenheim]]: ''Mussolini. Wandlung zum Interventiunismus'' (Inauguraldissertation v. Hans E. Pappenheim, Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1935'').'' Beiträge v. Margherita Sarfatti: ''Mussolini. Lebensgeschichte.'' S. IX, XI, 1–87; Paul List Verlag Leipzig 1926 (1. Aufl.), Rachele Mussolini: ''„Mussolini ohne Maske“ – Die Frau des Duce berichtet.'' S.&nbsp;40–58, 67–80, 116–133; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1974. artesinex verlag, Berlin 2023 (E-Book), ISBN 978-3-9821614-8-8.<br />
<br />
=== Der frühe Mussolini ===<br />
* Giorgio Fabre: ''Mussolinis engagierter früher Antisemitismus.'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' 90, 2010, S.&nbsp;346–372. [https://perspectivia.net/publikationen/qfiab/90-2010/0346-0372 (online)]<br />
* [[Klaus Heitmann (Romanist)|Klaus Heitmann]]: ''Delenda Germania! Deutschland aus der Sicht des jungen Mussolini.'' In: ''[[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]].'' 90, 2010, S.&nbsp;311–345. [https://perspectivia.net/publikationen/qfiab/90-2010/0311-0345 (online)]<br />
* Paul O’Brien: ''Mussolini in the First World War. The Journalist, the Soldier, the Fascist.'' Oxford / New York 2005.<br />
* Hans Woller: ''Ante portas. Mussolini in Trient 1909.'' In: [[Hannes Obermair]], Stephanie Risse, [[Carlo Romeo (Historiker, 1962)|Carlo Romeo]] (Hrsg.): ''Regionale Zivilgesellschaft in Bewegung – Cittadini innanzi tutto. Festschrift für Hans Heiss.'' Folio Verlag, Wien u.&nbsp;a. 2012, ISBN 978-3-85256-618-4, S.&nbsp;483–500.<br />
<br />
=== Letzte Monate ===<br />
* Giorgio Cavalleri, Franco Giannantoni, Mario J. Cereghino: ''La fine. Gli ultimi giorni di Benito Mussolini nei documenti dei servizi segreti americani 1945–1946.'' Mailand 2009.<br />
* [[Sergio Luzzatto]]: ''Il corpo del Duce. Un cadavere tra immaginazione, storia e memoria.'' Turin 1998.<br />
* Pierre Milza: ''Les derniers jours de Mussolini.'' Paris 2012.<br />
* Ray Moseley: ''Mussolini. The last 600 days of Il Duce.'' Dallas 2004.<br />
* Morgan Philip: ''The Fall of Mussolini. Italy, the Italians and the Second World War.'' Oxford 2008.<br />
<br />
=== Verhältnis zu Hitler und Deutschland ===<br />
* Frederick William Deakin: ''Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussolini und der Untergang des italienischen Faschismus.'' Aus dem Englischen von Karl Römer. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1962.<br />
* [[Lutz Klinkhammer]]: ''Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò'' (= ''Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom.'' Bd. 75). Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-82075-6.<br />
* [[Jobst Knigge]]: ''Angst vor Deutschland – Mussolinis Deutschlandbild.'' Kovac, Hamburg 2015, ISBN 978-3-8300-8340-5.<br />
* MacGregor Knox: ''Common Destiny. Dictatorship, Foreign Policy, and War in Fascist Italy and Nazi Germany.'' Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-58208-3.<br />
* Pierre Milza: ''Conversations Hitler-Mussolini 1934–1944.'' Fayard, Paris 2013, ISBN 978-2-213-66893-2.<br />
* Wolfgang Schieder: ''Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce.'' Oldenbourg, München 2013, ISBN 978-3-486-70937-7.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Machtpolitisches Kalkül oder ideologische Affinität? Zur Frage des Verhältnisses zwischen Mussolini und Hitler vor 1933.'' In: [[Wolfgang Benz]], [[Hans Buchheim]], [[Hans Mommsen]] (Hrsg.): ''Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft.'' Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11984-7, S.&nbsp;42–63.<br />
<br />
=== Biografischer Roman ===<br />
* [[Antonio Scurati]]: ''M. Il figlio del secolo''. Bompiani, Mailand 2018, ISBN 978-88-452-9813-4.<br />
** ''M. Der Sohn des Jahrhunderts.'' Aus dem Italienischen von [[Verena von Koskull]]. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-608-98567-2.<br />
* Antonio Scurati: ''M. L’uomo della provvidenza''. Bompiani, Mailand/Florenz 2020, ISBN 978-88-301-0265-1.<br />
** ''M. Der Mann der Vorsehung''. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-608-98567-2.<br />
* Antonio Scurati: ''M. Gli ultimi giorni d’Europa''. Bompiani, Mailand/Florenz 2022, ISBN 978-88-301-0496-9.<br />
** ''M. Die letzten Tage von Europa''. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-608-98727-0.<br />
* Antonio Scurati: ''M. L’ora del destino.'' Bompiani, Mailand/Florenz 2024, ISBN 978-88-301-0497-6.<br />
** ''M. Das Buch des Krieges.'' Aus dem Italienischen von Verena von Koskull und Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, ISBN 978-3-608-98827-7<br />
* ''M. La fine e il principio.'' Bompiani, Mailand/Florenz 2025, ISBN 978-88-301-0698-7.<br />
<br />
==== Verfilmung ====<br />
Unter der Regie von [[Joe Wright]] wurde Band 1 des biografischen Romans unter dem gleichnamigen Titel [[M. Il figlio del secolo]] als achtteilige Miniserie verfilmt. Premiere war bei den [[Internationale Filmfestspiele von Venedig 2024|Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2024]]. Die Fernsehproduktion wurde 2025 in Italien erstausgestrahlt.<br />
<br />
== Dokumentarfilme ==<br />
* arte.tv / [[Istituto Luce]]: [https://www.youtube.com/watch?v=E-s0xisHb6E ''Mussolini – Der große Verführer''] Deutschland, Frankreich, Italien 2003, 43 Minuten.<br />
* zdf.de: [https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/despoten-mussolini-ikone-des-faschismus-102.html ''Mussolini – Ikone des Faschismus''] Deutschland 2015, 43 Minuten.<br />
* arte.tv: [https://www.arte.tv/de/videos/106130-003-A/chronik-einer-diktatur/ ''Benito Mussolini''] (aus der Reihe ''Chronik einer Diktatur''). USA 2021, 54 Minuten.<!-- producer: Patrick Cameron, https://www.pbs.org/tpt/dictators-playbook/episodes/benito-mussolini/ ---><br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|audio=1|video=1}}<br />
{{Wikiquote}}<br />
{{Wiktionary|Duce}}<br />
'''Ressourcen'''<br />
* {{DNB-Portal|118585967}}<br />
* {{DDB|Person|118585967}}<br />
* {{OL-Autor|OL115575A|Benito Mussolini}}<br />
* {{Pressemappe|FID=pe/012744}}<br />
* [https://opac.sbn.it/opacsbn/opaclib?db=solr_auth&resultForward=opac/iccu/full_auth.jsp&from=1&nentries=10&searchForm=opac/iccu/error.jsp&do_cmd=search_show_cmd&fname=none&sortquery=+BY+%40attrset+bib-1++%40attr+1%3D1003&sortlabel=Nome&saveparams=false&item:5019:VID::@frase@=CFIV092078 Normeintrag] im Opac des [[Servizio Bibliotecario Nazionale]] (SBN)<br />
* {{IMDb|nm0615907}}<br />
'''Biographisches'''<br />
* {{DBI|Autor=|ID=benito-mussolini_(Dizionario-Biografico)|Lemma=Mussolini, Benito|Band=|SeiteVon=|SeiteBis=|Kommentar=}} (italienisch)<br />
* {{Britannica |id=biography/Benito-Mussolini |titel=Benito Mussolini |abruf=2021-02-23 |autor= |abruf-verborgen=1}}<br />
* {{HLS|27903|Benito Mussolini|Autor=Mauro Cerutti|Datum=2010-04-06}}<br />
* [[Andreas Hillgruber]]: [https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1415 ''Mussolini, Benito.''] In: [[Mathias Bernath]], Felix von Schroeder (Hrsg.): ''Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas.'' Band 3. München 1979, S.&nbsp;263–266 (Onlineausgabe).<br />
* {{Munzinger|00000000187|Benito Mussolini||in: ''Internationales Biographisches Archiv'' 12/1958 vom 10. März 1958}}<br />
* [[Manfred Wichmann]]: {{DHM-HdG|Bio=benito-mussolini|Titel=Benito Mussolini}}, 14. September 2014.<br />
* Noëmi Crain Merz: [https://blog.nationalmuseum.ch/2025/04/mussolini-in-der-schweiz/ ''Mussolini und die Schweiz''.] Im Blog des [[Schweizerisches Nationalmuseum|Schweizerischen Nationalmuseums]] vom 17. April 2025.<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{NaviBlock<br />
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}}<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=p|GND=118585967|LCCN=n78095482|NDL=00450900|VIAF=90162262}}<br />
<br />
{{SORTIERUNG:Mussolini, Benito}}<br />
[[Kategorie:Benito Mussolini| ]]<br />
[[Kategorie:Ministerpräsident (Königreich Italien)]]<br />
[[Kategorie:Außenminister (Königreich Italien)]]<br />
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[[Kategorie:Geboren 1883]]<br />
[[Kategorie:Gestorben 1945]]<br />
[[Kategorie:Mann]]<br />
<br />
{{Personendaten<br />
|NAME=Mussolini, Benito<br />
|ALTERNATIVNAMEN=Mussolini, Benito Amilcare Andrea (vollständiger Name); Duce<br />
|KURZBESCHREIBUNG=italienischer Politiker, Mitglied der Camera dei deputati und faschistischer Diktator<br />
|GEBURTSDATUM=29. Juli 1883<br />
|GEBURTSORT=[[Predappio|Dovia di Predappio]], Provinz Forlì<br />
|STERBEDATUM=28. April 1945<br />
|STERBEORT=[[Mezzegra|Giulino di Mezzegra]], Provinz Como<br />
}}</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_Italiens&diff=255675107Geschichte Italiens2025-05-03T01:09:22Z<p>ImageUploader12345: /* 1935–1943: Abessinienkrieg, Spanienkrieg und erste Jahre des Zweiten Weltkriegs */ Sorry I don't speak German, hopr Google can help translate this for you, but I am putting in the common variant of this flag that was repeatedly seen being used on public buildings in Fascist Italy and during Fascist state sponsored events.</p>
<hr />
<div>Die '''Geschichte Italiens''' umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der [[Italien|Italienischen Republik]] von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Sie lässt sich 1,3 bis 1,7 Millionen Jahre zurückverfolgen, wobei der [[Cro-Magnon-Mensch|''moderne'' Mensch]] vor etwa 43.000 bis 45.000 Jahren in [[Italien]] auftrat und noch mehrere Jahrtausende neben dem [[Neandertaler]] lebte. Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen seiner Existenz. Etwa 6100 v.&nbsp;Chr. brachten erste Gruppen von außerhalb der [[Apenninhalbinsel]] – wohl über See aus Süd[[anatolien]] und dem [[Naher Osten|Nahen Osten]] – die [[Neolithikum|Landwirtschaft]] mit; die [[Jäger und Sammler]] verschwanden. Im 2.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. setzte eine Entwicklung ein, die aus den Dörfern frühe stadtähnliche Siedlungen machte. Die Gesellschaften wiesen um diese Zeit erstmals deutliche Spuren von [[Hierarchie]]n auf.<br />
<br />
[[Datei:Targa unesco na.jpg|mini|Tafel der UNESCO zur Bezeichnung als Weltkulturerbe, hier Neapel. Die mehr als 50 in Italien befindlichen Stätten reichen von einzelnen Gebäuden über ganze Kernstädte bis zu thematisch übergreifenden Gruppen wie den [[Felsbilder des Valcamonica|Felsbildern des Valcamonica]], prähistorischen [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Pfahlbauten]], den mit der Herrschaft der [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Langobarden]] verbundenen Orten oder einer Gruppe [[Spätbarocke Städte des Val di Noto|spätbarocker Städte]].]]<br />
<br />
Die durch [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Schriftquellen]] belegte Geschichte Italiens beginnt erst nach der Besiedlung durch [[Italiker|italische Völker]]. Neben ihnen erlebte die Kultur der [[Etrusker]], deren Herkunft ungeklärt ist, um 600 v.&nbsp;Chr. ihre Blütezeit. Im 8.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr. hatte die [[griechische Kolonisation]] des süditalienischen Festlandes und [[Sizilien]]s begonnen, an der Westküste der Insel siedelten [[Phönizier]]. Diese Kolonien gehörten später zu [[Karthago]]. Die meisten Gebiete Norditaliens wurden von [[Gallier]]n besiedelt.<br />
<br />
Ab dem 4. Jahrhundert v.&nbsp;Chr. setzte die Expansion [[Rom]]s ein, 146 v.&nbsp;Chr. wurden [[Korinth (antike Stadt)|Korinth]] und Karthago zerstört, die Eroberung des Mittelmeerraums, später auch von Teilen Mittel- und Nordeuropas brachte kulturelle Einflüsse und Menschen aus dem gesamten Reich und den angrenzenden Gebieten nach Italien. Die Halbinsel bildete das Zentrum des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] und blieb es mit Einschränkungen bis zum Untergang Westroms um 476. Dabei verwandelte sich die agrarische Wirtschaftsbasis, die anfangs aus Bauern bestanden hatte, zu einem System weiträumiger [[Latifundium|Latifundien]] auf der Basis von [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklavenarbeit]]. Ein dichtes [[Römerstraße|Straßennetz]] verband die expandierenden Städte, dank dessen der Warenaustausch, aber auch die Abhängigkeit von externen Gütern, wie Weizen und [[Olivenöl]] aus Nordafrika, anwuchsen. In der [[Spätantike]] erschienen neben der Sklaverei und den freien Bauern auf dem Land Formen der Bindung an den Boden, wie das [[Kolonat (Recht)|Kolonat]], wenngleich noch um 500 zwischen freien und unfreien Kolonen unterschieden wurde ([[Kolonenedikt des Anastasius]]). Im 4.&nbsp;Jahrhundert wurde das Christentum als Staatsreligion durchgesetzt.<br />
<br />
Ab dem 5. Jahrhundert kam Italien unter die Herrschaft [[Germanen|germanischer Stämme]], die Bevölkerung ging bis um 650 drastisch zurück, kurzzeitig eroberte [[Byzantinisches Reich|Ostrom]] im 6.&nbsp;Jahrhundert das ehemalige Kerngebiet des Reiches. Die Städte schrumpften drastisch, das Straßensystem verfiel, fast nur der Handel über die Gewässer bestand fort. Im 8.&nbsp;Jahrhundert wurde der von den [[Langobarden]] etwa zwei Jahrhunderte lang beherrschte Norden dem [[Fränkisches Reich|Frankenreich]] angegliedert, später dem [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reich]], während im Süden Araber und Byzantiner herrschten, ab dem 11. Jahrhundert [[Normannen]]. In den meisten Regionen setzte sich im [[Frühmittelalter]] der [[Feudalismus]] durch, dessen Zusammenhänge mit dem spätrömischen [[Kolonat (Recht)|Kolonat]] äußerst komplex sind. Die oberitalienischen Kommunen, die sich etwa im [[Lombardenbund]] zusammenfanden, konnten sich im 12. und 13. Jahrhundert vom Einfluss des Reichs lösen und eigene Territorien errichten. Von dieser Vielzahl an Territorien waren die bedeutendsten [[Mailand]], die Seemächte [[Republik Genua|Genua]] und [[Republik Venedig|Venedig]], [[Florenz]] und Rom sowie der Süden Italiens, der teils französisch, teils spanisch war. Eine zentrale Rolle spielte die Tatsache, dass der Bischof von Rom zum [[Papst]] der westlichen Kirche aufstieg, es 1054 zur Trennung von der östlichen Kirche kam und der Papst in langwierige Auseinandersetzungen mit den [[Heiliges Römisches Reich|römisch-deutschen Königen]], dann mit dem französischen König [[Philipp IV. (Frankreich)|Philipp IV.]] geriet. Letzterer zwang den Papst 1309 ins [[Avignonesisches Papsttum|Exil nach Avignon]], das bis 1378 andauerte. Die Rückkehr der Päpste nach Rom beschleunigte den Aufbau des [[Kirchenstaat]]s in Mittelitalien, der bis 1870 die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel erheblich beeinflusste.<br />
<br />
Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert war Italien das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der [[Renaissance]]. Fünf führende Mächte hatten sich herauskristallisiert, wobei der Kirchenstaat eine ganz eigene Rolle spielte. Ab dem späten 15., vor allem aber im 16. und 17. Jahrhundert mischten sich die europäischen Großmächte – Frankreich, Spanien und Österreich – immer wieder in die italienische Politik ein. Sie schotteten dabei in verschiedenem Maße ihre Märkte gegen auswärtige Waren ab. Gleichzeitig übte das [[Osmanisches Reich|Osmanische Reich]] ab dem späten 14. Jahrhundert starken militärischen Druck insbesondere auf die [[Republik Venedig]] aus. Dennoch strahlten die italienischen Kulturmetropolen, allen voran Rom, Florenz und Venedig, weit über Italien und Europa aus.<br />
<br />
Nach vier Jahrhunderten der Zersplitterung und Fremdherrschaft wurde die Halbinsel im Zuge der Nationalbewegung des [[Risorgimento]] politisch vereint. Der moderne italienische Staat besteht seit 1861, 1866 kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] hinzu, nach dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] [[Julisch Venetien]] (Triest und Görz), das [[Trentino]] und [[Südtirol]]. [[Kolonialismus|Kolonialkriege]] führte Italien vor allem in [[Libyen]] (1951 unabhängig) und [[Äthiopien]] ([[Schlacht von Adua]] 1896, [[Abessinienkrieg]] 1935/36). 1922 bis 1943 regierten die [[Italienischer Faschismus|Faschisten]] unter [[Benito Mussolini]] in Italien, in den letzten beiden Kriegsjahren kontrollierten die deutschen [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] weite Teile des Landes, bis dieses von den [[Alliierte]]n und Partisanengruppen befreit wurde.<br />
<br />
1946 entschied sich das italienische Volk für die Abschaffung der [[Königreich Italien (1861–1946)|Monarchie]] zugunsten der [[Republik]]. Erstmals durften auch Frauen wählen. Seither prägen häufige Regierungswechsel die politische Kultur, bis Anfang der 1990er Jahre unter durchgehender Beteiligung der [[Democrazia Cristiana]]. Dabei verweisen bis zum Ende des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] Auseinandersetzungen um den [[Eurokommunismus]], teils militant geführte politische Auseinandersetzungen, der Gegensatz zwischen Nord- und Süditalien, der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche|katholischen Kirche]], aber auch [[Korruption]] bis in die politischen Führungsgruppen und [[organisierte Kriminalität]] auf einige der zentralen [[Cleavage-Theorie|Konfliktlinien]] der Gesellschaft. Der Zusammenbruch des alten Parteiensystems und eine Verfassungsänderung im Zuge der [[Tangentopoli]]-Affäre zu Beginn der 1990er Jahre markierte einen politischen Einschnitt und den Übergang zur sogenannten Zweiten Republik.<br />
<br />
== Ur- und Frühgeschichte ==<br />
{{Hauptartikel|Urgeschichte Italiens}}<br />
<br />
=== Paläolithikum: Jäger, Sammler, Fischer (1,3 Millionen Jahre) ===<br />
[[Datei:Caverna delle Arene Candide-ritrovamenti Piccolo Principe-museo archeologia ligure.jpg|mini|Menschliche Überreste des „Kleinen Prinzen“, der vor etwa 23.000 Jahren in [[Ligurien]] beigesetzt wurde. Ihm war ein Pelzumhang beigegeben worden, der aus 400 Vertikalstreifen aus Eichhörnchenfellen bestand.<ref>Art. ''Mantel.'' In: [[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], Band 19, hier: S. 239.</ref> Museo di archeologia ligure von Genua Pegli]]<br />
<br />
Die [[Ausgrabung]]en von [[Pirro Nord]] in [[Apulien]], wo sich die ältesten menschlichen Spuren Italiens fanden, belegen, dass [[Jäger und Sammler]] dort vor 1,3 bis 1,7 Millionen Jahren lebten.<ref>Marta Arzarello, Federica Marcolini, Giulio Pavia, Marco Pavia, Carmelo Petronio, Mauro Petrucci, Lorenzo Rook, Raffaele Sardella: ''L’industrie lithique du site Pléistocène inférieur de Pirro Nord (Apricena, Italie du sud): une occupation humaine entre 1,3 et 1,7 Ma / The lithic industry of the Early Pleistocene site of Pirro Nord (Apricena South Italy): The evidence of a human occupation between 1.3 and 1.7 Ma'' In: L’Anthropologie 113,1 (2009), S.&nbsp;47–58.</ref> Seit etwa 700.000 Jahren ist Italien wohl durchgehend von Menschen bewohnt.<ref>Margherita Mussi: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic.'' Kluwer Academic/Plenum Publishers, New York 2001, S.&nbsp;18.</ref> Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen der Existenz, wobei sich hüttenartige Strukturen neben Höhlen schon für die Zeit vor 230.000 Jahren nahe der französisch-italienischen Grenze als Wohnstätten nachweisen lassen.<ref>Paolo Villa: ''Terra Amata and the Middle Pleistocene archaeological record of southern France.''University of California Press, Berkeley 1983, S.&nbsp;54f.</ref> Der Gebrauch von Feuer ist seit dieser Zeit archäologisch gesichert nachgewiesen.<ref>[[Wil Roebroeks]], Paola Villa: ''On the earliest evidence for habitual use of fire in Europe.'' In: [[Proceedings of the National Academy of Sciences]] 108,13 (2011), S. 5209–5214.</ref><br />
<br />
Im [[Mittelpaläolithikum]] war ganz Italien bewohnt, mit Ausnahme der Inseln [[Sardinien]] und Sizilien. Vor 45.000 bis 43.000 Jahren sind erstmals [[Cro-Magnon-Mensch]]en nachgewiesen. Zwei Zähne aus der ''[[Grotta del Cavallo]]'' wurden entsprechend datiert und gelten als der älteste Beleg für die Existenz des anatomisch modernen Menschen in Europa.<ref>Stefano Benazzi u. a.: ''Early dispersal of modern humans in Europe and implications for Neanderthal behaviour.'' In: ''[[Nature]].'' Band 479, 2011, S. 525–528, [[doi:10.1038/nature10617]]</ref> Einige Jahrtausende später verschwand der [[Neandertaler]]. Nach dem Ende der [[Würmeiszeit]] nahm die Sesshaftigkeit zu, insbesondere an den Küsten, wo Fischfang dominierte. Daneben entstanden in den Hoch- und Mittelgebirgsregionen Hirtenkulturen. Die erste neolithische Kultur Süditaliens war die [[Cardial- oder Impressokultur]], die etwa um 6200 v. Chr. durch Einflüsse aus dem östlichen Mittelmeerraum entstand. Durch Vergleich mit dem Flächenbedarf ähnlicher Gesellschaften ließ sich als grober Näherungswert eine Zahl von 60.000 menschlichen Bewohnern berechnen.<ref>Fulco Pratesi: ''Storia della natura d’Italia'', Soveria Manelli: Rubbettino Editore, 2010, o. S. (Abschnitt ''Un mondo in equilibrio'').</ref> Die Männer waren im Schnitt 1,66–1,74 m groß, Frauen 1,50–1,54 m.<br />
<br />
=== Neolithikum: Landwirtschaft und Dörfer (ab 6100 v. Chr.) ===<br />
Die ersten Ackerbauern ließen sich zwischen 6100 und 5800 v.&nbsp;Chr. im Süden der Halbinsel nieder.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1. Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;28ff.</ref> Sie kamen über die griechischen Inseln, vor allem über Kreta, aus Südanatolien und dem Nahen Osten.<ref>R. J. King, S. S. Özcan, T. Carter, E. Kalfoğlu, S. Atasoy, C. Triantaphyllidis, A. Kouvatsi, A. A. Lin, C.-E. T. Chow, L. A. Zhivotovsky, M. Michalodimitrakis, P. A. Underhill: ''Differential Y-chromosome Anatolian Influences on the Greek and Cretan Neolithic.'' In: Annals of Human Genetics 72 (2008), S. 205–214.</ref> Im Nordwesten bestanden [[Mesolithikum|mesolithische]] und Keramikkulturen noch um 5500 v. Chr. nebeneinander.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1.&nbsp;Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;32.</ref> Es entstanden verschiedene Dorftypen, Fernhandel bestand etwa mit [[Obsidian]] oder mit Beilen. Dabei fehlen im neolithischen Italien Anzeichen für eine Hierarchisierung der Gesellschaft. Die Männer waren kleiner als im Paläo- und im Mesolithikum, und auch später waren sie nie wieder so klein. So konnte festgestellt werden, dass Frauen im Durchschnitt 1,56&nbsp;m, Männer 1,66&nbsp;m groß waren.<ref>John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy.'' Cambridge University Press, Cambridge 2007, S. 36.</ref><br />
<br />
=== Metallzeitalter: autochthone Bevölkerung, Zuwanderung (Etrusker, Griechen, Karthager), Städte (ab 4200 v. Chr.) ===<br />
{{Linkbox Völker im Italien der Eisenzeit}}<br />
<br />
Um 4200 v. Chr. wurde in [[Ligurien]] als erstes Metall [[Kupfer]] verarbeitet;<ref>Im Val Petronio, östlich von Sestri Levante; vgl. Nadia Campana, Roberto Maggi, Mark Pearce: ''ISSEL DIXIT.'' In: ''La nascità della Paletnologia in Liguria. Atti del Convegno'', Bordighera 2008, S. 305–311. Der Titel bezieht sich auf [[Arturo Issel]] (1842–1922), der schon 1879 ein so hohes Alter des Kupferbergbaus vermutete.</ref> die [[Bronzezeit]] setzte im späten 3. Jahrtausend v. Chr. ein. Es entstanden erstmals proto-urbane Strukturen, in [[Kampanien]] fand sich eine solche „Stadt“ bei [[Poggiomarino]], die vom 17. bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. bestand. Diese „Bronzemetropole“ kam anscheinend ohne Verteidigungsanlagen aus.<ref>[http://www.zeit.de/2003/16/A-Vesuv ''Der Jahrtausendknall''], in: Die Zeit, 10. April 2003. Vgl. C. Albore Livadie: ''Territorio e insediamenti nell’agro Nolano durante il Bronzo antico (facies di Palma Campania): nota preliminare.'' In: ''Actes du colloque L’Eruzione vesuviana delle “Pomici di Avellino” e la facies di Palma Campania (Bronzo antico): Atti del Seminario internazionale di Ravello, 15-17 luglio 1994.'' Edipuglia, Bari 1999, S. 203–245.</ref><br />
<br />
In der Bronzezeit (ca. 2300/2200–950 v. Chr.) sind zahlreiche Kulturen erkennbar, deren Zuordnung zu den Völkern, die in den frühesten Schriftquellen auftauchen, nicht immer gesichert ist. Um 1500 v. Chr. kam es zudem erneut zu starken Zuwanderungen,<ref>[[Harald Haarmann]]: ''Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen'', München: Beck 2010. Ihm folgt die weitere Darstellung.</ref> die Dörfer wurden verstärkt befestigt. Funde wie im sizilianischen La Muculufa (bei [[Butera]]) belegen Weinanbau.<ref>Francesco Carimi, Francesco Mercati, Loredana Abbate, Francesco Sunseri: ''Microsatellite analyses for evaluation of genetic diversity among Sicilian grapevine cultivars'', in: Genet Resources and Crop Evolution 57 (2010) 703–719, hier: S. 704.</ref> Die [[Eisenzeit]], gelegentlich auch die späte Bronzezeit, gilt als Formatierungsphase der Stämme, die in den schriftlichen [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Quellen]] erscheinen. Auf zunehmende Macht einer Kriegerelite deutet die größere Menge an Waffenbeigaben hin. Zugleich wird ein weiträumiger Fernhandel bis in den östlichen Mittelmeerraum erkennbar. Etrusker und Griechen eroberten auf Städten basierende, zusammenhängende Herrschaftsgebiete, eine Entwicklung, die bald ganz Italien erfasste und die in der Herrschaft Roms gipfelte.<br />
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{{Hauptartikel|Etrusker|Magna Graecia}}<br />
[[Datei:Museo guarnacci, tomba del guerriero di poggio alle croci, elmo crestato 01.JPG|mini|Typischer Villanova-Helm aus der römischen Frühzeit, [[Museo Etrusco Guarnacci]] in [[Volterra]]]]<br />
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In Oberitalien lebten im 5. Jahrhundert v. Chr. die gerade eingewanderten [[Kelten]] (lateinisch ''Galli''), dann [[Lepontier]] und [[Ligurer]], im Nordosten [[Veneter (Adria)|Veneter]].<ref>Thomas Urban ''Studien zur mittleren Bronzezeit in Norditalien'', 1993. Allgemein zu den Venetern: Art. ''Veneter.'' In: ''[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]]'', Bd. 32, S. 133–138, ab S. 136 zu den oberitalienischen Venetern.</ref> Mittelitalien war von [[Umbrer]]n (im heutigen Umbrien); [[Latiner]]n, [[Sabiner]]n, [[Falisker]]n, [[Volsker]]n und [[Aequer]]n (im heutigen [[Latium]]) und [[Picener]]n<ref>Grundlegend: Luisa Franchi dell’Orto (Hrsg.): ''Die Picener. Ein Volk Europas. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. 1999'', Rom 1999.</ref> (Marken und nördliche Abruzzen) bewohnt. Im Süden waren [[Samniten]]<ref>Grundlegend: Gianluca Tagliamonte: ''I Sanniti: Caudini, Irpini, Pentri, Carricini, Frentani'', Longanesi, Mailand 1996.</ref> (südliche Abruzzen, [[Molise]] und [[Kampanien]]) ansässig; [[Japyger]] und [[Messapier]] in [[Apulien]]; [[Lukanier]] und [[Bruttium|Bruttii]]. Die [[Sikeler]] besiedelten den Ostteil Siziliens. Viele dieser Völker waren [[Indogermanen|indoeuropäischen]] Ursprungs, einige galten als ''[[Aborigines (Italien)|Aborigines]]''.<br />
Die [[Etrusker]] in Mittelitalien waren keine Indoeuropäer, möglicherweise die [[Sikaner]] auf Sizilien ebenfalls nicht. Auf Sardinien lebten [[Sarden]], die eventuell den [[Scherden]] in ägyptischen Quellen entsprechen.<br />
<br />
Ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. begann die [[griechische Kolonisation]] Süditaliens. Dabei wurden zahlreiche Städte sowohl auf dem Festland (darunter [[Tarent|Taras]], [[Cumae|Kyme]], [[Metapontion]], [[Sybaris]], [[Crotone|Kroton]], [[Reggio Calabria|Rhegion]], [[Paestum]] und [[Neapel]]) als auch auf Sizilien ([[Naxos (Sizilien)|Naxos]], [[Zankle]] und [[Syrakus]]) gegründet. Die griechisch besiedelten Gebiete wurden als ''[[Magna Graecia]]'' (Großgriechenland) bezeichnet. Ein Überbleibsel ist das noch heute gesprochene [[Griko]].<br />
<br />
Die [[Karthago|Karthager]], die sich zu einer bedeutenden See- und Handelsmacht entwickelt hatten, gründeten neben Kolonien auf [[Sizilien]] auch solche auf [[Sardinien]]. Sie gerieten während des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. in anhaltende Konflikte mit den [[Griechische Kolonisation|griechischen Kolonien]], vor allem mit [[Syrakus]]. Hingegen standen sie zeitweise mit den Etruskern im Bündnis. Auch mit Rom pflegte es bis 264 v. Chr. ein gutes Verhältnis. Karthago und Rom schlossen um 508 v. Chr. einen ersten Vertrag, 348 und 279 v. Chr. folgten weitere.<ref>Dazu Barbara Scardigli: ''I Trattati Romano-Cartaginesi. Introduzione, edizione critica, traduzione, commento e indici'', Scuola Normale Superiore, Pisa 1991.</ref><br />
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== Rom ==<br />
=== Italien im expandierenden Römerreich (4. Jahrhundert v. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) ===<br />
{{Hauptartikel|Römisches Reich|Römisches Italien}}<br />
[[Datei:Etruscan civilization map-de.png|mini|Die etruskischen Gebiete zur Zeit ihrer größten Ausdehnung mit den Städten des [[Zwölfstädtebund]]s]]<br />
[[Datei:Lupa Capitolina, Rome.jpg|mini|Die Wölfin stillt Romulus und Remus, die sagenhaften Gründer Roms. Die Wölfin stammt aus dem 13. Jahrhundert, die Zwillinge wurden im 15. Jahrhundert hinzugefügt, wie sich 2007 herausstellte.<ref>[http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7499469.stm ''Famed Roman statue „not ancient“''], BBC, 20. Juli 2008</ref> ]]<br />
[[Datei:Punic wars-fr.svg|mini|Der westliche Mittelmeerraum 279 v.&nbsp;Chr.]]<br />
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Rom<ref>Grundlegend zur Geschichte Roms in der Antike: [[Frank Kolb]]: ''Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike.'' Beck, München 2002.</ref> war im 8.&nbsp;Jahrhundert eine kleine bäuerliche Gemeinde, die aus mehreren Dörfern hervorgegangen war. Der traditionellen Überlieferung nach schüttelte es 509 v.&nbsp;Chr. die Königsherrschaft und die Dominanz der Etrusker ab. In der [[Mythologie|mythischen]] Erinnerung hatte die Expansion zunächst im Kampf mit den [[Sabiner]]n, dann gegen die Stadt [[Alba Longa]] begonnen. Auf diese frühe Phase wird die Entstehung der [[Patriziat (Römisches Reich)|Patrizier]] und der [[Plebejer]] zurückgeführt, ebenso die religiöser Einrichtungen, wie die Priesterschaft der [[Vestalin]]nen. Auf den etruskischen König [[Tarquinius Priscus]] führten die Römer den Bau der [[Cloaca Maxima]] oder des [[Kapitolinischer Tempel|Jupitertempels]] zurück. Mit dem Ende der Monarchie übernahm der [[Römischer Senat|Senat]] die wichtigste Rolle im entstehenden Staatswesen.<br />
<br />
Sein Herrschaftsgebiet dehnte Rom zunächst über Mittelitalien, dann zu einem Imperium über den gesamten [[Mittelmeerraum]] aus, um schließlich bis in den Nordseeraum und an den [[Persischer Golf|Persischen Golf]] zu gelangen. Erst nach drei Kriegen (343–341, 327–304 und 298–290 v. Chr.) gelang es, die [[Samniten]] zu unterwerfen.<ref>Lukas Grossmann: ''Roms Samnitenkriege. Historische und historiographische Untersuchungen zu den Jahren 327 bis 290 v. Chr.'' Wellem, Düsseldorf 2009, S. 115.</ref> Mit dem Sieg über den hellenistischen König von [[Epirus (historische Region)|Epirus]], [[Pyrrhos I.]], im Jahr 275 v. Chr. begann Rom den rein italischen Rahmen zu sprengen und seine Macht weiter auszudehnen.<br />
<br />
Diese Expansion überforderte bereits in den beiden ersten [[Punische Kriege|Punischen Kriegen]], die mit einer Unterbrechung von 264 bis 201 v. Chr. andauerten, die Ressourcen der Stadt, so dass es auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen war. Weitere Kriege führte Rom gegen die hellenistischen Reiche im Osten (200 bis 146 v. Chr.), die [[Gallien|Gallier]] Oberitaliens, deren Gebiet 191 v. Chr. zur Provinz [[Gallia cisalpina]] wurde, aber auch Gebiete in Südgallien. 175 v. Chr. folgte [[Ligurien]], dann die Griechen Süditaliens sowie die [[Numider]] in Nordafrika, nachdem Karthago 146 v. Chr. zerstört worden war. Schließlich folgte die Expansion nach [[Kleinasien]] (ab 133 v. Chr.) und auf die [[Iberische Halbinsel]] (bis 19 v. Chr.). 58 bis 51 v. Chr. wurde [[Gallischer Krieg|Gallien erobert]], die Grenze bis über den Rhein vorgeschoben, schließlich folgte (allerdings erst in der frühen Kaiserzeit) [[Britannien|Britannia]].<br />
<br />
Weder die Zentralisierung auf Rom noch der Macht- und Verwaltungsapparat waren geeignet, einen Flächenstaat dieser Größe zu steuern. Auch die Sozial- und Besitzverhältnisse brachten das Reich vielfach an den Rand des Auseinanderbrechens. Bauern- und [[Sklavenaufstände im Römischen Reich|Sklavenaufstände]] (vor allem 135, 104 und [[Spartacus|73–71]] v. Chr.) waren Folge der grundlegend veränderten Lebensbedingungen und der extremen Ungleichheit in den materiellen und rechtlichen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft. Daneben kam es zu einer Verstärkung des Einflusses [[Hellenismus|hellenistischer Kultur]], später auch der Kulturen des Nahen Ostens, die eine Veränderungen abgeneigte, konservative Senatsgruppe als Werteverfall wahrnahm.<br />
<br />
Hinzu kam ein weiteres Problem: Der Sieg Roms war nur durch Truppen der Verbündeten möglich. Da Rom jedoch seinen Bundesgenossen die rechtliche Gleichstellung verweigerte, kam es Ende des 2. Jahrhunderts zu Unruhen und 90/89 v. Chr. zum [[Bundesgenossenkrieg (Rom)|Bundesgenossenkrieg]]. Trotz ihrer Niederlage erhielten die Gemeinden Italiens das römische Bürgerrecht, 42 v. Chr. erhielten dieses Recht auch die bis dahin ausgeschlossenen Städte der [[Po-Ebene]]. Mit dem [[Zensus (Rom)|Zensus]] von 29/28 v. Chr. wurden schließlich alle [[Italiker]] in die Bürgerlisten eingetragen.<ref>[[Dietmar Kienast]]: ''Augustus, Prinzeps und Monarch.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 480.</ref> Damit wurde Italien zu einem einheitlichen, gegenüber dem übrigen Reich bevorzugten Rechtsraum. Dieser Zustand hielt bis 212 n. Chr. an, als allen Bürgern des Reiches das [[Römisches Bürgerrecht|römische Bürgerrecht]] mit den daran hängenden Pflichten verliehen wurde. Zudem war Italien, insbesondere Rom, ein Wirtschaftsraum, auf den fast alle Provinzen ausgerichtet waren. Zugleich musste es immer weniger die Lasten der Verteidigung des Riesenreichs tragen.<br />
<br />
Bis zur Herrschaft des [[Augustus]] litt Italien jedoch unter schweren Machtkämpfen, die mit dem Kampf zwischen [[Lucius Cornelius Sulla Felix|Sulla]] und [[Gaius Marius|Marius]] begannen, und denen soziale Auseinandersetzungen vorangegangen waren, die mit den [[Gracchische Reform|Gracchischen Reformen]] verbunden sind. Sie reichten ins frühe 5. Jahrhundert zurück, als das Amt des [[Volkstribun]]s geschaffen wurde. Diese Bürgerkriege fanden einen weiteren Höhepunkt mit den Kämpfen, aus denen zunächst [[Gaius Iulius Caesar]], dann Augustus als Sieger hervorgingen.<br />
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=== Pax Romana, Verwaltung und Wirtschaft (1. bis 2. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Meyers b9 s0067b.jpg|mini|Die von Augustus durchgesetzte Einteilung Italias in elf Regionen.]]<br />
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Die sich anschließende lange Friedensphase ([[Pax Romana]]) in Italien ließ Wirtschaft, Künste und Kultur aufblühen. Die Bevölkerungsdichte sollte erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden. Die Errungenschaften Roms im Bereich Recht, Verwaltung und Kunst haben die [[westliche Zivilisation]] zutiefst geprägt.<br />
<br />
Die unzureichend gewordene Organisation von Verwaltung und Militär wurde von den frühen Kaisern grundlegend geändert. [[Augustus]] teilte Italien in elf [[Regio (Italien)|Regionen]] auf. Die republikanischen Institutionen wurden formal überwiegend wieder eingesetzt, doch blieben sie weitgehend von seinen Entscheidungen abhängig und veränderten ihren Charakter zu einer administrativen Tätigkeit. Allerdings behielt der Senat in Italien einige Vorrechte, wie etwa die Verfügung über die Prägung der Bronzemünzen ab 15 v. Chr., die Verfügung über die Tempel oder die Leitung des ''[[Aerarium|aerarium Saturni]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 50.</ref> Die [[Volkstribun]]en behielten ihre Rechte, wurden aber formal in Umkehrung ihrer bisherigen Stellung dem Senat unterstellt, faktisch jedoch dem Kaiser.<br />
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Während es in der Republik nur ansatzweise eine Verwaltung gab – es existierten weder Grundsätze noch Apparate oder ausgebildetes Personal –, änderte sich dies unter den Kaisern. [[Claudius]] setzte in der Verwaltung stark auf [[Freigelassene im Römischen Reich|Freigelassene]] (sie verloren ihren Einfluss unter den [[Flavier]]n), [[Domitian]] und [[Hadrian (Kaiser)|Hadrian]] eher auf vermögende Ritter ''([[Eques|equites]])'', also die Gruppe der Händler, Steuerpächter und der städtischen Mittelklasse, für die die Republik nie eine adäquate Aufgabe gefunden hatte. Schon [[Vespasian]] zog verstärkt Provinzialen hinzu, [[Trajan]] zog Männer aus dem Osten in den Senat. Insbesondere in der Finanzverwaltung kam es zu einer Professionalisierung, vor allem, als der römische ''fiscus'' die Verantwortung für die Einnahmen aus den Provinzen übernahm. Es entstand eine Art Zentralverwaltung.<br />
<br />
Als Vermittlerinstanz fungierte vor allem ab dem 2. Jahrhundert das nicht leicht zu fassende ''consilium principis'', das informell zusammengestellt den Kaiser beriet. Hadrian zog erstmals Juristen hinzu. In der [[Spätantike]] übernahm diese Rolle das ''[[consistorium]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 56.</ref> Daneben übte der [[Prätorianerpräfekt]] großen Einfluss aus, der zunächst mit seiner [[Prätorianergarde]] für die Sicherheit des Kaisers verantwortlich war. Er erhielt bald über den Militärbereich hinausreichende richterliche Befugnisse (unter den [[Severer]]n im Umkreis von 100 römischen Meilen um Rom, also knapp 150&nbsp;km) und agierte vielfach als Feldherr. Für die Truppenversorgung verfügte er seit [[Nero]] über eine eigene Naturalienabgabe, die ''annona''. Um ihn herum entstanden schwer durchschaubare Verwaltungseinheiten. Sonderbereiche wie die Spiele oder die Bibliotheken übernahmen nur hierfür zuständige [[Prokurator]]en. In Rom führte ein ''[[praefectus urbi]]'' die städtischen [[Kohorte]]n und saß Eilgerichten vor. Der ''[[praefectus annonae]]'' war für die Lebensmittelversorgung, für die Marktaufsicht und die Schifffahrt auf dem [[Tiber]] sowie die Bäckereien zuständig. Hinzu kam ein ''[[praefectus vigilum]]'', der Feuerwachen organisierte. Die Aufgaben wurden bald zu komplex, so dass unter Trajan ''subpraefecti'' eingesetzt wurden, an die enger gefasste Aufgaben delegiert wurden.<br />
<br />
In Italien wachten die Prätorianer über die Sicherheit. [[Tiberius]] brachte sie nach Rom, nur die Präfekten, die für die Flotten zuständig waren, blieben in [[Misenum]] und [[Ravenna]]. Städtische Magistrate sprachen Recht, es entwickelte sich ein [[Instanz (Recht)|Instanzenzug]] mit der letzten Instanz in Rom. Für den Straßenbau waren nicht mehr die [[Censor]]en zuständig, sondern ''curatores viarum''. Die oftmals chaotischen Finanzen der Städte unterlagen seit [[Nerva]] den ''curatores civitatis''. Um 120 sollte mit vier ''consulares'' die Rechtsprechung in Italien zentralisiert werden, doch setzte sich das System erst Ende des Jahrhunderts in abgeschwächter Form durch. Insgesamt gelang es, die massive Selbstbereicherung, die in republikanischer Zeit aus der Vermengung politischer, militärischer und verwaltungstechnischer Ämter und der Kurzzeitigkeit der Ämter resultiert hatte, auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden. Es dauerte bis Ende des 2. Jahrhunderts, bis sich eine relativ feste Hierarchie mit entsprechenden Gehältern entwickelt hatte.<br />
<br />
Jede Stadt verwaltete ihr Umland mit. Im Gegensatz zu den meisten Provinzstädten unterlagen die italienischen dabei nicht der Tributpflicht. ''Incolae'', einfache Bewohner oder Fremde, und ''attributi'', die abseits der Städte wohnten, hatten mindere Rechte. Die Verbindung zu den übergreifenden Einrichtungen stellten ''patroni'' her, lokale Notabeln.<br />
<br />
Die größte Entlastung für die Wirtschaft des Reiches war das Ende der [[Römische Bürgerkriege|Bürgerkriege]]. Das stellte sich für Italien jedoch ganz anders dar. Dort hatte die politisch und ökonomisch führende Gruppe sogar erheblich von der Zufuhr an [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklaven]] und den Tributen der Provinzen profitiert, vor allem die großen Landbesitzer. Auch kam die kaiserliche Unterstützung der ''[[Municipium|municipia]]'' und die ausgedehnten kaiserlichen Domänen der Vermögensbildung der führenden Schichten in den Städten zugute. Doch gerade die [[Latifundien]] hatten wiederum zu einer Verdrängung der Bauern, zu einer Entvölkerung des Landes und zur Ausweitung der Weidewirtschaft geführt, was die Verstädterung weiter förderte. Zudem sahen sich Oliven- und Weizenbauern starker Konkurrenz aus [[Gallien]], [[Hispanien]] und [[Africa]] ausgesetzt. Die seit Trajan zunehmend aus den Provinzen stammenden Kaiser förderten ihrerseits die außeritalischen Gebiete zu Lasten Italiens.<br />
<br />
Des Weiteren belastete die italische Wirtschaft, dass immer noch die meisten [[Römische Legion|Legionäre]] aus Italien stammten und Kriege, wie die Trajans, zu hohen Verlusten und zur Ansiedlung in den östlichen Provinzen führten. Bereits [[Nerva]], Trajans Vorgänger, hatte Italien einen besonderen Rang eingeräumt. Trajan verlagerte die Rekrutierungsgebiete auf die hispanischen Gebiete und versuchte damit, der Auszehrung Italiens entgegenzuwirken. Er untersagte daher die Abwanderung aus Italien, verfügte, dass Senatoren aus den Provinzen mindestens ein Drittel ihres Vermögens in Landbesitz in Italien anlegen mussten,<ref>Diesen Anteil reduzierte [[Mark Aurel]] auf ein Viertel (Sabine Panzram: ''Stadtbild und Elite'', Steiner, Stuttgart 2002, S. 67). Bei [[Plinius der Jüngere|Plinius]] (Epistulae 6,19,4) heißt es: „Occurrit; nam sumptus candidatorum, foedos illos et infames, ambitus lege restrinxit; eosdem patrimonii tertiam partem conferre iussit in ea quae solo continerentur, deforme arbitratus — et erat — honorem petituros urbem Italiamque non pro patria sed pro hospitio aut stabulo quasi peregrinantes habere.“</ref> und versorgte Bauern für das Großziehen von Kindern ''(alimenta).'' Diese Alimentarstiftung, die bis ins 3. Jahrhundert bestand, sicherte durch Zinsen und Darlehen, die Trajan Grundbesitzern gewährte, vermutlich hunderttausenden Kindern monatliche Unterstützung.<ref>Gunnar Seelentag: ''Der Kaiser als Fürsorger. Die italische Alimentarinstitution.'' In: Historia 57 (2008) 208–241.</ref> Häfen, Straßen und öffentliche Bauwerke wurden massiv gefördert, insbesondere in Rom.<br />
<br />
Die mangelnde Versorgung der Latifundien mit Sklaven und die niedrige Produktivität der Güter führten im 2. Jahrhundert dazu, dass die großen Güter zunehmend aufgeteilt und an ''coloni'' verpachtet wurden. Für ihr Land leisteten die [[Kolonat (Recht)|Kolonen]] Abgaben in Form von Geld, Naturalien oder Arbeit. Kaiserliche Domänen gab es vor allem im Süden, doch waren die Provinzdomänen bedeutender.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 83.</ref><br />
<br />
Insgesamt scheint es, dass die Latifundien weniger die Ursache des Reichtums als die Früchte der im Handel und in der Produktion erwirtschafteten Gewinne waren. Dabei spielten Minen und Steinbrüche eine wichtige Rolle, die aber auch eher in den Provinzen betrieben wurden und nicht etwa um [[Luna (Italien)|Luna]] bei [[Carrara]], da man in Italien einen Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft fürchtete. Im Produktionsbereich blieb Italien nur bei der Wollspinnerei führend, vor allem in der Po-Ebene, etwa in [[Altinum (Stadt)|Altinum]], und um [[Tarent]]. Glas und Keramik, Lampen und Metallwaren verloren jedoch ihre führende Rolle. Hinzu kam die scharfe Konkurrenz der ökonomisch immer selbstständiger werden Landgüter, der ''[[Villa rustica|villae]]'', gegen die die Kleinhandwerker, die den Löwenanteil der Waren produzierten, kaum ankamen. Immerhin förderten die Kaiser mit ihren Bauprojekten den Handel mit Ziegeln.<br />
<br />
[[Datei:Colonna traiana, veduta notturna 01.JPG|mini|hochkant|Detail der [[Trajanssäule]] mit Szenen aus dem [[Daker]]krieg]]<br />
<br />
Dabei verschwand der Tauschhandel weitgehend, Münzen zirkulierten in jedem Städtchen. Erstmals kam der Münzpolitik größte Bedeutung zu. Bronzemünzen wurden vom Senat geprägt, Gold- und Silbermünzen vom Kaiser. Im Jahr 64 kam es zu einer ersten Abwertung. Trajan konnte das Münzsystem mit [[Daker|dakischem]] Gold unterfüttern, von dem Rom angeblich 5 Millionen römische Pfund erbeutete, also mehr als 1600 Tonnen.<ref>Karl Strobel: ''Untersuchungen zu den Dakerkriegen Trajans.'' Habelt, Bonn 1984, S. 221, gibt (wie die meisten Historiker) 5 Millionen Pfund an. Karl Christ: ''Geschichte der römischen Kaiserzeit: Von Augustus bis zu Konstantin.'' 6. Auflage. Beck, München 2009, S. 300 bezweifelt diese Zahlen, die von [[Johannes Lydos]] stammen, der sich wiederum auf den Leibarzt Trajans, auf T. Statilius Kriton beruft.</ref> Doch wertete er die Kupfermünzen durch Reduzierung des Kupferanteils ab. Hadrians Friedenskurs stabilisierte das System langfristig, doch machte sich schon unter [[Mark Aurel]] eine deutliche Inflation bemerkbar, also eine zunehmende Wertminderung der Münzen. Diese erreichte in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts ihren Höchststand.<ref>[[Hans Kloft]]: ''Die Wirtschaft des Imperium Romanum.'' von Zabern, Mainz 2006, S. 116.</ref> Zudem genügte die Edelmetallgewinnung nicht mehr dem Bedarf, d. h., sie brachte die Wertrelation zwischen Gold und Silber ins Wanken.<br />
<br />
Das Bankensystem ist nur wenig erforscht. Transaktionen von Münzen ließen sich auf dem Papier arrangieren, so dass die Schwierigkeiten und Risiken der Münz- und Barrenübermittlung gemindert wurden.<ref>[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], 25, S. 173.</ref> Der Außenhandel brachte den Randprovinzen erhebliche Einnahmen, doch den größten Umfang besaß der Handel zwischen den Provinzen.<br />
<br />
=== Italien als Provinz im Römischen Reich, Christianisierung (3. bis 5. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Roman provinces trajan 2.svg|mini|hochkant=1.4|Das Römische Reich und seine [[Römische Provinz|Provinzen]] zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Kaiser [[Trajan]] im Jahre 117]]<br />
<br />
Die Durchsetzung des [[Christentum]]s im 4. Jahrhundert bis hin zum Status der [[Staatsreligion]], die Gründung einer zweiten Hauptstadt im Osten und die Teilung des Reichs sowie die Eingliederung Italiens als gewöhnliche Provinz, dazu die politisch-militärische Unsicherheit, die auch vor Italien nicht Halt machte, charakterisierten die sich verändernde Situation des Landes. Weder die Verfolgungen, vor allem unter [[Valerian]] und [[Diokletian]], noch die [[Heidentum|pagane]] Gegenreaktion auf die christenfreundlichere Politik seit Konstantin durch [[Julian (Kaiser)|Kaiser Julian]] konnten die Ausbreitung des Christentums verhindern. Diese, wenn auch vielfach zerklüftete, aber dennoch in wenigen Formen ins Mittelalter mündende Religion wurde mitsamt ihren Organen von zentraler Bedeutung für das [[Frühmittelalter]].<br />
<br />
Die Berechnung der Einwohnerzahl in der Antike bereitet erhebliche Probleme, so dass die Ergebnisse stark divergieren. Um 200 n. Chr. könnte das Römische Reich 46 Millionen Einwohner gehabt haben, Rom mindestens 700.000, andere Schätzungen liegen erheblich höher. So reichen sie für das 1. Jahrhundert von 54 bis zu 100 Millionen für das Reich und liegen um etwa 1,1 Millionen für Rom.<ref>Günter Stangl: ''Antike Populationen in Zahlen. Überprüfungsmöglichkeiten von demographischen Zahlenangaben in antiken Texten.'' Peter Lang, Frankfurt am Main, 2008, S. 86.</ref> Für das 3. Jahrhundert variieren die Annahmen zwischen 50 und 90 Millionen.<ref>Michael E. Jones: ''The End of Roman Britain.'' Cornell University 1998, S. 262.</ref> [[Marc Bloch]] hielt die Berechnung der Einwohnerzahl für unmöglich.<ref>Marc Bloch: ''Les invasions.'' In: Annales, VIII, 1945, S. 18.</ref> Italien hatte nach den älteren Schätzungen von [[Karl Julius Beloch]] 7 bis 8 Millionen Einwohner, hinzu kamen Sizilien mit 600.000 und Sardinien mit 500.000,<ref>Karl Julius Beloch: ''Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt.'' Duncker & Humblot, Leipzig 1886. Seine Schätzungen lagen zunächst niedriger, für Italien bei 6 Millionen, doch erhöhte er später einige Ergebnisse.</ref> doch fiel diese Zahl bis um 500 auf etwa 4 Millionen und bis 650 gar auf 2,5 Millionen.<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philos. Soc, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref><br />
<br />
[[Datei:Aurelian Walls Rome 2011 1.jpg|mini|Abschnitt der [[Aurelianische Mauer|Aurelianischen Mauer]] um Rom]]<br />
<br />
212 erhielten in der ''[[Constitutio Antoniniana]]'' alle Bürger des Reiches das römische Bürgerrecht, die bisherige Bevorzugung Italiens entfiel. In der Zeit der sogenannten [[Reichskrise des 3. Jahrhunderts|Reichskrise]], die von [[Usurpation]]en und zunehmendem Machtgewinn des Militärs geprägt war (siehe auch [[Soldatenkaiser]]), verlor Italien zunehmend seine Rolle als Kernland des Imperiums; diese Entwicklung sollte sich in der [[Spätantike]] fortsetzen. Darüber hinaus musste Rom nach 270 wieder mit [[Aurelianische Mauer|einer Stadtmauer]] militärisch gesichert werden. Zwischen 254 und 259 waren erstmals wieder germanische Stämme auf italischem Boden erschienen, so etwa die [[Alamannen]], die [[Schlacht von Mediolanum|259 bei Mailand]] und [[Schlacht am Lacus Benacus|268 am Gardasee]] zurückgeschlagen wurden.<br />
<br />
[[Datei:AmbroseOfMilan.jpg|mini|Ambrosius von Mailand, Mosaik in [[Sant’Ambrogio (Mailand)|der Mailänder Kirche, die seinen Namen trägt]]. Es entstand möglicherweise zu seinen Lebzeiten.]]<br />
<br />
Analog zum übrigen Reich wurde die Halbinsel unter [[Diokletian]] in Provinzen aufgeteilt ([[Liste der römischen Provinzen ab Diokletian|Liste]]). Die ''[[Dioecesis]] Italiciana'' bildete einen Teil der ''Praefactura praetorio Italia'', zwei ''Vicarii'' residierten in Mailand und Rom. Die von Mailand aus verwalteten ''Regiones annonariae'' im Norden der Halbinsel dienten dem Unterhalt des kaiserlichen Haushalts, die von Rom aus verwalteten ''Regiones suburbicariae'' dienten der Versorgung Roms. Dabei waren die Inseln mit eingeschlossen. Ein politisch weit über Rom hinaus agierender ''[[Praefectus urbi]]'' verwaltete Rom, das seine Funktion als Kaiserresidenz unter [[Konstantin der Große|Konstantin]] weitgehend einbüßte.<br />
<br />
Theologische Auseinandersetzungen nach dem [[Erstes Konzil von Nicäa|Konzil von Nicaea]] (325) zwischen dem athanasischen Westkaiser [[Constans]] und dem [[Arianismus|arianerfreundlichen]] [[Constantius II.]] im Osten gaben den beiden Bischöfen der Metropolen Mailand und Rom bald ebenfalls eine Sonderstellung. Bischof [[Ambrosius von Mailand]] gewann erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik, während der römische Präfekt diesen nach und nach einbüßte, zumal viele der kaiserlichen Amtsinhaber eher zum [[Heidentum|Paganismus]] neigten. Umgekehrt mischten sich Kaiser, etwa [[Valentinian I.]], in die Bischofswahl in Rom ein. Darüber hinaus war der [[Klerus]] von Abgaben und Diensten befreit, ebenso wie vom Kriegsdienst, womit er endgültig zu einem eigenen Stand wurde.<ref>[[Reinhard Blänkner]], [[Bernhard Jussen]]: ''Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, S. 143.</ref><br />
<br />
Zwar lassen sich in Italien erste Juden ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. belegen, eine erste Synagoge entstand jedoch erst um 100 n. Chr. in [[Ostia Antica|Ostia]]. Im 1. Jahrhundert dürfte die Zahl der Gemeindemitglieder bei rund 60.000 gelegen haben, davon 30.000 bis 40.000 in Rom.<ref>Attilio Milano: ''Il ghetto di Roma. Illustrazione storiche.'' Einaudi, Turin 1987, S. 15–18.</ref> Doch um 300 kam es auf dem [[Synode von Elvira|Konzil von Elvira]] (can. 16/78) zu einem ersten Eheverbot zwischen Juden und Christen, mit dem [[Codex Theodosianus]] (III, 7,2; IX, 7,5) galt dieses Verbot im gesamten Reich bei Androhung der Todesstrafe.<ref>Michael Borgolte, Juliane Schiel, Annette Seitz, Bernd Schneidmüller (Hrsg.): ''Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft.'' Akademie, Berlin 2008, S. 446f.</ref> Außerdem wurden den Juden Kleidungsverbote auferlegt, die Sklavenhaltung verboten (damit der Zugang zum Latifundienbesitz und zur Gutsherrschaft verwehrt) und die Übernahme öffentlicher Ämter. Ab 537 mussten sie dennoch zur Finanzierung dieser Ämter beitragen.<br />
<br />
Seit der Gründung [[Konstantinopel]]s als Hauptstadt des Ostens im Jahre 326 und der faktischen Teilung in [[Weströmisches Reich|Weströmisches]] und [[Byzantinisches Reich|Oströmisches Reich]] im Jahr 395 wurde Italien zu einer immer weniger bedeutenden Provinz. Das Westreich löste sich im Verlauf der [[Völkerwanderung]] unter dem Druck von [[Germanen]] und [[Hunnen]], dem Verlust wirtschaftlich bedeutender Provinzen, der vom Kaiser schließlich nicht mehr zu kontrollierenden Armeeführung und einer räumlich wie sozial zersplitterten Gesellschaft auf.<br />
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[[Datei:Prima tetrarchia Diocletianus.PNG|mini|hochkant=1.4|Römisches Reich im [[3. Jahrhundert]].]]<br />
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Im November 401 standen die germanischen Westgoten [[Alarich I.|Alarichs]], die die Römer zu den Skythen zählten, ähnlich wie Alanen und Hunnen,<ref>[[Orosius]]: ''Historiarum adversum paganos'' VII, 37, 9.</ref> erstmals in Italien. Sie scheiterten jedoch vor Aquileia, dann im März 402 vor der Hauptstadt Mailand. [[Flavius Honorius|Honorius]] residierte fortan im sicheren [[Ravenna]]. Am 6. April 402 erlitten die Goten beinahe [[Schlacht bei Pollentia|eine Niederlage]], [[Stilicho]] erreichte ihren Abzug aus Italien, er schlug sie [[Schlacht bei Verona|bei Verona]] und gewann sie später als Verbündete gegen Ostrom. Erst 408, als die Rheingrenze zusammengebrochen war, drohte Alarich erneut, nach Italien zu ziehen, was er nach dem Sturz Stilichos und dessen Hinrichtung am 22. August auch tat. 410 wurde Rom [[Plünderung Roms (410)|geplündert]], doch zogen die Goten 412 nach [[Gallien]] ab.<br />
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Nach Honorius’ Tod im Jahr 423 bestimmte der Ostkaiser die Politik in Italien. Den römischen Bischöfen, insbesondere [[Leo der Große|Leo I.]], gelang es, sowohl am Hof des Westens als auch dem des Ostens Ansehen zu gewinnen. Dies zeigte sich etwa bei der Invasion der Hunnen unter [[Attila]] im Jahr 452. [[Plünderung Roms (455)|455]] plünderten jedoch die [[Vandalen]] Rom und besetzten Sardinien und Sizilien. Der ''[[Magister militum]]'' [[Ricimer]] beherrschte für einige Jahre die Politik im Westen, bevor Konstantinopel [[Julius Nepos]] unterstützte, der von Dalmatien nach Italien marschierte. Dieser wiederum wurde 475 von [[Orestes (Heermeister)|Orestes]] gestürzt, der seinen Sohn [[Romulus Augustulus]] zum Kaiser erhob, der seinerseits im August 476 von [[Odoaker]] gestürzt wurde. Damit endete ''de iure'' das weströmische Kaisertum – spätestens mit der Ermordung des Julius Nepos in Dalmatien 480. Odoaker erkannte die Herrschaft des Ostkaisers formal an und versorgte seine Truppen mit Land in Italien.<br />
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=== Kirchenorganisation, Bistumshierarchie und Römisches Reich ===<br />
{{Hauptartikel|Urchristentum|Christenverfolgungen im Römischen Reich}}<br />
[[Datei:Privil classe.jpg|mini|Kaiser [[Konstantin IV. (Byzanz)|Konstantin IV.]] (Mitte) erhebt Ravenna zum Erzbistum. Von links nach rechts: [[Justinian II.]], die beiden Brüder des Kaisers und er selbst, zwei Erzbischöfe von Ravenna und drei Diakone.]]<br />
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Ohne die Differenzierung zwischen Amtskirche und Gemeinschaft der Gläubigen zu berücksichtigen, lässt sich auf der formalen Ebene bereits im frühen 2. Jahrhundert eine Verfestigung der Ämterstruktur und eine Ausbreitung des [[Bischof]]samts feststellen, die in der Spätantike jede Stadt erfasste. Diese Heraushebung der Stadt gegenüber dem Umland blieb in Italien, im Gegensatz zu vielen ehemaligen Provinzen des Römerreichs, durchgängig kennzeichnend. Die Grenzen zwischen den Municipia bildeten vielfach die späteren Bistumsgrenzen, wobei zuweilen auch [[Kloster|Klöster]], wie [[Nonantola]] oder [[Abtei Bobbio|Bobbio]], ihr Umland integrieren konnten.<br />
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Eine zentrale Rolle spielte die Hauptstadtgemeinde, die sich auf die Apostel [[Simon Petrus|Petrus]] und [[Paulus von Tarsus|Paulus]] zurückführte, und die besonderes Ansehen genoss.<ref>Vgl. Kristina Sessa: ''The Formation of Papal Authority in Late Antique Italy. Roman Bishops and the Domestic Sphere.'' Cambridge University Press 2011.</ref> Zwischen den Bischöfen [[Damasus I.]] (366–381) und [[Leo der Große|Leo I.]] (440–461) entstand die Vorstellung von einer ''Renovatio Urbis'', der Wiederauferstehung Roms als nunmehr christliche Hauptstadt. So weist bereits [[Cyprian von Karthago]] auf die rechtliche Kontinuität hin, die auf der Kirchenebene auf den Stuhl Petri verweist. Den Anspruch zu den ältesten, auf die Apostel zurückreichenden Bischofssitzen zu zählen, erhoben allerdings auch Ravenna und Aquileia. Mitte des 3. Jahrhunderts fand in Rom eine erste überlieferte [[Konzil|Synode]] von 60 Bischöfen statt. Ende des 6. Jahrhunderts lassen sich in Mittel- und Oberitalien 53 Kirchen fassen, im städtereicheren Süden gar 197. Analog zur staatlichen Organisation entstanden zwei Kirchenprovinzen mit den Zentren Mailand und Rom. Aquileia wurde für die Gebiete bis zur [[Donau]] zuständig. Ravenna blieb zunächst Rom zugeordnet, doch unter [[Justinian I.]] nahm Bischof [[Maximianus von Ravenna]] als erster den Titel eines Erzbischofs (archiepiscopus) an und um 650 wurde Ravenna durch Kaiser [[Konstans II.]] auf einige Jahrzehnte sogar ganz der [[Jurisdiktion (Kirche)|Jurisdiktionsgewalt]] Roms entzogen.<br />
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== Germanen und Ostrom ==<br />
=== Odoaker, Ostgoten und Gotenkrieg (476–568) ===<br />
[[Datei:Palace of Theodoric - Ravenna 2016 (2).jpg|mini|So genannter „Palast Theoderichs“ in [[Ravenna]]. Er wurde Sitz des oströmischen Exarchen. Ob die Ruine tatsächlich Teil des Palastes ist, ist unklar.]]<br />
<br />
Auch nach 476 bestanden in Italien zunächst [[spätantike]] Strukturen fort. Nach dem [[Untergang des Römischen Reiches|Untergang]] des [[Weströmisches Reich|weströmischen Kaisertums]] 476 wurde Italien zuerst von dem ''rex Italiae'' [[Odoaker]] regiert und war dann ab 489 bzw. 493 Kernland des Reichs der [[Ostgoten]], die unter [[Theoderich der Große|Theoderich]] im Auftrag des oströmischen Kaisers [[Zenon (Kaiser)|Zenon]] in Italien eingefallen waren. Theoderich regierte formal im Auftrag des Kaisers und trennte zivile und militärische Gewalt deutlich stärker nach ethnischen Prinzipien auf; die zivile Administration blieb in der Hand der Römer, die Goten übten derweil die Militärverwaltung aus und erhielten Land zugewiesen. Es scheint, als habe die Privilegierung der Ostgoten das Verschmelzen der römischen Aristokratie mit der gotischen Führungsgruppe be- oder gar verhindert.<ref>Dieser Fragestellung geht Marco Aimone: ''Romani e Ostrogoti fra integrazione e separazione. Il contributo dell’archeologia a un dibattito storiografico.'' In: Reti Medievali Rivista, 13, 1 (2012) 1-66 erstmals auf der Grundlage archäologischer Untersuchungen nach.</ref> Die Ostgoten waren [[Arianismus|Arianer]] und standen daher den kirchlichen Organen in Italien fern, was Theoderich in seinen letzten Jahren dazu bewog, den Bischof von Rom gefangen zu setzen oder politisch unter Verdacht Geratene, wie [[Quintus Aurelius Memmius Symmachus|Symmachus]], hinrichten zu lassen: Nachdem 519 das [[Akakianisches Schisma|Schisma]] zwischen Rom und Konstantinopel beigelegt worden war, fürchtete der alternde Gotenkönig zunehmend, er könne an die Oströmer verraten werden. Seine Tochter [[Amalasuntha]] versuchte nach dem Tod ihres Vaters (526) eine römerfreundlichere Politik, wurde jedoch ermordet, was Kaiser [[Justinian I.|Justinian]] im Jahr 535 den Anlass bot, militärisch in Italien zu intervenieren. Sizilien fiel als Erstes; die dortige Zivilverwaltung wurde direkt Konstantinopel unterstellt.<br />
<br />
[[Datei:Erster und Zweiter Gotenkrieg.png|mini|Verlauf der [[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkriege]] Justinians]]<br />
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Italien wurde zwischen 535 und 553 in blutigen Kämpfen von oströmischen Truppen unter Führung der Feldherren [[Belisar]] und [[Narses]] erobert ([[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkrieg]]). Kaiser Justinian wollte damit das Römische Reich erneuern ''([[Renovatio imperii]])'', doch führten die Kämpfe zu einer Verelendung weiter Landstriche. 554 wurde die Verwaltung Italiens neu geordnet und die meisten senatorischen Ämter wurden abgeschafft; doch blieb das Amt des Stadtpräfekten unangetastet. Italien wurde schließlich 554 formal Teil des [[Byzantinisches Reich|Oströmischen Reiches]], und 562 fielen auch die letzten gotischen Festungen. Doch kam es bereits 568 zur Invasion der [[Langobarden]] nach Italien, die große Teile des Landes eroberten. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als das [[Ende der Antike]] in Italien, dessen staatliche Einheit nun für 1300 Jahre zerbrach. Der langobardische Herrschaftsraum im Norden Italiens zerfiel bald in viele kleinere Herzogtümer (Dukate). Der von Konstantinopel kontrollierte Rest wurde unter Kaiser [[Maurikios]] um 585 in das [[Exarchat von Ravenna]] zusammengefasst. Neben dem Gebiet zwischen Rom und Ravenna blieben große Teile des Südens sowie Ligurien und die Küste Venetiens und Istriens oströmisch-byzantinisch, wobei Ligurien im 7. Jahrhundert an die Langobarden verlorenging.<br />
<br />
Unter Papst [[Gregor der Große|Gregor I.]] wurde das von Ostrom 534 besetzte [[Sardinien]] ab 599 unter Gewaltanwendung katholisiert.<ref>Gregor forderte von den lokalen Autoritäten die Zwangsbekehrung der verbliebenen Heiden in Epist. 9, 204.</ref> 710 besetzten arabische Truppen Sardinien, das zur Provinz ''Africa'' gehört hatte, doch vertrieben die Bewohner 778 die Besatzer<ref>Auguste Boullier: ''L’Île de Sardaigne. Description, histoire, statistique, mœurs, état social.'' E. Dentu, Paris, 1865, S. 78.</ref> und wehrten 821 ihren letzten Angriff ab. Auf der Insel entstanden vier [[Sardische Judikate|Judikate]], selbstständige, von Richtern geführte politische Einheiten, deren letzte, das [[Judikat Arborea]], bis 1478 Bestand hatte. Die Küstenorte wurden, wie in ganz Italien, vielfach aufgegeben.<br />
<br />
Der Gotenkrieg, der harte Fiskalismus der kaiserlichen Verwaltung sowie die Invasion der [[Langobarden]] ab 568, das Abreißen der Handelsbeziehungen und die zunehmende Unsicherheit führten zu einem drastischen Rückgang der Bevölkerung, einem weitgehenden Verschwinden der alten Senatsaristokratie, einem Schrumpfen der Städte, zur Regionalisierung von Machtballungen und einer gesteigerten Agrarisierung der Wirtschaft unter Zunahme der Subsistenzwirtschaft. Der Mittelmeerraum veränderte zudem seine Funktion als Handelsdrehscheibe, zumal die Südseite ab den 630er Jahren von muslimischen Armeen erobert wurde, die bis um 700 auch noch ''[[Africa]]'', die Kornkammer Italiens, eroberten und von dort aus begannen, die italienischen Küstenorte zu plündern.<br />
<br />
=== Langobarden und Byzantiner (568–774) ===<br />
[[Datei:Justinien 527-565.svg|mini|links|[[Byzantinisches Reich]] um 565]]<br />
[[Datei:Exarchate of Italy - 600 AD.png|mini|Oströmische Gebiete um 600]]<br />
[[Datei:Cividale Ratchisaltar - Madonna mit Kind.jpg|mini|Der [[Ratchis]]altar im westlichen Seitenschiff des Domes von [[Cividale del Friuli|Cividale]], Ausschnitt: Madonna mit Kind, um 740]]<br />
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Die gesamte Schicht der Besitzenden wurde im Exarchat in das militärische System eingebunden, lokale Miliztruppen verstärkten die byzantinische Armee. Dabei entstand eine militärisch-politische Hierarchie von regional unterschiedlicher Selbstständigkeit. Sie band sich um Rom stärker an den dortigen Bischof, um Ravenna an den Exarchen, in Venetien an dort entstandene Familienstrukturen, [[Tribun (Venedig)|Tribunen]] und [[Doge von Venedig|Duces]], im Süden an die enger an Byzanz gebundenen Apparate. Kaiser [[Konstans II.]] zog 662 mit einer Armee von Konstantinopel nach Italien, um gegen die Langobarden und Araber zu kämpfen; er residierte bis zu seiner Ermordung 668 in Syrakus auf Sizilien, konnte aber keine nachhaltigen Erfolge erzielen.<br />
<br />
Die Langobarden unterstanden von 574 bis 584 keiner gemeinsamen Führung, doch machte die übergreifende Koordination im Kampf gegen die [[Franken (Volk)|Franken]] die Wiedereinführung eines Königtums notwendig. In Opposition zum byzantinischen [[Exarchat Ravenna]] wählten die Langobarden [[Pavia]] zur Hauptstadt, mit zentralen Funktionen ab dem frühen 7. Jahrhundert. Daneben entstanden königliche Paläste in Verona (nach 580), in Mailand und schließlich in Ravenna. Anders als im Frankenreich herrschten die Könige von Residenzen aus, insbesondere dem Palacium in Pavia, das seit [[Rothari]] eine Art Hauptstadt darstellte, und reisten nicht, wie nördlich der Alpen noch lange üblich, durch ihr Reich, weil dessen Königsmacht an seine physische Anwesenheit gebunden war ([[Reisekönigtum]]). Auch kam es, im Gegensatz zum Frankenreich, zu keiner Verschmelzung der römischen Führungsschichten mit den germanischen, da diese lange als [[Arianer]] der katholischen Bevölkerung fernstanden und Gewalttaten in der frühen Eroberungsphase viele Adelsfamilien, vor allem den senatorischen Adel, in byzantinisches Gebiet vertrieben. Um 600 machte sich allerdings der mäßigende Einfluss der Königin [[Theudelinde]] bemerkbar, der Tochter des Bayernherzogs [[Garibald I.]] Danach wechselten sich arianische und katholische Könige ab. König Rothari ließ 643 die Rechtsgewohnheiten der Langobarden [[Kodex|kodifizieren]]. Währenddessen gelang es den langobardischen [[Herzogtum Benevent|Herzögen von Benevent]] und von [[Herzogtum Spoleto|Spoleto]], ein hohes Maß an Autonomie zu wahren.<br />
<br />
König [[Liutprand (Langobarde)|Liutprand]] (712–744) gelang die Einigung der Langobarden und er nahm den Kampf gegen Byzanz wieder auf. Dabei kam ihm zustatten, dass die Langobarden inzwischen katholisiert waren und sich daher leichter mit den herrschenden römischen Familien verbanden, um eine gemeinsame Herrenschicht zu bilden. Das Edikt König [[Aistulf]]s von 750 unterschied bereits nicht mehr nach ethnischem oder religiösem Hintergrund, sondern teilte die Bevölkerung nach ihrem Vermögen und entsprechend ihrer Ausrüstung verschiedenen militärischen Kategorien zu. 750/751 gelang ihm die Eroberung Ravennas, nachdem gut ein Jahrzehnt zuvor diese Eroberung noch gescheitert war.<br />
<br />
Der mit Papst [[Stephan II. (Papst)|Stephan II.]] verbündete [[Pippin der Jüngere|Pippin]], seit 751 König der Franken, zog zwei Mal nach Italien und zwang Aistulf zur Anerkennung seiner Oberherrschaft und zur Abtretung des Exarchats von Ravenna, das Pippin dem Papst schenkte ([[Pippinische Schenkung]]). Er übernahm nunmehr das Patriziat über die Stadt Rom. Zwischen dem Langobardenreich und Süditalien war damit die Entstehung eines weltlichen Herrschaftsraums, des [[Papst]]es ''(Patrimonium Petri)'', zu einem vorläufigen Abschluss gekommen, da Konstantinopel aufgrund der Bedrohung durch die [[Awaren]] und [[Araber]] seit etwa 650 nur noch gelegentlich im Westen eingreifen konnte.<br />
<br />
== Teil des Frankenreichs, „Nationalkönige“ (774–951) ==<br />
[[Datei:Italy Lothar II.svg|mini|Königreich Italien, (781–1014).]]<br />
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[[Langobardenfeldzug|Ab dem Jahr 774 eroberte]] der Sohn und Nachfolger Pippins, [[Karl der Große|Karl I.]], das Langobardenreich und krönte sich in Pavia mit der [[Eiserne Krone|Langobardenkrone]] zum „König der Franken und Langobarden“. Im Zuge der [[Karolinger|karolingischen]] Reichsteilungen wurde (Nord-)Italien wieder ein selbstständiges Königreich, zunächst unter karolingischen Königen, ab 888 unter einheimischen Königen fränkischer Herkunft wie [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Vienne]] und [[Berengar II.|Berengar von Ivrea]] („[[Nationalkönige]]“).<br />
<br />
=== Fränkische Eroberung ===<br />
Italien blieb im [[Frühmittelalter]] politisch geteilt, immer wieder kam es zu Kampfhandlungen. Die Langobarden hatten 751 Ravenna erobert und seit etwa 750 jeden Handel mit byzantinischen Untertanen verboten. Aufgrund der langobardischen Bedrohung rief der Papst die Franken zu Hilfe. König [[Pippin der Jüngere|Pippin]] eroberte Ravenna, das allerdings nun vom Papst beansprucht wurde. Mit König [[Desiderius (König)|Desiderius]] kam es zu ähnlichen Auseinandersetzungen, so dass Pippins Sohn und Nachfolger [[Karl der Große|Karl I.]] 774 die Langobardenhauptstadt [[Pavia]] angriff und das Langobardenreich eroberte. Karl übertrug die ehemals byzantinischen Gebiete an den Papst und geriet dadurch in Widerstreit zu Konstantinopel. Mit seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 durch den Papst kam es zu einem bis 812 andauernden Bruch zwischen den Kaiserreichen ([[Zweikaiserproblem]]). Der Dukat Spoleto wurde dem Frankenreich angegliedert, nicht jedoch der [[Herzogtum Benevent|Dukat Benevent]]. Der Adel nahm dort eine ähnliche Entwicklung wie unter den Franken, doch zerfiel der Dukat in die Fürstentümer Benevent und Salerno und die Grafschaft Capua.<br />
<br />
Karl teilte Italien in [[Grafschaft]]en und [[Mark (Territorium)|Marken]] ein und brachte fränkische Adlige als Herrenschicht ins Land. Er gewährte den Klöstern und Bistümern Privilegien und stattete sie mit Gutsherrschaften aus. Die langobardischen Freien wurden als [[Arimanni]] in das fränkische Heer aufgenommen. Sie erhielten vor allem in den Bistümern größeren Einfluss und standen auf gleichem Rang wie der fränkische Feudaladel. Zugleich finden sich ab 845 Hinweise, dass die langobardische Sprache verschwand.<ref>Dies zeigt ein [[Placitum]] von 845 aus Trient ([[Joseph von Hormayr]]: ''Kritisch-diplomatische Beyträge zur Geschichte Tirols im Mittelalter'', Bd. 1, Wien 1803, Nr. 2, 26. Februar 845), in dem zwischen „Longobardi“ und „Teutisci“ (solchen, die eine germanische Sprache sprechen) unterschieden wird.</ref> Dennoch ging das Bewusstsein verschiedener Abstammung nicht verloren, was sich in den Namen [[Lombardei]] für das langobardische Kerngebiet und [[Romagna]] für das römisch-byzantinische niederschlug. Dank der [[Karolingische Renaissance|Karolingischen Renaissance]] kam es zu einer zeitweiligen Zunahme von Bildung, Schriftlichkeit und Kunst unter Rückgriff auf römische Überlieferung.<br />
<br />
=== Regnum Italicum, äußere Angriffe ===<br />
Nach dem Tod [[Ludwig der Fromme|Ludwigs des Frommen]] (840) wurde das Frankenreich geteilt und das Regnum Italicum erhielt mit der Hauptstadt Pavia ein höheres Maß an [[Autonomie]]. [[Ludwig II. (Italien)|Ludwig II.]] (844–875) hielt sich mindestens einmal im Jahr auf seinen Reisen durch das Reich dort auf und berief eine Versammlung aller Großen ein. Um die Hauptstadt herum befanden sich in zwei bis drei Tagesreisen Entfernung königliche Paläste, in denen auch Urkunden ausgestellt wurden. Von Januar bis April überwinterte der Hof meist in [[Mantua]], das seit frühkarolingischer Zeit zum kleinen Kreis der Residenzstädte hinzugekommen war. Meist reiste der Hof in der Po-Ebene, nur selten in die Toskana oder gar nach [[Spoleto]]. Solche Reisen verband man mit einem Besuch Roms. Als Ludwig sich zwischen 866 und 872 durchgängig südlich von Rom aufhielt, minderte dies seine Autorität im Norden keineswegs. Hauptaufgabe des Königs war es, die gesellschaftliche Ordnung so zu erhalten, wie sie überliefert war, und vor allem Recht zu sprechen. Dies geschah durch den König oder seine [[Königsbote|missi]] vor möglichst vielen Zeugen, wobei gelegentlich auch Große für Missetaten gegen Untergebene bestraft wurden. Doch hatte jeder seine Position in der als seit jeher als bestehend aufgefassten gesellschaftlichen Hierarchie. Der Freie in der Freiheit, der Knecht in der Knechtschaft: „liber in libertate, servus iin servitute“, wie es in einer Urkunde des Klosters [[Nonantola]] aus dem Jahr 852 heißt.<ref>J. F. Böhmer: Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926), Bd. 3. Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna. Teil 1. Die Karolinger im Regnum Italiae 840-887 (888), Köln 1991 (RI I, 3 n. 99, Oktober 852).</ref> Ab Berengar I. verschwanden die von Karl dem Großen eingeführten Richter (scabini), deren Einfluss gegenüber den königlichen bzw. Paveser Richtern schon lange rückläufig war. Diese Zuspitzung auf Pavia und die dortige Rechtsausbildung sollte Italien hinsichtlich der Rolle der Rechtskundigen in der Stadtentwicklung einen völlig eigenen Verlauf geben. Im Gegensatz zu den ''scabini'' waren sie nicht von lokalen Herren abhängig, sondern vom König, doch hielten sie sich meist fern vom Hof auf. Sie wurden stärker in lokale Auseinandersetzungen einbezogen, zugleich entwickelte sich ein komplizierteres Rechtsfindungsverfahren, das nun ohne die Zeugenschaft der pauperes (der Armen) auskam. Auch befassten sich die Richter nun fast nur noch mit Auseinandersetzungen innerhalb der lokalen Eliten, nicht mehr denen innerhalb der übrigen ländlichen Welt.<ref>Cristina La Rocca: ''Italy in the Early Middle Ages. 476-1000.'' Oxford University Press, 2002, Abschnitt ''Justice: principles, personnel, and places''.</ref> Die Befreiung von jurisdiktionellen und damit königlichen Eingriffen ganzer Herrschaftsbezirke führte wiederum zu einer größeren inneren Selbstständigkeit, was ein festgelegtes Abgaben- und Leistungssystem gegenüber dem König ausgleichen sollte. Zugleich wurden die unteren Gesellschaftsgruppen von der Möglichkeit ausgeschlossen, die königliche Autorität direkt anzurufen.<br />
<br />
[[Datei:Aghlabid in 900 ad.png|mini|Emirat von Sizilien, [[9. Jahrhundert]].]]<br />
<br />
Ludwig II. führte vor allem im Süden eine eigenständige Außenpolitik, insbesondere gegenüber den Arabern unter den [[Aghlabiden]], die seit 827 begannen, Sizilien zu erobern und sich bald in Süditalien festsetzten. Bis 902 gelang ihnen die Eroberung der Insel, das politische Zentrum verlagerte sich nun von [[Syrakus]] nach [[Palermo]]. Von 843 bis 871 bestand ein arabisches Emirat in [[Bari]], dessen Truppen jedoch von Ludwig II. besiegt wurden. Danach setzte sich Byzanz wieder in den Besitz [[Apulien]]s und erlangte sogar wieder Einfluss in Benevent. Der inzwischen selbstständige Dukat Neapel zerfiel in die Stadtherrschaften [[Neapel]], [[Amalfi]] und [[Gaeta]].<br />
<br />
Im Norden waren es ab 899 [[Magyaren|Ungarn]], die von Nordosten in Italien einfielen. Sie waren erst seit 896 auf dem Gebiet ihres heutigen Staates ansässig. Von dort zogen sie so oft nach Italien, dass der von ihnen berittene Weg bald ''strata Hungarorum'' genannt wurde. Doch kamen sie nicht nur, um zu plündern, sondern sie wurden auch in den dynastischen Auseinandersetzungen eingesetzt.<ref>[[Liutprand von Cremona]] warf dem Karolinger [[Arnulf von Kärnten]] vor, er habe, selbst von 894 bis 899 König von Italien, die Ungarn gegen seine Feinde herbeigerufen (Antapodosis I,13, ed. Joseph Becker, Hannover 1915).</ref> 922 marschierten sie bis nach Apulien, 924 setzten sie unter der Führung eines Salard und (möglicherweise) als Verbündete Berengars die Stadt Pavia und den Königspalast in Brand; dabei kam auch Bischof Johannes III. ums Leben. Erst nach schweren Niederlagen und mit ihrer Christianisierung endeten ihre Kriegszüge nach 955, die beinahe ganz Mittel- und Südeuropa erfasst hatten. In Italien gilt die Invasion der Ungarn als letzte Invasion der „Barbaren“ und damit als Abschluss der [[Völkerwanderung]].<br />
<br />
=== Feudalisierung, erste städtische Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:Lothar I.jpg|mini|Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]], [[Lothar-Evangeliar]], [[Tours]], zwischen 849 und 851 entstanden, [[Bibliothèque nationale de France]], Paris]]<br />
<br />
Im Norden entstanden aus den fränkischen Großeinheiten die Territorialherrschaften dort mächtiger Familien ''(siehe: [[Italienischer Adel]])''. Daneben erlangten die Bistümer erhebliche regionale Macht und im Zuge des ''Incastellamento'' entstanden neue Schwerpunkte. Die fränkischen Großen wiederum brachten ihre Verbündeten aus [[Burgund]] und anderen Reichsteilen in den Kampf um die Vormacht. Um sie kämpften [[Guido von Spoleto|Wido von Spoleto]] und [[Berengar I.|Berengar I. von Friaul]], [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Arles und Vienne]] wurde von 926 bis 941 König. [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] machte schließlich [[Berengar II.|Berengar II. von Ivrea]] die Königswürde streitig.<br />
<br />
Neben den Feudalherrschaften<ref>Dazu: [[François Menant]]: ''Lombardia feudale. Studi sull’aristocrazia padana nei secoli X-XIII'', Vita e Pensiero, Mailand 1992.</ref> entstanden in der Nordhälfte erste städtische Herrschaften, wie etwa Rom, das von der Familie des Senators [[Theophylakt I. von Tusculum|Theophylakt]] beherrscht wurde, und [[Republik Venedig|Venedig]], das zwar noch formal Byzanz unterstand, jedoch unter wechselnden Dogenfamilien mit ihrem 811 eingerichteten festen Amtssitz eine eigenständige Außenpolitik führte. Im ''[[Pactum Lotharii]]'' überließ Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]] Venedig weitreichende Handelsrechte in Oberitalien, seine Nachfolger erkannten Venedigs Besitz auf Reichsgebiet an. Zugleich hatten sich die Städte der Lagune mehrerer Invasionen fränkischer, slawischer (um 846), arabischer (875) und ungarischer (899 bis 900) Armeen zu erwehren.<br />
<br />
=== Kirchenorganisation ===<br />
Die Eroberungen der Langobarden veränderten die Hierarchie auch der kirchlichen Gemeinden. So unterstellte sich die Hauptstadt Pavia Rom und löste sich von Mailand. Der Sitz des Bistums Aquileia wurde nach [[Grado (Italien)|Grado]] verlegt, das Bistum [[Altinum (Stadt)|Altinum]] wurde auf die weniger gefährdete Insel [[Torcello]] in der [[Lagune von Venedig]] verlegt.<br />
<br />
Größere Veränderungen der Bistumsgrenzen setzten erst die Karolinger im 9. Jahrhundert durch, die mit ihrer Neuordnung Strukturen schufen, die den römischen ähnlicher waren als den zuvor herrschenden langobardischen. Die fränkischen [[Graf]]en, die die [[Gastalde]]n und [[Herzog|Herzöge]] ersetzten, residierten vielfach in den Bistumsstädten, doch mussten die Bischöfe sich um herrschaftliche [[Privileg]]ien und [[Regalien]] bemühen, die ihren ''Comitatus'' sicherten. Vielfach entstand auf der Grundlage verschiedener Rechte ein bischöfliches Territorium innerhalb der Grafschaften. Zu dieser Verselbstständigung trugen die äußeren Angriffe und die relative Schwäche des [[Reichsitalien|Regnum Italicum]] erheblich bei. Die Bischöfe waren zumeist selbst Angehörige der herrschenden Familien und konnten sich durch Verleihung von Einnahmen der Kirchen, Kapellen und Taufkirchen (Pieven) eine Gefolgschaft sichern. Ihrer unmittelbaren Machtausübung standen jedoch mehrere Entwicklungen entgegen. Die karolingischen Gesetze räumten den Pieven das Recht ein, Zehnte einzuziehen, und durch die Zuordnung der ländlichen Bevölkerung erhielten sie eine Art Gebietsherrschaft – ein Spezifikum Italiens. Zudem entstanden in einigen Gebieten Klerikerdynastien aus [[Laie (Religion)|Laienfamilien]], die dem Bistum seine Rechte weitgehend entzogen. Darüber hinaus gingen aus den [[Vasall|Gefolgsleuten]] der Bischöfe neue weltliche Führungsschichten in den Städten hervor.<br />
<br />
Ab 816 kam mit den [[Institutiones Aquisgranenses|Constitutiones Aquisgranenses]] ein neues Element in die kommunale Entwicklung. Mit ihnen entstand ein [[Domkapitel]], da man forderte, dass der Klerus nach klösterlichem Vorbild gemeinschaftlich lebte. Dieser [[Klerus]] war wiederum bemüht, die Verfügungsgewalt über einen größeren Teil des bischöflichen [[Patrimonium]]s zu erhalten. Bei den [[Eigenkirche]]n, die vermögende Adelsfamilien errichteten, trat diese Erscheinung noch stärker zutage. Die [[Kathedrale|Kathedralkirche]] und ihr Patrimonium unterstanden zwar weiterhin dem Bischof, doch die Domkapitel übernahmen nun die Verwaltung der Kathedrale. Der Bischof wurde auf sein Patrimonium begrenzt.<br />
<br />
Rom ging aus den [[Theologie|theologischen]] Auseinandersetzungen mit Byzanz in Italien gestärkt hervor und galt als Garant der rechtgläubigen [[Dreifaltigkeit|Trinitätslehre]] und ihrer [[Christologie]]. Zudem gelang seit Gregor I. die [[Konversion (Religion)|Konversion]] der verbliebenen Arianer und der letzten Heiden – auf Sardinien auch gewaltsam. In Rom entstand eine Ämterhierarchie, die die notwendigen Rechte und Einnahmen sicherte. Damit wurde Rom zu einer weiteren bedeutenden Machtballung in Italien, neben dem Frankenreich und Byzanz sowie den [[Aghlabiden]] bzw. den ihnen nachfolgenden [[Kalbiten]] auf Sizilien.<br />
<br />
Im [[Byzantinischer Bilderstreit|Bilderstreit]] entzog Kaiser [[Leo III. (Byzanz)|Leo III.]] 732/33 dem Papst die Patrimonien [[Kalabrien]] (Bruttium) und Sizilien. [[Otranto]] stieg 986 zum Sitz eines [[Metropolit]]en auf, mit [[Squillace]], [[Rossano]] und [[Santa Severina]] entstanden neue Bistümer. Die südlichen Kirchen wurden organisatorisch und kulturell stark von Byzanz geprägt, was dem Gebiet einen bis heute bestehenden griechischen Charakter verlieh.<br />
<br />
== Reichsitalien (ab 951) ==<br />
[[Datei:Iron Crown.JPG|mini|links|Die [[Eiserne Krone]] der Langobarden, das Symbol der italienischen Königswürde, die 951 Adelheid in die Ehe mit Otto I. einbrachte. Das eigentliche Machtsymbol der Langobardenkönige war jedoch der Speer. Der Speer [[Odin]]s, Gugingus, gab den frühen Langobardenkönigen ihre Abkunftsbezeichnung als Gugingen (ex genere Gugingus).<ref>Frans Theuws: ''Rituals of Power: From Late Antiquity to the Early Middle Ages'', Brill, Leiden 2000, S. 22 bzw. [[Paulus Diaconus]]: ''[[Historia Langobardorum]]'' I, 14.</ref> ]]<br />
[[Datei:Otto I Manuscriptum Mediolanense c 1200.jpg|mini|Otto und Berengar mit ihren Gefolgsleuten. Der sitzende [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] empfängt als Zeichen der Unterwerfung ein abwärts gerichtetes Schwert vom zu seiner Rechten knienden König [[Berengar II.]] Ein Gefolgsmann Ottos, der zu seiner Linken steht, trägt ein Schwert mit der Spitze nach oben als Zeichen der Richtgewalt Ottos; das Schwert eines seiner Männer, der ein Kettenhemd trägt, ist abwärts gerichtet. Illustration einer Handschrift der Weltchronik [[Otto von Freising|Ottos von Freising]], um 1200 (Mailand, [[Biblioteca Ambrosiana]]). Die Protagonisten werden dabei verschieden bezeichnet: Mit knapper Amtsbezeichnung wird Otto als „Otto Theotonicorum rex“ bezeichnet, sein Kontrahent hingegen nur mit „Beringarius“.]]<br />
<br />
951 gewann [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] durch die Ehe mit Adelheid, der Witwe Hugos I., die Herrschaft über Nord- und Teile Mittelitaliens und begründete die Verbindung [[Reichsitalien]]s mit dem [[Heiliges Römisches Reich|Reich]]. Nicht Bestandteil des Langobardenreichs und auch des späteren Heiligen Römischen Reichs war hingegen [[Republik Venedig|Venedig]], das zunächst nur aus der [[Lagune von Venedig|dortigen Lagune]] bestand, aber dennoch eine einflussreiche Macht darstellte, die sich ab dem 14. Jahrhundert, vor allem aber 1405 über den Osten und die Mitte Oberitaliens ausbreitete.<br />
<br />
Unter den [[Liudolfinger|Ottonen]] wurde deren [[Ottonisch-salisches Reichskirchensystem|Reichskirchenpolitik]] in Italien fortgesetzt und die Bistümer wurden gestärkt. Damit wurde die Macht jedoch stark zersplittert, wenn auch teilweise die Wiederanbindung des grundbesitzenden Adels an das Reich gelang. Der Konflikt mit Byzanz in Süditalien konnte durch die Ehe [[Otto II. (HRR)|Ottos II.]] mit [[Theophanu (HRR)|Theophanu]] beigelegt werden, doch erlitt er 982 am [[Capo Colonna|Kap Colonna]] gegen die [[Sarazenen]] eine schwere Niederlage. Sein Sohn [[Otto III. (HRR)|Otto III.]], der ihm 983 im Amt folgte, beabsichtigte Rom, den Ort der Kaiserkrönungen, zur Hauptstadt seines Reiches zu machen. 991 machte er Gerbert von Aurillac als Papst [[Silvester II.]] zum Herrn der Reichskirche, doch starb der Kaiser bereits 1002.<br />
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Zahlreiche Italienzüge folgten, um die Herrschaft in Reichsitalien zu sichern. Sie waren mit der [[Kaiserkrönung]] durch den Papst verbunden und wurden häufig als „Romfahrt“ bezeichnet. Ihr ging üblicherweise die Krönung zum König von Italien mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] der Langobarden voraus. Für die Ausstellung von Urkunden war eine „italienische“ Abteilung der Reichskanzlei verantwortlich; die politische Verantwortung übernahm der [[Erzamt|Erzkanzler für Italien]], ein Amt, das ab 965 beim Erzbischof von Köln lag.<br />
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== Byzantiner (bis 1071), Araber (827–1091) ==<br />
[[Datei:MadridSkylitzesFol97raDetail.jpg|mini|Während der Belagerung Benevents (871) verhandelt Emir Soldanos (Mofareg ibn Salem) von Bari mit einem byzantinischen Gesandten, [[Madrider Bilderhandschrift des Skylitzes]], ursprünglich in den 1070er Jahren angefertigt; illustrierte Kopie von etwa 1150 bis 1175, entstanden im Umkreis des normannischen Königshofs in Palermo, Biblioteca Nacional de España in Madrid]]<br />
<br />
Süditalien blieb noch bis ins 11. Jahrhundert partiell byzantinisch bzw. langobardisch (Fürstentümer [[Herzogtum Benevent|Benevent]], [[Fürstentum Capua|Capua]], [[Fürstentum Salerno|Salerno]]). Zur Verteidigung gegen die [[Araber]], die von etwa 827 bis 1091 [[Sizilien]] oder Teile davon beherrschten und von 847 bis 871 ein Herrschaftsgebiet um [[Bari]] unterhielten, warben diese langobardischen Fürsten gegen Ende des 11. Jahrhunderts [[Normannen|normannische Söldner]] an, die danach ganz Süditalien einschließlich der Fürstentümer ihrer Auftraggeber [[Normannische Eroberung Süditaliens|eroberten]] und 1130 auf ehemals langobardischem, arabischem und byzantinischem Gebiet das [[Königreich Sizilien]] gründeten.<br />
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Bereits 668 und 703 hatten muslimische Flotten [[Syrakus]] angegriffen, doch gelang es den Arabern nicht, sich dauerhaft auf der Insel festzusetzen.<ref>Grundlegend: Stefano Del Lungo: ''Bahr ʻas Shâm. La presenza musulmana nel Tirreno centrale e settentrionale nell’alto medioevo.'' Archaeopress, Oxford 2000.</ref> 827 besiegte jedoch Admiral Euphemios den byzantinischen Statthalter Siziliens, um sich seiner Verhaftung zu entziehen, und erklärte sich zum Kaiser. Er rief die seit 800 in Tunesien selbstständig gewordenen [[Aghlabiden]] zu Hilfe, die unter Führung von [[Asad ibn al-Furāt]] bei Lilybaeum ([[Marsala]]) landeten. Nach langwierigen Kämpfen fiel 831 Palermo, 841–880 war [[Tarent]] arabisch, bis 871 hielten sie sich in [[Bari]]. Es kam 846 zu einem Angriff auf Rom (was zu einer Ummauerung der [[Peterskirche]] führte) und 875 auf Venedig und [[Aquileia]]. Auf Sizilien fielen [[Cefalù]] 857, [[Enna]] 859, schließlich Syrakus 878 und [[Taormina]] 902. Etwa 880 bis 915 setzten die Araber sich in [[Agropoli]] nördlich von [[Neapel]] fest, im Jahr 900 zerstörten sie [[Reggio Calabria|Reggio]] in Kalabrien. [[Rometta]] hielt sich bis 965, Byzanz gelang es, von 965 bis 983 Taormina zu besetzen.<ref>[[Ekkehard Eickhoff]]: ''Seekrieg und Seepolitik zwischen Islam und Abendland. Das Mittelmeer unter byzantinischer und arabischer Hegemonie (650–1040).'' de Gruyter, Berlin 1966, S. 189.</ref> 849 gelang es einer päpstlich-kampanischen Flotte, eine sarazenische Flotte vor [[Ostia (Rom)|Ostia]] zu schlagen. 871 gingen Ludwig II., Byzanz und Venedig, unterstützt von Truppen Lothars II., kroatischen und dalmatinischen Hilfstruppen, in Süditalien vor und eroberten Bari zurück. Der Emir floh zu Adelchin von Benevent. Die Aghlabiden erwiderten dies mit einem Angriff von angeblich 20.000 Mann auf Kalabrien und Kampanien, doch unterlagen sie Ludwigs Truppen 873 in Capua. 876 unterstellte sich Bari Byzanz, dem 880 die Eroberung Tarents gelang. Dennoch erlahmte die Expansionskraft der süditalienisch-tunesischen Muslime erst ab 915.<br />
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Die Araber betätigten sich nicht nur als Eroberer und Plünderer, vielfach in Diensten der süditalienischen Großen. Sie brachten auch neue [[Bewässerung]]stechniken und [[Kulturpflanze]]n mit. So wurden Zitronen und Orangen, Datteln, aber auch Baumwolle, Pistazien und Melonen sowie Seide zu wichtigen Produkten der Insel, deren Hauptmärkte nun im Süden lagen. [[Palermo]] löste [[Syrakus]] als größte Stadt Siziliens ab. Die Nachfolger der Aghlabiden, die [[Fatimiden]], setzten 948 [[Hassan al-Kalbi]] als Emir in Sizilien ein, der die Dynastie der [[Kalbiten]] begründete. Gegen sie unterlag Otto II. im Jahr 982 in Kalabrien. Als es um 1030 zu Streitigkeiten innerhalb der Dynastie kam, versuchte Byzanz diese Gelegenheit zur Rückeroberung zu nutzen. General [[Georgios Maniakes]] besetzte 1038 Messina und 1040 Syrakus, doch mussten die Byzantiner bereits 1043 wieder abziehen.<br />
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1063 griff eine pisanische Flotte Sizilien an, doch erst den [[Normannen]] gelang es in einem zähen Kampf von 1061 bis 1091, die Insel zu erobern – 1071 fiel [[Catania]], 1072 Palermo. Sie hatten bereits zuvor die langobardischen Gebiete unterworfen und auch die Byzantiner vertrieben, deren letzte Stadt Bari 1071 fiel. Noch vor Abschluss der Eroberung wandten sich die Normannen dem Kernland von Byzanz zu, das sie ab 1081 zu erobern versuchten. Byzanz sah sich damit einem gleichzeitigen Angriff der Normannen im Westen und der türkischen [[Seldschuken]] im Osten ausgesetzt. Venedig unterstützte in dieser Situation Kaiser [[Alexios I. (Byzanz)|Alexios I.]] mit seiner Kriegsflotte und erhielt im Gegenzug Handelsprivilegien, die seine Händler ab 1082 von allen Abgaben befreiten.<br />
<br />
== Wirtschaft, Handel, Kredit und Marktquote im Hochmittelalter ==<br />
Um 1000 kam es zu einer Intensivierung des Handels und zu einer Steigerung der Produktion. Dies hing mit einer Besserung der klimatischen Bedingungen, dem Rückgang der Epidemien, wie der [[Malaria]], aber auch mit dem Abklingen der Invasionen aus dem Osten (Slawen, Ungarn) und dem Süden (Araber, Berber) zusammen. Die Bevölkerung Italiens, die wieder anstieg, wird für die Zeit um 650 auf 2,5 Millionen,<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philosophical Society, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref> für das späte 11. Jahrhundert auf 5 Millionen Einwohner geschätzt. Bis Ende des 14. Jahrhunderts lag sie bei rund 10 Millionen.<ref>''Italien.'' In: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, Sp. 732.</ref><br />
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Dieser Anstieg der Bevölkerung bewirkte oder ermöglichte eine verstärkte [[Landesausbau|Binnenkolonisation]], die ihren Höhepunkt während des 12. Jahrhunderts erlebte. Dabei löste sich das [[Villikation]]ssystem weitgehend auf, die (Wieder-)Einführung von Zitrusfrüchten, Oliven, Baumwolle<ref>Maureen Fennell Mazzaoui: ''The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages, 1100–1600'' Cambridge University Press, Cambridge 1981.</ref> und eine Seidenproduktion bei nur geringen technologischen Veränderungen führten zu einer Intensivierung des Austauschs. Vom wirtschaftlichen Vorsprung der muslimischen Reiche und des Byzantinischen Reichs profitierten zunächst Städte in Süditalien, wie [[Amalfi]], dann [[Salerno]], [[Gaeta]], [[Bari]], sowie die Städte Siziliens. Sie handelten im ganzen Mittelmeerraum mit Holz, [[Mediterraner Sklavenhandel|Sklaven]], Eisen, Kupfer, wofür sie Gewürze, Wein, Luxuswaren, Farbstoffe, [[Elfenbein]] und Kunstwerke erstanden.<br />
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[[Datei:Venezianische Kolonien.png|mini|Kolonialreich und Haupthandelswege Venedigs im östlichen Mittelmeer]]<br />
[[Datei:Genuesische Kolonien.png|mini|Kolonien Genuas]]<br />
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Im 10. Jahrhundert gelang es [[Republik Venedig|Venedig]] durch seine engen Beziehungen zu Byzanz und zu den muslimischen Reichen, nicht nur zu einer Handels-, sondern auch zu einer Seemacht aufzusteigen. [[Republik Genua|Genua]] und Pisa hingegen standen im [[Tyrrhenisches Meer|Tyrrhenischen Meer]] erheblich stärkeren Gegenkräften gegenüber, konnten jedoch binnen eines Jahrhunderts um 1100 die Oberhand gewinnen. Diesen drei bald vorherrschenden Seemächten kamen technische Innovationen, wie [[Kompass]], [[Portolan]], aber auch die Vergrößerung des Frachtraums, die verbesserte Ausbildung der Kaufmannssöhne und der staatliche Schutz von Handelskonvois zustatten. Auch dehnten sie die Handelszeiten aus und verkürzten die Winterpausen.<br />
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Die Dominanz über große Teile des Mittelmeers machte die oberitalienischen Flotten zum gegebenen Transportmittel für Pilger und Kreuzfahrer, was wiederum gewaltige Vermögen hervorbrachte. Schließlich gelang es Genuesen und Venezianern durch überwiegend unter äußeren Zwängen gewährte Privilegien, die byzantinische Konkurrenz weitgehend auszuschalten und den Handel nach [[Konstantinopel]] und tief nach Asien zu dominieren. Sowohl Genua als auch Venedig eroberten zunächst eine Kette von Stützpunkten bis weit in den Osten, die sie zu regelrechten Kolonialreichen ausbauten. Darüber hinaus unterhielten sie Kaufmannskolonien in zahlreichen Städten, die verschiedene Grade der Autonomie erhielten.<ref>Zu den italienischen Kaufleuten in Europa vgl. [[Arnold Esch (Historiker)|Arnold Esch]]: ''Viele Loyalitäten, eine Identität. Italienische Kaufmannskolonien im spätmittelalterlichen Europa.'' In: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 581–608.</ref><br />
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Diesem Handelssystem im Osten musste ein entsprechendes System im Westen und Norden entgegengestellt werden, um Waren zu akquirieren und ausreichende Absatzmärkte zu entwickeln. Dies galt zum einen für Italien selbst, dessen wachsende Bevölkerung durch eine große Zahl von Messen, durch den Ausbau lokaler Märkte mit Waren versorgt wurde, zum anderen für Westeuropa, wo sich italienische Kaufmannskolonien entwickelten. Sie saßen in den Städten der [[Provence]], [[Katalonien]]s und [[Kastilien]]s, im Rheinland, in [[Flandern]] und [[England]]. Sie bildeten analog zu den östlichen Kaufleuten die Schaltstationen für den Handel, für Informationen und sogar für die Ausbildung des Nachwuchses. Sie waren es zudem, die den Luxusbedarf der Höfe einschließlich desjenigen des Papstes deckten.<br />
<br />
Dieser Aufstieg im Zusammenhang mit der ''kommerziellen Revolution''<ref>Erstmals bei Raymond de Roover: ''The Commercial Revolution of the Thirteenth Century.'' Diskussionsbeitrag zu N. S. B. Grass: ''Capitalism – Concept and History.'' In: Business History Review 16 (1942), S. 34–39, Nachdruck 1962.</ref> konnte neben der günstigen räumlichen Lage Italiens und den Kontakten mit ökonomisch weiter entwickelten Nachbarn auf die städtische Kontinuität aufbauen, die hier größer war als in den meisten anderen Gebieten des ehemaligen Römischen Reichs.<ref>Die Debatte hierüber fand in den 1970er bis 90er Jahren statt und teilte Historiker wie Archäologen in solche, die eher einen katastrophischen Umbruch sahen (die ''catastrofisti''), wie [[Andrea Carandini|A. Carandini]], R. Hodges, D. Whitehouse oder G. P. Brogiolo, und die Verfechter einer Kontinuität (die ''continuisti''), wie B. Ward-Perkins, C. Wickham, C. La Rocca.</ref> Die Städte waren Amtssitze von Bischöfen und Äbten, von königlichen Verwaltungsorganen, deren wirtschaftliche Grundlagen dennoch überwiegend im Ländlichen lagen, und die Städte besaßen Märkte und Messen, Häfen und Fernhandelsstraßen und profitierten vom Luxusbedarf. Zudem konnten sie sich im Norden von den Landesherren weitgehend unabhängig machen und den Landadel zwingen, in die Stadt zu ziehen. Mit diesen Entwicklungen brach in Italien die Dominanz des Agrarischen über das Städtische zusammen. Handel, Geldwesen, gewerbliches Unternehmertum unter der Ägide einer aufkommenden bürgerlichen Herrenschicht prägten das Land. Die städtische Bevölkerung dürfte sich zwischen dem 11. und dem frühen 14. Jahrhundert verfünf- oder -sechsfacht haben. Dieses Wachstum war ganz überwiegend dem Zuzug vom Lande zu verdanken, so dass sich neben die ökonomische Revolution eine ''Stadtrevolution'' gesellte. Dieser Zuzug bewirkte zum einen eine massive Vergrößerung der Städte, zum anderen die Entstehung einer Bauindustrie, die zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige wurde.<br />
<br />
Die kommunalen Führungsgruppen bestanden aus Fernhändlern, Immobilienbesitzern und Grundbesitzern. Sie wurden gedrängt, ihr Kapital in Handelsreisen und Schiffsbau zu investieren, aber auch in staatliche Fürsorgeaufgaben, wie die Versorgung mit Getreide und Brot, deren massenhafter Umsatz einen erheblichen Anteil an der Entstehung der großen Vermögen hatte. Auch die Waren an Bord der Schiffe gehörten meist einem oder mehreren Kapitalgebern, die mit dem Schiffsführer durch einen Vertrag verbunden waren. Bald kamen zum Handel und zur Plünderung Geschäfte wie [[Bank]]- oder [[Wechsel (Wertpapier)|Wechselunternehmungen]] hinzu. Dies galt sowohl für den kleinen, lokalen Kreditmarkt als auch für die Fernhandelskredite, die in Venedig stärker staatlich, in Genua stärker privat organisiert waren. Ab dem 12. und 13. Jahrhundert schlossen sich die Händler zu Gesellschaften (compagnie) zusammen, die aus Familienverbänden hervorgingen und Filialen bildeten. In Venedig galten Brüder sogar automatisch als Angehörige ein und derselben Handelsgesellschaft.<ref>Vgl. Frederic C. Lane: ''Family Partnerships and Joint Ventures in the Venetian Republic.'' In: Journal of Economic History 4 (1944), S. 178–196.</ref><br />
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Die Techniken des Geldtransfers und der Kreditvergabe wurden ab dem 12. Jahrhundert erkennbar verbessert. So überwand man sehr viel früher als im übrigen Europa die Risiken des Münztransfers, die Hürden des Wechsels von einem Münzsystem ins andere und entwickelte zugleich durch verdeckte Zinsnahme, die ja aufgrund biblischer [[Zinsverbot|Verbote]] untersagt war, ein umfangreiches Kreditwesen auf der Basis von Wechseln. Auf [[römisches Recht]] gestützt, wurde zudem das [[Seerecht|See]]- und [[Geschichte des Handelsrechts|Handelsrecht]] ausgebaut.<br />
<br />
Um 1250 hatte sich die kommerzielle Revolution so weit durchgesetzt, dass sie das Wesen der italienischen Metropolen dominierte. Die Mentalität der Führungsschichten setzte auf räumliche Expansion, wie etwa nach [[Russland]], [[Geschichte Chinas|China]], [[Indien]] und Afrika, aber auch [[Norwegen]] und in den Ostseeraum, in Italien selbst expandierte der Warenumsatz auf der Grundlage zunehmender Geld- und Marktvermittlung der meisten ökonomischen Transaktionen. Um dem stark angestiegenen Handelsvolumen Wege zu öffnen, dehnte man die Wasserwege, die natürlicherweise zur Verfügung standen, aus, indem man Kanäle baute und die Straßen verbesserte. Der ganz überwiegende Teil des Handels, insbesondere der mit Massengütern, wurde dabei weiterhin auf dem Wasser bewältigt.<br />
<br />
Handel und Gewerbe bildeten in den Städten eine schwer abzugrenzende Einheit. Die [[Zunft|Handwerkerzünfte]] (arti) bezogen sich dabei meist auf den Laden (bottega) und nahmen nur selten „industrielle“ Dimensionen an. Ganz anders war die Situation im [[Bergbau]] und im [[Schiffbau]] sowie im Textilsektor. Bis zum 12. Jahrhundert waren Kalabrien und Sizilien die Zentren der Seidenproduktion, ab dem 13. Jahrhundert auch die Toskana und die Emilia, dort wiederum [[Lucca]] und [[Bologna]]. Zunächst waren die italienischen Tuchhändler vor allem im Zwischenhandel zwischen [[Herzogtum Brabant|Brabant]]-[[Grafschaft Flandern|Flandern]] und Nordfrankreich tätig, doch begannen sie in einer Art Verlagssystem eine Mischung aus Handwerksbetrieben, Lohn- und Heimarbeit zu entwickeln ''(opificio disseminato)''.<br />
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[[Datei:SilverGrossoDogeRanieroZeno1253-1268Venice.jpg|mini|Silbermünze, Venedig zwischen 1253 und 1268]]<br />
[[Datei:Venezia Ducato 1400.jpg|mini|Goldmünze, Venedig 1400]]<br />
<br />
Die Mittlerrolle Italiens erzwang ein doppeltes Münzsystem aus Silber- und Goldmünzen, das zunächst in geringem Umfang die süditalienischen Städte in der Nachfolge der muslimischen betrieben, deren [[Tari (Münze)|Tari]] sie übernahmen. Mitte des 13. Jahrhunderts gingen Florenz und Genua, Ende des Jahrhunderts auch Venedig zu einem Doppelsystem aus Gold- und Silbermünzen über, das den Städten erhebliche Einnahmen brachte und zugleich Preismanipulationen und Verlagerungen der gesellschaftlichen Lasten ermöglichte. So installierte Florenz eine Binnenwährung und eine Währung für den Außenhandel, die stabil gehalten wurde. Dadurch konnte man die Löhne im Vergleich zu den Erträgen aus dem Außenhandel senken, ohne den sozialen Frieden im Innern zu gefährden.<ref>[[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo.'' Venedig 1961, Nachdruck 1995, S. 121.</ref><br />
<br />
Um 1200, vor allem nach der Plünderung Konstantinopels (1204) im Verlauf des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], überstieg das Kapitalangebot den entsprechenden Markt. Dies gab dem Geldverleih und dem Bankwesen neue Möglichkeiten, wobei sich einige der Banken auf Geschäfte der [[Hochfinanz]] spezialisierten. Sie finanzierten königliche Höfe und organisierten die päpstlichen Finanzen. Auch Kriege wurden zunehmend von ihnen vorfinanziert. Das Risiko bestand allerdings darin, dass keine Mindestdeckung des ausgegebenen Kapitals bestand, und vor allem, dass es bei ausländischen Kreditnehmern kaum Möglichkeiten gab, sie zur Rückzahlung zu zwingen.<br />
<br />
Ganz anders verlief hingegen die Entwicklung im Süden Italiens.<ref>Grundlegend zur Zweiteilung Italiens ist immer noch [[David Abulafia]]: ''The Two Italies. Economic Relations between the Norman Kingdom of Sicily and the Northern Communes.'' Cambridge University Press, Cambridge 1977.</ref> Die dortigen Städte standen im 11. Jahrhundert an der Schwelle zur kommerziellen Revolution, doch brachte die normannische Herrschaft nach der Vertreibung der Byzantiner und Berber eine ausgeprägte Feudalisierung unter Dominanz des neu erhobenen Adels. Dessen Latifundien und die fortdauernde Bindung der Bauern an die Scholle verhinderten die Entfaltung agrarischer Vielfalt, zumal der Weizen als Exportgut, das der Kriegsfinanzierung diente, immer größere Flächen in Anspruch nahm. Sowohl Normannen als auch Staufer, Anjou und die spanischen Herrscher nutzten diesen Reichtum zur Finanzierung ihrer Hofhaltung und ihrer Kämpfe untereinander und ihrer Expansionsversuche gegen Byzanz. Zugleich wurden die Kommunen einer rigorosen Steuerverwaltung und einem dem schwankenden Finanzbedarf angepassten Fiskalismus unterworfen sowie kommunale Selbstorganisation weitgehend unterdrückt. Auch spielten Handwerker- und Händlerkorporationen nur eine geringe Rolle.<br />
<br />
Dies führte dazu, dass der italienische Norden den Süden als Rohstoffland betrachtete – etwa von Wein, Öl, Käse, Holz, Salz, Vieh, Meeresfrüchten usw. – und die von den heimischen Dynastien geschaffenen Verhältnisse vertiefte. Die Kaufleute aus Genua, Florenz, Pisa und Venedig ließen sich im 12. Jahrhundert in großer Zahl in den Hafenstädten nieder. Nach dem Ende der Staufer (1268) dominierten die Florentiner vor allem das Reich der Anjou, die Pisaner das aragonesische Sizilien. Zu ihnen kamen im 14. Jahrhundert katalanische Kaufleute, die gleichfalls dazu beitrugen, dass das Kapital abfloss und kaum im Land investiert wurde.<br />
<br />
Alle Bemühungen der Staufer, etwa Bergbau, Zuckerproduktion, Handwerk und Gewerbe zu fördern, der Anjou das Straßennetz auszubauen, und selbst die Einrichtung neuer Messen und Märkte brachten angesichts dieser Grundkonstellation kaum Verbesserungen. Allerdings kamen diese staatlichen Lenkungsversuche den Hafenstädten zugute, da sie stark vom Export profitierten. Neapel wurde als Hauptstadt wieder wichtig für den Schiffbau und als Zentrum für Luxusgüter. Nach der Vereinigung Neapels mit Sizilien (1442) intensivierte sich der Handel mit den Spaniern ungemein, jedoch erhielt Süditalien auch hier eher die Rolle des Rohstofflieferanten. Dabei nahm die Seidenraupenzucht in Kalabrien einen Aufschwung, es wurden [[Merinoschaf]]e eingeführt, [[Thunfisch]] und [[Korallen]] wurden verstärkt ausgeführt.<br />
<br />
== Reformversuche der Kirche und Gesellschaft ==<br />
Im Norden war die zunehmende Verstädterung von Machtkämpfen der landsässigen ''Capitane'' und der eher an die Städte angelehnten ''Valvassoren'', die Inhaber von Lehen waren und Reichsrechte genossen, begleitet. Zugleich kämpften Stadtherren und Einwohnergemeinden um die Vorherrschaft. Die Mailänder [[Pataria]] von 1057<ref>Grundlegend: [[Hagen Keller]]: ''Pataria und Stadtverfassung.'' In: Josefl Fleckenstein (Hrsg.): ''Investiturstreit und Reichsverfassung.'' Thorbecke, Sigmaringen 1973, S. 321–350.</ref> bewirkte zugleich, dass sich das [[Reformpapsttum]], das, ähnlich wie die Aufständischen, die Bekämpfung der [[Simonie]] und des [[Nikolaitismus]] betrieb, in Konflikt mit der kaiserlichen Herrschaft geriet. Dies hing vor allem damit zusammen, dass Papst [[Gregor VII.]] das Recht der Einsetzung des Mailänder Bischofs beanspruchte, schließlich ab 1075 die aller Bischöfe. Bereits 1024 zerstörten die ''Cives'' Pavias die Königspfalz und beendeten damit deren Rolle als königliche Residenz.<ref>Piero Majocchi: ''Pavia città regia. Storia e memoria di una capitale altomedievale.'' Viella, 2008, S. 91f.</ref> Ab den 1080er Jahren sind Konsulatsverfassungen in den Städten fassbar, ab 1093 formelle Bündnisse zwischen Städten.<br />
<br />
[[Datei:Urkunde Wormser Konkordat-bg.png|mini|Urkunde Heinrichs V. von 1122 (s. [[Wormser Konkordat]]), in der er auf die Investitur der Bischöfe mit ''Ring und Stab'' verzichtet.]]<br />
<br />
Im Italien des 11. Jahrhunderts verbanden sich Reformbestrebungen der Kirche<ref>Zu kirchlichen Reformbestrebungen und der Veränderung der Gesellschaft vgl. John Howe: ''Church Reform and Social Change in Eleventh-Century Italy.'' University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1997.</ref> mit Bestrebungen, die Abhängigkeit vom transalpinen Königtum zu mindern. Vor allem in den nördlichen Bistümern hatte das [[Reichskirchensystem]] eine starke Abhängigkeit der Kirchen geschaffen, die sich auch darin zeigte, dass dort vor allem bayerische Bischöfe residierten, wie etwa in Aquileia, in der [[Mark Verona]]<ref>Für das Bistum Verona untersuchte dies Maureen Catherine Miller: ''The Formation of a Medieval Church. Ecclesiastical Change in Verona, 950-1150.'' Cornell University Press, Ithaca, 1993.</ref> und in Ravenna. In anderen Städten entstammten die Bischöfe vielfach der Gruppe der feudalen italienischen Capitane, ab dem 12. Jahrhundert auch der Valvassoren. Die Bischöfe erhielten sich zwar eine gewisse Selbstständigkeit, doch wurden sie zunehmend in das grundherrschaftlich organisierte Herrschaftssystem des Reichs eingebunden. Gegen die Unterwerfung der Bischofswahlen unter den Willen eines königlichen Laien regte sich zunehmend Widerstand. Der Aufstand der Pataria von 1057, der vor allem der moralischen Wiederherstellung der Kirche galt, wirkte auch nach seiner Niederschlagung fort. 1067 bestätigten die [[Päpstlicher Legat|Kardinallegaten]] in Mailand dem Bischof die aus seinem Amt heraus ausgeübte geistliche Gewalt über den gesamten Klerus, die Gemeinschaft der Gläubigen und insbesondere über die Taufkirchen, ganz gleich, ob die daran hängenden Benefizien Laien oder Klerikern zustanden. 1075 untersagte Papst Gregor VII. explizit die Einsetzung von Geistlichen durch Laien in ihre Ämter. Darüber kam es bis zum [[Wormser Konkordat]] (1122) zu einer ersten Streitphase mit den deutschen Herrschern.<br />
<br />
[[Datei:Pedro Berruguete - St Dominic and the Albigenses - WGA02083.jpg|mini|Der heilige [[Dominikus]] und die [[Albigenser]] in [[Albi]] (1207) – katholische und katharische Schriften werden ins Feuer geworfen, doch nur letztere verbrennen – [[Pedro Berruguete]] um 1495.<ref>[http://www.wga.hu/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html St Dominic and the Albigenses] in der [http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html WEB Gallery of Art]</ref> ]]<br />
<br />
Die spirituelle<ref>Zur Geschichte der Spiritualität in Italien vgl. Pietro Zovatto (Hrsg.): ''Storia della spiritualità italiana.'' Città Nuova, Rom 2002.</ref> und die soziale Dimension der Reformbewegung darf bei den dahinterliegenden ökonomischen und Machtinteressen nicht unterschätzt werden. Um 1034 erschienen mit den Häretikern von Monforte im Piemont erstmals [[Häresie|heterodoxe]] Bewegungen, Gruppen, deren Lehre die Kirchenleitung nicht mit ihren Dogmen für vereinbar hielt. Neben der bereits genannten Pataria (1057) sind hier vor allem [[Arnold von Brescia]]<ref>Zur Rezeption vgl. Romedio Schmitz-Esser: ''Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute.'' LIT Verlag, Münster 2007.</ref> (1155 hingerichtet), die [[Katharer]], die [[Humiliaten]], die italienischen [[Waldenser]] oder die [[Passagini]] zu erwähnen, aber auch [[Ugo Speroni]] († nach 1198), der sich gegen Hierarchie, Priestertum und Sakramente wandte.<br />
<br />
Vielfach am Rande des akzeptierten Spektrums agierten zunächst reformbegeisterte Einsiedler, wie [[Petrus Damiani]], der das Leben des Klerus in Gemeinschaften stärken wollte. Überall entstanden von Klerikern und Laien initiierte [[Kanoniker]]stifte. Im klösterlichen Sektor entstanden die [[Virginianer]], der Orden von Pulsano, die [[Wilhelmiten]], die [[Kartäuser]], die [[Zisterzienser]] sowie die Floriazenser durch [[Joachim von Fiore]]. Gegen die Vielfalt der der Welt zugeneigten Bewegungen entstand wiederum eine Bewegung, die sich von der Welt abwandte, Kontemplation und Buße übte und damit benediktinische Traditionen wieder stärker belebte. So entstanden die Kongregationen der [[Coelestiner]] und der [[Silvestriner]].<br />
<br />
Laienbewegungen, wie die [[Halleluja-Bewegung]] waren von ähnlich großem Einfluss; einige von ihnen betätigten sich antihäretisch. Im 13. Jahrhundert kam die [[Flagellanten]]bewegung auf, welcher der dritte Orden der Franziskaner lange zuneigte. Schließlich kamen Franziskaner und [[Dominikaner]], später auch [[Karmeliter]], [[Augustinereremiten]], [[Serviten]] und [[Sackbrüder]] hinzu. Vor allem die beiden Ersteren setzte der Papst in seinem propagandistischen Kampf gegen den Kaiser ein.<br />
<br />
[[Datei:Hanging and burning of Girolamo Savonarola in Florence.jpg|mini|Die Hinrichtung Savonarolas auf der Piazza della Signoria in Florenz]]<br />
<br />
Im 14. und 15. Jahrhundert wandten sich zahlreiche Kongregationen karitativen Aufgaben zu, wie es schon früher [[Beginen und Begarden]] getan hatten. So entstand ein überaus dichtes Netz von Hospitälern und Bruderschaften, wobei viele Institutionen in kommunaler Hand waren oder von den Städten ins Leben gerufen wurden. Dass die Vertreter dieser Bewegungen sich damit jedoch keineswegs zufriedengaben, zeigen Männer und Frauen wie [[Bernhardin von Siena]], [[Katharina von Genua]] oder [[Franziska von Rom]], die der Mystik neue Impulse gaben, vor allem aber [[Girolamo Savonarola]], der zur Durchsetzung seiner Ideen 1494 bis 1498 die politische Macht in Florenz an sich riss.<br />
<br />
Dabei blieb Italien von Hexenverfolgungen weitgehend verschont.<ref>Dies und das Folgende nach Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 44f.</ref> Zwar gab es sie in den Alpentälern (die schwersten Verfolgungen fanden in [[Valcamonica]] von 1518 bis 1521<ref>Massimo Prevideprato: ''Tu hai renegà la fede – Stregheria ed inquisizione in Valcamonica e nelle Prealpi lombarde dal XV al XVIII secolo.'' Vannini, Brescia 1992.</ref> und bis mindestens 1525 in [[Como]] statt), doch [[Andrea Alciati]] (1492–1550), führender Kommentator des [[Codex Iuris Civilis]], verfasste aus Anlass der dortigen Verfolgungen Gutachten, in denen er in kaum zu überbietender Schärfe von „nova holocausta“ sprach. Er warf der [[Inquisition]] vor, sie schaffe das Phänomen der Hexerei erst, statt es, wie sie behauptete, zu bekämpfen.<ref>Wolfgang Behringer: ''Witches and Witch-Hunts. A Global History.'' Polity Press, Cambridge 2004, S. 167.</ref> Schon 1505 war der Franziskaner Samuel de Cassini aus Mailand gegen die Verfolgungen aufgetreten, dennoch kamen sie vereinzelt bis nach 1700 vor.<ref>Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 61.</ref><br />
<br />
Die [[Inquisition]] war von Rom in den Auseinandersetzungen mit den zahlreichen sozialen und religiösen Bewegungen gegründet worden und stützte sich vor allem auf die Dominikaner. Die Waldenser, die „Armen von Lyon“, wurden 1184 in dem von Papst [[Lucius III.]] verfassten Edikt ''Ad Abolendam'' als [[Häresie|Häretiker]] aufgeführt. Eine erneute Verurteilung folgte 1215 unter Papst [[Innozenz III.]] 1252 wurden die Waldenser in der von Papst [[Innozenz IV.]] verfassten [[Päpstliche Bulle|Bulle]] ''[[Ad Extirpanda]]'' erneut nebst anderen Gruppen verurteilt. Ab den 1230/1240er Jahren gingen die Verfolgungen von der Inquisition aus. Während die Inquisition das waldensische Bekenntnis in Kalabrien und in der Provence ausrottete, überlebte es in einigen Tälern der [[Cottische Alpen|Cottischen Alpen]].<br />
<br />
== Papst, Normannen, Staufer (bis 1268) ==<br />
Im hohen und späten Mittelalter waren weite Teile Mittelitaliens von der [[Römisch-katholische Kirche|römisch-katholischen Kirche]] dominiert und, ebenso wie Oberitalien, unmittelbar von den Machtkämpfen zwischen Kaiser und [[Papst]] (beginnend mit dem [[Investiturstreit]] und endend im 14. Jahrhundert) sowie von den Kämpfen zwischen den Kommunen betroffen. Letztere ordneten sich meist als [[Ghibellinen und Guelfen]] den streitenden Hauptparteien zu. Daneben bestanden auch innerhalb der Kommunen oft starke Spannungen.<br />
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Dabei spielte das Ende der arabischen und der byzantinischen Herrschaft im Süden eine erhebliche Rolle. 1038 und 1040 gelang Byzanz zwar die Rückeroberung von [[Messina]] und [[Syrakus]], doch nun führten Auseinandersetzungen bei Hof und das Ausgreifen der als Söldner ins Land geholten Normannen zum Zusammenbruch sowohl der byzantinischen als auch der arabischen Herrschaft.<br />
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[[Heinrich II. (HRR)|Heinrich II.]] griff 1021 im Süden ein; ihm unterwarfen sich die süditalienischen Fürsten und er belagerte das byzantinische [[Troia (Apulien)|Troia]] in Apulien. Das Papsttum, das bis 1012 von den [[Crescentier]]n abhängig war, hing nun von den [[Tuskulaner]]n ab. Sein Sohn und Nachfolger traf jedoch mehrere langfristig wesentlich folgenreichere Entscheidungen: Mit der Einsetzung Suidgers von Bamberg als Papst [[Clemens II.]] schuf [[Heinrich III. (HRR)|Heinrich III.]] 1046 die Voraussetzungen für das Reformpapsttum. Er belehnte darüber hinaus 1047 den Normannen [[Rainulf II.]] mit der Grafschaft [[Aversa]] und Drogo von Hauteville mit seinem apulischen Landbesitz, der auf byzantinischem Gebiet lag. Damit traten erstmals Normannenführer in eine Lehnsbindung zum Reich. Der Papst belehnte seinerseits 1059 [[Robert Guiskard]] mit Apulien, Kalabrien und dem noch zu erobernden Sizilien. Unter seiner Führung eroberten dann die Normannen in einer Art Kreuzzug<ref>Diese Einreihung als frühester Kreuzzug bietet Paul E. Chevedden: ''“A Crusade from the First”: The Norman Conquest of Islamic Sicily, 1060–1091.'' In: Al-Masaq: Islam and the Medieval Mediterranean 22 (2010), S. 191–225.</ref> von 1061 bis 1091 Sizilien<br />
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[[Datei:Italy 1050.jpg|mini|Italien um 1050]]<br />
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Ein weiterer wichtiger Faktor war die Durchsetzung des [[Lehnswesen|Lehnsrechts]] in Oberitalien, bei der sich der Kaiser zugunsten der [[Valvassor]]en einsetzte ([[Constitutio de feudis]], 1037), um damit der Macht der Großen, die sich im von den Kaisern nur selten aufgesuchten Italien verselbständigt hatten, ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Um die Macht der [[Große]]n weiter einzuschränken, stattete er mehrere Städte mit Privilegien aus. Dementsprechend wurde einer der mächtigsten Capitane, [[Gottfried III. (Niederlothringen)|Gottfried der Bärtige von Tuszien]], zum Protektor der Reformpäpste. Dies war umso wichtiger, als die Normannen unzuverlässige Verbündete waren; so marschierten sie 1066 in das [[Patrimonium Petri]], und trotz des [[Anathema|Kirchenbanns]] gegen ihn besetzte [[Robert Guiskard]] das Fürstentum Salerno (1076), die letzte langobardische Herrschaft. Diese für Papst [[Gregor VII.]] äußerst bedrohliche Situation dürfte sein vergleichsweise mildes Verhalten gegenüber [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] bei seinem [[Gang nach Canossa|Bußgang nach Canossa]] mit bedingt haben.<br />
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Der Papst erkannte 1080 alle Eroberungen der Normannen an und löste Robert Guiskard vom Bann. Robert trat nun massiv gegen [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] auf und befreite den Papst aus der Gefangenschaft. Zudem sorgten die Normannen für eine langsame Rekatholisierung – in [[Santa Severina]] wurde der orthodoxe Ritus bis ins 13. Jahrhundert beibehalten – der einst byzantinischen Bistümer und die Gründung neuer Episkopate. [[Gallipoli (Apulien)|Gallipoli]] behielt den byzantinischen Ritus bis 1513, [[Bova (Kalabrien)|Bova]] sogar bis 1573 bei (dort besteht bis heute ein griechisch geprägter Dialekt). Auf Sizilien wurden die von den Muslimen aufgehobenen Bistümer wieder eingerichtet. Darüber hinaus traf Robert Vorbereitungen, das durch die Eroberungen der [[Seldschuken]] geschwächte Byzanz zu erobern. Damit wiederum machte er sich Venedig zum Feind, das die Festsetzung einer Macht auf beiden Seiten der Adria im Interesse der Freiheit seiner Handelswege nicht mehr duldete.<br />
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[[Datei:Hugo-v-cluny heinrich-iv mathilde-v-tuszien cod-vat-lat-4922 1115ad.jpg|mini|Mathilde von Tuszien und Hugo von Cluny als Fürsprecher [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrichs IV.]], Vita Mathildis des Donizio, um 1115. Vatikanstadt, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Ms. Vat. lat. 4922, f. 49<sup>v</sup>)]]<br />
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Die Staufer erhoben nun Anspruch auf die [[Mathildische Güter|Mathildischen Güter]] und umwarben dabei auch Mailand, das damit begonnen hatte, sich mit der Unterwerfung von [[Lodi (Lombardei)|Lodi]] (1111) und [[Como]] (1127) ein eigenes Territorium zu schaffen.<br />
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Das [[Schisma]] von 1130 – in Rom bekämpften sich die Familien der [[Pierleoni]] und der [[Frangipani (Adelsgeschlecht)|Frangipani]] –, das erst 1139 durch das [[Zweites Laterankonzil|Zweite Laterankonzil]] beendet wurde, schwächte hingegen die päpstliche Seite, die sich nun gezwungen sah, den Normannen zahlreiche Rechte einzuräumen. [[Lothar III. (HRR)|Lothar III.]] suchte auf Ersuchen von Aufständischen den seit 1130 zum König gekrönten [[Roger II. (Sizilien)|Roger II.]] 1136 bis 1137 zu bekämpfen. Roger war in der Schlacht von Nocera (24. Juli 1132) gegen die Aufständischen unter Rainulf von Alife unterlegen. Lothar zog nun Mailand auf seine Seite. Dadurch wurden die Feinde Mailands, allen voran Pavia und [[Cremona]], beinahe automatisch seine Gegner. Pisa, Venedig und Genua unterstützten wiederum Lothar bei der Eroberung [[Bari]]s. Doch das Heer weigerte sich, Roger nach Sizilien zu verfolgen, so dass es diesem bis 1138 gelang, nicht nur Papst [[Innozenz II.]] gefangen zu setzen, sondern auch alle Rechte im Süden Italiens zurückzugewinnen, nachdem 1139 Rogers Hauptgegner Rainulf gestorben war. 1143/44 geriet der Papst zudem durch einen Aufstand in Rom unter [[Arnold von Brescia]] in Bedrängnis.<br />
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[[Konrad III. (HRR)|Konrad III.]] verhandelte nun mit dem byzantinischen Kaiser [[Manuel I. (Byzanz)|Manuel I.]] wegen eines Bündnisses gegen die Normannen, die Byzanz angegriffen hatten. 1148 beschlossen sie einen gemeinsamen Kriegszug, der zur Aufteilung des Normannenreiches führen sollte. Roger verbündete sich mit dem französischen König und mit den [[Welfen]]. Nach dem Tod des Kaisers verfolgte sein Nachfolger [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich I.]] zwar eine ähnliche Politik, doch duldete er keine byzantinische Beteiligung. Auch zog er [[Welf VI.]] auf seine Seite, indem er ihn mit riesigen Ländereien belehnte. 1154 starb Roger II.<br />
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[[Datei:Arrivo aragonesi.jpg|mini|Die Flotte [[Peter III. (Aragón)|Peters III. von Aragón]] – der König ist durch die Krone kenntlich gemacht – landet in Trapani auf Sizilien, Biblioteca Vaticana. Die Insel bleibt bis 1861 in spanischer Hand.]]<br />
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Das Normannenreich stellte inzwischen eine bedeutende mittelmeerische Macht dar (1146 eroberte es Tunis), zumal ihm nun erhebliche wirtschaftliche Mittel zur Verfügung standen. 1155 und 1156 gelang ihm der Ausgleich mit dem Papst sowie mit Genua und Venedig. Es versuchte jedoch vergeblich, das Byzantinische Reich zu erobern, und unternahm 1185 unter [[Wilhelm II. (Sizilien)|Wilhelm II.]] einen letzten Versuch, der jedoch gleichfalls scheiterte. Die [[Kreuzzüge]] hatten nicht nur zu maßlosen Plünderungen, sondern auch zu einer Verdichtung der Handelsbeziehungen insbesondere der süditalienischen, später auch der norditalienischen mit dem gesamten Mittelmeerraum geführt. Das Normannenreich kämpfte in Italien in wechselnden Koalitionen gegen kaiserliche und päpstliche Ansprüche, konnte aber durch seinen langfristigen Wechsel auf die Seite des Papstes ab 1155 in die Rolle des Beschützers gegen die Machtansprüche der römisch-deutschen Kaiser hineinwachsen, bis es 1190 per Erbfolge an die [[Staufer]] fiel. Diese erhielten 1194 das Normannenreich. [[Palermo]] war Hauptstadt und Residenz Kaiser [[Friedrich II. (HRR)|Friedrichs II.]], der im Süden aufgewachsen war.<br />
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Süditalien war trotz der dynastischen Verbindung in der Stauferzeit formal nie Teil des Heiligen Römischen Reichs und stellte zudem ein päpstliches Lehen dar. Die Päpste fürchteten, die Staufer würden den Kirchenstaat „umklammern“, und kämpften gegen deren Dominanz. Im Streit zwischen Friedrich II. und den Päpsten, den seine Nachfolger fortsetzten, unterlagen die beiden letzten Staufer 1266 und 1268 gegen [[Karl I. (Neapel)|Karl I. von Anjou]]. 1282 brachte ein Volksaufstand zunächst Sizilien ([[Sizilianische Vesper]]), dann ein Erbgang 1442 das festländische Süditalien an [[Krone Aragonien|Aragón]] (das ab 1492 ein Teil [[Spanien]]s wurde).<br />
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== Kommunen, Signorien, Reichspolitik (11. bis 15. Jahrhundert) ==<br />
=== Kommunale Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:20110724 Milan Cathedral 5260.jpg|mini|Der [[Mailänder Dom]]]]<br />
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In Norditalien emanzipierten sich die Städte ab dem Ende des 11. Jahrhunderts von der kaiserlichen Oberherrschaft und dehnten allmählich ihre Herrschaft über das Umland aus, indem sie die kleinen [[Valvassor]]en ihrer eigenen städtischen Lehensherrschaft unterwarfen. Typisch war bald die „republikanisch“ orientierte Konsularverfassung, die ab etwa 1080 greifbar ist. Der sich ab 1164 formierende [[Lombardenbund]] besiegte den römisch-deutschen Kaiser [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich Barbarossa]], der die Städte stärker der kaiserlichen Kontrolle unterwerfen wollte,<ref>[[Ferdinand Opll]]: ''Ytalica Expeditio. Die Italienzüge und die Bedeutung Oberitaliens für das Reich zur Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas (1152–1190).'' In: Hubert Houben (Hrsg.): ''Deutschland und Italien zur Stauferzeit'', Göppingen 2002, S. 93–135.</ref> 1176 in der Schlacht bei [[Legnano]]. Mit dem Ende der Staufer wurden die Städte faktisch unabhängig (wenn sie auch, sofern sie sich in Reichsitalien befanden, weiterhin formal die kaiserliche Oberherrschaft akzeptierten) und usurpierten kaiserliche Rechte ([[Regalien]]).<br />
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Unter den Kommunen, die im Süden der sehr viel stärker zentralisierenden Macht der Normannen und ab 1268 der Anjou gegenüberstanden, konnten nur die im Norden einen Status weitgehender Selbstständigkeit erreichen. Der [[Republik Venedig]], die als einzige auch formal vom Reich unabhängig war, gelang es im 9. und 10. Jahrhundert auch von Byzanz weitgehend unabhängig zu werden. 992 und 1082 erhielten ihre Händler Handelsprivilegien, die trotz schwerer Rückschläge dazu führten, dass sie den Handel im östlichen Mittelmeer dominierten. Zwar machte ihnen darin Pisa Konkurrenz, doch verdrängte Venedig diese Konkurrenz zwischen 1099 und 1126 weitgehend, als sich der byzantinische Kaiser gezwungen sah, sein Vorhaben aufzugeben, Pisa gegen Venedig auszuspielen. Nachdem sein Nachfolger 1171 alle Venezianer hatte verhaften lassen, bediente sich Venedig des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], um Konstantinopel zu erobern. Von 1204 bis 1261 steuerte die Stadt das [[Lateinisches Kaiserreich|Lateinische Kaiserreich]], nach dessen Untergang Genua die Handelsströme kontrollierte. Infolgedessen unterstützte Venedig die Rückeroberungspläne der Staufer und Anjou und lieferte sich vier umfassende Kriege mit Genua, die erst 1381 endeten. Das Konkurrenzverhältnis blieb jedoch bestehen.<br />
<br />
Mailand wurde 1162 von Friedrich Barbarossa unterworfen und zerstört, erholte sich aber rasch. Doch entstand zunächst unter der Führung Cremonas der Lombardenbund sowie der unter Venedigs Einfluss entstandene [[Veroneserbund]]. Sie standen im Bund mit den Normannen, dem Papst und dem byzantinischen Kaiser, gegen dessen Annexionspläne sich Friedrich gewandt hatte, so dass die römisch-deutsche Herrschaft zusammenbrach. Nach der [[Schlacht von Legnano]] (1176) und den Friedensschlüssen von Venedig (1177) und [[Friede von Konstanz|Konstanz]] (1183) konnten zwar viele Reichsrechte wiederhergestellt werden, doch die Unabhängigkeit der Kommunen war nicht mehr grundsätzlich gefährdet.<br />
<br />
Andererseits führte die Heirat [[Heinrich VI. (HRR)|Heinrichs VI.]] mit [[Konstanze von Sizilien|Konstanze]], der Erbin des Normannenreiches, 1194 dazu, dass das Römisch-deutsche mit dem Normannenreich vereinigt wurde. [[Friedrich II. (HRR)|Friedrich II.]] musste jedoch, um sich gegen die Welfen durchsetzen zu können, den Kirchenstaat in der [[Goldbulle von Eger]] (1213) im von [[Innozenz III.]] geschaffenen Umfang anerkennen. Andererseits setzte er im Süden ein zentralistisches Regiment durch, das in Anknüpfung an normannische Traditionen kommunalen Freiheiten nur wenig Raum ließ. Auch brach er den Widerstand des regionalen Adels und überzog das Land mit einem Netz von Burgen; zugleich monopolisierte er große Teile des Handels.<br />
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=== Staufer und Anjou ===<br />
[[Datei:Cortenuova1237.JPG|mini|Der ''Carroccio'' des [[Lombardenbund]]s, ein von Ochsen gezogener Triumphwagen, der den Truppen [[Friedrich II. (HRR)|Kaiser Friedrichs II.]] in der [[Schlacht von Cortenuova]] in die Hände fiel, 14. Jahrhundert]]<br />
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Gegen diese für die Kommunen bedrohliche Macht entstand 1226 ein neuer Lombardenbund. Zugleich kam es zwischen Staufern und Päpsten zu heftigen Konflikten, die 1227 zum Bann gegen Friedrich und daraufhin zum offenen Krieg führten. Dabei unterstützte der Lombardenbund den Papst, zahlreiche andere Städte, wie etwa Cremona oder Pisa, unterstützten hingegen den Kaiser, vielfach, weil sie sich nur so des Expansionsdrucks ihrer Nachbarn erwehren konnten. Friedrich siegte zwar 1237 bei [[Schlacht von Cortenuova|Cortenuova]], doch seine Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung Mailands führte dazu, dass der Krieg fortgesetzt wurde. Nun verbanden sich auch Genua und Venedig offen gegen den Kaiser, zumal es ihm 1238 nicht gelungen war, [[Brescia]] zu erobern.<br />
<br />
Nach dem Tod Friedrichs (1250) versuchten seine Anhänger in Italien zunächst immer noch, die Reichsrechte durchzusetzen, doch [[Karl I. (Neapel)|Karl von Anjou]], der vom Papst gekrönte König Siziliens, beendete die Macht der Staufer in zwei Schlachten ([[Schlacht bei Benevent|Benevent]] und [[Schlacht bei Tagliacozzo|Tagliacozzo]], 1266 und 1268). Karl nahm die normannischen Eroberungspläne gegen Byzanz wieder auf und fand dabei die Unterstützung Venedigs, da Konstantinopel 1261 wieder Hauptstadt von Byzanz war und der dortige Kaiser den Venezianern den Zutritt verwehrte. Es gelang Kaiser [[Michael VIII.|Michael Palaiologos]] nicht nur, die Invasoren zu schlagen, sondern 1282 einen [[Sizilianische Vesper|Aufstand]] zu entfachen, der die Anjou schwächte und dazu führte, dass Sizilien an Aragón kam. Damit zersplitterte sich die Macht im Süden in zwei Herrschaftsbereiche, die sich über Jahrzehnte bekämpften.<br />
<br />
Der Kirchenstaat war kaum fester gefügt als zuvor, zumal die Päpste ab 1309 in [[Avignon]] residierten (bis 1378, siehe [[Avignonesisches Papsttum]]) und immer stärker vom französischen König abhängig wurden. Auch litt die Wirtschaft unter den langwierigen Kämpfen und der fiskalischen Ausbeutung der Städte, so dass diese bald von den oberitalienischen endgültig überflügelt wurden. Neapel geriet in genuesische, dann vor allem florentinische Abhängigkeit. Zwischen den einzelnen Kommunen und auch innerhalb der Städte kam es immer wieder zu Konflikten; diese angespannte Lage in Ober- und Mittelitalien spiegelt sich in [[Dante Alighieri|Dantes]] (1265–1321) Werken mehrfach wider.<br />
<br />
Italien hatte sich weitgehend von der Reichspolitik abgekoppelt, was sich auch darin zeigt, dass erst 1310 bis 1313 ein König, [[Heinrich VII. (HRR)|Heinrich VII.]], zur Kaiserkrönung nach Italien zog, wo er zunächst überwiegend freundlich empfangen wurde und sogar teilweise als „Friedensbringer“ betrachtet wurde (so etwa von Dante und [[Dino Compagni]]), bevor seine Politik, die das Einfordern von verlorenen Reichsrechten zum Ziel hatte, bei vielen Guelfen auf Widerstand stieß. Heinrich, seit 1312 Kaiser, vergab aufgrund seiner brüchigen Stellung in Reichsitalien notgedrungen gegen hohe Summen das [[Reichsvikar]]iat an die mächtigsten Signorien, woraus vor allem die Herren von Verona und von Mailand Vorteil zogen. 1313 ging Heinrich offensiv gegen König [[Robert von Anjou]] vor, der gegen ihn agiert hatte und sogar den Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien bestritt, doch starb der Kaiser noch vor einem Feldzug gegen Neapel. Der Papst, der dieses Recht in Abwesenheit eines Kaisers beanspruchte, ernannte nach Heinrichs Tod Robert zum Reichsvikar in Italien. Pläne König [[Johann von Böhmen|Johanns von Böhmen]], den französischen König in die Herrschaftsverhältnisse einzubeziehen, scheiterten 1333. Sie brachten sogleich ein Bündnis zwischen guelfischen und ghibellinischen Städten zustande, denen sich sogar Robert von Anjou anschloss.<br />
<br />
[[Ludwig IV. (HRR)|Ludwig IV.]] unternahm 1327 einen Italienzug und ließ sich im Januar 1328 von stadtrömischen Vertretern zum Kaiser krönen. Aufgrund seines Konflikts mit dem Papsttum war die Krönung jedoch faktisch illegitim und er selbst zog sich bereits 1329 aus Italien zurück. Sein Nachfolger [[Karl IV. (HRR)|Karl IV.]] betrieb ebenfalls eine begrenzte Italienpolitik, die vor allem auf Geldzahlungen abzielte; auf die Durchsetzung kaiserlicher Rechte, wie noch Heinrich VII., legte sein Enkel bereits keinen Wert mehr, denn er betrachtete dies als nicht mehr durchsetzbar. Der Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien blieb zwar formal bestehen, faktisch war jedoch an eine effektive Herrschaftsausübung nicht mehr zu denken.<ref>Zur Italienpolitik der römisch-deutschen Könige im 14. Jahrhundert siehe zusammenfassend Roland Pauler: ''Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert.'' WBG, Darmstadt 1997.</ref><br />
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=== Signorie ===<br />
[[Datei:Castelvecchio Verona-01.JPG|mini|Die Stadtfestung [[Castelvecchio]] der Scaligeri, der Signori von [[Verona]]]]<br />
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In den Kommunen Ober- und Mittelitaliens setzte sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert die ''[[Signoria]]'' (Signorie) durch, eine Form monokratischer Herrschaftsausübung, bei der ein „starker Mann“ ''(signore)'' an der Spitze stand. Dies hing zum einen mit den permanenten Konflikten zwischen Guelfen und Ghibellinen zusammen, zum anderen mit inneren Konflikten zwischen ''populus'' und ''milites'' bzw. Magnaten. [[Oligarchie|Oligarchische]] und [[Plutokratie|plutokratische]] Gruppen dominierten die Städte weiterhin, auch bestanden vielfach die kommunalen Strukturen fort. Die Kosten für die in diesen Kämpfen inzwischen unabdingbaren [[Söldner]]truppen ermöglichten es immer weniger Städten, sich militärisch durchzusetzen. Nach und nach gewannen wenige Signorien in wechselnden Koalitionen die kleineren Städte, die sie in zahlreichen Kriegen eroberten. Die herausragenden Städte waren am Ende des 14. Jahrhunderts Florenz, Pisa und [[Siena]], Mailand, [[Mantua]] und [[Verona]], [[Bologna]], [[Padua]] und [[Ferrara]], schließlich Venedig und Genua. Im Laufe des 15. Jahrhunderts setzte sich Florenz in der Toskana durch (1406 Besetzung von Pisa), Mailand in der Lombardei, Venedig im Nordosten, während sich Mantua und Ferrara halten konnten. Dabei sicherten sich die [[Visconti]] in Mailand eine reichsrechtlich untermauerte Stellung, während sich Genua und Venedig von 1378 bis 1381 bekämpften ([[Chioggia-Krieg]]) und Florenz noch unter den Folgen des [[Ciompi-Aufstand]]s von 1378 litt. 1396 übernahm der französische König die Herrschaft über Genua. Venedig konnte 1435 Kaiser [[Sigismund von Luxemburg|Sigismund]] die reichsrechtliche Anerkennung seiner Eroberungen der letzten drei Jahrzehnte abringen.<br />
<br />
=== Kirchenstaat und Abendländisches Schisma (1378–1417) ===<br />
[[Datei:BNMsItal81Fol18RomeWidowed.jpg|mini|Rom als in Schwarz gekleidete, den Verlust des Papsttums betrauernde Witwe, [[Bibliothèque nationale de France]], MS Ital. 81, f. 18.]]<br />
<br />
In Mittelitalien setzte sich der Kirchenstaat weitgehend durch, doch führte das [[Abendländisches Schisma|Abendländische Schisma]] zur Verbreitung des Nepotismus und zur Einrichtung von lokalen Dynastien, die der Vereinheitlichung des Kirchenstaats widerstanden. Zudem kam es mehrfach zu massiven Eingriffen durch König [[Ladislaus (Neapel)|Ladislaus]] († 1414), dessen Reich allerdings nach seinem Tod in eine schwere Krise geriet, da es zu Nachfolgekämpfen kam. Im Norden kam es zu einer erneuten Verschärfung der Konflikte zwischen Guelfen und Ghibellinen, was die Institution der Signorie stärkte.<br />
<br />
Die Bischöfe, die ihre Machtstellung weitgehend eingebüßt hatten, versuchten vielfach diese zurückzugewinnen. Die Domkapitel, die die Bischofswahlen durchführten, wurden zunehmend von den lokal dominierenden Familien beherrscht, die die Wahlen zu ihren Gunsten zu steuern versuchten. Daher zog [[Johannes XXII.]] 1322 die Benefizien des Patriarchats Aquileia ein. Ähnliches geschah in Mailand und Ravenna, Genua und Pisa.<br />
<br />
Doch viel gravierender wirkte sich aus, dass nach der Wahl [[Urban VI.|Urbans VI.]] im Jahr 1378 zwei Obödienzen zustande kamen, Gebiete also, in denen verschiedene Päpste Anerkennung fanden. Vor allem in den Randgebieten Norditaliens wurden vielfach zwei konkurrierende Bischöfe eingesetzt; häufig kamen französische Bischöfe ins Land, vor allem im Süden. Dieser Zustand hielt bis 1417 an, als man sich auf dem [[Konzil von Konstanz]] auf [[Martin V.]] einigte. Weitere Kongregationen entstanden, wie die [[Olivetaner]], die [[Ambrosianer]]brüder, die [[Hieronymiten]] und die [[Jesuaten]].<br />
<br />
=== Wechselnde Koalitionen, Karl VIII. von Frankreich ===<br />
[[Datei:Italy 1454 after the Peace of Lodi.jpg|mini|Italien nach dem Frieden von Lodi (1454)]]<br />
[[Datei:Francesco granacci, entrata di Carlo VIII a Firenze.jpg|mini|Einzug König Karls VIII. von Frankreich in Florenz, [[Uffizien]], [[Francesco Granacci]], 1518]]<br />
<br />
1442 fiel das Königreich Neapel an Aragón, womit im westlichen Mittelmeer eine neue Großmacht entstand, die sich vielfach in die politischen Auseinandersetzungen Italiens einmischte. Die Herrschaft der wechselnden Päpste, die, ähnlich wie die anderen Mächte, immer wieder die Koalitionen wechselten, war darüber hinaus von Spannungen mit den [[Konzil]]ien, von wechselnden Residenzorten und von Zeiten gekennzeichnet, in denen mehrere Päpste gleichzeitig das Pontifikat beanspruchten. Kurzzeitig brachte die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) im Jahr 1454 den [[Frieden von Lodi]] zustande, der erstmals die Tatsache anerkannte, dass keine Macht Italien einigen konnte. Mit dem Anschluss an die nunmehr verbündeten Rivalen Venedig und Mailand durch Florenz und [[Alfons V. (Aragón)|Alfons V.]] unter Mitwirkung des Papstes kam sogar eine [[Lega italica]] zustande. Doch wirkten eher Zweier- und Dreierbündnisse stabilisierend, bis die Lega 1470, kurz nach der Eroberung Negropontes durch die Osmanen noch einmal erneuert wurde. Infolgedessen wurde Venedig kurzzeitig unterstützt, doch brachen die alten Konflikte zwischen Frankreich und Aragón, zwischen Florenz und Rom ([[Pazzi-Verschwörung|Verschwörung der Pazzi]] von 1478) und zwischen Venedig und Rom gegen Mailand, Florenz und Neapel (Ferrara-Krieg, bis 1484) bald wieder aus. Selbst die Besetzung des apulischen Otranto durch die Osmanen im Jahr 1480 konnte dies nicht dauerhaft verhindern.<ref>Hubert Houben (Hrsg.): ''La conquista turca di Otranto (1480) tra storia e mito. Atti del convegno internazionale di studio, Otranto-Muro Leccese, 28-31 marzo 2007.'' 2 Bde., Congedo, Galatina 2008, passim.</ref><br />
<br />
1494 marschierte [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich nach Neapel und besetzte die Stadt, doch verbanden sich [[Alexander VI.]], Venedig, Mailand, Spanien und [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] in der „[[Heilige Liga (1495)|Liga von Venedig]]“ gegen ihn. Trotz dieser Niederlage eröffnete der Feldzug eine Reihe äußerer Eingriffe.<br />
<br />
Die enormen Kosten der politisch-militärischen Konflikte ließen die großen Bankhäuser, die schließlich fast als einzige in der Lage waren, die Finanzierung zu gewährleisten, rapide anwachsen. Dies gilt etwa für die Bardi und die [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]]. Darüber hinaus gerieten die Agrarstädte immer mehr ins Hintertreffen, denn erhebliche Teile der Erträge gingen an die dominierenden Häuser im Norden. Zugleich wurde der Süden zu einem Randgebiet spanischer Herrschaft. Sie entrissen Sardinien 1326 Pisa – hingegen gelang es Genua Korsika zu verteidigen.<br />
<br />
=== Vertreibung der Juden aus den spanischen Gebieten, Ghettos (ab 1492) ===<br />
[[Datei:10 Roma gheto porta.jpg|mini|Pforten im Getto von Rom]]<br />
<br />
{{Hauptartikel|Geschichte der Juden in Spanien}}<br />
Nach der Vereinigung der beiden iberischen Mächte Aragón und Kastilien im Jahr 1492 und der Eroberung der letzten muslimischen Herrschaft, des [[Emirat von Granada|Emirats von Granada]], setzte mit dem [[Alhambra-Edikt]] eine [[Geschichte Spaniens#Eroberung Granadas, Vertreibung der Juden|gegen Muslime und Juden gerichtete Bekehrungs- und Vertreibungspolitik]] ein. Sie wurde auf den spanischen Teil Italiens übertragen.<br />
<br />
Die dortigen Juden lebten vom 5. bis zum 13. Jahrhundert ganz überwiegend in Rom,<ref>[http://www.romaebraica.it/la-storia-della-comunita-ebraica-di-roma/ ''La storia della Comunità Ebraica di Roma''], Website der Gemeinde in Rom.</ref> im Süden und auf den großen Inseln, im Hochmittelalter auch im Norden.<ref>Gian Maria Varanini, Reinhold C. Mueller: ''Ebrei nella terraferma veneta del Quattrocento. Atti del convegno di studi, Verona, 14 novembre 2003.'' Florenz 2005, passim.</ref> [[Moses von Lucca]] und sein Sohn [[Kalonymus]], dessen ''Responsa'' (um 940) als älteste Schrift der [[Aschkenasim]] gelten, gingen 920 nach [[Mainz]]. Die recht großen Gemeinden prosperierten unter den Muslimen im Süden, auch unter den Byzantinern durften sie Landwirtschaft betreiben.<br />
<br />
Doch die Normannen belasteten sie zunehmend, vor allem aber einige Päpste. Auf dem [[Viertes Laterankonzil|Vierten Laterankonzil]] wurde 1215 eine eigene [[Judentracht|Judenkleidung]] vorgeschrieben, und alle Juden sollten in abgegrenzten Quartieren leben. 1429 schützte Papst [[Martin V.]] die Juden, doch sein Nachfolger [[Eugen IV.]] untersagte 1442 den Bau von Synagogen. Ab 1471 verfolgten die Päpste erneut eine tolerantere Politik, es kam zu einer Blüte jüdischer Druckereien. Um 1500 traten Endzeitprediger auf, darunter [[Ascher Lemlein]].<br />
<br />
Die Anjou setzten die Juden gleichfalls starkem [[Bekehrung (Christentum)|Bekehrungsdruck]] aus. 1288 kam es zu einer ersten Vertreibung in Neapel, 1293 wurden im Königreich die meisten Gemeinden zerstört. Besser hingegen erging es ihnen unter der aragonesischen Herrschaft; als Aragón 1442 das Königreich Neapel übernahm, prosperierte die dortige jüdische Gemeinde. Um 1300 lebten etwa 12.000 bis 15.000 Juden in Süditalien,<ref>[http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0010_0_09774.html ''Italy''], Jewish Virtual Library.</ref> ab 1399 veranstalteten sie eigene Synoden. Da im Norden das Zinsnahmeverbot einer Kreditversorgung vor allem der kleinen Orte im Wege stand, entstanden Hunderte kleiner Gemeinden. In den dortigen ''Judenhäusern'' lebte die Familie des Geldleihers zusammen mit seinen Angestellten. 1397 wurden Geldverleiher gezielt nach Florenz geholt.<br />
<br />
1492 wurde die spanische Vertreibungspolitik auf Sizilien und Sardinien, 1541 auf Neapel ausgedehnt (gültig bis 1735), viele flohen nach Norden, vor allem nach Rom, Venedig, Mailand und [[Livorno]]. Die größte Synagoge Venedigs war die 1555 errichtete ''Scuola Spagnola''. Als Mailand 1597 spanisch wurde, mussten 900 Juden die Stadt verlassen. Die zahlreichen Zuwanderer von der Iberischen Halbinsel brachten die dortigen Sprachen mit.<ref>Rafael Arnold: ''Spracharkaden. Die Sprache der sephardischen Juden in Italien im 16. und 17. Jahrhundert.'' Universitätsverlag Winter, 2006, passim.</ref> 1638 forderte [[Simone Luzzato]], 57 Jahre [[Rabbi (Gelehrter)|Rabbi]] der Gemeinde in Venedig, erstmals eine Tolerierungspolitik und argumentierte dabei ökonomisch.<br />
<br />
Im Gefolge der [[Franziskanische Orden|franziskanischen]] Anti-Wucherkampagnen kam es in vielen Städten zur zwangsweisen Ansiedlung der Juden in festgelegten, abgeschlossenen Bezirken, wie etwa im [[Römisches Ghetto|römischen]] (ab 1555) oder im [[Ghetto (Venedig)|venezianischen]] Ghetto (ab 1516).<ref>Roberto Bonfil: ''Gli Ebrei in Italia nell’epoca del Rinascimento'', Sansoni, 1991, S. 64. Weitere Ghettos entstanden in: Florenz 1571, [[Siena]] 1571, [[Mirandola]] 1602, [[Verona]] 1602, [[Padua]] 1603, [[Mantua]] 1612, [[Rovigo]] 1613, [[Ferrara]] 1624, [[Urbino]], [[Pesaro]], [[Senigallia]] 1634, [[Modena]] 1638, [[Este (Venetien)|Este]] 1666, [[Reggio nell’Emilia|Reggio Emilia]] 1670, [[Conegliano]] 1675, [[Turin]] 1679, [[Casale Monferrato]] 1724, [[Vercelli]] 1725, [[Acqui Terme|Acqui]] 1751, [[Moncalvo]] 1732, [[Finale Emilia]] 1736, [[Correggio (Emilia-Romagna)|Correggio]] 1779.</ref> Letzteres wurde 1797 auf Veranlassung [[Napoleon Bonaparte|Napoleons]] aufgelöst. Das römische Ghetto bestand bis 1870, obwohl es die Franzosen zwischen 1798 und 1814 bereits aufgelöst hatten. [[Paul IV.]] ließ 1555 den [[Talmud]] öffentlich verbrennen, 1559 wurde er auf den [[Index Librorum Prohibitorum|Index]] gesetzt. Ab 1569 wurden Juden nur noch in Rom und [[Ancona]] geduldet.<br />
<br />
== Wirtschaft im Spätmittelalter, kommerzielle Revolution ==<br />
=== Ökonomischer Rückgang ===<br />
[[Datei:Torre dei peruzzi (2014).JPG|mini|Florenz: einer der Türme der Unternehmerfamilia [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], der im 13./14.&nbsp;Jh. ganze Quartiere gehörten.]]<br />
<br />
1347 bis 1351 trafen mehrere Katastrophen das italienische Wirtschaftssystem. Schon 1315 bis 1317 hatte eine Reihe von Missernten eine Hungerkatastrophe bewirkt und die [[spätmittelalterliche Agrarkrise]] angestoßen. Im Westen begann 1337 der [[Hundertjähriger Krieg|Hundertjährige Krieg]]. Das [[Byzantinisches Reich|byzantinische Reich]] hatte sich von den Attacken der Kreuzfahrer ([[Lateinisches Kaiserreich]] 1204 bis 1261), an denen italienische Handelsstädte nicht ganz unbeteiligt gewesen waren, nie ganz erholt und schaffte es nicht, dem Vordringen mittelasiatischer Völker in [[Kleinasien]] Einhalt zugebieten. Ab 1348 traf der [[Schwarzer Tod|Pest]] den gesamten Handelsraum Italiens. Unter diesen Bedingungen kam es zu den größten Bankrotten des Mittelalters.<br />
<br />
Hunger und Pandemie hatten starke Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Die für den Anfang des 14. Jahrhunderts auf 11 Millionen geschätzte Einwohnerzahl Italiens brach bis etwa 1350 auf 8 Millionen ein. Um 1450 erreichte sie vielleicht wieder 9 Millionen, um sich erst im 16. Jahrhundert wieder vollständig zu erholen. Zahlreiche [[Wüstung]]en hingen zudem mit der Flucht in die Städte zusammen, in denen angesichts des Fehlens von Handwerkern steigende Löhne lockten. Diese wiederum gaben bald Anlass zu verstärkter Mechanisierung. Zugleich verschärften sich die innerstädtischen Konflikte zwischen der dominierenden Schicht und den Handwerkern, die etwa im [[Ciompi-Aufstand]] von 1378 in Florenz gipfelten. Bis 1370/80 stiegen die Preise stark an, stabilisierten sich um 1400, um danach bis um 1480/90 zu stagnieren.<br />
<br />
=== Veränderungen der kommunalen Wirtschaft ===<br />
Die Handwerksbetriebe lagerten nun spezialisierte Tätigkeiten zunehmend aus, viele konzentrierten sich auf den wachsenden Bedarf an Luxusgütern. Seide, Druckerzeugnisse, Eisen-, Metall-, Leder- und Edelsteinverarbeitung expandierten, ebenso die Papierherstellung und einige Bereiche des Baugewerbes. Italiens Dominanz in der Wirtschaft ging dabei insgesamt deutlich zurück, wozu auch die Gefährdung seiner Flottenherrschaft im Mittelmeerraum beitrug.<br />
<br />
Die Rückkehr des Papstes aus Avignon lenkte hingegen erhebliche Kapitalströme nach Italien und förderte damit den Aufstieg der [[Medici]], [[Salviati (italienisches Adelsgeschlecht)|Salviati]] und [[Strozzi]] in Florenz, der [[Borromeo]] in Mailand, der [[Grimaldi]] und [[Spinola]] in Genua oder der [[Chigi (Adelsgeschlecht)|Chigi]] in [[Siena]]. Auch die Zahl der mittleren und kleinen Unternehmen – wie etwa das des [[Francesco Datini]] – nahm zu. Dabei führten Kriegskosten oftmals dazu, dass sich die Kommunen an den Händler- und Bankiersvermögen schadlos hielten, was diese wiederum dazu veranlasste, einflussreiche Positionen in den Städten anzustreben oder ihr Vermögen in Immobilien zu investieren. Aus den städtischen Posten konnte man einerseits wiederum Gewinn ziehen, andererseits konnte man Einfluss auf Gesetzgebung und Finanzierungsmethoden gewinnen. Einkünfte aus Steuerpacht und Ausgaben der Kommunen trugen nun viel stärker zur Vermögensbildung der führenden Schichten bei.<br />
<br />
=== Landbebauung, Landgemeinden, Halbpacht ===<br />
Basis der Wirtschaft blieb trotz der Verstädterung der Landbau, in dem nach wie vor die meisten Menschen ihre Betätigung fanden. Dabei erhielt in den Städten der [[Weizen]] wieder seine Vorrangstellung vor anderen Getreidearten wie [[Hirse]] zurück, während auf dem Lande diese Sorten weiterhin eine wichtige Rolle spielten, ebenso wie Hülsenfrüchte. Dies galt auch für die [[Stadtarmut]], die auf die billigere Hirse oder [[Bohne]]n, ab dem 16. Jahrhundert auf [[Mais]] zurückgriff. Hauptlieferanten von Fleisch waren Schwein, Schaf und Ziege, hinzu kamen Geflügel und Fisch. Rinderzucht wurde erst im 15. Jahrhundert und dann hauptsächlich in der Po-Ebene betrieben, wobei die [[Milchwirtschaft]] eine erhebliche Rolle spielte. Bis dahin wurden Rinder hauptsächlich als Zugvieh gezüchtet und an Bauern verpachtet. Die Weidewirtschaft bestand vielfach als [[Transhumanz]] im alpinen Bereich, in den [[Abruzzen]] und auf Sardinien, aber auch als [[Alm (Bergweide)|Almwirtschaft]] in den Alpen. Im Gegensatz zur Weizen- und Viehwirtschaft expandierte der Weinbau stark, ebenso wie der Anbau von Olivenbäumen.<br />
<br />
Anders als im Hochmittelalter mit seiner Binnenkolonisation kam es nun eher zu [[Melioration]]en. Neue und überkommene Kulturen wurden ausgeweitet, die Agrarlandschaft änderte sich vor allem im Umkreis der zahlreichen Städte. Systematisch wurden nun Gärten für Gemüse und Obst im Umland und in den Vorstädten angelegt und, ähnlich wie die Felder der Bauern, Tag und Nacht bewacht. In Bologna engagierte man 1291 allein 45 Wächter, um die Getreideausfuhr zu verhindern.<ref>[[Hans Conrad Peyer (Historiker)|Hans Conrad Peyer]]: ''Zur Getreidepolitik oberitalienischer Städte im 13. Jahrhundert'', Diss. Wien 1950, S. 54.</ref> Die Expansion der Landbebauung in die Wälder, die zunehmend gerodet wurden, untergrub die Nahrungsgrundlagen erheblicher Teile der Landbevölkerung, die sich bis dahin partiell ohne Marktvermittlung ernähren und mit Brenn- und Bauholz versorgen konnten. Auch gefährdete die Abholzung den Schiffbau, so dass etwa Venedig Wälder unter Schutz stellte. Darüber hinaus verstärkte sich die Bodenerosion und die Überschwemmungen wurden sehr viel weniger im Entstehungsbereich abgefangen, so dass es am Unterlauf vielfach zu Katastrophen und zur Vernichtung von Ackerland und Ökoreserven kam. Gleichzeitig laugte vielfach der Boden aus, so dass sich die Bauern gezwungen sahen, Weiden unter den Pflug zu nehmen.<br />
<br />
Der [[Ertragsindex]] stieg nach 1350 von 3:1 auf 4:1, trotz Landflucht und Bevölkerungsrückgang. Entgegen allen negativen Entwicklungen ermöglichte dies eine relativ sichere Versorgung der städtischen Bevölkerung. Zugleich wurde mit der Auflösung des Fronhofsystems fast jede Form der Unfreiheit, sieht man von einigen Regionen im Norden und Süden ab, aufgehoben. Es entstanden regelrechte Landgemeinden, die von Abgaben befreit waren. Allerdings kamen Mitte des 13. Jahrhunderts Teilpachtverträge auf, die auf der Abgabe von Naturalien basierten. Die häufigste, bis ins 20. Jahrhundert bestehende Form war die ''[[Mezzadria]]'' ''([[Naturalpacht]])'', die im 12. und 13. Jahrhundert bescheidene Anfänge nahm, jedoch im 14. bis 16. Jahrhundert Verbreitung in fast ganz Italien fand. Durch Verschuldung gerieten die Bauern wieder in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Sie mussten vielfach ihr Land und ihr Vieh verkaufen und verloren zunehmend die Kontrolle über die Landgemeinden, Kleinbauern hielten sich aufgrund ihres unmittelbaren Marktzugangs fast nur im Umkreis der Städte. Auch gelang es Bauern in der Po-Ebene, sich zwischen bäuerliche Bevölkerung und Grundbesitzer zu positionieren und als Pächter ''(fittavoli)'' aufzutreten. Die Bauern hatten sowohl an den Grundbesitzer als auch den Pächter, und darüber hinaus an die Kommunen Abgaben zu leisten.<br />
<br />
=== Rollenteilung zwischen den Machtzentren ===<br />
Die oberitalienischen Metropolen erlebten bereits vor Beginn der [[Kreuzzüge]] eine Phase intensivierten Handels und deutlichen Bevölkerungsanstiegs; zudem erlangten sie immer größere Autonomie. Die Erträge der Bauern stiegen, den Kommunen gelang es, ihr Umland wirtschaftlich auf die Bedürfnisse der Stadt auszurichten. Während Genua und Venedig vorrangig vom Fernhandel, Krieg und Kaperei im Mittelmeer lebten und tief nach Asien vordrangen, profitierte Mailand sowohl davon als auch vom transalpinen Handel, ähnlich wie [[Verona]]. Florenz hingegen wurde zur Zentrale des europäischen Tuchhandels. Seine Schafweiden befanden sich bis zum 15. Jahrhundert in England und später in Mittelitalien, vor allem den [[Abruzzen]], im 16. Jahrhundert in [[Kastilien]]. Hingegen führten die unausgesetzten Kämpfe zwischen Papst und Kaiser, und nach dem Ende der Staufer zwischen Anjou, Byzanz und Aragón dazu, dass die ertragreichen Rohstoffausfuhren in Süditalien das Übergewicht gewannen und die kommunale Selbstorganisation zunehmend eingeschränkt wurde.<br />
<br />
Bis Ende des 13. Jahrhunderts gelang es den großen Florentiner Gesellschaften, den Weizenexport Süditaliens fast zu monopolisieren. Sie erwarben dort die in den Städten Oberitaliens nachgefragten Weizenmengen und boten dafür vor allem toskanische Tuche, die sie überwiegend in [[Neapel]] verkauften. Die Anjou, die den Süden seit den 1260er Jahren beherrschten, brauchten ihrerseits gewaltige Geldmengen, da sie [[Byzantinisches Reich|Byzanz]] erobern wollten und nach der [[Sizilianische Vesper|Sizilianischen Vesper]] von 1282 [[Krone Aragón|Aragón]] bekämpften, das Sizilien besetzt hatte. Sie setzten alles daran, ihre Rohwarenproduktion zu erhöhen. Der Weizenhandel machte die Florentiner Bankhäuser der [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], aber auch die Bardi und Acciaiuoli, die den Handel unter sich aufteilten und sogar die [[Republik Venedig|Venezianer]] zeitweise verdrängten, ganz außergewöhnlich reich.<br />
<br />
=== Handel, Edelmetalle, Geldpolitik ===<br />
[[Datei:Fiorino 1340.jpg|mini|Goldflorin, geprägt zwischen 1332 und 1348 in Florenz; Lilie von Florenz, Johannes der Täufer mit Nimbus. Zur Rechten des Täufers finden sich drei Halbmonde, das Wappen der [[Strozzi]].]]<br />
<br />
Trotz der Entwicklung des Wechsels, des Kreditwesens und der Depositenbanken beruhte die Zirkulation von Waren im Spätmittelalter auf Münzen. Ihr Edelmetallgehalt bestimmte ihren Wert. Der Umgang mit [[Rechnungswährung|Rechengeld]] änderte nichts Grundsätzliches an dieser Abhängigkeit. Venezianer und Genuesen zahlten in Byzanz mit Silber, während sie für ihre Waren Goldmünzen erhielten, d. h. vor allem [[Hyperpyron|Gold-Hyperpyra]].<ref>Dies und das Folgende nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes.'' Beck, München 2009, S. 24–26.</ref> Im 12. Jahrhundert basierte hingegen der Handel Italiens noch entweder auf [[Tauschhandel]] oder auf Silbermünzen, denn nur das [[Königreich Jerusalem]], das [[Königreich Sizilien]] und das Reich der [[Almohaden]] brachten neben Byzanz Goldmünzen in Umlauf. Während das Silber im Westen an Wert verlor, floss gleichzeitig das künstlich teuer gehaltene Silber der oberitalienischen Handelsstädte nach Osten ab. Ihnen drohte demzufolge der Verlust ihrer Funktion als Handelsdrehscheibe durch Auszehrung ihrer Silberreserven.<br />
<br />
Die Handelsstädte Florenz und Genua durchbrachen 1252 als erste die Trennung zwischen dem Silbergebiet und dem islamisch-byzantinischen Goldgebiet, indem sie beide Edelmetalle, die die Städte nun in ausreichendem Maße erreichten, als Münzen zirkulieren ließen. Dabei dürfte für Genua der Goldzufluss aus dem Handel mit der Levante und dem Maghreb und der in untragbarem Ausmaß schwankende Feingehalt der bereits in Süditalien umlaufenden [[Tari (Münze)|Goldtarì]] eine entscheidende Rolle gespielt haben, den [[Genovino]] aufzulegen. Im Florentiner Fall mögen Getreidekäufe in Sizilien für die Einführung des [[Florin (Goldmünze)|Florin]] (ab 1533 Scudo d’Oro) eine wichtige Rolle gespielt haben. Venedig zögerte bis 1284, den [[Dukat (Münze)|Golddukaten]] einzuführen, da hier der Goldzustrom zunächst noch geringer war.<br />
<br />
Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber hing stark von deren Verfügbarkeit ab.<ref>Dies und das Folgende nach: Hans-Jürgen Hübner: ''Quia bonum sit anticipare tempus. Die kommunale Versorgung Venedigs mit Brot und Getreide vom späten 12. bis ins 15. Jahrhundert.'' Peter Lang, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 126–132.</ref> War Gold 1284 noch elfmal so teuer wie Silber, so stieg sein Kurs 1305 bis 1330 auf 1:14,2. Ab etwa 1320 lieferten die Goldminen im Raum des ungarischen [[Kremnica|Kremnitz]] große Goldmengen, die ab 1324/25 die Prägung einer ungarischen Goldmünze gestatteten. 1327 vereinbarten Ungarn und Böhmen zudem einen Ausfuhrstopp für Silber nach Italien. Darüber hinaus kam es in den 1330er Jahren zu einem verstärkten Goldzustrom aus dem [[Ural]] und aus [[Mali]] (bis in die 1370er Jahre), der den Silber-Kursverfall bremste und zeitweise umkehrte. Binnen weniger Jahre wurde Venedig zum führenden Goldexporteur, während es zuvor der führende Silberexporteur gewesen war.<br />
<br />
Gold wurde immer billiger. 1331/32 fiel der Gold- gegenüber dem Silberkurs von 1:14,2 bis 1350 auf einen Tiefststand von 1:9,4. Nun kehrten die Münzprägestätten ihre Politik um und versuchten, den Silberzulauf zu verstärken. Die venezianische [[Zecca (Venedig)|Zecca]] stellte 1354 die Prägung der Silbermünzen ein, um durch ein künstlich erzeugtes Unterangebot ihren Wert zu halten. In dieser Zeit stabilisierte sich der Kurs zwischen 1:9,9 und 1:10,5, schwankte von 1401 bis 1500 zwischen 10,7 und 11,6 und um 1509 lag er bei 1:10,7. Entscheidend dürfte dabei gewesen sein, dass Venedig seine nahöstlichen Gewürzkäufe, die es praktisch zu einem Monopol ausbaute, fast nur noch mit Golddukaten bezahlte. Die Stadt wurde dadurch zum größten „Goldleck“ Europas.<br />
<br />
Immer wieder griffen die Städte massiv in die Wechselkurse zwischen den Münzen ein, deren Gold- und Silberanteil immer stärker vermindert wurde, während die Händler gezwungen wurden, weiterhin zum Nominalkurs zu wechseln. Venedig ging sogar so weit, dass es 1353 in seinem Kolonialreich stark überbewertete Münzen massenhaft zwangsweise eintauschen ließ, um seine Silberreserven zu schonen. Nach [[Alan M. Stahl|Alan Stahl]]<ref>[[Alan M. Stahl]]: ''The Venetian Tornesello. A medieval colonial coinage'', American Numismatic Society, New York 1985, S. 45.</ref> prägte die Zecca allein 1375 rund 6 Millionen Münzen und machte durch Zwangsumtausch einen Gewinn von fast 3000 Dukaten. Die Gewinne waren so hoch, dass man in Venedig bereit war, die daraus resultierende Inflation in Kauf zu nehmen.<br />
<br />
Der Umgang mit den Münzsystemen wurde so geläufig, dass er auch als Mittel der Destabilisierungspolitik eingesetzt wurde. Mailand brachte 1429 stark überbewertete Münzen in Umlauf, die im Tausch gegen venezianisches Silbergeld 20 % Gewinn brachten. Venedig halbierte daraufhin den Silbergehalt des umlaufenden [[Bagattino]], gleichzeitig lehnte es Zahlungen in dieser Münze ab und verlangte von seinen Untertanen „gute Münzen“. Mit den Gewinnen wurde der [[Condottiere|Söldnerführer]] [[Francesco I. Sforza|Francesco Sforza]] bezahlt. Mailand brachte wenig später neue Münzen in Umlauf, was neben Einschmelzungen dazu führte, dass die venezianischen Münzen gänzlich verschwanden und sich nur noch der „schlechte“ Bagattino hielt. 1453 wies der Senat die [[Zecca (Venedig)|Zecca]] an, eine ausschließlich für Oberitalien gedachten Münze zu prägen. Doch große Mengen an gefälschten Münzen zwangen schnell zur Reduzierung des Nominalwertes. 1463 konnten 20.000 gefälschte Bagattini konfisziert werden. Erst 1472 verabschiedete sich der venezianische [[Rat der Zehn]] von dieser Variante des „Münzimperialismus“, wie ihn [[Reinhold Mueller]] bezeichnet hat. Dies geschah offenbar, weil Mailand abermals versuchte, durch Überflutung Oberitaliens mit nachgemachten Münzen die venezianische Münzpolitik auszunutzen. Der Rat der Zehn reduzierte den Wert der bedrohten Münzen um volle 40 %, was nach Antonio Morosini einer Vernichtung von einer Million Dukaten an Kaufkraft gleichkam. Gleichzeitig wurden die schlechten Silbermünzen durch vertrauenswürdige Kupfermünzen ersetzt, deren Wert durch Limitierung der Auflagen kontrolliert wurde.<br />
<br />
== Renaissance (ab dem 14. Jahrhundert) ==<br />
{{Hauptartikel|Renaissance}}<br />
[[Datei:Leonardo da Vinci (1452-1519) - The Last Supper (1495-1498).jpg|mini|links|[[Das Abendmahl (Leonardo da Vinci)|Das Abendmahl]] von [[Leonardo da Vinci]], 1495–1498]]<br />
[[Datei:Da Vinci Vitruve Luc Viatour.jpg|mini|[[Der vitruvianische Mensch]], Proportionsstudie nach [[Vitruv]], ebenfalls von da Vinci, um 1492]]<br />
<br />
Im Italien des späten 14. Jahrhunderts liegen die Anfänge der Renaissance; als Kernzeitraum gelten das 15. und 16. Jahrhundert. Das wesentliche Charakteristikum ist die Wiedergeburt antiken Geistes, der [[Humanismus]] war die prägende Geistesbewegung. Vorreiter der Entwicklung waren italienische Dichter des 14. Jahrhunderts wie [[Francesco Petrarca]], der durch seine Beschäftigung mit antiken Schriftstellern und durch seinen Individualismus den Glauben an den Wert humanistischer Bildung förderte und das Studium der Sprachen, der Literatur, der Geschichte und Philosophie außerhalb eines religiösen Zusammenhangs als Selbstzweck befürwortete. Hinzu kam eine Neuorientierung in der Wissenschaft, wo das [[Theozentrismus|theozentrische]] Weltbild des Mittelalters durch eine stärker [[Anthropozentrismus|anthropozentrische]] Sicht der Dinge abgelöst wurde.<br />
<br />
In der Literatur leiteten im 14. Jahrhundert [[Dante Alighieri]]s ''[[Göttliche Komödie]]'' (''La Divina Commedia,'' 1307–1321), Francesco Petrarcas Briefe, Traktate und Gedichte und [[Giovanni Boccaccio]]s ''Il Decamerone'' (1353) das Zeitalter der Renaissance ein. Die drei Autoren, die wegen ihrer herausragenden Bedeutung als die „drei Kronen“ der italienischen Literatur ''(tre corone fiorentine)'' bekannt sind, schrieben in der Volkssprache, dem ''[[Italienische Sprache#Geschichte|volgare]]''. Graf [[Baldassare Castiglione]] beschreibt in ''Il Cortegiano'' (1528) den Idealtypus eines Renaissancemenschen.<br />
<br />
Vorbedingung war die Möglichkeit, griechisches und arabisches Wissen aufzunehmen. Auch die sozialen und politischen Zustände in Italien trugen zu den Umbrüchen bei. Dort war die Erinnerung an die Antike noch am lebendigsten,<ref>[[Jacob Burckhardt]]: ''Die Kultur der Renaissance in Italien'', bearb. v. [[Walter Goetz]]. 12. Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-05311-4.</ref> Verkehrswege verbanden sie mit den Zentren der Bildung und im politisch zersplitterten Byzanz bestand die Möglichkeit, Kunst und Bücher zu erwerben. Die großen Vermögen, die durch den Handel entstanden, machten es möglich, große öffentliche und private Kunstprojekte in Auftrag zu geben. Zudem erlebte die Entwicklung zur pragmatischen Schriftlichkeit bereits im frühen 13. Jahrhundert einen Aufschwung, der Schriftverkehr der Kaufleute vertiefte und verbreiterte die Literalität, so dass die Zahl der Alphabetisierten zunahm.<br />
<br />
Im 15. Jahrhundert gehörte Italien zu den am stärksten [[Urbanisierung|urbanisierten]] Regionen Europas. Die Städte boten relativ große politische Freiheit, die zu neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Wegen anregten. Dies galt vor allem für die selbstständigen Mächte Italiens, also das [[Herzogtum Mailand]], die [[Republik Venedig]], [[Florenz]], das [[Königreich Neapel]] und den [[Kirchenstaat]], aber auch für die Höfe von Ferrara oder Mantua.<br />
<br />
Die Päpste verhielten sich kaum anders als die weltlichen Fürsten. Sie führten Kriege und versuchten durch Intrigen Macht und Reichtum [[Nepotismus am Heiligen Stuhl|der eigenen Familien zu vergrößern]]. Der Sohn Papst [[Alexander VI.|Alexanders VI.]] [[Cesare Borgia]], der sich als Söldnerführer und Machtpolitiker betätigte und versuchte, Italien unter seine Herrschaft zu bringen, diente [[Niccolò Machiavelli]] als Vorbild für sein staatsphilosophisches Werk ''[[Der Fürst]]''.<br />
<br />
== Konkurrenz der Weltmächte, Wirtschaftskrise, Bevölkerungsrückgang ==<br />
[[Datei:Habsburg Map 1547.jpg|mini|links|Die habsburgischen Gebiete in Europa im Jahr 1547]]<br />
[[Datei:Ottoman empire de.svg|mini|Das Osmanische Reich zwischen 1481 und 1683]]<br />
<br />
Nach der Entdeckung [[Amerika]]s 1492 durch den Genuesen [[Christoph Kolumbus|Columbus]], aber auch Nordamerikas 1497 durch den von Venedig nach England gegangenen [[Giovanni Caboto]], sowie der zunehmenden Nutzung des Seeweges nach [[Indien]] verlor Italien nach und nach seine herausragende wirtschaftliche Bedeutung durch Verlagerung der Haupthandelsrouten vom Mittelmeer zum Atlantik. Andere Staaten, insbesondere [[Spanien]] und [[Portugal]], nahmen an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung zu, da sie auf Grund der [[Kolonialisierung]] zunächst [[Südamerika]]s neue [[Rohstoff]]ressourcen und Absatzmärkte erschlossen und zudem über größere Binnenressourcen verfügten als die italienischen Stadtstaaten. Zugleich verlor der Handel mit dem in den Nahen Osten und nach Nordafrika expandierenden [[Osmanisches Reich|Osmanenreich]] an Bedeutung, während zugleich die Konkurrenz von Holländern und Engländern zunahm.<br />
<br />
Besonders in Süditalien dominierte die Agrarwirtschaft und der Großgrundbesitz, [[Manufaktur]] und später [[Fabrik]] waren die Ausnahme. Aber auch die Landwirtschaft stagnierte, so dass die Ertragsziffern in Italien bei 7 verharrten, während sie etwa in England und Holland bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf 9, hundert Jahre später gar auf 10 stiegen. Dies war einer der Gründe, dass die dortige Bevölkerung stark anstieg, während sie sich in Italien von etwa 13,5 Millionen (um 1600) auf 11,7 (1650) verminderte. Dies kontrastiert besonders stark mit der Tatsache, dass die Bevölkerung noch zwischen 1500 und 1600 von 9 auf 13,5 Millionen, also um etwa die Hälfte angewachsen war.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 24 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref><br />
<br />
=== Europäischer Kriegsschauplatz (1494–1559) ===<br />
{{Siehe auch|Italienische Kriege}}<br />
[[Datei:Italy 1494 de.svg|mini|links|Italien um 1494]]<br />
[[Datei:Leoattila-Raphael.jpg|mini|Papst [[Leo X.]] (1513–1521) ließ sich in einem von seinem Vorgänger in Auftrag gegebenen Gemälde von [[Raffael]] als Papst [[Leo der Große|Leo I.]] (440–61) porträtieren, wie er dem [[Hunnen]]könig [[Attila]] im Jahr 452 unbewaffnet entgegentritt. Der Legende nach erschienen die Heiligen Roms, Petrus und Paulus, mit Schwertern und bewogen Attila, auf seinen Marsch nach Rom zu verzichten. Eliodor-Raum der [[Stanzen des Raffael]], Vatikan 1514]]<br />
<br />
Eine der Ursachen für den Bevölkerungsrückgang waren die unausgesetzten Kriege. Nach dem Tod König [[Ferdinand I. (Neapel)|Ferrantes von Neapel]] intervenierte König [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich 1494 in Italien. Er zwang im nächsten Jahr Florenz, den Kirchenstaat und Neapel zur Kapitulation. [[Ferdinand II. (Aragón)|Ferdinand von Aragón]], [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] sowie [[Republik Venedig|Venedig]], Mailand und der Kirchenstaat verbanden ihre Kräfte am 31.&nbsp;März 1495 in einer „[[Heilige Liga (1495)|Heiligen Liga]]“ und zwangen den französischen König zum Rückzug über die Alpen.<br />
<br />
[[Ludwig XII.]] nahm die expansive Politik Karls VIII. wieder auf und annektierte 1499 das [[Herzogtum Mailand]]. Er und Ferdinand von Aragón teilten im [[Vertrag von Barcelona]] 1500 das Königreich Neapel unter sich auf. Danach sollte der Norden an Frankreich, der Süden an Spanien kommen. Im [[Vertrag von Lyon]] 1504 wurde nach einem erneuten Krieg Unteritalien wieder in das Königreich Aragón eingegliedert, da die Franzosen Neapel verlassen mussten. 1507 gelang es den Franzosen, sich der [[Republik Genua]] zu bemächtigen. Die [[Liga von Cambrai]] (Österreich unter Maximilian I., der Papst, Spanien, England, Ungarn, [[Savoyen]] und einige [[Liste der historischen Staaten in Italien|italienische Staaten]]) versuchte im Oktober 1508 die [[Republik Venedig#Kriege um Oberitalien, Politik der Neutralität, Verlust des Kolonialreichs, Streit mit Päpsten und Habsburgern|Seerepublik Venedig]] aufzuteilen, scheiterte jedoch.<br />
<br />
Papst [[Julius II.]] (1503–1513) schwenkte auf ein neues politisches Ziel um: die Befreiung Italiens von den „Barbaren“. Die Eidgenossenschaft, Spanien, Venedig und der Papst vereinigten sich zur „[[Heilige Liga (1511)|Heiligen Liga]]“, um die Franzosen aus Mailand zu vertreiben, was ihnen 1512 gelang. Die Schweizer restituierten die Dynastie der [[Sforza]] und annektierten den größten Teil des [[Kanton Tessin|Tessins]] ([[Domodossola]], [[Locarno]], [[Lugano]]). In der [[Schlacht bei Marignano]] unterlagen die Schweizer jedoch im September 1515 wieder den Franzosen und sie mussten Mailand räumen. [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] von Frankreich und [[Karl V. (HRR)|Karl I. von Spanien]] einigten sich im [[Vertrag von Noyon]] 1516 auf den [[Status quo]].<br />
<br />
1525 gelang es [[Karl V. (HRR)|Karl]], seit 1519 römisch-deutscher Kaiser, in der [[Schlacht bei Pavia (1525)|Schlacht von Pavia]] Mailand an sein Haus zu bringen und die französische Oberherrschaft in Italien zu beenden. Die Truppen des Kaisers plünderten 1527 Rom ([[Sacco di Roma]]). 1529 schloss Karl mit Frankreich und dem Papst im [[Damenfriede von Cambrai|Vertrag von Cambrai]] Frieden, da die [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Osmanen auf Wien marschierten]]. Im [[Frieden von Crépy]] 1544 verzichtete Franz I. auch auf seinen Anspruch auf Neapel und erhielt von Karl V. im Gegenzug [[Burgund]] zurück. 1559 konnte [[Philipp II. (Spanien)|Philipp II.]] im [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] allerdings Neapel gewinnen.<br />
<br />
=== Reformation und Gegenreformation ===<br />
[[Datei:Sarpi Historia.jpg|mini|''Historiae Concilii Tridentini'' von [[Paolo Sarpi]]]]<br />
<br />
Das [[Fünftes Laterankonzil|5. Laterankonzil]] (1512–1517) kam mit der [[Kirchenreform]] kaum voran. Es verbot den Druck nicht autorisierter Bücher und bestätigte das [[Konkordat von Bologna]] (1516) zwischen [[Leo X.]] und König [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] Dadurch wurden französische Eroberungen aus den Italienkriegen anerkannt, die zunehmende Loslösung der französischen Kirche von Rom rückgängig gemacht.<br />
<br />
Die Reformation hatte nicht nur jenseits der Alpen Erfolge, sondern zunächst auch in Italien. Doch die katholische Seite ging scharf gegen jede protestantische Äußerung vor. 1530 wurde daher [[Antonio Bruccioli]] aus Florenz vertrieben und der konvertierte, im venezianischen [[Kroatien]] eingesetzte Bischof [[Pietro Paolo Vergerio]] verließ das Land. 1531 kam es zu einer öffentlichen Disputation in Padua, sie blieb jedoch die einzige. [[Erasmus von Rotterdam]], der in Italien erstmals 1514 verlegt wurde,<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 21.</ref> galt als Häretiker, zuweilen sogar als „Lutheraner“ (Erasmus lutheranus).<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 7–11 (ital. 1992) konnte dies anhand von Inquisitionsakten nachweisen.</ref> Doch wurden mit dieser Bezeichnung auch andere Gruppen, wie die [[Calvinismus|Calvinisten]], [[Sakramentarier]], [[Evangelisch-reformierte Landeskirche Graubünden|Graubündner Reformierte]] bezeichnet.<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 33f.</ref><br />
<br />
1542 wurde die Inquisition reorganisiert, um den Protestantismus zu bekämpfen. 1558 wurde Bartolomeo Fonzio, der Übersetzer von Luthers Schrift ''An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung'' hingerichtet, 1566 Bruccioli, 1570 der Humanist [[Aonio Paleario]].<br />
<br />
Das [[Trienter Konzil]] (1545 bis 1563) befasste sich mit der Kirchenkritik der [[Reformation]]. Seine Beschlüsse beinhalteten, neben dogmatischen Beschlüssen, die Abschaffung der Missbräuche im [[Ablass]]wesen, das Verbot der Ämterhäufung im Bischofsamt und die Einrichtung von [[Priesterseminar]]en sowie einen Index verbotener Bücher (1559). Außerdem durften Bischöfe gegen Häretiker vorgehen. Für [[Martin Luther]] war Venedig das Eingangstor nach Italien, doch stießen die protestantischen Gruppen auf harte Repression.<ref>Massimo Firpo: ''Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento. Un profilo storico.'' Laterza, Bari 2008, passim.</ref> 1571 entstand die ''Indexkongregation'', die sich mit der umfassenden Kontrolle des stark angewachsenen Buchmarktes befasste und damit die Tätigkeit der in Trient 1562 eingesetzten Zensurkommission dauerhaft fortführte.<br />
<br />
=== Osmanisches Reich ===<br />
Das Osmanische Reich bedrängte die italienischen Seemächte und lenkte ihren Handel mit Asien und Nordafrika entsprechend seinen politischen Interessen. 1453 [[Belagerung von Konstantinopel (1453)|eroberten die Osmanen Konstantinopel]], 1475 musste Genua seine Kolonie in [[Feodossija|Kaffa]] am Nordrand des [[Schwarzes Meer|Schwarzen Meeres]] aufgeben, eine Region, in der sich Genua und Venedig seit Jahrhunderten bekriegt hatten. Venedig verlor 1460 seine Stützpunkte auf dem [[Peloponnes]], doch konnte es die Hauptinsel [[Kreta]] noch bis 1645 bzw. 1669 halten. Unter [[Süleyman I.]] (1520–1566) expandierten die Osmanen, die bereits 1480 bis 1481 mit [[Otranto]] erstmals einen italienischen Ort besetzt hatten, Richtung [[Belgrad]] und [[Rhodos]], das sie 1522 eroberten.<br />
[[Schlacht bei Mohács (1526)|Bei Mohács]] unterlag der [[Ludwig II. (Böhmen und Ungarn)|ungarische König]], der Sultan ließ 1529 [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Wien belagern]].<br />
<br />
Weiteren Erfolgen im Osten folgte der Sieg des [[Khair ad-Din Barbarossa]] 1538 über die Flotte der [[Heilige Liga (1538)|Heiligen Liga]] unter [[Andrea Doria]] bei [[Preveza]]. Zwar konnten die vereinigten Flotten Spaniens und Venedigs die Osmanen in der [[Seeschlacht von Lepanto]] 1571 besiegen, doch die modernisierte türkische Flotte stellte bereits wenige Jahre später wieder eine erhebliche Bedrohung dar, und Venedig konnte [[Zypern]] nicht zurückerobern. Zudem setzten die Korsaren Nordafrikas den Handelskonvois durch das westliche Mittelmeer zu, vor allem, nachdem ihnen 1574 die Rückeroberung des seit 1535 von Spanien besetzten [[Tunis]] gelungen war.<br />
<br />
=== Spanische und österreichische Vorherrschaft ===<br />
[[Datei:Quadrupla Milano.jpg|mini|Mailänder Münze mit dem spanischen König]]<br />
<br />
Der [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] (1559) verfestigte die spanische Herrschaft im gesamten Süden Italiens, auf den Inseln, in Mailand und im [[Stato dei Presidi]] im Süden der [[Toskana]]. Zugleich lagen der Kirchenstaat, das [[Großherzogtum Toskana]] und Genua sowie weitere Kleinstaaten im Einflussbereich [[Madrid]]s. [[Savoyen]] wurde immer wieder zum Schlachtfeld zwischen Spanien und Frankreich. Nur Venedig konnte seine Unabhängigkeit bewahren.<br />
<br />
Ende des 16. Jahrhunderts verlagerte sich zunehmend der Handel vom Mittelmeer in den [[Atlantischer Ozean|Atlantik]], wozu auch die Kriege in Italien beitrugen. Dort kollidierten die kaiserlichen und die französischen Interessen zunächst im [[Mantuanischer Erbfolgekrieg|Erbfolgekrieg von Mantua]] (1628–1631). Die Pestepidemien von 1630 bis 1632 und 1656 bis 1657 (Neapel, Rom, Ligurien, Venetien) und der spanische Fiskalismus wirkten sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus; so sperrte die Toskana jeden Verkehr mit dem Süden, setzte eine [[Quarantäne]] nach venezianischem Vorbild durch und informierte die benachbarten Mächte.<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 105f.</ref> Mit diesen Maßnahmen gelang es Italien lange vor den modernen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die Epidemien, wenn auch unvollständig, einzudämmen.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 190f. (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Plünderungen, Hunger, Epidemien förderten in ihrer Wechselwirkung den ökonomischen und politischen Niedergangs, der allerdings scharf mit der kulturellen Entwicklung kontrastierte. Italien blieb sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Bereich noch lange führend.<br />
<br />
Gegen die spanische Fiskalpolitik kam es zu Aufständen, deren in Italien bekanntester der des Fischers [[Tommaso Masaniello]] aus Neapel war. Er entzündete sich 1647 an Abgaben auf Lebensmittel, und obwohl Masaniello ermordet wurde, gelang es den Aufständischen unter Führung des [[Gennaro Annese]] am 17. Dezember, die Spanier aus der Stadt zu vertreiben. Unterstützung fanden sie durch den Franzosen [[Henri II. de Lorraine, duc de Guise|Henri II. de Guise]]. Er beanspruchte als Nachkomme [[René I. (Anjou)|Renés I. von Anjou]] das Königreich Neapel und konnte die Truppen des [[Juan de Austria]] besiegen. Die Aufständischen riefen die [[Republik Neapel]] aus, die bis zum 5. April 1648 bestand. Innere Streitigkeiten führten jedoch dazu, dass der Neapolitaner Gennaro Annese den Spaniern die Tore öffnete. Beim Versuch, die Stadt zurückzugewinnen, geriet Henri II. am 6. April in spanische Gefangenschaft. Ähnliche Volksaufstände fanden 1647/48 unter Führung des [[Giuseppe d’Alesi]] in Palermo statt und unter [[Ippolito von Pastina]] in [[Salerno]]. 1701 erhob sich der Adel Neapels vergeblich in der Verschwörung von Macchia gegen die spanische Herrschaft, ein Aufstand, der seine Bezeichnung nach [[Gaetano Gambacorta]], Fürst von Macchia, erhielt.<br />
<br />
Nach dem Ende des spanischen Zweigs der [[Habsburg]]er ([[Karl II. (Spanien)|Karl II.]] starb am 1. November 1700 kinderlos) begann 1701 der [[Spanischer Erbfolgekrieg|Spanische Erbfolgekrieg]]. Eine Allianz um die österreichischen Habsburger und England kämpfte dabei gegen eine von Frankreich geführte Koalition. Letztlich gelang es Frankreich, mit [[Philipp V. (Spanien)|Philipp V.]] die bis heute amtierende Dynastie der [[Haus Bourbon|Bourbonen]] zu installieren. Im [[Friede von Utrecht|Frieden von Utrecht]] 1713 wurden [[Österreich]] das zuvor spanische [[Mailand]], [[Neapel]] (ohne [[Sizilien]]) und [[Sardinien]] zugesprochen. Es wurde damit zur vorherrschenden Macht in Italien. Gegen die österreichische Herrschaft kam es 1746 zu einem Aufstand in Genua, den ein jugendlicher Steinewerfer ausgelöst haben soll; sein Kurzname ''Balilla'' findet sich in der [[Il Canto degli Italiani|italienischen Nationalhymne]] wieder.<ref>Ilaria Porciani: ''Stato e nazione: l’immagine debole dell' Italia.'' In: Simonetta Soldani, Gabriele Turi (Hrsg.): ''Fare gli italiani'', Bologna 1993, Bd. I, S. 385–428.</ref><br />
<br />
Der Herzog von [[Savoyen]] erhielt [[Sizilien]] sowie [[Markgrafschaft Montferrat|Montferrat]]. 1720 tauschte das Haus Savoyen mit Österreich seinen Besitz Sardiniens gegen Sizilien ein und erhielt somit die Königswürde. Erster Herrscher des neuen [[Königreich Sardinien|Königreichs Sardinien-Piemont]] wurde [[Viktor Amadeus II.]]<br />
<br />
[[Datei:Corsica ponte genovese tavignano Altiani.jpg|mini|Genuesische Brücke über den [[Tavignano]] bei [[Altiani]] im Osten Korsikas]]<br />
<br />
Spanien erwarb 1735/38 Neapel und Sizilien, 1748 [[Parma]] und gründete dort eine [[Sekundogenitur]]. Nach dem Aussterben der [[Medici]] in Florenz 1737 stiftete der Herzog von Lothringen dort eine Sekundogenitur für das Haus [[Habsburg-Lothringen]]. 1768 verkaufte die Republik Genua die Insel [[Korsika]] an Frankreich. Italien war von 1701 bis 1748 Kriegsschauplatz der Großmächte (Europäische Erbfolgekriege). Bis 1796 blieb dieses System stabil, doch geriet Italien in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ins Abseits. Zwar stieg die Bevölkerungszahl von 1700 bis 1800 von 13,6 auf 18,3 Millionen, doch sank angesichts erheblich schnellerer Wachstumsraten in vielen Nachbarländern der Anteil an der europäischen Gesamtbevölkerung.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Vor allem aber gelang es der Agrarproduktion trotz Ansätzen zur Liberalisierung etwa im [[Großherzogtum Toskana]] (1764) kaum mehr, mit der Zahl der Konsumenten mitzuhalten.<br />
<br />
=== Merkantilismus, Ausweitung des Kapitalverkehrs ===<br />
Trotz einer gewissen Zunahme des münzlosen Geldverkehrs und des Umfangs des Kreditwesens<ref>Dazu Elena Maria Garcia Guerra, Giuseppe De Luca: ''Il Mercato del Credito in Età Moderna. Reti e operatori finanziari nello spazio europeo.'' Mailand 2010.</ref> blieb Europas Wirtschaft weiterhin von der Zufuhr von Edelmetallen abhängig. Die Versorgung mit Silber und Gold hing dabei zunehmend von Lateinamerika ab. Um 1660 kamen von dort Gold und Silber im Wert von rund 365 Tonnen Silber, während Europa nur noch 20 bis 30 Tonnen pro Jahr produzierte.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 95f.</ref> Gleichzeitig erhöhte sich der Abfluss in den Ostseeraum, die Levante und Ostasien so stark, dass nur 80 t in Europa blieben. Spanien investierte den überwiegenden Teil dieses Edelmetallstroms in den [[Achtzigjähriger Krieg|Krieg gegen die Niederlande]]. Ähnlich agierte Frankreich. Dabei standen kurzfristige fiskalische Interessen im Vordergrund, aber langfristig löste diese Politik Inflationsschübe aus und schadete der Wirtschaft. Die Münzen wurden abgewertet, bis sie kaum noch Edelmetall enthielten, so dass sie durch reine [[Kupfermünze]]n ersetzt wurden. 1607 – unter [[Philipp III. (Spanien)|Philipp III.]] – kam es zum dritten spanischen Staatsbankrott;<ref>Bernd Roeck: [http://books.google.de/books?id=MytxfKWsfn4C&pg=PA124&lpg=PA124&dq=1607+Spanien+bankrott&source=bl&ots=Vu98WIqB7e&sig=XcFyoOtPZVE5BCiFiH1qxl1RsAw&hl=de&sa=X&ei=rTHMU5T6GIWR7AaU3oDQBg&ved=0CC8Q6AEwAg#v=onepage&q=1607%20Spanien%20bankrott&f=false Geschichte Augsburgs]</ref> willkürliche Abwertungen folgten bis 1680. Dabei lag der Nennwert viel höher als der Metallwert, die Münzen wurden zudem immer wieder beschnitten ([[Münzverschlechterung]]). Die Abgaben erfolgten hingegen nach dem Gewicht. Der „Bauer war grausam gefangen zwischen zwei Gruppen; die eine gab ihm das Geld allein nach dem Nennwert, die andere nahm es ihm allein nach Gewicht.“<ref>Thomas Babington Macaulay, zitiert nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 110.</ref><br />
<br />
[[Datei:Colbert1666.jpg|mini|links|Porträt des Beraters des französischen Königs Jean-Baptiste Colbert, Philippe de Champaigne 1655. Colberts merkantilistische Politik behinderte die italienischen Exporte und führte zur Stärkung französischer Konkurrenz.]]<br />
<br />
Auch Frankreich ging zunächst den Weg der Kupferwährung, zuletzt 1654 bis 1657, und importierte dazu große Mengen aus Schweden. [[Jean-Baptiste Colbert|Colbert]], Berater König [[Ludwig XIV.|Ludwigs XIV.]], setzte jedoch ab 1659 stärker darauf, den Abfluss von Edelmetallen aus Frankreich zu bremsen und den Zufluss zu fördern. Um dies zu erreichen, stärkte er die Exportgewerbe, erhöhte den Gold- zu Lasten des Silberkurses. Dadurch stabilisierte er die Staatsschuld so sehr, dass sich viele Ausländer entschlossen, ihre Edelmetalle hier anzulegen. Colbert gab ab 1671 Rentenpapiere gegen Geldeinlage zu 7 % Zinsen aus; zudem hielt er das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber bei etwa 15:1.<br />
<br />
Das Heilige Römische Reich sah hingegen eine starke Kupferinflation (s. [[Kipper- und Wipperzeit]]), die erst während des [[Dreißigjähriger Krieg|Dreißigjährigen Krieges]] zurückging. Gegen Ende des Jahrhunderts stabilisierten sich die Währungen. Gewinner dieser Entwicklung waren die [[Niederlande]], die den [[Dukaton]] (nach dem Vorbild des [[Zecchine|venezianischen Dukaten]]) nicht als Gold-, sondern als Großsilbermünze von hohem Ansehen einführten. Dies verstärkte wiederum den Zufluss spanischen Silbers und die Wiederausfuhr. 1683 stellte man fest, dass von den 15–18 Millionen [[Gulden]], die als spanisches Silber hereinflossen, nur 2,5 bis 4 Millionen im Lande blieben. Doch nicht nur hierin gewannen die Niederlande und wenig später England, einen entscheidenden Vorsprung. Zunächst gründete man 1609 nach dem Vorbild des venezianischen [[Banco di Piazza di Rialto]] (1587–1638) die [[Amsterdamer Wechselbank|Wisselbank]]. Ihr gelang es nicht nur, den Münzwert zu stabilisieren, sondern auch durchzusetzen, dass alle größeren Wechsel nur noch über diese [[Clearing]]stelle verrechnet werden durften. Dieser bargeldlose Ausgleich von Forderungen zwischen Konten gab ihr eine der Eigenschaften einer [[Zentralbank]].<ref>Stephen Quinn, William Roberds: ''An Economic Explanation of the Early Bank of Amsterdam, Debasement, Bills of Exchange, and the Emergence of the First Central Bank.'' Federal Reserve Bank of Atlanta, September 2006, S. 41–44.</ref><br />
<br />
Doch man ging viel weiter als in Italien, um den [[Geldumlauf]] zu erhöhen und zu beschleunigen. Man gestattete den Kunden ähnlich wie in Venedig Gold zu deponieren, wofür sie als Quittung ''Recepissen'' erhielten. Am Edelmetallmarkt [[Amsterdam]], der bald zum bedeutendsten wurde, waren einerseits alle Münzen in ausreichender Menge vorhanden, vor allem aber liefen nur noch die ''Recepissen'' als Bargeld für größere Beträge um. Eine ähnliche Ausweitung des Geldverkehrs erreichte Frankreich durch die Ausgabe von verzinslichen Staatspapieren, die gleichfalls per [[Indossament]] veräußert werden konnten. So weitete man die umlaufende Geldmenge aus und verbilligte auf diese Art langfristig Kredite, was wiederum Handel und Produktion weiter stimulierte. Gerade in dieser Zeit ging, nachdem der venezianische [[Pfefferhandel]] lange Widerstand geleistet hatte, ab den 1620er Jahren sein Volumen erheblich zurück. Wenige Jahre später galt Pfeffer nicht mehr als „östliche“ Ware, sondern als „westliche“. Holländer und Engländer – Letzteren gelang 1663 der Einstieg in die [[Goldwährung]], 1697/98 die Währungsstabilisierung –, zeitweilig Portugiesen, hatten den Gewürzhandel weitgehend monopolisiert. Darüber hinaus fielen die Landhandelswege nach Asien immer mehr zurück, Venedig verlor nach und nach seine Kolonien.<br />
<br />
Der Handel mit dem Osten kam im Lauf des 17. Jahrhunderts zunehmend in holländische und englische Hand, um im 18. Jahrhundert weitgehend von Engländern dominiert zu werden. Sie waren in der Gewerbeorganisation, in der wendigen Anpassung an sich verändernde Moden und Märkte, aber auch durch die hinter den Händlern stehende politische Macht und schließlich durch bessere Kapitalausstattung überlegen. Während industriell gefertigte Tuche auf den italienischen Markt drängten, wanderten Zucker- und Baumwollproduktion, zwei bedeutende Produktionszweige seit dem 15. Jahrhundert, Richtung Amerika ab.<br />
<br />
Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb in Italien das [[Indossament]] verboten. Damit blieb der bargeldlose Verkehr in den Händen der Messbankiers, nicht der Kaufleute. Zwar griffen italienische Merkantilisten wie [[Bernardo Davanzati]] (1529–1606) die französischen Ideen auf, doch wirkte seine ''Lezione delle monete'' (1588) eher im Ausland als in Italien. [[Antonio Serra]] (1568–1620) erörterte, wie man die [[Handelsbilanz]] zu deuten habe und wie man in Gebieten den Geldumlauf sichern könne, die nicht über Gold- oder Silberbergbau verfügten, wie das Königreich Neapel (gedruckt 1613).<ref>Pietro Custodi (Hrsg.): ''Breve trattato delle cause che possono far abbondare li regni d’oro e d’argento dove non sono miniere.'' Mailand 1803.</ref> Die italienischen Staaten reformierten ihre Münzsysteme, die weiterhin auf Gold und Silber basierten ([[Bimetallismus]]), versuchten dabei die Kupfermünzen zu begrenzen und die Münzwerte an die Gold-Silber-Relation anzupassen. Venedig reformierte sein Münzwesen 1722 und 1733, Genua ab 1745, Savoyen 1755 und Mailand 1778. Dabei zeichneten sich Ansätze ab, nicht nur die staatlichen Währungsräume zu vereinheitlichen und die Zahl der verschiedenen Münzen zu verringern, sondern auch in ganz Italien zu Vereinheitlichungen zu gelangen.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 124f.</ref><br />
<br />
Zudem setzte sich die Vorstellung durch, Geld habe im Wirtschaftsablauf neutral zu sein (siehe [[Geldfunktion]]). Die aufkommenden Zentralbanken sollten nicht willkürlich Geld auflegen, sondern über Kreditvergabe den Geldumlauf beschleunigen. Für [[David Hume]] (1711–1776) sollte es nur noch das „Öl für das Wirtschaftsgetriebe“ darstellen; [[Adam Smith]] (1723–1790) trennte Geld- und Wirtschaftssphäre vollständig. Es war noch nicht möglich, eine [[Papierwährung]] durchzusetzen; fehlgeschlagene Versuche, wie etwa durch [[John Law]], erhöhten das Misstrauen gegen solche Versuche, so dass die partielle Abhängigkeit vom Bergbau fortbestand.<br />
England hatte einen weiteren wirtschaftlichen Vorteil, nachdem es die Ausgabe von Banknoten stabilisiert hatte. Die [[Bank of England]] erhielt in London ein Monopol, während ''Country Banks'' ab 1708 das ländliche Kapital mobilisierten. Ab der Mitte des Jahrhunderts kamen zunehmend [[Privatbankier|Privatbanken]] auf, zum Beispiel die [[Barings Bank]].<br />
<br />
1821 stellte die Bank of England die Einlösepflicht von Banknoten in Gold („[[Golddeckung]]“) wieder her, eine Regelung, die sie auch während der Bankenkrise von 1825/26 unter Rückgriff auf ihre [[Goldreserven]] durchhielt. Bald setzte sich der [[Goldstandard]] durch, und die Zentralbank übernahm die Funktion einer Bank der Banken, um die Liquidität des Bankensystems zu gewährleisten.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 227.</ref><br />
<br />
In Italien bestanden bei der [[Einigung Italiens|Einigung des Landes]] (1861) fünf Banken, die Noten herausgeben durften. Diese waren die ''Banca nazionale del Regno d’Italia'', die ''Banca nazionale toscana'', die ''Banca Romana'', der ''Banco di Sicilia'' und der ''Banco di Napoli''; 1870 kam die ''Banca toscana di Credito'' hinzu. Nach dem Zusammenbruch der 'Banca Romana' wurde 1893 die [[Banca d’Italia]] gegründet; sie erhielt 1920 das Monopol auf die Herausgabe von Banknoten.<br />
<br />
== Napoleon, Wiener Kongress (1796–1815) ==<br />
[[Datei:Italia, 40 lire di napoleone imperatore, 1808.JPG|mini|40-Lire-Stück mit Napoleon als König von Italien]]<br />
<br />
1796/97 unterwarf [[Napoleon Bonaparte]] im [[Italienfeldzug (Erster Koalitionskrieg)|Italienfeldzug]] große Teile Ober- und Mittelitaliens und zwang im [[Frieden von Campo Formio]] Österreich und das römisch-deutsche Kaisertum zur Anerkennung seiner Eroberungen und zum Verzicht auf die Lehensrechte in Italien. Österreich erhielt nach der Selbstauflösung der [[Republik Venedig]] deren Gebiet (außer den [[Ionische Inseln|Ionischen Inseln]]). Frankreich gründete im übrigen Italien [[Vasallenstaat]]en. Teile Norditaliens wurden zur „Transalpinischen Republik“ zusammengefasst, die dann in Cisalpinische bzw. [[Cisalpinische Republik|Cisalpine Republik]] umbenannt wurde. Genua wurde zur [[Ligurische Republik|Ligurischen Republik]], das 1799 eroberte [[Königreich Neapel]] zur [[Parthenopäische Republik|Parthenopäischen Republik]]. Der Kongress der kurzlebigen [[Cispadanische Republik|Cispadanischen Republik]] erklärte am 7. Januar 1797 mit der aus Frankreich importierten grün-weiß-roten Trikolore – in der damaligen Variante mit Querstreifen – zum ersten Mal einen Vorläufer der [[Flagge Italiens]] zur Nationalflagge eines italienischen Staates;<ref>Vgl. etwa [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 4.</ref> die grün-weiß-rote Trikolore wurde in der Folgezeit zu einem wichtigen Symbol der italienischen Nationalbewegung. 1798 nahmen die Franzosen Papst [[Pius VI.]] gefangen und ließen den [[Kirchenstaat]] zur [[Römische Republik (1798–1799)|Römischen Republik]] ausrufen.<br />
<br />
Im [[Zweiter Koalitionskrieg|Zweiten Koalitionskrieg]] erlitt Frankreich 1799 in Italien eine Niederlage gegen Österreich und Russland. Die französische Herrschaft in Italien brach zusammen, die alte Ordnung (so der Kirchenstaat) wurde zum Teil wiederhergestellt. 1800 kam es zur erneuten französischen Eroberung, Napoleon ließ Italien wieder neu ordnen. Das [[Großherzogtum Toskana]] wurde zum [[Königreich Etrurien]], die ''Cisalpine Republik'' zur ''Republik Italien'' mit Napoleon als erstem Konsul. Piemont blieb unter französischer Militärverwaltung. Nach seiner [[Kaiserkrönung Napoleons I.|Kaiserkrönung]] 1804 wandelte Napoleon die Republik Italien zum [[Königreich Italien (1805–1814)|Königreich Italien]] um. Er krönte sich 1805 in Mailand mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] zum ''König von Italien''. Im [[Friede von Pressburg|Frieden von Preßburg]] 1805 nach dem Dritten Koalitionskrieg verlor Österreich das venezianische Gebiet wieder an Frankreich, das den Westteil Venetiens dem ''Königreich Italien'' zuschlug und aus dem östlichen Teil (den Gebieten an der östlichen Adria) einen neuen Vasallenstaat formte, die [[Illyrische Provinzen|Illyrischen Provinzen]]. 1806 wurden die Bourbonen erneut aus dem Königreich Neapel verjagt und Napoleons Bruder [[Joseph Bonaparte|Joseph]] dort als Herrscher eingesetzt, 1808 sein Schwager [[Joachim Murat]].<br />
<br />
[[Datei:Italie 1812.png|mini|links|Italien im Jahr 1812]]<br />
[[Datei:Italy 1843 de.svg|mini|Italien nach dem [[Wiener Kongress]]]]<br />
<br />
Auf Sizilien und Sardinien konnten sich die (süditalienischen) Bourbonen und die Savoyer unter britischem Flottenschutz halten. 1808 besetzte Napoleon erneut den Kirchenstaat und schlug ihn dem Königreich Italien zu. Teile des Kirchenstaats wurden annektiert, ebenso das Königreich Etrurien, Ligurien und Parma. Bis auf Sizilien und Sardinien stand Italien also unter direkter oder indirekter französischer Herrschaft, ehe 1814/15 die napoleonische Herrschaft zusammenbrach.<br />
<br />
Durch den [[Wiener Kongress]] kam es zur Neuordnung Italiens. Österreich bekam zur Lombardei nun Venetien dazu, das damit seine Unabhängigkeit endgültig verlor; der Kirchenstaat wurde wiederhergestellt, verlor aber [[Avignon]] an Frankreich; das [[Königreich Sardinien]] bekam die Republik Genua zugesprochen; in Parma-Piacenza und [[Guastalla]] wurde Napoleons Frau, die Habsburgerin [[Marie-Louise von Österreich|Marie-Louise]], als Herrscherin eingesetzt; [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] wurde fortan vom Haus Habsburg-Este regiert; das von einer habsburgischen Nebenlinie regierte [[Großherzogtum Toskana]] wurde wiederhergestellt; die zuvor formal getrennten Königreiche Neapel und Sizilien wurden zum [[Königreich beider Sizilien]] vereinigt.<br />
<br />
== {{Anker|Nationale Einigung Italiens}}Unabhängigkeitsbewegungen und Einigungskriege (bis 1870) ==<br />
{{Hauptartikel|Risorgimento}}<br />
<br />
Die Epoche der Nationalstaatsgründung – mit umstrittenen zeitlichen Grenzen – wird in Italien mit dem Begriff „[[Risorgimento]]“ („Wiederauferstehung“) beschrieben.<ref>Dazu [[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 91.</ref><br />
<br />
=== Kampf gegen Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus ===<br />
Nach 1815 war das Königreich Sardinien der letzte bedeutende Staat unter einer einheimischen Dynastie. Italien unterlag weiterhin dem Einfluss fremder Mächte, obwohl durch den Untergang des [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation]] 1806 „Reichsitalien“ mit den daran hängenden Ansprüchen und Titeln verschwand. Je mehr die (in der Regel ausländischen) Fürsten Italiens nun bestrebt waren, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Zeit vor Napoleon zurückzudrehen, desto mehr wurde der Korse als fortschrittlicher, anti-absolutistischer Herrscher gesehen.<br />
<br />
[[Datei:Paleis met tuin Caserta.jpg|mini|links|Der [[Haus Bourbon|Bourbonenpalast]] von Caserta (Reggia di Caserta) entstand ab 1752 und sollte der eindrucksvollste Palast Europas werden. Allein der Park erstreckt sich über eine Fläche von 120&nbsp;ha. Neben dem Palast in Neapel bestanden drei weitere Hauptresidenzen. Heute gehört die Gesamtanlage zum Weltkulturerbe.]]<br />
[[Datei:Donghi 5 giornate 1848.jpg|mini|Barrikaden während der ''Fünf Tage von Mailand'', Aquarell, Felice Donghi (1828–1887), März 1848]]<br />
<br />
Der Wunsch, Italien von Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus zu befreien, erfasste immer mehr Menschen. Geheimbünde entstanden, vor allem die in Neapel einflussreichen, gegen die Franzosen kämpfenden und Aufstände organisierenden „[[Carbonari]]“ (Köhler). Eine bedeutende Rolle spielten der Publizist [[Giuseppe Mazzini]] und die von ihm gegründete Bewegung „[[Junges Italien|Giovine Italia]]“ (Junges Italien), der sich in den [[1830er#Europa|1830er Jahren]] viele ehemalige Mitglieder der Carboneria nach deren weitgehender Zerschlagung anschlossen. Die Carbonari zwangen im Juli 1820 die nach Napoleon zurückgekehrten Spanier unter [[Ferdinand I. (Sizilien)|Ferdinand I.]] zur Annahme [[Verfassung von Cádiz|einer Verfassung]], die neben Gott das Volk als Souverän und Ursprung der Macht betonte. Sie wurde nach der Unterdrückung des Aufstands aber widerrufen.<ref>Jens Späth: ''Revolution in Europa 1820–23. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und Sardinien-Piemont.'' (= ''Italien in der Moderne'', Bd. 19), Böhlau, Köln 2012, ISBN 978-3-412-22219-2 ([https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/archiv-fuer-sozialgeschichte/2013/08_09/revolution-in-europa-1820201323 Rezension]).</ref> Eine zweite, durch die französische [[Julirevolution von 1830]] ausgelöste Welle von Erhebungen Anfang 1831 in [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] und im Kirchenstaat scheiterte ebenfalls.<ref>[[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 49–52.</ref><br />
<br />
=== Führungsrolle Piemonts, gescheiterte Revolutionen ===<br />
[[Datei:Italien 1843–1870.png|mini|Italien 1843–1870, gelb und orange habsburgisch, Schritte der Vereinigung]]<br />
Das vergleichsweise liberal regierte [[Königreich Sardinien|Königreich Sardinien-Piemont]], das 1848 die [[Jüdische Emanzipation|Emanzipation der Juden]] und [[Statuto Albertino|eine Verfassung]] durchsetzte, machte sich die Forderung nach einer Einigung Italiens zu eigen, es kam zu den [[Italienische Unabhängigkeitskriege|Italienischen Unabhängigkeitskriegen]].<br />
<br />
Nach mehrtägigen Straßen- und Barrikadenkämpfen kam es im [[Revolutionen 1848/1849|Revolutionsjahr 1848]] zur Bildung provisorischer Regierungen in Mailand (18. bis 22. März 1848), [[Repubblica di San Marco|Venedig]] (17. März 1848 bis 22. August 1849) und Palermo, dessen Parlament Sizilien für unabhängig erklärte (12. Januar 1848 bis 15. Mai 1849). 1849 erhob sich die Bevölkerung der ewigen Stadt gegen die weltliche Herrschaft des Papstes, woraufhin die von einem [[Triumvirat]] regierte [[Römische Republik (1849)|Römische Republik]] (9. Februar bis 4. Juli 1849) ausgerufen wurde.<br />
<br />
Die Revolutionen wurden allesamt niedergeschlagen; die Armee Sardinien-Piemonts, dessen König [[Karl Albert (Sardinien-Piemont)|Karl Albert]] am 24. März 1848 Österreich den Krieg erklärt hatte, wurde im Juli 1848 bei [[Schlacht bei Custozza (1848)|Custozza]] und nach Wiederaufnahme des Kriegs im März des Folgejahrs bei [[Schlacht bei Novara (1849)|Novara]] von den Österreichern unter [[Josef Wenzel Radetzky von Radetz|Radetzky]] geschlagen. Der Monarch dankte daraufhin zugunsten seines Sohnes [[Viktor Emanuel II.]] ab. In der Folge kam es zur Restauration der Herrschaft der Bourbonen, Österreichs und Papst [[Pius IX.|Pius’ IX]].<br />
<br />
[[Datei:With Victor Emmanuel.jpg|mini|[[Giuseppe Garibaldi|Garibaldi]] und [[Viktor Emanuel II.]], Sebastiano De Albertis (1828–1897), um 1870]]<br />
<br />
=== Staatsgründung, Anschluss des Südens an Piemont (1860) ===<br />
[[Datei:Italy 1864 de.svg|mini|links|Italien 1860–1866]]<br />
[[Datei:Italy 1870 de.svg|mini|links|Italien 1866–1870 nach dem [[Dritter Italienischer Unabhängigkeitskrieg|dritten Krieg gegen Österreich]]]]<br />
<br />
1855/56 nahm Savoyen auf Seiten Frankreichs am [[Krimkrieg]] teil, wodurch Viktor Emanuel die Unterstützung der dortigen Regierung für seine Einigungspläne erlangte. 1859 griffen die Savoyer erneut Österreich in Oberitalien an, diesmal mit Unterstützung Frankreichs ([[Sardinischer Krieg]]). In den Schlachten von [[Schlacht von Magenta|Magenta]] und [[Schlacht von Solferino|Solferino]] unterlagen die Österreicher, im [[Vorfrieden von Villafranca]] fiel die Lombardei an Savoyen. Parallel dazu gab es Aufstände in der Toskana, [[Modena]] und in anderen Gebieten. Als Folge schlossen sich [[Herzogtum Parma|Parma-Piacenza]], [[Großherzogtum Toskana|Toskana]], [[Herzogtum Modena|Modena]] und Teile des Kirchenstaats 1860 Sardinien-Piemont an.<br />
<br />
Die Volksabstimmungen, deren Abstimmungsmodus nicht frei oder fair genannt werden kann,<ref>Es standen nur die Alternativen „Annessione alla monarchia costituzionale del Re Vittorio Emanuele II“ und ein „Regno separato“ zur Wahl. Zudem galt das piemontesische Zensuswahlrecht und Analphabeten, deren Zahl fast 80 % betrug, waren von der Abstimmung ausgeschlossen. Vgl. [[Peter Stadler]]: ''Cavour. Italiens liberaler Reichsgründer''. Oldenbourg Verlag, München 2001, ISBN 3-486-56509-5, S. 146.</ref> über den Anschluss an Italien ergaben in den Regionen folgende Ergebnisse:<ref>Nach: Jörg Fisch: ''Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Domestizierung einer Illusion'', Beck, München 2010, S. 125, „Tabelle 3: Die Plebiszite im Zusammenhang mit der italienischen Einigung, 1860–1870“.</ref><br />
{| class="wikitable sortable"<br />
! Gebiet !! Ja !! Nein !! Datum<br />
|-<br />
| [[Toskana]]<br />
|style="text-align:right"| 366.571<br />
|style="text-align:right"| 14.925<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Emilia-Romagna|Emilia]]<br />
|style="text-align:right"| 426.006<br />
|style="text-align:right"| 756<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Nizza]]<br />
|style="text-align:right"| 25.743<br />
|style="text-align:right"| 160<br />
|style="text-align:right"| 15. April 1860<br />
|-<br />
| [[Savoyen]]<br />
|style="text-align:right"| 130.533<br />
|style="text-align:right"| 237<br />
|style="text-align:right"| 22. April 1860<br />
|-<br />
| [[Neapel]]<br />
|style="text-align:right"| 1.302.064<br />
|style="text-align:right"| 10.312<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Sizilien]]<br />
|style="text-align:right"| 432.053<br />
|style="text-align:right"| 667<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Marken]]<br />
|style="text-align:right"| 133.807<br />
|style="text-align:right"| 1.212<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Umbrien]]<br />
|style="text-align:right"| 97.040<br />
|style="text-align:right"| 380<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Venedig]], Mantua<br />
|style="text-align:right"| 647.246<br />
|style="text-align:right"| 69<br />
|style="text-align:right"| 21./22. Oktober 1866<br />
|-<br />
| [[Rom]], Provinzen<br />
|style="text-align:right"| 133.681<br />
|style="text-align:right"| 1.507<br />
|style="text-align:right"| 2. Oktober 1870<br />
|}<br />
<br />
Eine besondere Rolle im Einigungsprozess spielten die Freiwilligenverbände unter Führung [[Giuseppe Garibaldi]]s, die 1860 im Zuge des legendären „[[Zug der Tausend|Zugs der Tausend]]“ das [[Königreich beider Sizilien]] unter ihre Kontrolle brachten. Auch hier floh König [[Franz II. (Sizilien)|Franz II.]], und Garibaldi rief sich im Namen Viktor Emanuels zum Diktator Siziliens aus. Der Ministerpräsident von Sardinien-Piemont, [[Camillo Benso von Cavour|Cavour]], sandte ein Heer in den Süden, einerseits um Garibaldi zu Hilfe zu kommen, andererseits, um zu verhindern, dass das Risorgimento eine republikanische Stoßrichtung erhielt. Die Truppen von Sardinien besetzten auch weitere Teile des Kirchenstaats (Umbrien und Marken). Plebiszite in Umbrien, in den Marken und in beiden Sizilien besiegelten den Anschluss an Sardinien-Piemont. Am 17. März 1861 wurde Viktor Emanuel II. zum König von Italien ausgerufen.<ref>Dazu ausführlich Denis Mack Smith: ''Cavour and Garibaldi 1860. A study in political conflict.'' Cambridge University Press, reissued with a new preface, Cambridge 1985 (1954).</ref><br />
<br />
=== Anschluss Venetiens und des Friauls (1866) sowie des Kirchenstaats (1870) ===<br />
Infolge der Niederlage Österreichs gegen Preußen in der [[Schlacht bei Königgrätz]] im [[Deutscher Krieg|Krieg von 1866]], in dem Italien Verbündeter des Siegers war, jedoch bei [[Seeschlacht von Lissa (1866)|Lissa]] und [[Schlacht bei Custozza (1866)|Custozza]] selbst traumatische Niederlagen erlitt, kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] gemäß dem [[Frieden von Wien (1866)|Frieden von Wien]] vom 3. Oktober 1866 an Italien. Die offizielle Übergabe der Stadt erfolgte am 19. Oktober, Plebiszite bestätigten am 21. und 22. Oktober den Anschluss.<br />
<br />
Versuche Garibaldis, Rom für das neu gegründete Königreich Italien zu erobern, wurden 1862 am [[Aspromonte]] bzw. 1867 bei [[Mentana]] von italienischen bzw. päpstlichen und französischen Truppen gestoppt.<ref>Pascal Oswald: ''Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘. Vom Volturno nach Mentana (1860–1870).'' (= ''Geschichte & Kultur. Kleine Saarbrücker Reihe.'' Band 9) Verlag für Geschichte & Kultur, Trier 2023 ([https://riviste.unimi.it/index.php/risorgimento/article/view/27361 Rezension (italienisch)]). Für eine digitale Kurzfassung vgl. auch Pascal Oswald: ''[http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf Vom Volturno nach Mentana: Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘.]'' In: ''risorgimento.info'' (abgerufen am 6. März 2020).</ref> Entgegen den Bestimmungen der 1864 zwischen Italien und Frankreich abgeschlossenen [[Septemberkonvention]], in deren Folge die Hauptstadt von Turin nach Florenz verlegt wurde, eroberten 1870 italienische Truppen den verbliebenen Teil des [[Kirchenstaat]]es. Daraufhin wurde Rom 1871 die neue Hauptstadt Italiens. Papst [[Pius IX.]], der seine weltliche Herrschaft damit verloren hatte, sah sich bis zu seinem Tod 1878 als „Gefangener im Vatikan“ und verbot Katholiken die Teilnahme am politischen Leben Italiens.<ref>[[Denis Mack Smith]]: ''Storia d’Italia 1861–1969.'' Laterza, Bari 1972 (Sonderausgabe mit ''[[Il Giornale]]''), S. 151.</ref> Die sogenannte [[Römische Frage]] belastete das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Kirche noch bis zum Abschluss der [[Lateranverträge]] 1929 unter Mussolini.<br />
<br />
=== Gleichstellung der Juden ===<br />
Im Norden waren die Juden, deren Zahl zwischen 1800 und 1900 von 34.000 auf 43.000 vergleichsweise langsam stieg,<ref>Michele Sarfatti: ''Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione'', Einaudi, Turin 2000, S. 9.</ref> lange nicht anerkannter Teil der Gesellschaft, wie etwa die [[Viva-Maria-Bewegung]] von 1799 zeigte, die nach dem Abzug der Franzosen in der Toskana wütete und der allein in Siena 13 Juden zum Opfer fielen.<ref>[[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 169f.</ref> Aber auch Napoleon war spätestens ab 1806 „diesen Galgenvögeln“ gegenüber feindselig eingestellt, allerdings zielte er stärker auf ihre Verfassung und wies Vorschläge, sie auszuweisen, zurück.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 179.</ref> Er wollte aus ihnen „nützliche“ Franzosen machen und sie der Kontrolle eines eigens eingerichteten „Großen Sanhedrin“ unterstellen, der auch für die Gebiete in Italien verantwortlich war, die Frankreich angeschlossen worden waren. Napoleons Schwester [[Elisa Bonaparte|Elisa Baciocchi]], die 1809 Großherzogin der Toskana wurde, setzte sich hingegen für die Gleichstellung der Juden ein.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 184f.</ref> Die jüdischen Gemeinden, vor allem die Älteren, standen ihrerseits den französischen Reformen, insbesondere der Einführung der Zivilehe, meist ablehnend gegenüber. Beim Ende der französischen Herrschaft verhinderten entsprechend vorbereitete Armeeeinheiten neue [[Pogrom]]e in Florenz und in Livorno, die aufzuflammen drohten, weil viele glaubten, die Juden seien Verbündete der Fremdherrscher gewesen. Doch der wirtschaftliche Schaden dieser Fremdherrschaft war so groß gewesen, dass die Gemeinden die Rückkehr der alten Herren feierten.<br />
<br />
Die Jüngeren setzten zunehmend auf die nationale Einigung Italiens, zunächst auf eine Verfassung. Sie nahmen Kontakt zu den Carbonari auf, vor allem aber nutzten sie das Vehikel der gemeinsamen Sprache, des toskanischen Dialekts, zur Betonung der nationalen Einheit. Während der Revolutionsjahre 1848 und 1849, in der Toskana noch kurz zuvor, erhielten die Juden erstmals die vollständige rechtliche Gleichstellung. Doch 1852 wurde die Verfassung in der Toskana annulliert, was im übrigen Italien scharf kritisiert wurde. Viele Juden hatten inzwischen freie Berufe ergriffen und fürchteten die Rückkehr zu den alten Verhältnissen. Herzog [[Leopold II. (Toskana)|Leopold]] stand mit seiner neo-absolutistischen Rechristianisierungspolitik bald allein da. Mit der Einigung Italiens wurden die Juden endgültig gleichgestellt, wenn auch antisemitische Strömungen fortbestanden, insbesondere im Wissenschaftsbereich.<br />
<br />
== {{Anker|Königreich Italien}}Königreich Italien (1861–1946) ==<br />
{{Hauptartikel|Königreich Italien (1861–1946)}}<br />
<br />
=== Königreich, ostafrikanische Kolonien, Ära Giolitti ===<br />
Das 1861 gegründete Königreich Italien war mit wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, dem Nord-Süd-Gegensatz und dem [[Brigant#Briganten in Süditalien|Brigantenwesen]] im Süden konfrontiert, das 1861 bis 1865 Züge eines Bürgerkriegs annahm. Über Jahre wurde der Ausnahmezustand immer wieder verlängert, [[Militärgericht|Militärtribunale]] ließen eine unbekannte Zahl von Rebellen und Handlangern ''(manutengoli)'' inhaftieren oder [[Erschießung|füsilieren]]. 1861 bis 1862 wurden allein in der [[Provinz Catanzaro]] 1560 Briganten „ausgeschaltet“.<ref>Lutz Klinkhammer: ''Staatliche Repression als politisches Instrument. Deutschland und Italien zwischen Monarchie, Diktatur und Republik.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich'', Oldenbourg, München 2005, S. 133–157, hier: S. 139.</ref> Erst die Auflösung der Militärzonen 1870 zeugte vom Ende der Rebellionen. Es wurde versäumt, die dortigen Verhältnisse durch eine Landreform und eine gerechte Besteuerung zu verbessern. Über 75 % der 21,8 Millionen Einwohner waren bei der Gründung Italiens (1861) Analphabeten.<ref>Waltraud Weidenbusch: ''Das Italienische in der Lombardei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schriftliche und mündliche Varietäten im Alltag'', Gunter Narr Verlag, 2002, S. 67f. liefert diese Zahlen, wenn sie auch für die Lombardei eine höhere Alphabetisierungsrate sieht.</ref><br />
<br />
Bis 1876 war im liberalen Italien die „historische Rechte“ ''(Destra Storica)'' an der Regierung. 1876 kam mit [[Agostino Depretis]] die „Linke“ ''(Sinistra)'' an die Macht, Sie hielt sich dort bis zum Regierungsantritt [[Francesco Crispi]]s 1887. Diese Lager sind nicht mit [[Politische Partei|politischen Parteien]] zu verwechseln. Für die Regierungspraxis im liberalen Italien wurde zunehmend der ''[[Trasformismo]]'' kennzeichnend, der darauf abzielte, Teile der Opposition ins eigene Lager herüberzuziehen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 205–213.</ref><br />
<br />
[[Datei:Adoua 1.jpg|mini|links|Äthiopische Truppen greifen italienische an, Gravur um 1896]]<br />
<br />
1882 trat Italien dem im Oktober 1879 geschlossenen [[Zweibund]] (Österreich-Ungarn und dem [[Deutsches Kaiserreich|Deutschen Reich]]) bei, der dadurch zum [[Dreibund]] wurde. Italien suchte Anschluss an die Kolonialmächte. 1881–1885 eroberte es äthiopische Gebiete am [[Rotes Meer|Roten Meer]], die 1890 zur [[Kolonie Eritrea]] zusammengefasst wurden. 1889 folgte der südliche Teil [[Somalia]]s; sie wurden später [[Italienisch-Somaliland]]. Der Versuch, weitere äthiopische Gebiete zu erobern, scheiterte 1894–1896 mit der [[Schlacht von Adua|Niederlage von Adua]]. Im [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg mit dem Osmanischen Reich]] 1911/12 eroberte Italien [[Italienisch-Libyen|Libyen]] und den [[Italienische Ägäis-Inseln|Dodekanes]]. Der italienische Expansionsdrang im Zeitalter des [[Imperialismus#Italien|Imperialismus]] ([[Italienische Kolonien]], [[Italienischer Irredentismus]]) wurde vom Großbürgertum entscheidend<!--??--> mitgetragen; im Fall Libyen spielte [[Giovanni Giolitti#Politische Ämter|Giovanni Giolitti]] (von November 1903 bis März 1914 Ministerpräsident von fünf Kabinetten) eine wichtige Rolle.<br />
<br />
[[Datei:HumbertoI-1900CyC.jpg|mini|Titelblatt einer spanischen Zeitung zum Tod König Umbertos I.]]<br />
<br />
Starke soziale Spannungen traten offen zu Tage, Italiens Sozialgesetzgebung belegte in Europa den letzten Platz.<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Berlin 1997, S. 90.</ref> Die Sozialisten standen nicht nur in Opposition zur Sozialpolitik, sondern auch zur kolonialen Expansion. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] finanzierte die Kolonialpolitik mit Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen. Die innenpolitischen Gegensätze kulminierten im [[Bava-Beccaris-Massaker]] von Mailand. Dort war es am 7. Mai 1898 zu Massendemonstrationen gegen die steigenden Brotpreise gekommen. General [[Fiorenzo Bava-Beccaris]] ließ, nachdem der Belagerungszustand ausgerufen worden war, mit Artillerie und Gewehren in die Menge schießen.<ref>[[Ada Negri]] widmete dem Ereignis ein Sonett mit Titel [https://archive.org/stream/maternita00negruoft#page/193/mode/1up ''Sette maggio 1898''] (in der Nachdichtung von Hedwig Jahn mit dem Titel „Der siebente Mai 1898“ erschienen in ''Mutterschaft'', Berlin 1905, S. 104).</ref> Dabei wurden je nach Angaben zwischen 82 und 300 Personen getötet.<ref>[[Adolphus William Ward]], [[George Walter Prothero]], [[Stanley Leathes]] (Hrsg.): ''Riots at Milan''. In: ''[[The Cambridge Modern History]], Vol. XII, The Latest Age.'' University Press, Cambridge 1910, S. 220 ([https://books.google.com/books?id=vas8AAAAIAAJ&pg=PA220 online]).</ref><ref>Raffaele Colapietra: [http://www.treccani.it/enciclopedia/fiorenzo-bava-beccaris_%28Dizionario-Biografico%29/ ''Bava Beccaris, Fiorenzo''] In: Dizionario Biografico degli Italiani – Treccani, Bd. 7 (1970).</ref> König [[Umberto I.]] gratulierte dem General in einem Telegramm und zeichnete ihn mit einem Orden aus. Damit schuf er sich Feinde, und 1900 wurde er, seit 22 Jahren amtierender König, in [[Monza]] von dem Anarchisten [[Gaetano Bresci]] erschossen.<br />
<br />
Sein Nachfolger wurde [[Viktor Emanuel III.]] Politisch dominierend war aber [[Giovanni Giolitti|Giolitti]], der 1901 bis 1903 zunächst Innenminister, ab 1903 mit Unterbrechungen bis 1914 Ministerpräsident (und oft in Personalunion auch Innenminister) war. Er dominierte oder prägte die italienische Politik dermaßen, dass man von der ''Ära Giolitti'' spricht. Er war gegenüber den reformerischen und revolutionären Bewegungen zu Zugeständnissen bereit und förderte die Industrialisierung. Zwar war 1886 eine staatliche Subventionierung der privaten Krankenversicherung und 1898 eine erste obligatorische Unfallversicherung eingeführt worden,<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 87f.</ref> doch erst Giolitti führte 1912 nach deutschem Vorbild eine staatliche Sozialversicherung ein. Zudem reformierte er das Wahlrecht, so dass es keine Vermögensgrenzen mehr gab und die Zahl der Wahlberechtigten auf 8 Millionen Männer anstieg. Bereits 1919, acht Jahre vor Deutschland, entstand eine Arbeitslosenversicherung.<ref>[[Georg Wannagat]]: ''Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts.'' Bd. 1, Mohr, Tübingen 1965, S. 83.</ref><br />
<br />
=== Massenauswanderung, zögerliche Industrialisierung, Arbeiterparteien ===<br />
[[Datei:Italienische Emigration pro Region 1876-1915.svg|mini|links|Massenauswanderung aus Italien nach Regionen, 1876 bis 1915]]<br />
<br />
Die staatliche Reaktion auf die drastischen sozialen Veränderungen war erst sehr spät erfolgt, denn die gesellschaftlichen Eliten verweigerten sich lange und verließen sich vielfach auf das Wirken der die Sozialsysteme seit dem Mittelalter dominierenden [[Römisch-katholische Kirche in Italien|Kirche]]. Ihr stand aber kein adäquates kommunales oder zünftisches System mehr zur Seite. Die Bevölkerung Italiens wuchs von 18,3 Millionen Menschen um 1800 auf 24,7 um 1850 und auf 33,8 Millionen um das Jahr 1900.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte'', München: Beck 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Dennoch sank Italiens Anteil an der Bevölkerung Europas weiter. Dies hing zum einen mit seinem Entwicklungsrückstand zusammen und zum anderen damit, dass es ab etwa 1852 zu einer Massenauswanderung größten Ausmaßes kam. Bis 1985 wanderten rund 29 Millionen Menschen aus. Dabei kamen von 1876 bis etwa 1890 die meisten aus dem Norden und dort besonders aus Venetien (17,9 %), Friaul-Julisch-Venetien (16,1) und dem Piemont (12,5 %). Danach wanderten verstärkt Italiener aus dem Süden aus. Von 1880 bis 1925 wanderten 16.630.000 Menschen aus, wovon 8,3 Millionen aus dem Norden stammten, davon wiederum 3.632.000 aus Venetien. Aus dem Süden wanderten 6.503.000 aus und der Rest aus Mittelitalien.<ref>[http://www.emigrati.it/Emigrazione/CariAmici.asp HOME emigrati.it]</ref> Hauptziele waren die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Nachfahren der [[Italiener]] heute mit einem Bevölkerungsanteil von 6 % die drittgrößte europäische Einwanderungsgruppe nach Deutschen und Iren darstellen, [[Argentinien]], wo die Italienischstämmigen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sowie [[Brasilien]]. Auch nach [[Kanada]], [[Australien]] und in weitere Länder [[Lateinamerika]]s wanderten viele aus.<br />
<br />
Der Umfang der Auswanderung erklärt sich zum einen aus dem Niedergang der Landwirtschaft und den scharfen Konflikten, die durch die Konservierung alter Strukturen und durch den Kapitalmangel sowie durch den Großgrundbesitz und die [[Halbpacht]] noch verschärft wurden. Zugleich bot die zögerliche [[Industrialisierung]] in den schnell wachsenden Städten kaum genügend Arbeitsplätze. Darüber hinaus war der Binnenkonsum gering, zumal der [[Fiskalismus]], der zum Ausbau der Infrastruktur für notwendig gehalten wurde, die Einkommen weiter belastete. Schließlich waren die Unternehmen im Vergleich zu den ausländischen mit nur geringem Kapital ausgestattet. Daher errichtete die Regierung von 1878 bis 1887 hohe Zollschranken und verfolgte eine protektionistische Politik, die die noch schwache Textil- und [[Schwerindustrie]] in der Aufbauphase schützen sollte. Frankreich beantwortete die [[Schutzzollpolitik]] mit entsprechenden Gegenzöllen.<br />
<br />
[[Datei:Italia ferrovie 1861.03.17.png|mini|links|Das Eisenbahnnetz im Jahr 1861]]<br />
[[Datei:Italia ferrovie 1870 09 20.png|mini|und im Jahr 1870]]<br />
<br />
Während im Norden die Industrialisierung gefördert und die [[Infrastruktur]] ausgebaut wurde, stützte die Regierung im Süden die [[Latifundien]], wobei in beiden Fällen die Protagonisten von Schwerindustrie bzw. Agrarwirtschaft ihren Einfluss im Norden bzw. Süden durchsetzen konnten. So wurde das [[Geschichte der Eisenbahn in Italien|Eisenbahnnetz ab 1839 ausgebaut]] (als erstes [[Bahnstrecke Napoli–Portici|Neapel-Portici]]; dann vor allem in habsburgisch beherrschten Gebieten: 1840 Mailand-Monza, 1844/46 Pisa-Livorno und -Lucca, 1846 Mailand-Venedig; erst 1855 Turin-Genua in [[Königreich Sardinien|Sardinien-Piemont]]), ebenso wie die Bahnstrecken zu Häfen. Die 1837 im österreichischen Gebiet gegründeten [[Lombardisch-venetianische Eisenbahnen|Lombardisch-venetianischen Eisenbahnen]] übernahm Italien 1866, die Betriebsführung ging an die [[Rothschild (Familie)|Familie Rothschild]]. 1905 entstanden die bis heute bestehenden [[Ferrovie dello Stato|Staatsbahnen]].<ref>Einen guten Überblick über die Entstehung der italienischen Bahnen bietet Italo Briano: ''Storia delle ferrovie in Italia.'' 3 Bde., Mailand: Cavallotti, 1977; die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe beleuchtet stärker Stefano Maggi: ''Politica ed economia dei trasporti nell’età contemporanea (secoli XIX–XX). Una storia della modernizzazione italiana.'' Il Mulino, Bologna 2001.</ref> Die Produktion von [[Lokomotive]]n blieb wegen hoher Rohstoffpreise bis zum Ersten Weltkrieg gering; bei den Waggons dominierten [[Güterwaggon]]s.<ref>Dies ist das Ergebnis von Carlo Ciccarelli, Stefano Fenoaltea: ''The Rail-Guided Vehicles Industry in Italy, 1861–1913: The Burden of the Evidence.'' In: Christopher Hanes, Susan Wolcott (Hrsg.): ''Research in Economic History'', Bd. 28, Emerald Group Publishing 2012, S. 43–115.</ref><br />
<br />
Große Probleme bereitete die Währungspolitik, denn im [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]] hatte auch Italien die freie [[Konvertibilität|Konvertierbarkeit]] ausgesetzt. Nun setzte sich der [[Goldstandard]] durch, der dafür sorgte, dass Geldnoten nur in einem festgesetzten Verhältnis zu den [[Goldreserve]]n ausgegeben werden durften. Man erwartete, dass dies für eine Stabilisierung der Währungsverhältnisse durch den [[Goldautomatismus]] sorgen würde, wobei sich die jeweiligen [[Zentralbank]]en an strikte Regeln halten mussten. Wurde eine [[Währung]] schwächer, führte dies demnach zu einem Goldabfluss in Richtung der stärkeren Währung, womit die Banknotenausgabe entsprechend den verminderten Goldreserven vermindert werden musste. Dies erhöhte die Zinsen und [[Deflation|senkte die Preise]]. Im Land, dem Gold zuströmte, wuchs der Papiergeldumlauf; dadurch sanken die Zinsen und die Preise stiegen. Ab einem bestimmten Punkt kehrte sich der Goldfluss wieder um, die [[Zahlungsbilanz]] wurde ausgeglichen, die Währung stabilisiert. Auch wenn sich die Zentralbanken häufig nicht an die Vorgaben hielten, war das System erfolgreich, weil man auf die jederzeitige Umtauschbarkeit von Geld und Gold vertraute. Mit der Anbindung der 1865 gegründeten, auf [[Bimetallismus]], also auf Gold- und Silbermünzen basierenden [[Lateinische Münzunion|Lateinischen Münzunion]] und damit der [[Italienische Lira|Lira]] ans Gold konnte die Regierung soviel Vertrauen herstellen, dass ausländisches Investivkapital nach Italien kam. Finanzminister [[Sidney Sonnino]] versuchte zudem die großen Vermögen ebenso zu belasten, wie der Konsum belastet wurde; er scheiterte aber am konservativen Widerstand. Nach der Überwindung der Wirtschaftskrise ab 1896 gelang es, einen ausgeglichenen [[Staatshaushalt]] zu erreichen.<br />
<br />
[[Datei:Filippo Turati 70.jpg|mini|[[Filippo Turati]] (1857–1932), einer der Gründer der [[Partito Socialista Italiano|Sozialistischen Partei]] und Kopf einer eher sozialdemokratisch ausgerichteten Gruppe; später bekämpfte er Mussolini]]<br />
<br />
In den 1880er Jahren kam es zu schweren Arbeitskämpfen, um 1889 setzten Repressionen gegen den Partito Operaio (Arbeitspartei) ein, so dass der Zusammenschluss aller sozialistischen Organisationen des Landes in einer Partei angestrebt wurde. Den Industriearbeitern gelang es, sich 1892 im [[Partito dei Lavoratori Italiani]] (Partei der italienischen Arbeiter) zu organisieren, die 1893 in [[Partito Socialista Italiano]] (Sozialistische Partei Italiens) umbenannt wurde. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] setzte ab 1894 Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten durch, doch blieben sie letztlich ohne Erfolg. 1901 versuchte sein Nachfolger [[Giovanni Giolitti]] die Partei, die in den Wahlen 32 Sitze gewonnen hatte, in die Regierung einzubinden, was diese jedoch ablehnte. Doch von 1908 bis 1912 kam es zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken, bis sich ein radikaler Syndikalismus durchsetzte. 1912 spaltete sich der [[Partito Socialista Riformista Italiano]] ab, der aus patriotischen Gründen dem [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg gegen die Osmanen]] zustimmte. 1917 wechselte die Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten zu den Kriegsbefürwortern über, die Parteiführung lehnte den Krieg hingegen weiterhin ab.<br />
<br />
=== Erster Weltkrieg ===<br />
Obwohl Italien durch den [[Dreibund]] an Deutschland und Österreich gebunden war, erklärte die Regierung [[Antonio Salandra]] bei Ausbruch des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] die Neutralität des Landes, da sie den Dreibund als ein Verteidigungsbündnis betrachtete, Österreich-Ungarn aber [[Julikrise#Vom österreichisch-serbischen zum großen europäischen Krieg|offensiv in den Krieg eingetreten war]]. In der Folge entbrannte ein innenpolitischer Streit um eine Kriegsteilnahme. Die Interventionisten, zu denen der damals noch der Sozialistischen Partei zugehörige [[Benito Mussolini]] gehörte, sahen in einem Kriegseintritt die Chance, die [[irredentistisch]]en Pläne zu verwirklichen, und gewannen schließlich die Oberhand. Der Irredentismus beinhaltete die Forderung nach dem Anschluss des [[Trentino]] und [[Istrien]]s, teilweise auch anderer Gebiete (Korsika, [[Nizza]], Savoyen, [[Monaco]], [[Tessin]], Dalmatien, Malta, [[San Marino]], [[Südtirol]]). Die unter österreichischer Herrschaft stehenden Gebiete Trentino (damals ein Teil [[Tirol]]s) und [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] (Istrien, [[Triest]] und ein Teil [[Friaul]]s) waren die vorrangigen Ziele. Im März 1915 verhandelte Italien mit [[Österreich-Ungarn]], das aber allenfalls bereit war, südliche Teile des Trentino abzutreten. Die [[Triple Entente|Entente]]-Mächte versprachen Italien im Falle eines Kriegseintritts auf ihrer Seite mehr: das südliche Tirol bis zum [[Brennerpass]], das österreichische Küstenland, die Ostadriaküste (v. a. [[Dalmatien]], das bis Ende des 18. Jahrhunderts zur [[Republik Venedig]] gehört hatte) und eine Erweiterung [[Italienische Kolonien|des Kolonialbesitzes]]. Nachdem im [[Londoner Vertrag (1915)|Londoner Vertrag]] am 26. April 1915 diese Gebietserweiterungen zugesagt worden waren, kündigte Italien am 4. Mai den Dreibund. Mit der [[Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn|Kriegserklärung an Österreich-Ungarn]] am 23. Mai (die Erklärung an das [[Deutsches Reich|Deutsche Reich]] erfolgte erst 1916) trat es auf Seiten der [[Triple Entente]] in den Ersten Weltkrieg ein.<ref>{{Literatur |Autor=Maddalena Guiotto |Titel=Italien und Österreich: ein Beziehungsgeflecht zweier unähnlicher Nachbarn |Hrsg=Maddalena Guiotto, Wolfgang Wohnout |Sammelwerk=Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit / Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Böhlau |Ort=Wien |Datum=2018 |ISBN=978-3-205-20269-1 |Seiten=17}}</ref><br />
<br />
Italien und Österreich-Ungarn standen sich an zwei [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Fronten]] gegenüber: im gebirgigen [[Isonzo]]-Gebiet und in den Alpen im Trentino und südlich davon. Italien begann also weitgehend einen [[Gebirgskrieg 1915–1918|Gebirgskrieg]], der die Verteidiger begünstigte. Daneben gab es noch kleinere Seegefechte in der Adria (Pula und [[Kotor]] waren Häfen der [[K.u.k. Marine#Im Ersten Weltkrieg| k. u. k. Kriegsmarine]]). An der Isonzofront fanden von 1915 bis 1917 elf [[Isonzoschlachten|Schlachten]] statt, die Italien nur geringe Gebietsgewinne brachten. Im Trentino versuchte Österreich-Ungarn 1916, die Isonzofront durch einen [[Österreich-Ungarns Südtiroloffensive 1916|Großangriff]] zu brechen. Der Angriff scheiterte nach anfänglichen Gewinnen aber. Er musste eingestellt werden, weil Russland am 4. Juni 1916 an der [[Ostfront (Erster Weltkrieg)|Ostfront]] die [[Brussilow-Offensive]] begann.<br />
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Italian Front 1915-1917.jpg|Karte der [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Italienfront]]<br />
Battle of Caporetto.jpg|[[Zwölfte Isonzoschlacht]]<br />
Battle of Vittorio Veneto.jpg|[[Schlacht von Vittorio Veneto]]<br />
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Als Italien 1917 in der [[Isonzoschlachten#Elfte Isonzoschlacht, 17. August bis 12. September 1917|elften Isonzoschlacht]] das [[Bainsizza-Plateau|Bainsizza-Hochplateau]] eroberte, geriet der Südabschnitt der angeschlagenen österreich-ungarischen Isonzofront in Gefahr. Für einen Entlastungsangriff am oberen [[Isonzo]] wurden mehrere deutsche Divisionen zur Verfügung gestellt. Im Oktober 1917 gelang deutschen und österreich-ungarischen Truppen bei [[Schlacht von Karfreit|Karfreit/Caporetto]] in der [[Zwölfte Isonzoschlacht|zwölften Isonzoschlacht]] ein Durchbruch, der das [[Geschichte des italienischen Heeres#Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg|italienische Heer]] bis an den [[Piave]] zurückwarf. Gleichzeitig brach die italienische Gebirgsfront nordöstlich von [[Asiago (Venetien)|Asiago]] zusammen. Ein weiterer Vormarsch der [[Mittelmächte]] scheiterte jedoch am [[Monte Grappa]] und am Hochwasser führenden Piave. Kurz danach entsandten die [[Alliierte]]n zur Stabilisierung Verstärkung. Der italienische Generalstabschef [[Luigi Cadorna|Cadorna]] wurde wegen dieser schweren Niederlage abgelöst. Im Februar 1916 begann Österreich-Ungarn mit [[Luftangriff]]en auf Städte Norditaliens, darunter auf Verona und auf Padua.<ref>Stephen Harvey: ''The Italian War Effert and the Strategic Bombing of Italy.'' In: History 70 (1985) 32–45.</ref> Venedig wurde am 14. August 1917 und am 27. Februar 1918 von österreichischen Flugzeugen angegriffen, 1917 wurde das Krankenhaus (ospedale civile) getroffen.<ref>[[Andrea Moschetti]]: ''I danni ai monumenti e alle opere d’arte delle Venezie nella guerra mondiale MCMXV–MCMXVIII.'' C. Ferrari, Venedig 1932, S. 65.</ref><br />
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[[Datei:Kingdom of Italy 1919 map.svg|mini|links|Italien nach dem [[Vertrag von Saint-Germain]]]]<br />
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Im Juni 1918 konnte Italien in der zweiten [[Piaveschlacht]] den letzten österreichischen Durchbruchsversuch abwehren. Im Oktober 1918 begann Italien mit einer Offensive, bei der Österreich-Ungarn am 29. Oktober in der [[Schlacht von Vittorio Veneto]] unterlag. Im [[Waffenstillstand von Villa Giusti]] wurde Österreich-Ungarn gezwungen, allen alliierten und italienischen Forderungen nachzukommen, was einer bedingungslosen Kapitulation gleichkam. Italienische Truppen besetzten danach die ihnen zugesprochenen Gebiete, darunter Südtirol. Einer geplanten Offensive durch das [[Inntal]] gegen das Deutsche Reich kam der [[Waffenstillstand von Compiègne (1918)|Waffenstillstand an der Westfront]] zuvor. Ein separater Kriegsschauplatz war ab Januar 1916 der [[Geschichte Albaniens#Erster Weltkrieg|Süden Albaniens]], das Italien als seine [[Interessensphäre|Einflusssphäre]] betrachtete und von es seine Truppen erst 1920 abzog.<ref>Pietro Pastorelli: ''L’Albania nella politica estera italiana, 1914–1920.'' Jovene, Neapel 1970.</ref><br />
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Italien hatte insgesamt 5.615.000 Männer mobilisiert, davon fielen 650.000,<ref>Antonella Astorri, Patrizia Salvadori: ''Storia illustrata della prima guerra mondiale.'' Bd. 1, Florenz 1999, S. 160.</ref> 947.000 wurden verletzt<!--, auch 589.000 Zivilisten starben -->. 1976 Produktionsanlagen waren an der Kriegsproduktion beteiligt; allein bei FIAT schnellten die Beschäftigungszahlen von 4000 auf 40.500 in die Höhe. 1917 nahmen dabei 168.000 Arbeiter an 443 Streiks teil, 1920 kam es zu [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]], an denen eine Million Arbeiter teilnahm.<ref>Vito Avantario: ''Die Agnellis. Die heimlichen Herrscher Italiens.'' Campus 2002, S. 217.</ref><br />
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Im [[Vertrag von Saint-Germain]] 1919 wurden Italien [[Trentino]], [[Südtirol]], das [[Kanaltal]], das gesamte [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] und ein Teil der [[Krain]], die Stadt [[Zadar|Zara]] und einige [[Dalmatien|norddalmatinische Inseln]] zugesprochen. Italien bekam damit dennoch weniger, als es erwartet hatte. Auf die erhoffte Herrschaft über den ganzen Ostadriaraum und die Vergrößerung seines Kolonialbesitzes musste es verzichten. Aus Protest verließ der italienische Ministerpräsident [[Vittorio Emanuele Orlando]] die Friedensverhandlungen.<br />
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Die mehrheitlich italienischsprachige Stadt [[Rijeka|Fiume]], die dem Königreich nicht zugesprochen worden war, wurde 1919 von paramilitärischen Verbänden unter Leitung [[Gabriele D’Annunzio]]s besetzt: Dieser rief die [[italienische Regentschaft am Quarnero]] aus, die aber ohne internationale Anerkennung, auch von Seiten Italiens, blieb. Nachdem D’Annunzio zur Aufgabe gezwungen worden war, vereinbarten Italien und Jugoslawien im [[Grenzvertrag von Rapallo]], einen unabhängigen [[Freistaat Fiume]] anzuerkennen. Durch einen [[Staatsstreich]] übernahmen dort 1922 italienische Nationalisten die Macht, die eine Angliederung an Italien anstrebten. Diese wurde mit dem [[Vertrag von Rom (1924)|Vertrag von Rom]] im Januar 1924 besiegelt.<br />
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== {{Anker|Faschistische Diktatur unter Benito Mussolini}}{{Anker|Zweiter Weltkrieg}}Faschismus und Zweiter Weltkrieg (1922–1945) ==<br />
{{Hauptartikel|Italienischer Faschismus|Gruppo veneziano}}<br />
[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) Fasces Emblem.svg|mini|Das [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|Liktorenbündel-Emblem]] (''L’emblema del fascio littorio'') in der von 1927 bis 1929 verwendeten Form.]]<br />
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Die tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Krise nach dem Ersten Weltkrieg, den Italien mitgewonnen hatte, dessen Sieg aber nach Ansicht der Nationalisten von italienischen Verzichtspolitikern und den Alliierten „verstümmelt“ worden war ([[Gabriele D’Annunzio]] prägte das enorm einflussreiche Schlagwort der ''Vittoria mutilata''), führte das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Die zwei „roten Jahre“ ''([[Biennio rosso]])'' 1919 und 1920 wurden von der politischen Agitation der Linken geprägt: Demonstrationen und Streiks, die vielfach mit gewaltsamen [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]] und Landbesetzungen endeten, legten die Wirtschaft Italiens lahm. Den Regierungen unter [[Vittorio Emanuele Orlando]] und [[Francesco Saverio Nitti]] gelang es nicht, der schwierigen Lage Herr zu werden. [[Benito Mussolini]] nutzte die Angst vor einer bolschewistischen Revolution, um sich als ein Garant von [[Law and Order (Politik)|Recht und Ordnung]] zu präsentieren. Unterstützung fand er dabei in weiten Teilen des Bürgertums, insbesondere bei den betroffenen Industriellen und Grundbesitzern. Es folgten 1921 und 1922 die zwei „schwarzen Jahre“ ''([[Biennio nero]])''. [[Faschismus|Faschistische]] Squadristen, die paramilitärisch organisierten [[Schwarzhemden]], gingen mit Gewalt gegen sozialistische und katholische [[Gewerkschaft]]sbewegungen sowie gegen linke, als subversiv bezeichnete politische Gegner vor. Insgesamt starben zwischen 1919 und 1922 wohl etwa 1.000 Faschisten und Antifaschisten in den [[bürgerkrieg]]sähnlichen Kämpfen.<br />
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Nachdem Mussolini Ende 1921 aus der lose zusammenhängenden faschistischen Bewegung eine Partei, den [[Partito Nazionale Fascista]] (PNF), geschaffen hatte, organisierte er im Oktober 1922 mit etwa 26.000 faschistischen Anhängern einen [[Sternmarsch]], der als [[Marsch auf Rom]] ''(Marcia su Roma)'' in die Geschichte einging. Am 28. Oktober trafen diese Gruppen im strömenden Regen vor den Toren Roms ein. Der Anführer des Marsches reiste später mit einem Schlafwagen aus [[Mailand]] an, als infolge angeblicher Putschdrohungen König [[Viktor Emanuel III.]] Ministerpräsident [[Luigi Facta]] bereits entlassen hatte. Der König ernannte daraufhin Mussolini zum [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidenten]]; die Faschisten zogen zu einem Siegesmarsch in Rom ein.<br />
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[[Datei:La Domenica del Corriere (2 Oct 1938).jpg|mini|Propagandistische Darstellung [[Benito Mussolini]]s auf der Titelseite der Zeitung ''La Domenica del Corriere'' (1938)]]<br />
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Im Juli 1923 gewährte ein neues Wahlgesetz, die ''[[Legge Acerbo]]'', der stimmenstärksten Partei zwei Drittel der Parlamentssitze. Kurz nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1924|Parlamentswahlen vom 6. April 1924]] wurde der sozialistische Oppositionspolitiker [[Giacomo Matteotti]] entführt und ermordet. Indizien deuten darauf hin, dass Mussolini selbst den Auftrag für diesen Mord gegeben hatte – in einer berühmt-berüchtigten Rede vor der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925 gab er dies selbst zu. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, den Aufbau der faschistischen [[Diktatur]] anzukündigen und voranzutreiben, nachdem er im Gefolge der Krise zeitweise unter starken Druck der Kirche, von Gewerkschaften und Opposition, aber auch von „intransigenten“, revolutionär-squadristischen Kreisen des Faschismus geraten war. Im November 1926 wurden endgültig alle Oppositionsparteien verboten. Zu den Wahlen 1928 traten nur noch Kandidaten an, die vom PNF zugelassen wurden; mit der Schaffung des „Faschistischen Großrats“ ''(Gran Consiglio del Fascismo)'' existierte nun auch ein Gremium, das Partei- und Staatsfunktionen vereinte. Der institutionelle Umbau des italienischen Staates zur faschistischen Diktatur war damit abgeschlossen.<br />
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Getreu der nationalistischen Ideologie betrieb das Regime eine strikte [[Italianisierung]]spolitik. Die am meisten Leidtragenden waren ethnische Minderheiten im Lande, insbesondere [[Frankoprovenzalische Sprache|Frankoprovenzalen]], Slawen und [[Geschichte Südtirols#Zwischenkriegszeit (1918–1939)|Südtiroler]].<br />
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Am 11. Februar 1929 wurden die [[Lateranverträge]] zwischen dem [[Vatikanstadt|Vatikan]] und dem Königreich Italien abgeschlossen. In dem von dem Kardinalstaatssekretär [[Pietro Gasparri]] und Mussolini unterzeichneten Vertragswerk wurde die Souveränität eines [[Kirchenstaat]]es anerkannt, wurden die Beziehungen zwischen der Kirche und dem italienischen Staat geregelt und wurden dem Vatikan Entschädigungen zugesprochen. Das faschistische Regime löste damit die seit 1870 mit der Einnahme Roms durch italienische Truppen schwelende Frage des Verhältnisses von katholischer Kirche und italienischem Staat. Dieser Erfolg brachte dem Faschismus die Zustimmung auch vieler bürgerlich-konservativer Kreise, die von der faschistischen Gewaltpolitik noch abgeschreckt worden waren.<br />
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Wirtschaftspolitisch hatte das Regime mit den Folgen der [[Weltwirtschaftskrise|Großen Depression]] zu kämpfen. Die drei wichtigsten, beinahe bankrotten Banken wurden bereits 1926 von der öffentlichen Hand übernommen und unter den Schutzschirm des 1933 gegründeten Staatskonzerns ''[[Istituto per la Ricostruzione Industriale]]'' gestellt, das erst am 28. Juni 2000 aufgelöst wurde. Es wurde massiv in öffentliche Infrastrukturen investiert. Mehr und mehr unterstützte das Regime einen [[protektionistisch]]en Kurs. Die [[Weizenschlacht]] ''(battaglia del grano)'' sollte die Autarkie in der Nahrungsmittelversorgung erreichen. Die Trockenlegung der [[Pontinische Ebene|Pontinischen Ebene]] war ein umfangreiches [[Arbeitsbeschaffungsprogramm]] für arme Familien aus dem Norden Italiens, besonders für Venetien und die Emilia.<br />
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Außenpolitisch verfolgte Italien nach dem ungeschickten Überfall auf [[Korfu]] 1923 zunächst eine Politik, die das Land als Stütze der internationalen Ordnung und als Friedensgaranten im Mittelmeerraum erscheinen lassen sollte. Zunehmend jedoch radikalisierten sich die faschistische Kultur und Politik – eine Rückkehr zu roher Gewalt, jetzt auf internationaler Ebene, war die Konsequenz eines Weltbildes, das auf der Vorstellung eines ewigen Kampfes und der imperialistischen Expansion Italiens fußte. So setzte Mussolini mit einer bisher ungekannten Brutalität den [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg]] fort, den noch das liberale Italien 1922 begonnen hatte, der letzten Endes im [[Völkermord in der Cyrenaika]] gipfelte.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010 (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), S. 132 f.</ref> Zudem begann Mussolini Ende der 1920er-Jahre, in zahlreichen europäischen Ländern subversiv über Geheimagenten Einfluss zu nehmen.<ref>Wolfgang Altgeld: ''Vorlesung. Das faschistische Italien.'' Bonn 2016, S. 220–222.</ref> Gemäß der von [[Dino Grandi]] vertretenen Maxime des ''peso determinante'' stellte Italien das „entscheidende Gewicht“ auf der Waagschale der europäischen Diplomatie dar und sollte in keinem Fall eine Feindschaft mit England beginnen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Das faschistische Italien (1919/22–1945).'' In: [[Wolfgang Altgeld]] u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Geschichte Italiens''. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2016, S. 392–454, hier S. 419 f.</ref><br />
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=== 1935–1943: Abessinienkrieg, Spanienkrieg und erste Jahre des Zweiten Weltkriegs ===<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1939.png|mini|hochkant=1.5|Das faschistische Italien mit seinem Kolonialreich in Europa und Afrika (1939)]]<br />
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Mit dem [[Abessinienkrieg]] begann Italien eine kriegerische expansionistische Außenpolitik, um den Traum vom italienischen [[Lebensraum-Politik|Lebensraum]] ''(spazio vitale)'' schrittweise umzusetzen: Das [[Kaiserreich Abessinien]] konnte trotz internationaler Proteste erobert werden und wurde mit den bestehenden Kolonien Eritrea und Somalia zu [[Italienisch-Ostafrika]] zusammengeschlossen. Dabei kam es zu zahlreichen Völkerrechtsverbrechen und massivem Einsatz von Giftgas;<ref>Aram Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]].'' Bd. 51, Heft 3, 2003, S. 311–337, [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2003_3.pdf online (PDF; 7&nbsp;MB)].</ref> zugleich unterdrückte Mussolinis Partei Kontakte italienischer Soldaten mit afrikanischen Frauen ''(madamato)''.<ref>Antonella Randazzo: ''L’Africa del Duce. I crimini fascisti in Africa''. Arterigere, Varese 2008, S. 237f.</ref> Der anfängliche militärische Erfolg – die Kampfhandlungen in Abessinien gingen tatsächlich bis zur Eroberung Italienisch-Ostafrikas durch die Briten im November 1941 weiter – festigte die Herrschaft der Faschisten und deren Popularität im Inland, führte aber zu einer zunehmenden Isolierung im Ausland. Der [[Völkerbund]] verhängte Sanktionen, an denen sich allerdings das vom [[NS-Regime]] beherrschte Deutschland nicht beteiligte. Dies und die [[Italienische Intervention in Spanien|Intervention]] beider Staaten im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] zugunsten der nationalistischen Militärs um [[Francisco Franco]] – auf der Gegenseite kämpfte bis 1939 das [[Garibaldi-Bataillon]] – führten 1936 zu einer Annäherung an Deutschland, der sogenannten „[[Achse Rom-Berlin]]“.<br />
[[Datei:Benito Mussolini and Adolf Hitler.jpg|mini|Mussolini 1937 bei Hitler in München]]<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Variante der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteiflagge]] der Faschisten]]<br />
1937 trat Italien aus dem Völkerbund aus, nachdem es bereits dem von Deutschland und Japan 1936 gegründeten [[Antikominternpakt]] im November 1937 beigetreten war. 1939 folgten die Okkupation des [[Königreich Albanien|Königreichs Albanien]] und das als „[[Stahlpakt]]“ bezeichnete Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich. 1938 erließ Italien rassistische Gesetze, die vor allem Juden und Afrikaner diskriminierten.<br />
<br />
In den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] griff Italien zunächst nicht ein. Es war für einen größeren Krieg noch längst nicht gerüstet und seine Streitkräfte waren nach der Intervention in Spanien sowie Ostafrika in einer Phase der Modernisierung. Mussolini proklamierte 1939 daher zunächst die „Nichtkriegführung“ ''(non belligeranza)'' seines Landes.<br />
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Angesichts des erfolgreich verlaufenden deutschen [[Westfeldzug|Feldzugs gegen Frankreich]] fürchtete Mussolini, auf einer Friedenskonferenz ohne eigene militärische Erfolge nicht profitieren zu können. Der „Duce“ erklärte Großbritannien und Frankreich gegen den Rat seiner Generäle am 10. Juni 1940 [[Kriegserklärung Italiens an Frankreich und Großbritannien|den Krieg]] und begründete diesen Schritt mit der Ambition, das ''Imperium Romanum'' wieder aufleben zu lassen: Italien wollte sein Territorium auf [[Nizza]], [[Korsika]], [[Malta]], die gesamte Küste Dalmatiens mitsamt [[Albanien]], [[Kreta]] und weitere griechische Inseln ausweiten. Zu den bisherigen Kolonien würden [[Tunesien]], [[Ägypten]] (mit der [[Sinai-Halbinsel]]), [[Sudan]] und Teile [[Kenia]]s hinzukommen, um eine Landverbindung von [[Libyen]] nach [[Italienisch-Ostafrika]] zu schaffen. Auch die Territorien von [[Britisch-Somaliland|Britisch]]- und [[Französisches Afar- und Issa-Territorium|Französisch-Somaliland]] sowie Teile [[Französisch-Äquatorialafrika]]s sollten somit in Besitz genommen und mit der [[Türkei]] und arabischen Staaten Vereinbarungen über Einflusszonen getroffen werden. Zudem sollten [[Aden]] und [[Perim]] unter italienische Kontrolle kommen.<br />
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Bei seinen eigenen Kriegsanstrengungen konnte Italien jedoch – abgesehen von einer kurzlebigen Vertreibung der Briten aus Ostafrika ([[Ostafrikafeldzug]]) – keine Erfolge verzeichnen: Der Angriff gegen das militärisch bereits geschlagene Frankreich blieb nach geringen Geländegewinnen in den Alpen stecken; die Offensive gegen die Briten in Nordafrika Ende 1940 und der [[Griechisch-Italienischer Krieg|Feldzug gegen Griechenland]] (ab dem 28. Oktober 1940) gerieten jeweils zum Desaster, das nur durch das Eingreifen der deutschen [[Wehrmacht]] überdeckt werden konnte ([[Balkanfeldzug (1941)]], [[Afrikafeldzug]]). Ursachen waren mangelnde Ausbildung, zum Teil schlechte Ausrüstung, vor allem aber dilettantische strategische Planung und maßlose Selbstüberschätzung des „Duce“ und einiger Generäle. Trotz Überlegenheit auf dem Papier gelang es der [[Regia Marina|italienischen Marine]] nicht, die [[Royal Navy|britische Marine]] aus dem Mittelmeer zu vertreiben. Später verhinderte Kraftstoffmangel solche Vorhaben. In Ostafrika unterlag die italienische Armee britischen Truppen, die von äthiopischen Einheiten unterstützt wurden. Im Mai 1941 zog [[Haile Selassie]] wieder in Addis Abeba ein. Viele Italiener adaptierten das Erklärungsmuster, Italiener seien menschlicher als die Deutschen; sie könnten nicht hassen und deswegen auch keine Kriegsverbrechen begehen.<ref>Osti Guerazzi: ''Zum Selbstbild der italienischen Armee während des Krieges und nach dem Krieg''. In: ''Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten.'' Herausgegeben von [[Harald Welzer]], [[Sönke Neitzel]] und [[Christian Gudehus]]. Fischer TB 2011, ISBN 978-3-596-18872-7.</ref><br />
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Am [[Russlandfeldzug 1941|deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion]] nahmen von 1941 bis 1943 [[Italienisches Expeditionskorps in Russland|das Expeditionskorps]] und die [[8ª Armata|8. Armee]] mit insgesamt 62.000 bzw. 230.000 Mann teil. Allein die 8. Armee verlor dabei etwa 77.000 Mann.<ref>Steven D. Mercatante: ''Why Germany Nearly Won. A New History of the Second World War in Europe.'' ABC-CLIO, Santa Barbara 2012, S. 167.</ref> Auch auf dem Balkan verfolgten die Italiener teilweise ein nationalistisches Regiment, vor allem gegenüber den [[Slowenien|Slowenen]] und in der Zusammenarbeit mit der faschistischen Bewegung der [[Ustascha]] in [[Kroatien]]. Im September 1942 scheiterte [[Schlacht von Alam Halfa|die letzte deutsch-italienische Offensive in Nordafrika]]; seitdem riss die Kette ihrer militärischen Niederlagen nicht mehr ab.<br />
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Neben den militärischen Niederlagen und Nahrungsmittelknappheit führten auch die angloamerikanischen Bombardierungen italienischer Städte zur allmählichen Erosion der „inneren Front“.<ref>Dazu auch Pietro Cavallo: ''Italiani in guerra. Sentimenti e immagini dal 1940 al 1943.'' Il Mulino, Bologna 2020, ISBN 9788815287380. ([https://aro-isig.fbk.eu/issues/2022/1/italiani-in-guerra-pascal-oswald/ Rezension])</ref> Ab Herbst 1942 kam es erstmals zu massiven ''area bombings'' norditalienischer Städte, welche direkt die Zivilbevölkerung trafen, mit dem Ziel, politischen und psychologischen Druck auszuüben.<ref>Marco Gioannini: ''Bombardare l’Italia. Le strategie alleate e le vittime civili.'' In: [[Nicola Labanca]] (Hrsg.): ''I bombardamenti aerei sull’Italia. Politica, stato e società (1939–1945).'' Il Mulino, Bologna 2012, S. 79–98.</ref><br />
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Nach der [[Tunesienfeldzug#Massicault|Kapitulation der Achsentruppen in Tunesien]] im Mai 1943 eroberten amerikanische und britische Truppen Ende Juni die Inseln [[Lampedusa]] und [[Pantelleria]]. Mit der [[Operation Husky|Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien]] begann am 10. Juli 1943 der [[Italienfeldzug (Zweiter Weltkrieg)|Italienfeldzug]]. Am 19. Juli 1943 erlitt Rom seine erste Bombardierung, die zahlreiche Todesopfer forderte und insbesondere das Viertel [[Nomentano – San Lorenzo|San Lorenzo]] traf.<ref>Cesare De Simone: ''Venti angeli sopra Roma. I bombardamenti aerei sulla Città Eterna (19 luglio e 13 agosto 1943).'' Mursia, Mailand 1993.</ref><br />
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=== Sommer 1943: Seitenwechsel der italienischen Regierung ===<br />
[[Datei:ItalyDefenseLinesSouthofRome1943 4.jpg|mini|Deutsche Verteidigungslinien in Mittelitalien 1943]]<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-312-0983-03, Rom, Festnahme von Zivilisten.jpg|mini|Deutsche und italienische RSI-Soldaten nehmen Zivilisten nach dem [[Attentat in der Via Rasella]] auf eine Südtiroler Polizeieinheit am 23.&nbsp;März 1944 vor dem [[Palazzo Barberini]] fest. Sie wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] ermordet.]]<br />
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In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 stimmte der [[Großer Faschistischer Rat|Große faschistische Rat]] für eine Resolution [[Dino Grandi]]s, die den Organen des liberalen Staats wieder ihre Macht zurückgab. Tags darauf ließ König [[Viktor Emanuel III.]] Mussolini verhaften und ernannte [[Marschall]] [[Pietro Badoglio]] zum neuen Regierungschef.<ref>Emilio Gentile: ''25 luglio 1943.'' Laterza, Bari/Rom 2018, ISBN 978-88-581-3123-7. ([https://www.sehepunkte.de/2019/03/32711.html Rezension])</ref> Nach dem [[Sturz Mussolinis]] wurde Italien während der folgenden 45 Tage bis zum 8. September von einer autoritären Militärdiktatur geführt, die gewaltsam gegen Demonstranten vorging.<ref>Nicola Gallerano, [[Luigi Ganapini]], Massimo Legnani: ''L’Italia dei quarantacinque giorni. Studio e documenti.'' [[Istituto Nazionale Ferruccio Parri|Istituto Nazionale per la Storia del Movimento di Liberazione]], Mailand 1969. Auf Deutsch auch [[Jens Petersen (Historiker)|Jens Petersen]]: ''Sommer 1943.'' In: Hans Woller (Hrsg.): ''Italien und die Großmächte 1943–1949'' (= ''Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.'' Band 57). Oldenbourg, München 1988, S. 23–48.</ref> Kurz nach seinem Regierungsantritt erklärte Badoglio die [[Partito Nazionale Fascista|faschistische Partei]] und ihre Gliederungen per Gesetz für aufgelöst. Am 3. September 1943 schloss die [[Regierung Badoglio]] mit den Alliierten den [[Waffenstillstand von Cassibile]], der am Abend des 8. September 1943 öffentlich bekanntgegeben wurde. Im Krieg waren seit 1940 bis dahin etwa 198.500 Italiener gestorben.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945'', [[Rowman & Littlefield|Lexington Books]], Lanham 2001, S. 162, Anm. 40.</ref> <br />
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Der deutschen Wehrmacht gelang es, große Teile der italienischen Armee zu entwaffnen, die nur vereinzelt Widerstand entgegensetzte und sich rasch auflöste.<ref>Elena Aga Rossi: ''A Nation Collapses: The Italian Surrender of September 1943.'' Cambridge University Press, 2006, ISBN 978-0-521-59199-7.</ref> Hitler versuchte die „Schwarzhemden“ wieder an die Macht zu bringen und ließ dazu Mussolini am 12. September 1943 im [[Unternehmen Eiche]] befreien. Große Teile Nord-, Mittel- und Süditaliens inklusive Roms wurden [[Fall Achse|von deutschen Truppen besetzt]] und in diesem Gebiet eine [[Marionettenregierung]] unter Mussolini eingesetzt, welche die [[Italienische Sozialrepublik]] (kurz RSI oder informell ''Republik von Salò'') proklamierte. Diese faschistische Parallelregierung blieb mit Deutschland verbündet, erklärte ihrerseits dem von den Alliierten besetzten Teil Italiens den Krieg und führte in Norditalien Krieg gegen [[Partisan]]en. Etwa 20.000 italienische Soldaten schlossen sich in Griechenland den Partisanen an.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington Books, Lanham 2001, ISBN 978-0-7391-0195-7, S.&nbsp;105.</ref> Die nach Süditalien geflohene Regierung Badoglio erklärte am 13. Oktober 1943 dem Deutschen Reich [[Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich (1943)|den Krieg]].<br />
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=== {{Anker|Deutsche Besatzung}} 1943–1945: Faschistische Sozialrepublik (RSI), deutsche Besatzung und Resistenza ===<br />
Zum 1. Oktober 1943 wurden im Norden zwei deutsche Operationszonen gegründet, nämlich die [[Operationszone Adriatisches Küstenland]], bestehend aus den Provinzen [[Provinz Udine|Udine]], [[Provinz Görz|Görz]], [[Provinz Triest|Triest]], [[Pula|Pola]], [[Provinz Fiume|Fiume]] und [[Provinz Laibach|Laibach]] (Laibach stand kurzzeitig ebenfalls unter italienischer Verwaltung) und die [[Operationszone Alpenvorland]], bestehend aus den Provinzen [[Belluno]], [[Südtirol|Bozen]] und [[Trentino|Trient]]. Entlang der Grenze [[Grenze zwischen Italien und der Schweiz|zur Schweiz]] und zu Frankreich entstand aus einem etwa 50&nbsp;km tiefen Streifen die [[Operationszone Nordwest-Alpen]].<br />
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Vor allem [[Mittelitalien]] wurde von den schweren Kämpfen entlang der [[Gustav-Linie|vorrückenden Front]] verwüstet. Die Zivilbevölkerung wurde zum Ziel deutscher Repressalien (→ [[Deutsche Kriegsverbrechen in Italien]]). Ab Mitte September 1943 wurden beim [[Massaker vom Lago Maggiore]] mindestens 56 Juden ermordet.<ref>Aldo Toscano: ''L’olocausto del Lago Maggiore (settembre – ottobre 1943).'' Verbania, Alberti 1993.</ref> Als [[Repressalie]] für das [[Attentat in der Via Rasella]] in Rom vom 23. März 1944 gegen das SS-[[Polizeiregiment]] „Bozen“ wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] 335 Zivilisten erschossen, unter ihnen 75 Juden.<ref>[https://www.shalom.it/blog/roma-ebraica-bc7/fosse-ardeatine-cerimonia-religiosa-della-comunita-ebraica-b393961 ''Shalom'' - Zeitschrift der Jüdischen Gemeinde Roms] (ital.) 5. April 2019</ref><br />
<br />
In der vielfältig gegliederten [[Resistenza]] zur Befreiung Italiens fanden sich Kommunisten, Sozialisten, Katholiken und Liberale. Im September 1943 entstand das [[Comitato di Liberazione Nazionale]], in dem Vertreter von sechs Parteien kooperierten. Die Zahl der Kämpfer wird auf 130.000 geschätzt, die Gesamtzahl der aktiven Unterstützer auf vielleicht 250.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;207.</ref> Vor allem die SS, aber auch Truppen Mussolinis gingen mit terroristischen Maßnahmen gegen Partisanen vor, wie etwa in [[Sant’Anna di Stazzema]] bei Lucca, wo die SS etwa 560 Zivilisten ermordete, oder im [[Massaker von Marzabotto]].<br />
<br />
Auf Initiative [[Pius XII.|Pius’ XII.]] erklärte Generalfeldmarschall [[Albert Kesselring]] Rom Anfang Juni 1944 zur offenen Stadt, die am 4.&nbsp;Juni 1944 von alliierten Truppen befreit wurde.<br />
<br />
Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage unternahm Mussolini kurz vor Kriegsende einen Fluchtversuch in die Schweiz, wurde jedoch in [[Dongo (Lombardei)|Dongo]] am [[Comer See]] am 27.&nbsp;April 1945 von kommunistischen Partisanen erkannt und gefangen genommen. Trotz einer Zusage, ihn an die Alliierten auszuliefern, wurde er zusammen mit seiner Geliebten [[Clara Petacci]] am 28. April in [[Mezzegra|Giulino di Mezzegra]] erschossen. Am 29. April kapitulierten die deutschen Streitkräfte bedingungslos. Allein 30.000 Italiener in deutschen Kriegsgefangenenlagern wurden in Frankreich interniert (insgesamt 65.000), in der Sowjetunion weitere 11.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;157. Nur 10.000 der 60.000 gefangenen Italiener kehrten aus sowjetischen Gefangenenlagern zurück.</ref> Von den 40.000 Italienern, die auf Titos Seite gekämpft hatten, kam etwa die Hälfte ums Leben;<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;106f.</ref> insgesamt starben etwa 70.000 Partisanen, mindestens 77.000 Soldaten fielen zwischen dem 8.&nbsp;September 1943 und dem Kriegsende.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;154. Demnach werden auch 87.303 angegeben.</ref><br />
<br />
{{Anker|Judenverfolgung}}<br />
<br />
=== Ausgrenzung der Juden, Fluchtversuche der Juden und ihre Ermordung ===<br />
[[Datei:Exterior view of Fossoli concentration camp, Italy (1944).jpg|mini|[[Durchgangslager Fossoli]], 1944]]<br />
[[Datei:Giorno memoria Verona.jpg|mini|Güterwaggon, in dem Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden, zur Erinnerung an den Holocaust 2007 in Verona aufgestellt]]<br />
<br />
1924 zählte man 54.000 Juden, was etwa 0,14 % der damaligen Bevölkerung Italiens entsprach (zum Vergleich: im Deutschen Reich lebten ca. 550.000 Juden). 1931 bestanden 23 jüdische Gemeinden in Italien. 1936 zählte man 28.299 Juden in Libyen.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 184f.</ref> Im August 1938 wurde eine Judenzählung nach den Kriterien der Faschisten vorgenommen, bei der 58.412 Juden registriert wurden, wobei 46.656 „mosaischen Glaubens“ waren. Sie lebten vorwiegend in den Großstädten des Nordens, 1938 lebten zudem 12.799 in Rom. Überall dort, wo die Spanier lange geherrscht und fast alle Juden vertrieben hatten, also im gesamten Süden, lebten nur sehr wenige von ihnen – 1931 waren es nur noch etwa 1.500.<br />
<br />
Im Norden hingegen waren sie Teil der Gesellschaft, wenn diese auch nicht frei von [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945#Italien|Antisemitismus]] war. [[Leonida Bissolati]] fabulierte 1879 (im Alter von 22 Jahren) über die unterschiedliche Intelligenz von Semiten und Indoeuropäern, doch hielt sich die Politik von diesen Thesen fern. Das galt nicht für einige Wissenschaften, wie die [[Anthropologie]], deren Gründer in Italien, [[Giuseppe Sergi]], 1889 den Rassen verschiedene Fähigkeiten zur Kulturbildung zuschrieb. Der Sprachwissenschaftler [[Angelo De Gubernatis]] behauptete 1886 als erster in Italien öffentlich einen „Gegensatz zwischen arischer und semitischer Rasse“. Erst spät<!--??--> drangen diese durch den Kolonialismus verstärkten, auch in der Medizin verbreiteten Denkmuster, die nicht mehr auf den Schutz und die Erhaltung des Einzelnen, sondern der Rasse abzielten, auch in die Politik vor, ohne zunächst fassbare Wirkung zu erzielen.<ref>Brunello Mantelli: ''Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich.'' Oldenbourg, München 2005, S. 207–226.</ref><br />
<br />
[[Datei:Ernesto Nathan.jpg|mini|links|[[Ernesto Nathan]] (1848–1921), 1907–1913 Bürgermeister von Rom]]<br />
<br />
Die Gleichstellung der Juden erlaubte einigen von ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg. 1876 wurde [[Isacco Artom]] erster jüdischer Senator, [[Giuseppe Ottolenghi]] wurde 1902 Kriegsminister, [[Alessandro Fortis]] (1905–1906), [[Sidney Sonnino]] (1909–1910) und [[Luigi Luzzatti]] (1910–1911) waren Premierminister, 1922 zählte das Parlament 24 jüdische Abgeordnete.<ref>Martin Baumeister: ''Ebrei fortunati? Juden in Italien zwischen Risorgimento und Faschismus.'' In: [[Petra Terhoeven]] (Hrsg.): ''Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, S. 43–60, hier: S. 46.</ref> [[Giuseppe Emanuele Modigliani]] (Bruder des Malers [[Amedeo Modigliani]]) oder [[Claudio Treves]] (Onkel von [[Carlo Levi]]) repräsentierten die Sozialistische Partei. [[Ernesto Nathan]] war von 1907 bis 1913 Bürgermeister von Rom. In den Anfangsjahren waren zahlreiche Juden in den Oppositionsparteien und im Widerstand aktiv, einige gehörten jedoch auch zu den Unterstützern des Regimes wie etwa [[Enrico Rocca]], der Gründer der faschistischen Partei in Rom. Innerhalb der faschistischen Bewegung fanden sich von Anfang an Personen mit eindeutig antisemitischer Ausrichtung, Mussolini selbst verspottete jedoch Hitlers Rassentheorien und die Politik des Regimes war bis 1938 nicht antisemitisch.<br />
<br />
Mussolinis Haltung änderte sich erst nach dem Abschluss der „[[Achse Rom-Berlin]]“ 1936. Mit dem „[[Italienische Rassengesetze|Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse]]“ vom 17. September 1938 erließ Italien Rassengesetze, die sich gegen die Juden richteten. Diese mussten den Öffentlichen Dienst verlassen, durften nur mehr geringen Grundbesitz haben und nur kleine Firmen leiten. Im Innenministerium wurde die „[[DemoRazza|Generaldirektion für Demographie und Rasse]]“ eingerichtet, die eine Judenzählung betrieb und die jüdische Bevölkerung Schritt für Schritt ausgrenzte. Nach dem Kriegseintritt im Juni 1940 folgte Zwangsarbeit für italienische und Internierung in [[Italienische Konzentrationslager|Konzentrationslagern]] für ausländische Juden. Der Katalog diskriminierender Gesetze und Verordnungen wurde ständig erweitert; als Mussolini im Juli 1943 gestürzt wurde, gab es kaum einen Beruf mehr, den Juden legal ausüben durften.<br />
<br />
Nachdem die Wehrmacht am 12. September 1943 Italien besetzt hatte, befahl [[Heinrich Himmler]] am 24. September 1943 die [[Deportation#Deportationen während des Nationalsozialismus|Deportation]] der italienischen Juden.<ref>Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich.'' Donzelli 2009, S. 80.</ref> Am 13. Oktober wurde die [[Biblioteca della Communità Israelitica]] beschlagnahmt. Am 16. Oktober erfolgte unter [[Wilhelm Harster]] die erste „Judenrazzia“ in Rom. 1007 Juden wurden nach Auschwitz deportiert. Von diesen starben 811 sofort, vor allem durch [[Gaskammern und Krematorien der Konzentrationslager Auschwitz|Massenvergasungen]]. Nur 149 Männer und 47 Frauen überlebten.<ref>Eintrag ''Wilhelm Harster.'' In: [[Andreas Schulz (Historiker)|Andreas Schulz]], Günter Wegmann, [[Dieter Zinke]], ''Die Generale der Waffen-SS und der Polizei. Die militärischen Werdegänge der Generale sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang'' (= ''Deutschlands Generale und Admirale.'' Teil 5, Band 2). Biblio, Bissendorf 2005, ISBN 3-7648-2592-8, S. 59–67.</ref> In der [[Italienische Sozialrepublik|Republik von Salò]] wurden zunächst die verbliebenen 39.000 Juden enteignet, dann 8.566 über Durchgangslager wie die [[Risiera di San Sabba]] bei [[Triest]] in die Vernichtungslager im Osten Europas deportiert.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 185.</ref> Dabei arbeiteten nationalsozialistische und faschistische Behörden eng zusammen, die Häscher erhielten Belohnungen.<ref>Sie erhielten 5.000 Lire für jeden zur Deportation ausgeliefertem Mann, 2.000 pro Frau und 1.000 pro Kind (Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 69).</ref> Etwa ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Italiens kam auf diese Weise ums Leben.<ref>Carlo Moos: ''Ausgrenzung, Internierung, Deportationen, Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945).'' Chronos, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0641-1.</ref> 1946 reisten über 20.000 der Überlebenden illegal von La Spezia in das zu dieser Zeit noch britische [[Völkerbundsmandat für Palästina|Palästina]] ([[La-Spezia-Affäre]]).<ref>Ada Sereni: ''I clandestini del mare. L’emigrazione ebraica in terra d’Israele dal 1945 al 1948.'' Mursia, 2006.</ref><br />
<br />
1995 zählten die jüdischen Gemeinden 26.706 Mitglieder, 2001 nur noch 25.143 und Ende 2010 noch 24.930. Die Gesamtzahl wird auf 28.400 geschätzt,<ref>Sergio DellaPergola: ''World Jewish Population, 2010.'' Hrsg. v. Berman Institute – North American Jewish Data Bank, University of Connecticut, 2010, S. 50.</ref> davon lebte rund die Hälfte in Rom, dessen Großrabbiner von 1951 bis 2002 [[Elio Toaff]] war.<br />
<!-- Im Oktober 1982 kam es zu einem Terroranschlag auf die Hauptsynagoge in Rom.--><br />
<br />
== Republik Italien ==<br />
=== Ende der Monarchie, Gebietsabtretungen ===<br />
[[Datei:Evolution of Franco-Italian border.jpg|mini|Grenzverschiebungen zwischen Frankreich und Italien 1860 und 1947]]<br />
[[Datei:Italien Referendum 1946.svg|mini|Diese Karte zeigt die Zustimmungsraten zur Einführung einer Republik in den 31 italienischen Wahlkreisen beim Referendum von 1946. An den Farbabstufungen erkennbar sind starke regionale Unterschiede im Abstimmungsverhalten: Während im Norden überall mehr als 50 % der Wähler die neue Staatsform begrüßten, erhielten im Süden die Monarchisten eine breite Mehrheit.]]<br />
<br />
König [[Viktor Emanuel III.]] trat, diskreditiert durch den Faschismus (Ernennung Mussolinis zum Premier, Unterzeichnung der Rassengesetze), am 9. Mai 1946 zugunsten seines Sohnes [[Umberto II. (Italien)|Umberto&nbsp;(II.)]] zurück. Am 2. Juni 1946 fand, gleichzeitig mit der [[Wahl der Verfassunggebenden Versammlung in Italien 1946|Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung]], eine [[Referendum über die Abschaffung der Monarchie in Italien 1946|Volksabstimmung über die künftige Staatsform statt]]. An beiden Wahlen durften erstmals auch [[Frauenwahlrecht|Frauen]] teilnehmen. 54,3 Prozent votierten für eine Republik, die übrigen 45,7 Prozent für eine Monarchie.<ref>[https://elezionistorico.interno.gov.it/index.php?tpel=F&dtel=02/06/1946&tpa=I&tpe=A&lev0=0&levsut0=0&es0=S&ms=S amtliche Statistik]</ref><br />
Angehörige des [[Haus Savoyen|Hauses Savoyen]] mussten danach Italien verlassen.<br />
<br />
Die [[Politisches System Italiens#Verfassung|republikanische Verfassung]] trat 1948 in Kraft. Auf Grund der Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur legte man den Schwerpunkt der politischen Macht auf ein [[Politisches System Italiens#Legislative|kompliziertes parlamentarisches System mit zwei gleichberechtigten Kammern]]. Die von beiden Kammern abhängige Regierung erhielt eine relativ schwache Stellung. Die erstmals vorgesehene umfassende [[Politisches System Italiens#Zentralismus gegen Föderalismus|Dezentralisierung]] wurde in den Jahren danach nur zögerlich durchgesetzt.<br />
<br />
Im [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag]] von 1947 verlor Italien auch formal seine Kolonien [[Italienisch-Libyen|Libyen]], [[Kaiserreich Abessinien|Äthiopien]] und [[Kolonie Eritrea|Eritrea]]. [[Italienisch-Somaliland]] wurde zuerst von den Briten besetzt und anschließend von den Vereinten Nationen als Treuhandgebiet wieder unter italienische Verwaltung (1949–1960) gestellt.<br />
[[Datei:Litorale 3.png|mini|Das Gebiet um Triest zwischen 1947 und 1954 bzw. 1993]]<br />
Auch das italienische Mutterland war von Gebietsabtretungen betroffen. Die Gemeinden Briga und Tenda (frz. [[La Brigue]] und [[Tende]]) mussten an Frankreich abgetreten werden, das [[Dodekanes]] (mit [[Rhodos]]) fiel an Griechenland. Italien musste auch den Großteil [[Julisch Venetien]]s ([[Istrien]], die Städte [[Rijeka|Fiume]] und [[Zadar|Zara]] sowie die [[Dalmatien|norddalmatinischen]] Inseln) an [[Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien|Jugoslawien]] abtreten. [[Triest]] und sein Umland wurden zunächst internationalisiert und in zwei Zonen ([[Zone A]] und [[Zone B]]) geteilt (Schaffung eines [[Freies Territorium Triest|Freien Territoriums Triest]]), ehe 1954 eine Regelung getroffen wurde. Die Stadt Triest blieb bei Italien, das südliche Umland wurde Jugoslawien zugeschlagen. Mit dem [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag von 1947]] wurden damit, vorbehaltlich des Territoriums um Triest, die heutigen Grenzen Italiens festgelegt. Im Zuge dieser Grenzänderungen sowie bereits zuvor zwischen 1943 (Waffenstillstand) und 1945 kam es seitens der kommunistischen Partisanen Jugoslawiens zu Massakern an der italienischen Bevölkerung sowie an slawischen Antikommunisten ([[Foibe-Massaker]]). Zwischen 200.000 und 350.000 ethnische [[Italiener]] ''(Esuli)'' wurden in der Zeit von 1943 bis 1954 aus Jugoslawien vertrieben.<ref>Enrico Miletto: ''Istria allo specchio. Storia e voci di una terra di confine.'' FrancoAngeli, Mailand 2007, S. 136.</ref> Jene Gebiete, die das faschistische Italien während des Zweiten Weltkriegs oder kurz davor erworben hatte, also „Mittelslowenien“, Dalmatien und das Königreich Albanien (das nach der Aufteilung Jugoslawiens auch die albanischsprachigen Teile des [[Kosovo]] und der [[Banschaft Vardar]] umfasste), verlor Italien ebenso.<br />
<br />
=== Kalter Krieg und Wirtschaftswunder, Gegensatz zwischen Christdemokraten und Kommunisten ===<br />
Unter [[Ministerpräsident]] [[Alcide De Gasperi]] gehörte das Land zu den Mitbegründern der [[NATO]], des [[Europarat]]s und der [[Europäische Wirtschaftsgemeinschaft|Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft]]. Seine Partei, die [[Democrazia Cristiana]], war die wichtigste politische Partei Italiens zwischen 1945 und 1993 und stellte fast alle Ministerpräsidenten in diesem Zeitraum. Sie verstand sich als gemäßigte katholische Volkspartei, deren sozial- und wirtschaftspolitisches Programm bereits während des Krieges zwischen dem 18. und 23. Juli im [[Kloster Camaldoli|Kloster]] von [[Camaldoli (Poppi)|Camaldoli]] festgelegt worden war ''(Codice di Camaldoli)''.<ref>Nico Perrone: ''Il dissesto programmato. Le partecipazioni statali nel sistema di consenso democristiano.'' Dedalo, Bari 1991, S. 7ff.</ref><br />
<br />
Die [[Kommunistische Partei Italiens]] mit ihren Vorsitzenden [[Palmiro Togliatti]] und [[Enrico Berlinguer]] war mit über zwei Millionen Mitgliedern<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 122.</ref> und zirka 30 % der Wählerstimmen die stärkste kommunistische Partei Westeuropas. 1976 konnte die Partei mit 34,4 %<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187f.</ref> ihr bestes Ergebnis bei den Parlamentswahlen verzeichnen, 1984 gelang es ihr zum ersten und einzigen Mal, als stärkste Partei aus einer Wahl hervorzugehen. Sie erreichte bei der [[Europawahl 1984]] 33,3 % der Stimmen und lag damit vor den Christdemokraten mit 33,0 %.<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187.</ref><br />
<br />
Obwohl sich die PCI unter Berlinguer vom Kommunismus sowjetischer Prägung lossagte und versuchte, den Weg des [[Eurokommunismus]] zu beschreiten – so verurteilte sie den [[Prager Frühling|Einmarsch in Prag 1968]] –, hielt die Furcht vor einer Machtbeteiligung an. Auch von Seiten der [[Vereinigte Staaten|USA]] gab es erhebliche Bedenken gegen eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten, da man einen [[Domino-Effekt]] befürchtete.<ref>[http://www.zeit.de/1976/04/schlappheit-und-schlendrian/komplettansicht Schlappheit und Schlendrian] In: Die Zeit, 16. Januar 1976.</ref> 1950 wurde die geheime [[paramilitär]]ische Einheit [[Gladio]] gegründet, die nach einer Invasion von Truppen des [[Warschauer Pakt]]es [[Guerilla]]-Operationen gegen die Invasoren durchführen sollte. Ihre Existenz wurde 1990 bekannt.<br />
<br />
Unter Beibehaltung eines [[Verhältniswahlrecht]]s (ohne 4- oder 5-Prozent-Hürde) gelang es der [[Democrazia Cristiana]] durch die Einbeziehung von in der Regel vier oder fünf kleineren Parteien ([[Partito Socialista Italiano|Sozialisten]], [[Partito Socialista Democratico Italiano|Sozialdemokraten]], [[Partito Repubblicano Italiano|Republikaner]] und [[Partito Liberale Italiano|Liberale]], sog. ''[[Pentapartito]]''), die Kommunisten von einer Regierungsübernahme abzuhalten. Doch vertraten diese Parteien zunehmend Partikularinteressen, zahlreiche Regierungskrisen und eine Zunahme der organisierten Kriminalität bis in Regierungskreise hingen damit zusammen.<br />
<br />
Nach dem Krieg erlebte Italien, ähnlich wie das übrige Westeuropa, ein „[[Wirtschaftswunder]]“ ''(miracolo economico)''. Die Bevölkerung wuchs von 1951 bis 1961 von 47,5 auf 50,6 Millionen, in den Jahren 1959 bis 1962 wuchs das [[Bruttonationaleinkommen|Bruttosozialprodukt]] jedoch erheblich schneller, nämlich um 6,4 und 5,8, dann um 6,8 und 6,1 %.<ref name="Giuseppe Vottari 2001">Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001).'' Mailand 2004, S. 191.</ref><br />
<br />
Der Boom blieb jedoch hauptsächlich auf den Norden und die Mitte Italiens beschränkt. Viele Süditaliener mussten nach wie vor ihre Heimat verlassen, um Arbeit zu finden, und ins europäische Ausland (besonders Deutschland, Schweiz, Belgien und Frankreich) oder in eine norditalienische Region auswandern (siehe auch [[Gastarbeiter]]). Ab 1973 kehrten viele Gastarbeiter aus dem europäischen Ausland nach Italien zurück. Zum einen war auch im Süden die extreme Armut fast völlig verschwunden; anstelle der Elendsviertel und Baracken, die in den Nachkriegsjahren an den Rändern der durch [[Landflucht]] und [[Urbanisierung]] rasch wachsenden Großstädte oft entstanden waren, wurden infolge des ''legge 167-1962'' [[Großwohnsiedlung]]en gebaut. Zum anderen begann durch die erste [[Ölpreiskrise]] (ab Oktober 1973) in vielen Industrieländern eine jahrelange Phase der [[Stagnation]] und [[Inflation]] („[[Stagflation]]“) mit relativ hohen Arbeitslosenquoten.<br />
<br />
=== 1970er und 1980er Jahre: Bleierne Jahre, Historischer Kompromiss ===<br />
Die Nachwirkungen der [[68er-Bewegung]] zeigten sich in Italien in gesellschaftlichen Liberalisierungen und neuen sozialen Bewegungen, die von den „roten“ Universitäten ausgingen, etwa der [[Frauenbewegung]]. Im Jahr 1975 vereinbarten Arbeitgeber und Gewerkschaften die ''[[scala mobile]]'', nach der die Löhne automatisch der Inflationsentwicklung folgen sollten. Andererseits radikalisierten sich einige linke Bewegungen, was zu einer Welle von Gewalt und Terrorismus führte.<br />
<br />
[[Datei:Aldo Moro br.jpg|mini|[[Aldo Moro]] in Gefangenschaft der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]]]]<br />
<br />
Der linksextreme Terrorismus der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]] und die Attentate neofaschistischer Extremisten, an denen möglicherweise Geheimdienste beteiligt waren, prägten das Land in den 1970er Jahren, die als '''anni di piombo''' (bleierne Jahre) bezeichnet wurden. Zwischen dem [[Bombenanschlag auf der Piazza Fontana]] 1969 und 1983 wurden mehr als 14.000 Anschläge mit 374 Toten und über 1170 Verletzten verübt.<ref>Ruth Glynn, Giancarlo Lombardi: ''Remembering Aldo Moro.'' In: dies. (Hrsg.): ''Remembering Aldo Moro: The Cultural Legacy of the 1978 Kidnapping and Murder.'' Routledge, Abingdon, New York 2012, S. 1–16, hier [https://books.google.de/books?id=8EMrDwAAQBAJ&pg=PA1 S. 1 f.] Eine Grafik zur Entwicklung der Anschlagsanzahlen zeigt Tobias Hof: ''Staat und Terrorismus in Italien 1969–1982.'' Oldenbourg, München 2012, [https://books.google.de/books?id=lGzoBQAAQBAJ&pg=PA51 S. 51].</ref> Die Destabilisierung der politischen Situation ließ einen Staatsstreich nicht unwahrscheinlich scheinen. Bekannt sind die Putschpläne der [[Carabinieri]] unter [[Giovanni De Lorenzo]] im Jahr 1964 (''Piano Solo''<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003'', il Mulino, Bari 2006, S. 207f.</ref>) und der ''Golpe Borghese'' von Fürst [[Junio Valerio Borghese]].<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003.'' Il Mulino, Bari 2006, S. 246.</ref><br />
<br />
Es kam in dieser Situation zu einer Annäherung von Christdemokraten und Kommunisten. An der Ausarbeitung des [[Historischer Kompromiss|Historischen Kompromisses]] ''(compromesso storico)'' waren der Christdemokrat [[Aldo Moro]] und der Kommunist [[Enrico Berlinguer]] beteiligt. Nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1976|Wahlen von 1976]], bei denen die Kommunisten stark zulegten, wurde [[Giulio Andreotti]] Ministerpräsident einer Minderheitsregierung, die auf die Tolerierung der Kommunisten angewiesen war. Am 11. März 1978 kam es, abermals unter Führung von Andreotti, zur Bildung einer Regierung der nationalen Solidarität, an der erstmals die Kommunisten beteiligt sein sollten. Am 16. März wurde Aldo Moro entführt und am 9. Mai nach 55-tägiger Geiselhaft von den Roten Brigaden ermordet. Der [[Anschlag von Bologna 1980]] markierte den Höhepunkt der terroristischen Aktionen in Italien.<br />
<br />
Der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche in Italien|katholischen Kirche]] auf die Gesellschaft schwand. 1984 wurde ein neues [[Konkordat]] mit dem Heiligen Stuhl unterzeichnet, durch das der [[Katholizismus]] seinen Status als [[Staatsreligion]] verlor. Bereits 1970 wurde die [[Ehescheidung]] gegen ihren Widerstand ermöglicht; das Gesetz wurde 1974 bei einer Beteiligung von 87,7 % in einer Volksabstimmung von 59,3 % der Wähler befürwortet.<ref>Markus Schaefer: ''Referenden, Wahlrechtsreformen und politische Akteure im Strukturwandel des italienischen Parteiensystems.'' Lit, Münster 1998, S. 39.</ref> 1979 wurde die [[Schwangerschaftsabbruch|Abtreibung]] legalisiert.<br />
<br />
Der Anteil der Bevölkerung, die einen Studienabschluss erwarb, stieg im Rahmen der [[Bildungsexpansion]] drastisch an. Im akademischen Jahr 2006/07 waren 1.809.186 Studenten an 95 Universitäten eingeschrieben,<ref>{{Webarchiv | url=http://statistica.miur.it/scripts/IU/IU2007_02_sintesi.pdf | wayback=20130517011229 | text=MIUR – Unterrichtsministerium: Studierende 2006/7}} (PDF; 57&nbsp;kB).</ref> was etwa 3 % der Bevölkerung entsprach, während es 1960/61 noch 0,4 % oder 217.000 Studenten gewesen waren.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.ricercaitaliana.it/universita_chifaricerca.htm |wayback=20120307025541 |text=''Ricerca Italiana'' |archiv-bot=2023-05-11 17:49:30 InternetArchiveBot }}.</ref><br />
<br />
Als Anfang der 1970er das [[Bretton-Woods-System]] zusammenbrach, begann weltweit eine Zeit freier Wechselkurse. Die [[Ölpreiskrise]] im Winter 1973/74 trug dazu bei, die Inflation zu erhöhen; es kam zu einer [[Stagflation]]. 1979/80 folgte eine zweite Ölkrise. Die italienische Wirtschaft bekam die Folgen der Krise besonders zu spüren, die Regierung des sozialistischen Ministerpräsidenten [[Bettino Craxi]] reagierte ab 1983 mit Kürzungen und einer schrittweisen Abschaffung der ''scala mobile''. Die Craxi-Jahre waren von einem außerordentlichen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, wobei sich das Bevölkerungswachstum verlangsamte (von 1971 bis 1981 von 54,1 auf 56,5 Millionen Einwohner, bis 1991 auf 56,8 Millionen<ref name="Giuseppe Vottari 2001" />). 1987 kündigte die Regierung Craxi den ''sorpasso'' an, denn Italien hatte Großbritannien „überholt“ und war nun zur fünftgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen.<ref>[http://www.zeit.de/1987/10/craxi-will-nicht-weichen/komplettansicht ''Craxi will nicht weichen.''] In: ''Die Zeit'', 27. Februar 1987; [http://www.zeit.de/1987/33/italien-das-wunder ''Italien: Das Wunder.''] In: Die Zeit, 7. August 1987; {{Der Spiegel|ID=13523582|Titel=Madonna, was ist passiert in bella Italia?|Jahr=1987|Nr=32|Datum=1987-08-03|Seiten=98–107}}</ref> Dieses Wachstum konnte nur durch eine massiv ausgeweitete [[Staatsverschuldung]] aufrechterhalten werden, was die Lage der öffentlichen Haushalte dramatisch verschlechterte; die Staatsverschuldung verdoppelte sich im Laufe der 1980er Jahre. Die [[Inflation]] blieb relativ hoch, die [[Italienische Lira|Lira]] wurde abgewertet (was Exporte förderte und Importe bremste, also die eigene Industrie stützte).<br />
<br />
=== Zerfall der etablierten Parteien und Privatisierungen (1990–1994) ===<br />
Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen gelangen dem Staat Anfang der 1990er Jahre einige Erfolge. Nach den Attentaten gegen die Staatsanwälte [[Giovanni Falcone]]<ref>Zum 10. Jahrestag erschien u. a. Francesco La Licata: ''Storia di Giovanni Falcone.'' Mailand 2002, 3. Auflage. 2005.</ref> und [[Paolo Borsellino]]<ref>[[Alexander Stille]]: ''Excellent Cadavers. The Mafia and the Death of the First Italian Republic.'' Random House 2011.</ref> im Jahr 1992 wurden die Gesetze noch einmal verschärft.<br />
<br />
Ab 1992 erfolgte durch die Aufdeckung von Korruptions- und Parteifinanzierungsskandalen ([[Tangentopoli]] und [[Mani pulite]]) eine grundlegende Neuordnung der Parteienlandschaft. Die Christdemokraten, die Sozialisten, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Republikaner, die das Land vierzig Jahre lang geführt hatten, hörten innerhalb eines Jahres auf, als eigenständige Parteien zu existieren oder verschwanden in der völligen Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig stürzte der Zusammenbruch des Ostblocks die Kommunisten in eine ideologische Krise. Aus der KPI gingen die nun sozialdemokratisch orientierte PDS ([[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]]) sowie zahlreiche kommunistische Neugründungen hervor. Im wohlhabenden Norden des Landes wurde der Unmut der Bevölkerung über die Politik von der sezessionistisch auftretenden [[Lega Nord]] angesprochen. Dieser Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems und die damit einhergehenden politischen Veränderungen gelten als größte Zäsur der italienischen Nachkriegsgeschichte. Obwohl die Verfassung aus dem Jahr 1948 unverändert gültig ist, wurde es üblich von der Zeit vor dem Umbruch der Jahre 1992–94 als Erste Republik ''(prima repubblica)'' und den Jahren danach als Zweite Republik ''(seconda repubblica)'' zu sprechen.<br />
<br />
Auch finanziell stand Italien vor dem Kollaps, die Schulden überstiegen das BIP, die Lira wurde um 20 % abgewertet.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Diss., Universität Hamburg 2011, Springer 2012, S. 177.</ref> Dies veranlasste die Regierung unter [[Giuliano Amato]] 1992 zu einem scharfen Sparkurs. Als äußerste Maßnahme wurden sämtliche Bankkonten einer einmaligen Sonderbesteuerung unterworfen, was das Vermögen der meisten Haushalte erstmals seit den 1960er Jahren reduzierte.<ref>Orazio P. Attanasio, Agar Brugiavini: ''L’effetto della riforma Amato sul risparmio delle famiglie italiane.'' In: ''Ricerche quantitative per la politica economica 1995.'' hgg. v. d. Banca d’Italia, S. 596.</ref> Die Regierung [[Carlo Azeglio Ciampi|Ciampi]], eine parteilose Expertenregierung ''(governo tecnico)'', setzte 1993 diesen Kurs der Privatisierung und der Auflösung der Netzwerke aus staatlich-privaten Patronage- und Klientelverhältnissen fort, um den Euro einführen zu können, wofür Ciampi den Spitznamen ''Signor Euro'' erhielt. Im Zuge der Sanierung der Staatsfinanzen machte man sich an eine [[Privatisierung]] der zahlreichen, durch politische [[Patronage]] korrumpierten Staatsbetriebe. Diese erwirtschafteten zeitweise die Hälfte des BIP. Den Anfang machten 1990 die Banken, die verpflichtet wurden, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln. 1994 befanden sich bereits 73 % des Aktienkapitals in den Händen von Sparkassen-Stiftungen, die bis 2005 das gesamte Kapital privatisierten. Dabei konnten die fünf größten Banken ihren Marktanteil unter den von 1100 auf 800 verminderten Banken von 34 auf 54 % steigern.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 179.</ref> Daraus entstanden letztlich zwei Großgruppen, 2007 die [[Intesa Sanpaolo|Intesa-San-Paolo]]- und die [[Unicredit]]-Gruppe. Weit dahinter liegen [[Mediobanca]], [[Monte dei Paschi di Siena]] und [[UBI Banca|Unione di Banche Italiane]]. 1993 wurde die Trennung von Geschäfts- und Finanzbanken, die 1936 eingeführt worden war, wieder abgeschafft, so dass [[Universalbank]]en entstanden. Insgesamt brachten alle Privatisierungen zusammen dem Fiskus weit über 100 Milliarden Euro ein, womit sie die größte jemals durchgeführte Privatisierungswelle darstellten. Allein die Verkäufe der Anteile an [[Eni (Unternehmen)|ENI]] und [[Enel]] brachten 35 Milliarden Dollar ein.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 181 f.</ref> Strategische Anteile an der Energieversorgung, der Luft- und Raumfahrtindustrie und an der Daseinsvorsorge blieben allerdings in staatlicher Hand. Zwar stieg der Streubesitz an den Unternehmensaktien, doch haben Shareholderabsprachen eher die Kontrolle durch einzelne Familien gestärkt, während der Einfluss der Banken zurückging.<br />
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=== Wechselnde Regierungsbündnisse, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise und Pandemie (seit 1994) ===<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 1994|Parlamentswahlen 1994]], bei denen erstmals ein gemischtes Mehrheits- und Proporzwahlrecht mit Sperrklausel Anwendung fand, setzte sich überraschenderweise die Koalition des Bau- und [[Medienunternehmer]]s [[Silvio Berlusconi]] gegen das Linksbündnis unter Führung von [[Achille Occhetto]] durch. Seine [[Forza Italia]], nur wenige Monate zuvor gegründet, hatte sich mit der Lega Nord sowie der [[Alleanza Nazionale]] verbündet, die aus dem postfaschistischen [[Movimento Sociale Italiano]] hervorgegangen war. Doch zerbrach die Koalition nach nur wenigen Monaten. Die daraufhin einberufene Expertenregierung unter [[Lamberto Dini]], dem ehemaligen Generaldirektor der italienischen Zentralbank und Finanzminister unter Berlusconi, regierte von Januar 1995 bis Mai 1996.<br />
<br />
Die Wahlen von 1996 gewann eine Mitte-links-Koalition ([[L’Ulivo|Ulivo]]) unter Führung des ehemaligen Christdemokraten [[Romano Prodi]]. In der Regierung ''Prodi I'' (Mai 1996 – Oktober 1998) saßen erstmals eurokommunistische Minister. Prodis strikter Sparkurs ebnete Italien den Weg in die [[Euro]]zone. Von seinen Verbündeten verlassen, musste er zurücktreten und [[Massimo D’Alema]] bzw. [[Giuliano Amato]] sein Amt überlassen. Der aus der kommunistischen Partei 1991 hervorgegangene [[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]] (PDS) hatte sich nach der Vereinigung mit anderen [[Sozialismus|sozialistischen]] Gruppen 1998 in „Linksdemokraten“ ([[Democratici di Sinistra]], DS) umbenannt. Ihr Vorsitzender D’Alema blieb bis 2000 Ministerpräsident, ihm folgte Giuliano Amato, der dieses Amt bereits von Juni 1992 bis April 1993 innegehabt hatte.<br />
<br />
Die Wahlen 2001 konnte Berlusconis Bündnis [[Casa delle Libertà]] für sich entscheiden. Nach fünf Jahren Amtszeit musste er sich bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2006|Parlamentswahlen 2006]] erneut Romano Prodi geschlagen geben. Mitte Mai 2006 wurde dann auch mit [[Giorgio Napolitano]] der Kandidat Romano Prodis zum Präsidenten der Republik gewählt, mit dem zum ersten Mal ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei dieses Amt einnahm.<br />
<br />
Auf der Ebene der Gemeinden, Provinzen und [[Italienische Regionen|Regionen]] wurden ebenso Reformen durchgeführt wie auf der nationalen Ebene. Auch wurden 1997 Reformen der [[Italienische Streitkräfte|Streitkräfte]] eingeleitet, die 2005 in die Aussetzung der [[Wehrpflicht]] mündeten. Auf eine Verfassungsreform zur Stärkung der Regierung, zur Verbesserung der parlamentarischen Arbeit und zur Einführung einer Vertretung der [[Gebietskörperschaft]]en konnte man sich jedoch nicht einigen. Das [[Italienisches Parlamentswahlrecht|italienische Parlamentswahlrecht]] wurde hingegen seit 2005 mehrfach geändert.<br />
<br />
Die Staatsfinanzen litten weiterhin an einer hohen Steuerhinterziehung (je nach Schätzung 20–30 % des [[Bruttoinlandsprodukt|BIP]]), an den wachsenden Lasten in Gesundheitswesen und Altersversorgung, sowie an einer zu sehr auf Rom ausgerichteten Finanzierung der Regionen. Steigende Zinsen, bei gleichzeitigem Anstieg der Steuer- und Abgabenlast, belasteten die Gesamtwirtschaft. Als problematisch wird zudem die Schwerfälligkeit von Justiz und Verwaltung angesehen. Die strukturellen Probleme Süditaliens sind ungelöst; als besonders hemmend gilt der Einfluss der organisierten Kriminalität auf das Wirtschaftsleben.<br />
<br />
Im Januar 2008 zerfiel das von [[Romano Prodi]] geführte Bündnis, nachdem sich der Koalitionspartner [[Popolari-Unione Democratici per l’Europa|UDEUR]] aus dem Bündnis zurückgezogen hatte. Prodi scheiterte in der [[Vertrauensfrage]]. Staatspräsident [[Giorgio Napolitano]] beauftragte daraufhin den Senatspräsidenten [[Franco Marini (Politiker)|Franco Marini]] mit der Bildung einer Übergangsregierung, doch musste er das Mandat zur Regierungsbildung am 4. Februar wieder zurückgeben.<ref>[[Tagesschau (ARD)|Tagesschau]]: ''[https://tsarchive.wordpress.com/2008/02/04/italien92/ Neuwahlen in Italien rücken näher] (tagesschau.de-Archiv)'' vom 4. Februar 2008.</ref> Daraufhin löste Napolitano beide Kammern des Parlaments auf und schrieb [[Parlamentswahlen in Italien 2008|Neuwahlen]] aus.<ref>[http://www.corriere.it/politica/08_febbraio_06/napolitano_scioglie_camere_rammarico_mancata_riforma_elettorale_890d58ba-d4a3-11dc-a819-0003ba99c667.shtml ''Sciolte le Camere, si vota il 13 e 14 aprile''] Corriere della Sera, 6. Februar 2008.</ref><br />
<br />
Aus diesen ging mit 46,8 % (Abgeordnetenkammer) und 47,3 % (Senat) Silvio Berlusconis neues Wahlbündnis [[Popolo della Libertà]] – [[Lega Nord]] – [[Movimento per le Autonomie|Movimento per l’autonomia]] als Sieger hervor. Die [[Kabinett Berlusconi IV|vierte Regierung]] Silvio Berlusconis wurde am 8. Mai 2008 vereidigt. Bedingt durch die [[Finanzkrise]] schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2008 um 1 %, im Jahr 2009 um weitere 5 %. Dank seines Bankensystems und der niedrigen Verschuldung der Privathaushalte konnte sich das Land zunächst vor den wirtschaftlichen Folgen schützen,<ref>[http://www.handelsblatt.com/politik/international/euro-zone-italien-haelt-sich-im-trubel-abseits;2527850 ''Italien hält sich im Trubel abseits.''] In: ''[[Handelsblatt]]'' 11. Februar 2010.</ref> wurde jedoch 2011 von der [[Eurokrise]] erfasst.<br />
<br />
[[Datei:Meloni Official Portrait2022.jpg|mini|[[Giorgia Meloni]], seit dem 22. Oktober 2022 [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidentin]]]]<br />
<br />
Angeführt vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses [[Gianfranco Fini]] verließen seit Mitte 2010 zahlreiche Parlamentarier Berlusconis Koalition, bis dieser im November 2011 über keine Mehrheit mehr im Abgeordnetenhaus verfügte. Von ihm selbst ausgelöste Skandale und anstehende Gerichtsverfahren sowie die Zuspitzung der Eurokrise zwangen Silvio Berlusconi am 12. November 2011 zum Rücktritt.<br />
<br />
Staatspräsident Napolitano beauftragte den Parteilosen und ehemaligen [[Europäische Kommission|EU-Kommissar]] für Binnenmarkt und Wettbewerb [[Mario Monti]] mit der Bildung einer [[Kabinett Monti|neuen Regierung]]. Die [[Eurokrise|Schuldenkrise im Euroraum]] verschärfte sich, Ende 2011 hatte Italien 1,9 Billionen Euro Schulden. Die Zinsen für Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit erreichten im November 2011 bei 7,56 % den höchsten Satz.<ref>[http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/krisenstaat-anleihe-bringt-italien-relativ-guenstiges-geld-a-806218.html ''Anleihe bringt Italien relativ günstiges Geld.''] Spiegel online, 29. Dezember 2011.</ref> Die Arbeitslosigkeit lag im März 2012 bei 9,3 %, dabei stieg die seit langem hohe Arbeitslosigkeit unter den 19- bis 24-Jährigen auf 31,9 %.<ref>{{Webarchiv | url=http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/arbeitslosigkeit-in-italien-auf-hoechstem-stand-seit-2004-513147/index.do | wayback=20120406074143 | text=''Arbeitslosigkeit in Italien auf höchstem Stand seit 2004''}}, in: Wirtschaftsblatt, 2. April 2012.</ref> Im Dezember lag die Arbeitslosenquote bereits bei 11,2 % oder 2,9 Millionen.<ref>[http://www.oe24.at/welt/Arbeitslosigkeit-in-Italien-auf-Rekordhoch/93362535 ''Arbeitslosigkeit in Italien auf Rekordhoch''], oe24.at, 1. Februar 2013.</ref><br />
<br />
Am 25. Februar 2013 gewann das Mitte-links-Bündnis von [[Pier Luigi Bersani]] knapp die [[Parlamentswahlen in Italien 2013|Wahl]] mit 29,54 % der Stimmen vor dem Bündnis Berlusconis, das 29,18 % erhielt.<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-02/wahl-italien-bersani-berlusconi ''Gespaltene Mehrheit in Italien.''] In: ''Die Zeit'' online, 26. Februar 2013.</ref> Die vom Berufskomiker Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung ([[MoVimento 5 Stelle]]) konnte mit 25,09 % einen überraschenden Erfolg feiern. [[Enrico Letta]] vom [[Partito Democratico]] wurde auf Vorschlag von Staatspräsident Napolitano vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Nach einem parteiinternen Machtkampf wurde Letta nach weniger als einem Jahr im Amt vom ehemaligen Bürgermeister von Florenz, [[Matteo Renzi]], abgelöst. Unter der Regierung Renzi wurden zahlreiche Reformvorhaben auf dem Arbeitsmarkt, in den Sozialsystemen und den staatlichen Institutionen durchgeführt sowie gesellschaftspolitische Liberalisierungen wie die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft ''(unione civile)''. Die von Renzi angestrebte Verfassungsänderung wurde am [[Verfassungsreferendum in Italien 2016|4. Dezember 2016]] durch das Volk in einem Referendum abgelehnt, infolgedessen trat Renzi zurück. Neuer Ministerpräsident wurde [[Paolo Gentiloni]], welcher zuvor als [[Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit (Italien)|Außenminister]] in Renzis Kabinett diente.<ref>[http://www.blick.ch/news/ausland/italien-gentiloni-gewinnt-vertrauensabstimmung-im-italienischen-senat-id5897522.html „Gentiloni gewinnt Vertrauensabstimmung im italienischen Senat“], abgerufen am 15. Dezember 2016.</ref><br />
<br />
Im Jahr 2015 kulminierte die [[Flucht und Migration über das Mittelmeer in die EU|Flucht und Migration über das Mittelmeer]] zu einer [[Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016]], von der insbesondere Italien betroffen war und in dem Zusammenhang unter anderem wegen chaotischer Zustände auf der Insel [[Lampedusa]] in die Schlagzeilen geriet. Spätestens seit 2015 ist Italien für nach Europa ziehende afrikanische Migranten beliebtes Ziel- und [[Transitland]].<br />
<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2018|Parlamentswahlen am 4. März 2018]] konnten die Fünf-Sterne-Bewegung mit 32,68 % und die nunmehr italienisch-national auftretende [[Lega Nord|Lega]] (ohne den Zusatz Nord) mit 17,34 % die größten Zugewinne verzeichnen und bildeten zusammen eine Regierung unter Führung des parteilosen [[Giuseppe Conte]]. [[Luigi Di Maio]] von der Fünf-Sterne-Bewegung und [[Matteo Salvini]] von der Lega übernahmen jeweils den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten. Nachdem Salvini die Beendigung der Regierungskoalition erklärte, bildete Conte sein [[Kabinett Conte II|Kabinett]] um, das neben der Fünf-Sterne-Bewegung von Partito Democratico, [[Liberi e Uguali]], [[Italia Viva]] und dem [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]] unterstützt wurde. Im Januar 2021 verließ Italia Viva das Regierungsbündnis und Conte erklärte seinen Rücktritt. Während der Regierungszeit von Conte wurde unter anderem eine [[Verfassungsreferendum in Italien 2020|Verfassungsreform zur Verkleinerung des Parlaments]] beschlossen und in einer Volksabstimmung bestätigt.<br />
<br />
Staatspräsident [[Sergio Mattarella]] (seit 2015 im Amt) sprach sich gegen Neuwahlen während der [[COVID-19-Pandemie in Italien|COVID-19-Pandemie]] aus, von der Italien seit Januar 2020 betroffen ist, und beauftragte [[Mario Draghi]], den früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank und früheren Gouverneur der italienischen Zentralbank, eine [[Kabinett Draghi|Regierung]] zu bilden, die am 13. Februar 2021 vereidigt wurde. Diese [[Regierung der nationalen Einheit]] wurde insbesondere von [[Fünf-Sterne-Bewegung]], [[Partito Democratico]], [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] getragen. Die rechtsnationale Partei [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] war an dieser Regierung nicht beteiligt.<br />
<br />
Nach einer Vertrauensabstimmung, die Draghi zwar gewann, bei der aber mit der Fünf-Sterne-Bewegung, Lega und Forza Italia drei Regierungsparteien nicht teilnahmen, reichte Draghi seinen Rücktritt ein und Präsident Mattarella löste am 21. Juli 2022 beide Parlamentskammern auf.<ref>Die Zeit: [https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/regierungskrise-italien-mario-draghi Der Pakt des Vertrauens ist zerbrochen]</ref> Aus den [[Parlamentswahlen in Italien 2022|vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. September 2022]] gingen die [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] unter Führung von [[Giorgia Meloni]] und deren Koalitionspartner [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] als Sieger hervor (43,79 % der Wählerstimmen für die Abgeordnetenkammer und 44,02 % für den Senat) und konnten eine Rechts-Mitte-Regierung ([[Kabinett Meloni]]) unter Einbeziehung auch kleinerer Parteien bilden (Stand Oktober 2022: [[Noi con l'Italia]], [[Cambiamo!|Italia al Centro]], [[Coraggio Italia]], [[Unione di Centro]], [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]]). Giorgia Meloni wurde am 22. Oktober 2022 als Ministerpräsidentin vereidigt, womit zum ersten Mal in der Geschichte Italiens seit der Staatsgründung 1861 eine Frau dieses Amt bekleidet.<br />
<br />
=== Bevölkerungswachstum, Zuwanderung ===<br />
[[Datei:Saldo naturale e saldo migratorio - Italia -- Natural increase and net migration - Italy (1862-).png|mini|250px|Wanderungssaldo zwischen 1862 und 2014]]<br />
1861 hatte Italien 21,7 Millionen Einwohner, bei der Volkszählung 1901 über 30 Millionen und 1931 41,6 Millionen Einwohner. Lag die [[Geburtenrate]] pro tausend Einwohner um 1850 bei 38,6, so sank sie bis 1913 auf immer noch sehr hohe 31,7, die [[Sterberate]] sank im selben Zeitraum jedoch viel schneller von 29,9 auf 18,7,<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 176 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> so dass die Bevölkerungszahl steil anstieg. 1946 hatte Italien etwa 45,5 Millionen Einwohner, 1960 über 50, 1975 mehr als 55 Millionen. Die [[zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer]] lag 1946 bei 3,01 Kindern pro Frau und noch im Jahr 1976 oberhalb der natürlichen Reproduktionsrate bei 2,11. Danach nahm sie bis 1995 auf 1,17 ab und schwankt seither zwischen 1,2 und 1,3.<ref>Anna Montanari: ''Stranieri extracomunitari e lavoro.'' Wolters Kluwer Italia, Mailand 2010, S. 11 Anm. 26, ISBN 978-88-13-29103-7.</ref> Bei den neu Zugewanderten lag sie 2006 etwa doppelt so hoch; bis 2009 sank sie auf 2,05.<ref>''Sedicesiomo Rapporto Sulle Migrazioni 2010'', hgg. v. d. Fondazione ISMU (Iniziative e studi sulla multietnicità), Mailand 2011, S. 40.</ref><ref>siehe auch [http://www.ismu.org/ www.ismu.org]</ref><br />
<br />
Die Bevölkerung stieg weiter an, auf etwa 60 Millionen Einwohner im Jahr 2011, wobei das Bevölkerungswachstum nunmehr überwiegend auf Zuwanderung zurückzuführen war, deren jährlicher Saldo zwischen etwa 300.000 und 600.000 lag; ansonsten übertrifft seit 1993 die Zahl der Sterbefälle die der Geburten, im Jahr 2010 um 25.000.<ref>[[Istituto Nazionale di Statistica]]: [http://www.istat.it/salastampa/comunicati/in_calendario/bildem/20110524_00/testointegrale20110524.pdf ''Bilancio demografico nazionale. Anno 2010''] (PDF).</ref> 2010 lag die Geburtenziffer bei 9,3 und die Sterbeziffer bei 9,7.<ref>[http://www.demo.istat.it/altridati/indicatori/2010/Tab_1.pdf ISTAT] (PDF; 13&nbsp;kB).</ref> Die [[Lebenserwartung]] stieg von 50 Jahren im Jahr 1920 auf 77,5 im Jahr 1994. 2010 lag sie bei 79,1 Jahren bei Männern und bei 84,3 bei Frauen.<br />
<br />
Die Zahl der Zuwanderer ist seit den 1990er Jahren stark angestiegen, nachdem Italien bis 1972 überwiegend Auswandererland gewesen war.<ref>Giovanna Zincone: ''The case of Italy.'' In: Giovanna Zincone, Rinus Penninx, Maren Borkert (Hrsg.): ''Migration Policymaking in Europe. The Dynamics of Actors and Contexts in Past and Present.'' Amsterdam University Press, Amsterdam 2012, S. 247–290, hier: S. 247.</ref> 1991 zählte das Statistikinstitut ISTAT 625.034 Ausländer bei 56,8 Millionen Einwohnern, 1997 schätzte man ihre Zahl auf 1,25 Millionen,<ref>William Stanton (2003): ''The Rapid Growth of Human Populations, 1750–2000. Histories, Consequences, Issues Nation by Nation.'' ISBN 0-906522-21-8, S. 30.</ref> Anfang 2011 auf 5,4 Millionen.<ref>Dies und das Folgende nach: Fondazione Ismu (Hrsg.): ''Diciassettesimo Rapporto sulle Migrazioni 2011'', S. 8.</ref> Davon kamen 969.000 aus [[Rumänien]], 483.000 aus [[Albanien]], 452.000 aus [[Marokko]]; dann folgten [[China]] (210.000) und die [[Ukraine]] (201.000). Die meisten Immigranten leben im Norden Italiens. Bis März 2012 kamen 64.000 Flüchtlinge aus Nordafrika via [[Mittelmeerroute]] nach Italien.<ref>[http://www.dradio.de/aktuell/1696923/ ''Schutz statt Abwehr von Flüchtlingen''], Deutschlandradio, 8. März 2012.</ref><ref>zum aktuellen Stand siehe auch {{Webarchiv|url=https://frontex.europa.eu/along-eu-borders/migratory-map/ |wayback=20190225141446 |text=frontex.europa.eu |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}</ref> Die Zahl der „stranieri“ wurde 2023 auf 5,775 Millionen geschätzt.<ref>[https://www.vita.it/sono-5-milioni-e-775mila-gli-stranieri-che-vivono-in-italia/ ''Sono 5 milioni e 775mila gli stranieri che vivono in Italia''], in: Vita, 13. Februar 2024.</ref> Die Einwanderungs- und [[Flüchtlingspolitik]] war und ist ein wichtiges Thema der italienischen Politik.<br />
<br />
== Verwaltung des Kulturerbes ==<br />
Seit 1974 besteht das [[Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Aktivitäten (Italien)|Ministerium für Kulturgüter und -aktivitäten]] unter wechselnden Namen. Dem Ministerium sind 157 [[Staatsarchiv]]e, 298 archäologische Stätten, 58 Bibliotheken, 244 Museen, insgesamt 1052 staatliche Institutionen zugeordnet, hinzu kommen 2.119 nicht-staatliche (Stand: 26. Februar 2012).<ref>{{Webarchiv|url=http://www.beniculturali.it/mibac/opencms/MiBAC/sito-MiBAC/MenuPrincipale/LuoghiDellaCultura/Ricerca/index.html |wayback=20190914211414 |text=''Luoghi della Cultura'' |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}, Website des Kultusministeriums.</ref> Einige der Museen sind Nationalmuseen. Zu diesen zählen das [[Archäologisches Nationalmuseum Ferrara|Archäologische Nationalmuseum in Ferrara]] sowie das von [[Archäologisches Nationalmuseum Florenz|Florenz]], das [[Museo Nazionale Romano|von Rom]] und [[Archäologisches Nationalmuseum Neapel|von Neapel]], dann dasjenige [[Archäologisches Nationalmuseum Tarent|von Tarent]] sowie das [[Museo Nazionale Alinari della Fotografia]] in Florenz. Hinzu kommen das [[Museo Archeologico Nazionale di Reggio Calabria]], ehemals ''Museo Nazionale della Magna Grecia'', in Reggio, das [[Museo Nazionale G. A. Sanna]] auf Sardinien ebenso wie das [[MAXXI – Museo nazionale delle arti del XXI secolo|Nationalmuseum der Kunst des 21. Jahrhunderts]] in Rom. Allerdings ist die Bezeichnung „Nationalmuseum“ nicht genau abgegrenzt, so dass zahlreiche weitere, überregional bedeutende staatliche Museen mitzurechnen sind.<br />
<br />
In keinem Land gehören so viele Stätten zum [[UNESCO-Welterbe]] (2024: 60), 2024 kam die [[Via Appia]] hinzu. Die früheste geschützte Stätte sind die seit 1979 eingetragenen [[Felsbilder des Valcamonica]] und seit 1980 das gesamte historische Zentrum von Rom, seit 1982 das von Florenz, 1987 Venedig und seine Lagune, 1995 Neapels Kernstadt, im Jahr 2000 die von Verona, 2011 die [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen]] und die [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Stätten der Langobarden]]. Neben dem Schutz, dem ein ''Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale'' dient, arbeiten die Institutionen vor allem daran, die Kulturschätze zu erhalten und zu restaurieren sowie der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich zu machen, bzw. zu halten.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
{{Portal|Italien}}<br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Überblickswerke ===<br />
* [[Wolfgang Altgeld]], [[Thomas Frenz]], Angelica Gernert u.a (Hrsg.): ''Geschichte Italiens.'' 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Reclam, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-15-011067-6 (erstmals 2002 unter dem Titel „Kleine italienische Geschichte“).<br />
* Charles L. Killinger: ''The History of Italy'', Greenwood Press, Westport 2002, ISBN 0-313-31483-7.<br />
* [[Girolamo Arnaldi]]: ''Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute'', Wagenbach, Berlin 2005, ISBN 3-8031-3617-2. (deutsche Übersetzung des 2004 bei Laterza erschienenen ''L’Italia e i suoi invasori'')<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart'', C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50284-9.<br />
* [[Michael Seidlmayer]]: ''Geschichte Italiens. Vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis zum ersten Weltkrieg'' (= ''[[Kröners Taschenausgabe]]'', 341). 2., erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 1989, ISBN 3-520-34102-6.<br />
* Georges Jehel: ''L’Italie et le Maghreb au Moyen Âge. Conflits et échanges du VIIe au XVe siècle'', Presses universitaires de France, 2001, ISBN 2-13-052263-7.<br />
* [[Peter Herde]]: ''Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento'', Steiner, Stuttgart 1986, ISBN 3-515-04596-1.<br />
* Attilio Milano: ''Storia degli ebrei in Italia'', Einaudi, Turin 1992, ISBN 88-06-12825-6.<br />
* Christopher Kleinhenz (Hrsg.): ''Medieval Italy'', 2 Bde., Routledge, New York 2004, ISBN 0-415-93930-5.<br />
* {{RGA|15|544|593|Italien|[[Volker Bierbrauer]] u. a.}}<br />
* {{LexMA|5|705|762|Italien}}<br />
* [[David Gilmour, 4. Baronet|David Gilmour]]: ''Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart'', Klett-Cotta, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-608-94770-0.<br />
* [[Christopher Duggan]]: ''A Concise History of Italy'', 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 2013, ISBN 978-0-521-76039-3.<br />
* Christopher Duggan: ''The Force of Destiny. A History of Italy since 1796'', Allen Lane, London 2007, ISBN 978-0-7139-9709-5.<br />
* [[Denis Mack Smith]]: ''Modern Italy. A Political History'', Yale University Press, 1997 (aktualisierte und erweiterte Neuauflage, erstmals 1958 unter dem Titel ''Italy. A modern history'').<br />
* [[Christian Jansen]], [[Oliver Janz]]: ''Geschichte Italiens. Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.'' Kohlhammer, Stuttgart 2023.<br />
* [[Giorgio Candeloro]]: ''Storia dell’Italia moderna'', 11 Bde., Feltrinelli, Mailand 1956–1986 (einst Standardwerk).<br />
<br />
=== Regionen und Städte ===<br />
* Adele Cilento: ''Bisanzio in Sicilia e nel sud dell’Italia'', Magnus, Udine 2005, ISBN 88-7057-196-3<br />
* Thomas Dittelbach: ''Geschichte Siziliens. Von der Antike bis heute'', Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-58790-0<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Medieval Rome. Stability and Crisis of a City, 900–1150'', Oxford University Press, Oxford 2015.<br />
* [[Cinzio Violante]]: ''Economia, società, istituzioni a Pisa nel Medioevo'', Dedalo, Bari 1980.<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte von Florenz'', Beck, München 2013.<br />
* [[Robert Davidsohn]]: ''Geschichte von Florenz'', 4 Bde., Berlin 1896–1927 (einst Standardwerk, vielfach veraltet, enorme Detailtiefe).<br />
* John M. Najemy: ''A History of Florence, 1200–1575'', Blackwell Publishing, 2006 (ital.: ''Storia di Firenze dal 1200 al 1575'', Einaudi, Turin 2014).<br />
* Teofilo Ossian De Negri: ''Storia di Genova'', Giunti Editore, Florenz, 2003, ISBN 88-09-02932-1<br />
* [[Alberto Tenenti]], [[Ugo Tucci]] (Hrsg.): ''Storia di Venezia'', 12 Bde., Rom 1992–1995.<br />
* [[Giovanni Treccani|Giovanni Treccani degli Alfieri]] (Hrsg.): ''Storia di Milano'', 16 Bde., Mailand 1962.<br />
* [[Alessandro Barbero]]: ''Storia del Piemonte. Dalla preistoria alla globalizzazione.'' Einaudi, Turin 2008.<br />
<br />
=== Wirtschaftsgeschichte ===<br />
* [[Vera Zamagni]]: ''Introduzione alla storia economica d’Italia'', Il Mulino, Bologna 2007 (Einführung, Mittelalter bis Gegenwart), ISBN 978-88-15-12168-4<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica d’Italia. Il Medioevo'', Sansoni, Florenz 1967.<br />
* [[Alfred Doren]]: ''Italienische Wirtschaftsgeschichte'', Jena 1934 (vielfach veraltet, dennoch ein Epochenwerk).<br />
* Valerio Castronovo: ''Storia economica d’Italia. D’all Ottocento ai giorni nostri'', Einaudi, Turin 2006, ISBN 88-06-13621-6<br />
* Rolf Petri: ''Storia economica d’Italia. Dalla Grande guerra al miracolo economico (1918–1963)'', Il Mulino, Bologna 2002.<br />
* Neville Morley: ''Metropolis and Hinterland. The City of Rome and the Italian Economy, 200 BC-AD 200'', Cambridge University Press, 1996.<br />
* Richard A. Goldthwaite: ''The Economy of Renaissance Florence'', The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2009, ISBN 978-0-8018-8982-0<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo'', Venedig 1961, Nachdruck 1995.<br />
* ''Mercanti e banchieri ebrei'' (= Zakhor. Rivista di storia degli Ebrei d’Italia I), Giuntina, Florenz 1997, ISBN 88-8057-047-1<br />
* [[Paolo Malanima]], Vera Zamagni: ''150 years of the Italian economy, 1861–2010'', in: ''Journal of Modern Italian Studies'' 15 (2010) 1–20.<br />
<br />
=== Vorschriftliche Geschichte ===<br />
* [[Margherita Mussi]]: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic'', Springer, 2001, ISBN 0-306-46463-2.<br />
* John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy'', Cambridge University Press, 2007, ISBN 978-0-521-84241-9.<br />
* Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'', 2. Auflage. Carocci, Rom 2010, ISBN 978-88-430-4585-3.<br />
* Robert Leighton: ''Sicily before History. An Archaeological Survey from the Palaeolithic to the Iron Age'', Cornell University Press, 1999, ISBN 0-8014-8585-1.<br />
<br />
=== Antike, Frühmittelalter ===<br />
* Furio Durando u. a.: ''Magna Graecia. Kunst und Kultur der Griechen in Italien'', Hirmer, München 2004, ISBN 3-7774-2045-X.<br />
* Sabatino Moscati: ''Italia Punica'', Rusconi, Mailand 1986, 1995 (Tascabili Bompiani 2000).<br />
* [[Moses I. Finley]]: ''Das antike Sizilien. Von der Vorgeschichte bis zur arabischen Eroberung'', dtv, München 1993, ISBN 3-423-04592-2.<br />
* [[Martin Dreher]]: ''Das antike Sizilien'', C. H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-53637-3.<br />
* [[Hans-Joachim Gehrke]], [[Helmuth Schneider (Althistoriker)|Helmuth Schneider]] (Hrsg.): ''Geschichte der Antike. Ein Studienbuch'', 2., erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart 2006, ISBN 3-476-02074-6.<br />
* Neil Christie: ''From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800'', Ashgate Publishing, Aldershot 2006, ISBN 1-85928-421-3.<br />
* Cristina La Rocca (Hrsg.): ''Italy in the Early Middle Ages'', Oxford University Press, Oxford 2002.<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Early Medieval Italy. Central Power and Local Society, 400-1000'', University of Michigan Press, Ann Arbor 1990, ISBN 0-472-08099-7.<br />
* [[Walter Pohl]], Peter Erhart (Hrsg.): ''Die Langobarden. Herrschaft und Identität'', Wien 2005. (26 Beiträge zur archäologischen, geschichtswissenschaftlichen und linguistischen Langobardistik, Abteilung 3: ''Langobardische Herrschaft und langobardische Identitäten in Italien''), ISBN 3-7001-3400-2.<br />
* Paolo Cammarosano: ''Storia dell’Italia medievale. Dal VI all’XI secolo'', Laterza, Bari 2001, ISBN 88-420-6338-X.<br />
* [[Ovidio Capitani]]: ''Storia dell’Italia medievale, 410–1216.'' Laterza, Bari 1992, ISBN 88-420-2998-X.<br />
* Dick Harrison: ''The Early State and the Towns. Forms of Integration in Lombard Italy, AD 568–774'', Lund University Press, Lund 1993, ISBN 91-7966-218-8.<br />
* Clemens Gantner, Walter Pohl (Hrsg.): ''After Charlemagne. Carolingian Italy and its Rulers'', Cambridge University Press, 2021.<br />
* [[Salvatore Cosentino]] (Hrsg.): ''A Companion to Byzantine Italy'', Brill, Leiden/Boston 2021 (= Brill’s Companions to the Byzantine World, 8) (zum byzantinischen Italien zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, gegliedert nach den Themen ''Society and Institutions'', ''Communications, Economy and Landscape'' sowie ''Culture and Education''; die Einführung von Cosentino und [[Enrico Zanini]] (byzantinische Archäologie) trägt den Titel ''Mapping the Memory of Byzantine Italy'', unterteilt in ''Written Memory'' und ''Material Sources'').<ref>[https://www.academia.edu/75308645/A_Companion_to_Byzantine_Italy_ed_Salvatore_Cosentino_Brill_Leiden_Boston_2021_Brill_s_Companions_to_the_Byzantine_World_8_33_maps_25_figures_abbreviations_notes_on_contributors_index_pp_XVIII_829 Rezension]</ref><br />
<br />
=== Hoch- und Spätmittelalter, Renaissance ===<br />
* Johannes Bernwieser: ''Honor civitatis. Kommunikation, Interaktion und Konfliktbeilegung im hochmittelalterlichen Oberitalien.'' Herbert Utz, München 2012, ISBN 978-3-8316-4124-6.<br />
* Thomas James Dandelet, John A. Marino: ''Spain in Italy. Politics, Society, and Religion 1500–1700.'' Brill, Leiden 2007, ISBN 978-90-04-15429-2.<br />
* Andrea Gamberini, Isabella Lazzarini (Hrsg.): ''The Italian Renaissance States.'' Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-01012-3.<br />
* Gudrun Gleba: ''Die oberitalienischen Städte vom 12. bis 15. Jahrhundert. Forschungstendenzen der achtziger Jahre.'' In: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993) 463–483.<br />
* [[Elke Goez]]: ''Geschichte Italiens im Mittelalter''. Primus Verlag, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-89678-678-4 ([http://www.sehepunkte.de/2010/12/18082.html Rezension]).<br />
* Kenneth Gouwens: ''The Italian Renaissance. The Essential Sources'', Blackwell Publishing, 2004, ISBN 0-631-23165-X.<br />
* Alberto Grohmann: ''La città medievale.'' Laterza, Bari 2010, ISBN 978-88-420-6844-0.<br />
* Dennys Hay, John Law: ''Italy in the Age of the Renaissance 1380–1530.'' Longman, London/New York 1989, ISBN 0-582-48358-1.<br />
* [[Hagen Keller]]: ''Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien (9.–12. Jahrhundert).'' Niemeyer, Tübingen 1979, ISBN 3-484-80088-7.<br />
* John Larner: ''Italy in the Age of Dante and Petrarch 1216–1380.'' Longman, London/New York 1980, ISBN 0-582-48366-2.<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''An Economic History of Italy. From the Fall of the Roman Empire to the Beginning of the 16th Century.'' 2006 (Nachdruck der 2. Auflage von 1963; italienische Originalausgabe Florenz 1928).<br />
* [[Heike Johanna Mierau]]: ''Kaiser und Papst im Mittelalter'', Böhlau, Köln u. a. 2010, ISBN 978-3-412-20551-5.<br />
* [[Ferdinand Opll]]: ''Zwang und Willkür. Leben unter städtischer Herrschaft in der Lombardei der frühen Stauferzeit.'' Böhlau, Wien 2010 (Aussagen von 80 Zeugen von 1184 bilden die Grundlage), ISBN 978-3-205-78499-9<br />
* [[Bernd Rill]]: ''Sizilien im Mittelalter. Das Reich der Araber, Normannen und Staufer.'' Belser, Stuttgart 1995, ISBN 3-7630-2318-6.<br />
<br />
=== Bis zur Staatsgründung ===<br />
* [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano'', Laterza, Rom/Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9.<br />
* [[Lucy Riall]]: ''Risorgimento. The history of Italy from Napoleon to nation state'', Palgrave Macmillan, 2009, ISBN 978-0-230-21670-9.<br />
* [[Ruggiero Romano]], Corrado Vivanti: ''Storia d’Italia'', Bd. 3: ''Dal primo Settecento all’Unità'', Einaudi, Turin 1973, ISBN 978-88-06-36475-5.<br />
* Alberto Mario Banti, [[Paul Ginsborg]]: ''Storia d’Italia. Annali.'' Bd. 22: ''Il Risorgimento'', Einaudi, Turin 2008, ISBN 978-88-06-16729-5.<br />
* [[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg in Preußen'', Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148077-5.<br />
* John Anthony Davis: ''Naples and Napoleon. Southern Italy and the European revolutions (1780–1860)'', Oxford University Press, 2006.<br />
* Marco Severini: ''La Repubblica romana del 1849'', Marsilio, Venedig 2011, ISBN 978-88-317-0803-6.<br />
* Lauro Rossi (Hrsg.): ''Giuseppe Garibaldi. Due secoli di interpretazioni'', Gangemi, Rom 2011, ISBN 978-88-492-6974-1.<br />
* Salvatore Lupo: ''L’unificazione italiana. Mezzogiorno, rivoluzione, guerra civile'', Donzelli, 2011, ISBN 978-88-6036-627-6.<br />
* Gigi Di Fiore: ''Controstoria dell’Unità d’Italia. Fatti e misfatti del Risorgimento'', Rizzoli, Mailand 2010, ISBN 978-88-17-04281-9.<br />
* Gualtiero Boaglio: ''Die Entstehung des Begriffs Italianità'', in: Florika Griessner, Adriana Vignazia (Hrsg.): ''150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen'', Praesens, Wien 2014, S. 66–81.<br />
<br />
=== Königreich und Faschismus ===<br />
* Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001)'', Mailand 2004, ISBN 88-483-0562-8.<br />
* [[Martin Clark (Historiker) |Martin Clark]]: ''Modern Italy, 1871 to the Present'', 3. Auflage. Pearson Longman, Harlow u. a. 2008, ISBN 978-1-4058-2352-4.<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 3-506-72923-3.<br />
* [[Stefan Breuer]]: ''Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-17994-3.<br />
* [[Lutz Klinkhammer]]: ''Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945'', Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-82075-6.<br />
* [[Carlo Gentile]]: ''Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg. Italien 1943–1945'', Diss. Köln 2008, Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-76520-8.<br />
* Giampiero Carocci: ''Storia degli ebrei in Italia. Dall’emancipazione a oggi'', Newton & Compton, Rom 2005, ISBN 88-541-0372-1.<br />
* [[Regine Wagenknecht]]: ''Judenverfolgung in Italien. 1938–1945. „Auf Procida waren doch alle dunkel“'', Edition Parthas, Berlin 2005, ISBN 3-936324-22-0.<br />
* Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich'', Donzelli Editore, Rom 2009, ISBN 978-88-6036-333-6.<br />
* [[Wolfgang Schieder]]: ''Der italienische Faschismus'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60766-0.<br />
* Davide Rodogno: ''Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940–1943)'', Bollati Boringhieri 2003 (Übersetzung ins Englische unter dem Titel ''Fascism’s European Empire. Italian Occupation During the Second World War'', Cambridge University Press, 2006, ISBN 0-521-84515-7).<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
* [[Peter Hertner]]: ''Wirtschafts- und Finanzkrisen im liberalen und faschistischen Italien'', in: [[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]] 89 (2009), S. 285–315 ([http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/89-2009/0285-0135 online]).<br />
<br />
=== Republik (seit 1946) ===<br />
* [[Christian Jansen]]: ''Italien seit 1945'', UTB, Göttingen 2007, ISBN 3-8252-2916-5.<br />
* Dieter Münch: ''Einführung in die politische Geschichte Italiens. 1943–2009'', Baltic Sea Press, Rostock 2009, ISBN 978-3-942129-01-5.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
<br />
=== Geschichtsschreibung ===<br />
* [[Andreas Mehl]]: ''Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen'', Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-015253-X.<br />
* Gabriele Zanella: ''Storici e storiografia del Medioevo italiano'', Pàtron, Bologna 1984.<br />
* [[Fulvio Tessitore]]: ''Contributi alla storiografia arabo-islamica in Italia tra Otto e Novecento'', Edizioni di Storia e Letteratura, Rom 2008, ISBN 978-88-6372-054-9.<br />
* William J. Connell: ''Italian Renaissance Historical Narrative'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 347–363.<br />
* Edoardo Tortarolo: ''Italian Historical Writing, 1680–1800'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 364–383.<br />
* Silvia Riccardi: ''Die Erforschung der antiken Sklaverei in Italien vom Risorgimento bis Ettore Ciccotti'', Steiner, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07137-7.<br />
* Eugenio Di Rienzo: ''Storia d’Italia e identità nazionale. Dalla grande guerra alla Repubblica'', Le Lettere, Florenz 2006, ISBN 88-7166-986-X.<br />
* Angelo D’Orsi, Patrizia Cancian, Bruno Bongiovanni: ''La città, la storia, il secolo. Cento anni di storiografia a Torino'', Il Mulino, Florenz 2001, ISBN 978-88-15-07802-5.<br />
* Umberto Massimo Miozzi: ''La scuola storica romana 1926–1943'', Rom 1982, ISBN 88-8498-105-0.<br />
* Norbert Campagna, Stefano Saracino: ''Staatsverständnisse in Italien. Von Dante bis ins 21. Jahrhundert'', Nomos, 2018.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|History of Italy|Geschichte Italiens}}<br />
{{Wikisource|Italien}}<br />
'''Archive, Quellen'''<br />
* [http://www.ilmondodegliarchivi.org/ ''Il Mondo degli Archivi online'']<br />
* [http://eudocs.lib.byu.edu/index.php/History_of_Italy:_Primary_Documents ''History of Italy: Primary Documents''], EuroDocs: Online Sources for European History, [[Brigham Young University]]<br />
* Malte König: [https://guides.clio-online.de/guides/regionen/italien/2023 ''Italien''], in: ''[[Clio-online|Clio Guide]] – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften'', 2023<br />
'''Jüdische Geschichte Italiens'''<br />
* [http://moked.it/vita-ebraica/ebrei-in-italia/ ''Ebrei in Italia''], in: ''moked/מוקד. il portale dell’ebraismo italiano'', 8. Juli 2008<br />
* [http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005455 ''Italy''], in: ''Holocaust Encyclopedia'', 23. März 2010, [[United States Holocaust Memorial Museum]]<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Geschichte nach Staat/Europa}}<br />
<br />
{{Lesenswert|4. März 2012|100412535}}<br />
<br />
[[Kategorie:Italienische Geschichte| ]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Italienischer_Faschismus&diff=255675078Italienischer Faschismus2025-05-03T00:58:40Z<p>ImageUploader12345: I don't speak fluent German, I used Google translate to add the description into the image I added, plus corrected dates, the black flag of the PNF began to be used in 1927 and used a commonly seen version of the black flag of the PNF.</p>
<hr />
<div>[[Datei:War flag of the Italian Social Republic.svg|miniatur|Das goldene Liktorenbündel auf der Kriegsflagge der faschistischen [[Italienische Sozialrepublik|Sozialrepublik (RSI)]]. Das „republikanische“ Bündel mit mittigem Beil ([[Hellebarde]]) wurde 1919–1927 und erneut 1943–1945 genutzt]]<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Das goldene [[Fasces|Liktorenbündel]] (''fascio littorio'') auf der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteifahne]] der Faschisten. Das „römische“ Bündel mit seitlichem Beil wurde 1927 bis 1943 genutzt]]<br />
[[Datei:Flag of Italian Fascism.svg|miniatur|Eine Variante einer verbreiteten italienischen faschistischen Flagge mit der italienischen Trikolore und einem Liktorenbündel darauf, zu sehen in den frühen bis mittleren 1920er Jahren.]]<br />
<br />
Der Begriff '''italienischer Faschismus''' ({{itS|Fascismo italiano}}, Eigenbezeichnung ''Fascismo'', '''Faschismus''') bezeichnet eine 1919 im [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreich Italien]] gegründete [[Rechtsextremismus|rechtsextreme]] [[politische Bewegung]], deren [[politische Ideologie]] sowie deren [[Diktatur|diktatorische]] [[Herrschaftsform]]en im faschistischen Italien (1925–1943) und der faschistischen [[Italienische Sozialrepublik|Sozialrepublik von Salò]] (1943–1945). Von 1921 bis 1945 wurden die Faschisten von ihrem „Duce“ (dt. ''Führer'') [[Benito Mussolini]] angeführt.<br />
<br />
Die Ursprünge der faschistischen Bewegung liegen in den am 23. März 1919 gegründeten ''Fasci italiani di combattimento'' (dt. ''Italienische Kampfbünde''), die 1921 zum ''[[Partito Nazionale Fascista]]'' (kurz ''PNF'', dt. ''Nationale Faschistische Partei'') umgewandelt wurden. Nach dem sogenannten [[Marsch auf Rom]] 1922 bildeten die Faschisten eine Koalitionsregierung mit Konservativen und Nationalisten mit Mussolini als Ministerpräsidenten. Ab 3. Januar 1925 errichteten die Faschisten in [[Königreich Italien (1861–1946)|Italien]] eine [[Einparteiensystem|Einparteiendiktatur]]. Die Periode von 1922 bis 1943 wird in Italien als ''ventennio fascista''<ref>Elisabetta Brighi: ''Foreign Policy, Domestic Politics and International Relations. The case of Italy.'' Routledge, Abingdon (Oxon)/New York 2013, Kapitel ''Italian foreign policy. The fascist ‘ventennio’ (1922–1943)'', S. 67–90.</ref> („die zwei Jahrzehnte des Faschismus“) oder ''ventennio nero'' („die zwei schwarzen Jahrzehnte“) bezeichnet.<ref>Claudio Fogu: ''«Italiani brava gente». The legacy of fascist historical culture on Italian politics of memory.'' In: Richard Ned Lebow u.&nbsp;a.: ''The Politics of Memory in Postwar Europe.'' Duke University Press, Durham (NC)/London 2006, S. 147–176, hier S. 147.</ref><br />
<br />
Die [[Imperialismus|imperialistische]] Außenpolitik der Faschisten führte zu einer Reihe von militärischen Interventionen Italiens in [[Afrika]] ([[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|Libyen]], [[Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland|Somaliland]], [[Eritrea]], [[Abessinienkrieg|Äthiopien]]) und auf dem [[Südosteuropa|Balkan]] ([[Korfu-Zwischenfall]], [[Italienische Besetzung Albaniens|Albanien]], [[Griechisch-Italienischer Krieg|Griechenland]], [[Balkanfeldzug (1941)|Jugoslawien]]). Darüber hinaus unterstützte das faschistische Italien 1936 bis 1939 militärisch massiv die Nationalisten [[Francisco Franco]]s im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] ([[Corpo Truppe Volontarie]]) und beteiligte sich als Verbündeter des [[Drittes Reich|Dritten Reiches]] am [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] ([[Westfeldzug]], [[Afrikafeldzug]], [[Ostafrikafeldzug]], [[Deutsch-Sowjetischer Krieg|Krieg gegen die Sowjetunion]]).<br />
<br />
Nach dem [[Sturz Mussolinis]] im Juli 1943 reduzierte sich infolge der [[Alliierte Invasion in Italien|alliierten Invasion]] das Einflussgebiet des italienischen Faschismus auf die vom Dritten Reich abhängige faschistische Sozialrepublik (informell auch ''Republik von Salò''), in welcher der ''[[Partito Fascista Repubblicano]]'' (kurz ''PFR'', dt. ''Republikanisch-Faschistische Partei'') die Einparteiendiktatur fortführte. 1945 endete der Faschismus in Italien mit der Befreiung durch die [[Anti-Hitler-Koalition|Alliierten]].<br />
<br />
Der italienische [[Faschismus]] galt als Modell für ähnliche Bewegungen, Parteien und Organisationen in verschiedenen [[Staat]]en und Regionen [[Europa]]s, auch für den in Deutschland im Jahr 1933 zur Macht gelangten und bis 1945 herrschenden [[Nationalsozialismus]].<br />
<br />
== Aktuelle Einordnungen und Tendenzen der Forschung ==<br />
{| border="0" cellpadding="1" cellspacing="2" style="float: right; margin: 0 0 10px 20px; width: 300px; border: solid 1px #BBBBBB; clear: right;"<br />
| [[Datei:Duce Benito Mussolini.jpg|179px]]<br />
| [[Datei:Giovanni Gentile sgr.jpg|155px]]<br />
|-<br />
| colspan="2" |<small>'''Die wichtigsten Ideologen des italienischen Faschismus:'''<br>'''Links''': [[Benito Mussolini]] (1930), Begründer und Theoretiker<br>'''Rechts''': [[Giovanni Gentile]] (1930), bedeutendster Theoretiker</small><br />
|}<br />
[[Datei:Mussoliniposter.jpg|mini|Benito Mussolini auf einem Propagandaplakat]]<br />
Die Literatur über den italienischen Faschismus hat eine außerordentliche Vielfalt konkurrierender, einander häufig in fundamentalen Fragen widersprechender Deutungen hervorgebracht. Eine allgemein akzeptierte Einordnung des Faschismus auch nur in seiner italienischen Variante gibt es nicht; die Reichweite der einzelnen Hypothesen beschränkt sich durchweg auf bestimmte historiographische Schulen. Der amerikanische Faschismusforscher [[Stanley Payne|Stanley G. Payne]] unterscheidet 13 verschiedene Lesarten, von denen zwölf den italienischen Faschismus als Teil einer Gattung politischer Regime und Bewegungen diskutieren, während eine den Faschismusbegriff nur für Italien gelten lässt.<ref>Siehe Stanley Payne: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung'', Wien 2006, S. 537–560.</ref> Die zuletzt genannte Interpretationslinie war international immer eine Randposition, in der deutschsprachigen Forschung aber lange Zeit vorherrschend, wo (außerhalb der [[Faschismustheorie#Marxistische Faschismustheorien|marxistischen Diskussion]]) nur wenige Historiker mit einem vergleichenden Faschismusbegriff gearbeitet haben, darunter etwa [[Wolfgang Schieder]]. Außerdem spielt der italienische Faschismus in verschiedenen [[politikwissenschaft]]lichen Modellen – klassisch etwa in den Debatten über [[Autoritarismus]] und [[Totalitarismus]] oder in einigen [[Modernisierungstheorie]]n – eine Rolle, die ihrerseits wieder auf Fragestellungen der Geschichtswissenschaft ausstrahlen. Dabei werden die für die Politikwissenschaft typischen Merkmalskataloge und Definitionen von einigen Historikern als methodische Grundlage akzeptiert, während andere – insbesondere jene, die den wissenschaftlichen Wert der Totalitarismustheorie bezweifeln<ref>Eine Kritik der Totalitarismustheorie durch einen führenden Faschismusforscher findet sich in [[Richard James Boon Bosworth|Richard J. B. Bosworth]]: ''Explaining Auschwitz and Hiroshima. History Writing and the Second World War 1945–1990'', London/New York 1993, passim.</ref> – die „barocken“<ref>Bosworth: ''Mussolini'', London 2010, S. 263.</ref> Versuche, durch das Addieren formaler oder ideologischer Merkmale zu einer hinreichenden Bestimmung des Faschismus zu gelangen, mit Skepsis betrachten. Zudem wird die wissenschaftliche Debatte – nicht nur in Italien – bis in die jüngste Zeit mitunter sehr stark von geschichtspolitischen Überlegungen überformt: So führen die seit den 1980er Jahren andauernden Versuche konservativer italienischer Historiker und Politologen, den Faschismus „in die akzeptable Nationalgeschichte einzugemeinden oder ihm zumindest eine genauso große (und manchmal größere) Legitimität zuzubilligen als der ‚[[Antifaschismus|antifaschistischen]]‘ Republik“,<ref>Giuseppe Finaldi: ''Mussolini and Italian Fascism'', Harlow 2008, S. 15.</ref> notwendig zu anderen Fragestellungen und Folgerungen als das Festhalten an dem Standpunkt, dass der Faschismus ein „zutiefst inhumanes, antidemokratisches und [[Reaktion (Politik)|reaktionäres]] politisches Regime“<ref name="ReferenceA">Finaldi: ''Mussolini and Italian Fascism'', S. 15.</ref> gewesen ist.<br />
<br />
Nach dem Abflauen älterer Kontroversen (etwa über die Frage, ob der Faschismus als „modern“ oder „antimodern“ einzuordnen ist<ref>Siehe dazu zusammenfassend Philip Morgan: ''Fascism in Europe, 1919–1945'', Routledge, London/New York 2003, S. 190–194.</ref>) hat sich in den letzten Jahrzehnten in erster Linie die grundsätzlich unterschiedliche Bewertung der Selbstzeugnisse des Faschismus als Trennungslinie in der Forschung erwiesen. Diese Auseinandersetzungen wurden durch den sogenannten ''[[Linguistische Wende|linguistic turn]]'', der in den 1990er Jahren große Teile der Geschichtswissenschaft erfasste, zugespitzt, haben aber ältere Wurzeln. Im Hintergrund steht dabei die Frage, ob Ideen und Ideologien oder aber gesellschaftliche Verhältnisse bzw. Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen im Zentrum der Analyse zu stehen haben. In der neueren Literatur zum italienischen Faschismus konkurrieren Ansätze, die die Rhetorik, die ideologischen Dokumente, Rituale und öffentlichen Erklärungen des Regimes – etwa hinsichtlich seines „totalitären“ und „revolutionären“ Charakters – in den Mittelpunkt des Interesses rücken, mit solchen, die den faschistischen „Propagandastaat“<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945'', London 2006, S. 6.</ref> in eine umfassende politische Sozialgeschichte einbetten und es ablehnen, die „Rhetorik des Regimes zu betrachten und von da aus zu Schlüssen über Regime, Volk, Konsens oder was auch immer“<ref name="ReferenceA"/> zu kommen.<br />
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Die erstgenannte Richtung wurde zuletzt vor allem von Historikern vertreten, die den Faschismus als „[[politische Religion]]“ auffassen, darunter führend von [[Emilio Gentile]] und [[Roger Griffin]]. Die wesentlichen Beiträge dieser Schule erscheinen seit 2000 in der Zeitschrift ''Totalitarian Movements and Political Religions'' (seit 2011 ''Politics, Religion & Ideology''). Obwohl dieser Ansatz von namhaften Historikern abgelehnt wird, haben Griffin und Gentile mehrfach den Anspruch erhoben, einen „neuen Konsens“ der Forschung formuliert zu haben. Sie betrachten den Faschismus als ideologisch angetriebenen, revolutionären „[[Palingenese (Sozialwissenschaften)|palingenetischen]] Ultranationalismus“ und bescheinigen ihm eine zumindest versuchte „anthropologische Revolution“.<ref>Zuletzt in deutscher Sprache Griffin, Roger: ''Palingenetischer Ultranationalismus. Die Geburtswehen einer neuen Faschismusdeutung'', in: Thomas Schlemmer, Hans Woller (Hrsg.): ''Der Faschismus in Europa''. Wege der Forschung, München 2014, S. 17–33. Siehe auch den Beitrag von Gentile im gleichen Band, Emilio Gentile: ''Der „neue Mensch“ des Faschismus. Reflexionen über ein totalitäres Experiment'', S. 89–106.</ref> Diese Historiker sehen in dem vom faschistischen Regime beschworenen „Totalitarismus“ keine rhetorische Fiktion, sondern eine zumindest partielle Wirklichkeit eigenen Rechts. Zu vergleichbaren Ergebnissen für den Bereich der „faschistischen Kultur“ kommen die Arbeiten, die sich seit den 90er Jahren aus Ansätzen der ''[[cultural studies]]'' entwickelt haben, ohne jedoch immer direkt an die Überlegungen zu den politischen Religionen anzuschließen.<br />
<br />
Methodik und Ergebnisse der Griffin/Gentile-Schule sowie der [[Poststrukturalismus|poststrukturalistischen]] „[[Diskursanalyse]]“ wurden von Vertretern einer politischen Sozialgeschichte des italienischen Faschismus wiederholt kritisiert. Hierbei hat sich insbesondere der australische Historiker [[Richard J. B. Bosworth|Richard Bosworth]] profiliert, der mehrere maßgebliche Arbeiten zum italienischen Faschismus vorgelegt und 1998 erstmals auf die „seltsame Allianz“<ref>Richard J. B. Bosworth: ''The Italian Dictatorship. Problems and perspectives in the interpretation of Mussolini and Fascism'', London 1998, S. 127.</ref> zwischen der konservativen, selbstbewusst „anti-antifaschistischen“ italienischen Historikergruppe um [[Renzo De Felice]] und Emilio Gentile und ideengeschichtlich arbeitenden Faschismusforschern poststrukturalistischer Provenienz hingewiesen hat. Im Zentrum von Bosworths Kritik stand wiederholt die weitgehende Akzeptanz und „wörtliche“<ref>Bosworth: ''Italian Dictatorship'', S. 21.</ref> Auslegung der ideologischen, in sich selber zutiefst widersprüchlichen Selbstzeugnisse des Faschismus, durch die, so Bosworth, diese Historiker im Extremfall „nur leichtgläubig das berichten, was der Faschismus verlautbarte, statt kritisch zu untersuchen, was das wirklich bedeutete.“<ref name="Italian_Dictatorship_27">Bosworth: ''Italian Dictatorship'', S. 27.</ref> Bosworth konstatiert vor dem Hintergrund seiner eigenen Forschungen dagegen einen „gähnenden Abgrund zwischen dem, was nach faschistischer Lesart zählte, und dem, worauf es wirklich ankam.“<ref name="Italian_Dictatorship_27" /> Er kritisiert die „[[Kulturalismus|kulturalistischen]]“ Ansätze nicht zuletzt als bewussten Versuch, den sozialen und politischen Inhalt des Faschismus auszublenden:<br />
<br />
: „Eine andere Implikation dieser ‚kulturalistischen‘ Annäherung an Mussolinis Regime war, dass der Faschismus am besten als klassenübergreifendes Phänomen zu verstehen sei. Faschistische Kultur, Faschismus als ‚politische Religion‘ – das war die Quadratur des Kreises gegen die traditionellen marxistischen Behauptungen, dass der Faschismus eine Klassenrealität und ein Klasseninteresse repräsentierte, und dass, in [[Max Horkheimer|Horkheimers]] berühmten Worten, der, der ‚vom Kapitalismus nicht reden will, vom Faschismus schweigen soll‘.“<ref>Bosworth: ''Italian Dictatorship'', S. 24.</ref><br />
<br />
John F. Pollard, der zum Verhältnis des faschistischen Regimes zur Kirche geforscht hat, betonte 2005 gegen Griffin/Gentile den instrumentellen Charakter gerade der „religiösen“ Aspekte des Regimes:<br />
<br />
: „Wenn der italienische Faschismus die äußeren Zeichen der Religion anlegte – Credo, Litaneien, Gebote und Rituale –, dann nicht, um eine säkulare Lücke in der italienischen Gesellschaft zu füllen, sondern weil derlei die Bewegung und das Regime verständlicher und akzeptabler für den durchschnittlichen Italiener machte, der von einer lebendigen und dynamischen ''katholischen'' Kultur umgeben war.“<ref>Zitiert nach Richard J. B. Bosworth: ''Introduction.'' In: ders. (Hrsg.), ''The Oxford Handbook of Fascism'', Oxford 2010, S. 1–7, hier S. 5 (Hervorhebung im Original).</ref><br />
<br />
Der Historiker Kevin Passmore hat die methodischen Grundannahmen der Theorie der „politischen Religion“ mit Blick auf die Faschismusforschung problematisiert und diese dabei in die Nähe reaktionärer Denktraditionen gerückt:<br />
<br />
: „So behauptet [[Michael Burleigh|Burleigh]], dass die Massen widerwilliger als die Eliten ‚apokalyptische revolutionäre Illusionen‘ aufgeben würden und dass die ‚Ungebildeten‘ anfällig für die Manipulation durch Gegeneliten seien. Mit anderen Worten: Die Theoretiker der politischen Religion definieren ihre eigene Rationalität im Gegensatz zur Unvernunft der Massen und nehmen wirklich an, dass die Massen empfänglich sind für Manipulationen. Das Argument, dass politische Religionen funktionieren, weil sie ein Bedürfnis der Massen bedienen, kann seine Ableitung aus der [von [[Gustave Le Bon]] formulierten und unter anderem von Mussolini aufgegriffenen] Vorstellung einer manipulativen Elite und einer manipulierbaren Masse kaum verbergen. (…) Aber natürlich ist die Theorie der politischen Religionen nicht protofaschistisch. Wie ihr Vorgänger, die Totalitarismustheorie, hat sie Autoren verschiedener politischer Glaubensrichtungen angezogen, und Theorien müssen nach ihren Verdiensten beurteilt werden.“<ref>Passmore, Kevin: ''The Ideological Origins of Fascism before 1914.'' In: Bosworth: ''Oxford Handbook of Fascism'', S. 11–31, S. 30.</ref><br />
<br />
Keine dieser Debatten kann als abgeschlossen gelten. Mithin stehen sich auf zahlreichen wichtigen Forschungsfeldern kontroverse Positionen gegenüber. So gibt es Autoren, die die Außenpolitik des Regimes beinahe ausschließlich aus dem ideologisch determinierten „Willen“ Mussolinis ableiten, und andere, die von einem seit dem Risorgimento tradierten ideologischen, sozialen und politischen Rahmen italienischer Großmachtpolitik ausgehen, aus dem auch die von maßgeblichen Teilen der Eliten mitgetragene faschistische Außenpolitik nicht ausgebrochen sei. Auch über die Rolle und Bedeutung Mussolinis, beispielsweise bei der Genese der faschistischen Bewegung, besteht keine Einigkeit. [[A. James Gregor]] etwa hat die Bedeutung einer seiner Ansicht nach konsistenten faschistischen Ideologie hervorgehoben und bereits den jungen Mussolini als innovativen Denker sui generis beschrieben.<ref>Exemplarisch für zahlreiche Veröffentlichungen A. James Gregor, ''Young Mussolini and the Intellectual Origins of Fascism'', Berkeley 1979 und (ausgewogener) ders., ''Mussolini’s Intellectuals. Fascist Social and Political Thought'', Princeton 2005. Gregor bespricht das faschistische Regime als „Entwicklungsdiktatur“ und betrachtet seine Entwicklung bis 1938 durchaus mit Wohlwollen; in der englischsprachigen Forschung war er einer der energischsten Verteidiger Renzo De Felices.</ref> Demgegenüber hat Richard Bosworth darauf hingewiesen, dass beinahe alle führenden Faschisten den Weg zum Faschismus gefunden haben, bevor sie eine erkennbare ideologische oder persönliche Beziehung zu Mussolini hatten. Bei Mussolini nach intellektueller Schlüssigkeit zu suchen, sei ein „törichtes Unternehmen“;<ref name="Bosworth, Mussolini, S. 111">Bosworth, ''Mussolini'', S. 111.</ref> die politischen und ideologischen Entwicklungen, die in den Faschismus führten, kommen für Bosworth spätestens während des Ersten Weltkrieges zum Durchbruch: „Sie brauchten nicht Mussolini, um erfunden zu werden.“<ref>Bosworth: ''Dictators, Strong or Weak? The Model of Benito Mussolini'', in: ders., ''Oxford Handbook of Fascism'', S. 259–275, hier S. 268.</ref><br />
<br />
== Geschichte ==<br />
=== Politischer, sozialer und ideologischer Hintergrund ===<br />
==== Strukturprobleme des liberalen Staates ====<br />
Die Annexion des [[Kirchenstaat]]es schloss 1870 die Bildung des italienischen Nationalstaates ab (vgl. [[Risorgimento]]). Dieser Staat wurde von einer schmalen Schicht (''classe politica'') geführt, die sich aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum und den liberalen Teilen der alten Aristokratie (''classe dirigente'') rekrutierte. Das liberale Italien, das vor dem Hintergrund der faschistischen Erfahrung häufig unzutreffend als Demokratie bezeichnet wird,<ref>Siehe Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini’s Italy. Life under the Dictatorship 1915–1945'', London 2006, S. 30.</ref> bildete ein politisches System aus, das weitaus weniger anpassungsfähig war als das britische oder französische; es verkörperte einen „autoritären“ oder „oligarchischen“ Liberalismus, der vor der Wahlrechtsreform von 1912 nur rund 7 % der Bevölkerung das Wahlrecht einräumte. Der Monarch besaß die direkte Kontrolle über das Militär, einen bedeutenden Einfluss auf die Außenpolitik und ernannte persönlich den Regierungschef sowie die Mitglieder des [[Senato del Regno|Senats]]. Obwohl es in der gewählten [[Camera dei deputati|Abgeordnetenkammer]] eine aus der risorgimentalen Phase überkommene „[[Politische Rechte (Politik)|Rechte]]“ und „[[Politische Linke|Linke]]“ gab, betrachteten sich bis zum [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] die weitaus meisten Abgeordneten als [[Liberalismus|Liberale]]. Viele von ihnen waren in Patronage- und Klientelnetzwerke der jeweiligen Heimatorte eingebunden, als deren Interessenvertreter in [[Rom]] sie vorrangig agierten. Wiederholte Übergänge vom einen in das andere Lager, „linke“ Mitglieder in „rechten“ Regierungen (und umgekehrt) waren in diesem abwertend ''[[trasformismo]]'' genannten System der Organisation von Mehrheiten an der Tagesordnung; ein Bedürfnis zur Organisation politischer Parteien bestand aufgrund der sozialen Homogenität und ideologischen Flexibilität der politischen Klasse nicht. Der Ausschluss der besitzlosen und „ungebildeten“ Bevölkerungsmehrheit aus dem politischen Prozess war die Voraussetzung für das Funktionieren dieses Systems.<ref>Giuseppe Finaldi: ''Mussolini and Italian Fascism'', Harlow 2008, S. 20.</ref> Die daraus resultierenden Legitimitäts- und Stabilitätsprobleme beschäftigten kontinuierlich die politischen Eliten:<br />
<br />
{{Zitat|Wenn es eine inhärente ‚Krise des liberalen Staates‘ gab, dann bestand sie darin: dem sich mit dem Wachstum des Sozialismus in den 1890er Jahren verschärfenden Problem, aus dem Volk hervorgegangene Kräfte in die politischen und parlamentarischen Prozesse der Nation zu integrieren.|ref=<ref>Philip Morgan: ''Italian Fascism 1919–1945'', Houndmills/London 1995, S. 5.</ref>}}<br />
<br />
Da Papst [[Pius&nbsp;IX.]] 1874 allen Katholiken die Teilnahme an nationalen Wahlen verboten hatte und die Kirche konsequent Distanz zu dem liberalen „Räuberstaat“ hielt, schied die wichtigste konservative Institution des Landes als Garant des Status quo aus. Unter den Ministerpräsidenten [[Francesco Crispi]], [[Antonio Starabba di Rudinì]] und [[Luigi Pelloux]] – dessen Ministerpräsidentschaft schließlich Züge einer Diktatur trug – scheiterte zwischen 1893 und 1900 der Versuch, diese Fragen einer rein autoritär-repressiven Lösung zuzuführen. Crispi versuchte erstmals, die rigorose Unterdrückung sozialistischer und republikanischer Organisationen (Einsatz von 50.000 Soldaten gegen Unruhen [[Sizilien|sizilianischer]] Landarbeiter und Bauern 1893/94, Verbot der [[Partito Socialista Italiano|sozialistischen Partei]] 1894–1896) mit nationalistischer Rhetorik und kolonialer Expansion (vgl. [[Italienisch-Äthiopischer Krieg (1895–1896)|Italienisch-Äthiopischer Krieg]]) zu verbinden. Die Wahlniederlage der „historischen Rechten“ (''Destra storica'') im Juni 1900 machte den Weg frei für die von [[Giovanni Giolitti]] (zwischen 1903 und 1914 mehrfach Ministerpräsident) repräsentierte liberale Strömung, die bereit war, den ''trasformismo'' auch auf Katholiken, Republikaner und reformistische Sozialisten auszudehnen. Giolitti gelang es, Teile der auf nationaler Ebene bis dahin passiven katholischen Wählerschaft in antisozialistische Wahlallianzen einzubinden und auch die offiziell intransigente Haltung der Kirche gegenüber dem liberalen Staat aufzuweichen (vgl. [[Gentiloni-Pakt]]). Gleichzeitig versuchte er, den rechten Flügel der Sozialisten gegen die revolutionäre Linke zu stärken. Er initiierte eine begrenzte Sozialgesetzgebung, lockerte den Wahlzensus wesentlich (bei der Parlamentswahl im Herbst 1913 hatten 65 % der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Wahlrecht) und trat als betont „neutraler“ Vermittler bei Arbeitskonflikten auf. Die Formierung von Industriellen- und Großgrundbesitzerorganisationen (1910 Gründung der [[Confindustria]]), die eine aggressive Linie gegenüber den Gewerkschaften und allen anderen „Subversiven“ einforderten, stellte den erweiterten ''trasformismo'' seit 1910/11 jedoch zunehmend infrage.<ref>Richard J. B. Bosworth: ''Mussolini'', London 2010, S. 72.</ref> Er scheiterte endgültig, als 1912 die revolutionären Kräfte die Kontrolle über den PSI übernahmen und der größte Teil der reformistischen Führungsgruppe aus der Partei ausgeschlossen wurde.<ref>Siehe Morgan: ''Italian Fascism'', S. 6.</ref><br />
<br />
==== Die Krise des politischen Systems im Ersten Weltkrieg ====<br />
Mit [[Antonio Salandra]] übernahmen im Frühjahr 1914 die politischen Erben der „historischen Rechten“ die Regierung. Salandras Ziel war es, die sozialistische Linke dauerhaft zu isolieren, den liberalen Block auf einer konservativen Linie zu konsolidieren und nach rechts zu erweitern. Der Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, den Salandra zusammen mit seinem Außenminister [[Sidney Sonnino]] 1914/15 maßgeblich vorantrieb, war in den Augen der liberalen Rechten stärker noch als äußeren Expansionszielen dem Kalkül einer autoritären Reorganisation der italienischen Innenpolitik untergeordnet.<br />
<br />
In der Kampagne für die Intervention fanden sich erstmals die politischen Strömungen zusammen, die in der Nachkriegskrise die faschistische Bewegung trugen: konservative Liberale und Nationalisten, nationalistische [[Syndikalismus|Syndikalisten]] (die im Herbst 1914 die ersten nationalistischen ''fasci'' organisierten), Republikaner und einige ehemalige Sozialisten (unter ihnen der im November 1914 aus der sozialistischen Partei ausgeschlossene [[Benito Mussolini]]).<ref>Siehe De Grand: ''Italian Fascism. Its Origins and Development'', Lincoln/London 2000, S. 14&nbsp;f.</ref> Zusammen repräsentierten diese Gruppen nur einen kleinen – wenn auch publizistisch deutlich überrepräsentierten – Teil der italienischen Gesellschaft, der zum Zeitpunkt des Kriegseintritts auch in der Abgeordnetenkammer keine echte Mehrheit fand. Das Land begann den Krieg daher tief gespalten und führte ihn in einer „Atmosphäre des Bürgerkrieges“.<ref>Morgan: ''Italian Fascism'', S. 7.</ref> Statt die gesellschaftlichen Spannungen im Zeichen einer „nationalen“ Anstrengung zu verdecken oder abzuschwächen, spitzte der Krieg sie weiter zu.<br />
<br />
Die sozialistische Partei, deren Einfluss auf die städtische Arbeiterklasse kontinuierlich wuchs, hielt ihre Antikriegslinie (unter der allerdings zweideutigen Parole „weder unterstützen noch sabotieren“) auch nach 1915 durch und gab sich im September 1918 ein radikales neues Programm. Die 5,7 Millionen Soldaten, die Italien bis 1918 mobilisierte, waren überproportional häufig Bauern und Landarbeiter, von denen viele zum ersten Mal ihre ''paesi'' verließen. Unter ihnen war der Kriegsdienst für einen als fremd und feindlich erlebten Staat zutiefst unpopulär; die Regierung sah sich gezwungen, ihnen nach dem Beinahe-Zusammenbruch der Front im Herbst 1917 (vgl. [[Zwölfte Isonzoschlacht|12. Isonzoschlacht]]) großzügige Landzuteilungen nach dem Krieg zu versprechen. Auch auf der politischen Rechten wuchs in den Kriegsjahren die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse und dem parlamentarischen System, das in ihren Augen bei der Organisation der Kriegsanstrengungen und der Bekämpfung der „Subversiven“ und „Verräter“ versagte. Ein im Herbst 1917 unter dem Patronat Salandras gebildeter ''Fascio parlamentare di difesa nazionale'' trug diese Stimmen, die eine autoritäre Lösung der inneren Krise forderten und zu denen auch Mussolini mit seiner Zeitung ''[[Il Popolo d’Italia]]'' gehörte, in das Parlament.<br />
<br />
==== Der italienische Radikalnationalismus ====<br />
Die grundlegenden Argumente des rechten Antiparlamentarismus waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg von Intellektuellen formuliert worden, die sich zuerst 1903 im Umfeld der Zeitschrift ''Il Regno'' zusammengefunden und 1910 die ''[[Associazione Nazionalista Italiana]]'' (ANI) gegründet hatten. Für Nationalisten wie [[Enrico Corradini]], [[Alfredo Rocco]] und [[Luigi Federzoni]] war die Konstruktion des italienischen Nationalstaates – von ihnen als ''Italietta'' („kleines Italien“) verhöhnt – zutiefst mangelhaft. Die erste Voraussetzung einer äußeren Machtpolitik Italiens war in ihren Augen die Zerstörung der sozialistischen Bewegung und jeder anderen „Subversion“. Den erweiterten ''trasformismo'' der Ära Giolitti betrachteten sie als Kapitulation vor der Linken, die das Land endgültig in die zweite Reihe der europäischen Mächte verwies; die Lockerung des Wahlzensus von 1912 ebnete für sie – womit sie ein Argument des klassischen Liberalismus wiederholten<ref>Siehe Kevin Passmore: ''The Ideological Origins of Fascism before 1914.'' In: Richard J. B. Bosworth (Hrsg.): ''The Oxford Handbook of Fascism'', Oxford 2010, S. 11–31, hier S. 27.</ref> – dem Triumph der „Menge“ über die „Besten“ den Weg.<ref>Siehe De Grand, ''Italian Fascism'', S. 13.</ref> Sie propagierten ein Ende oder zumindest eine Einhegung des Klassenkampfes in einer durch den Staat autoritär geeinten Nation, in der „jedes Individuum als Zahnrad, Getriebe oder Niete der Lokomotive arbeitete, die das [[Vaterland]] war.“<ref>Finaldi, ''Mussolini and Italian Fascism'', S. 56.</ref> Dieser neue Nationalismus löste sich vor allem durch seinen aggressiv artikulierten Antiparlamentarismus vom liberalen, im 19. Jahrhundert tradierten Nationalismus ab und trat als eigenständige Kraft auf, die selbstbewusst die Ersetzung der alten politischen Klasse durch „neue Männer“ einforderte. Trotz ihres antiparlamentarischen Elitismus versuchte die ANI von Anfang an gezielt, sich in Einflusspositionen des politischen Systems zu etablieren.<ref>Siehe Alexander J. De Grand, ''The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism in Italy'', Lincoln/London 1978, S. IX.</ref> Die sechs Sitze in der Abgeordnetenkammer, die sie bei der Wahl im Jahr 1913 erhielt, spiegelten das bereits erreichte Maß ihres Einflusses nur sehr unvollständig.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy'', S. 48.</ref> Zwischen 1915 und 1918 begann die nationalistische Ideologie, die Selbstverständigung der italienischen Eliten zu dominieren, wobei neben dem Krieg auch ein Generationenwechsel eine wesentliche Rolle spielte.<ref>Siehe Bosworth: ''Mussolini'', S. 140.</ref><br />
<br />
Charakteristisch für die ANI war die Verwendung von Begriffen, die sie von politischen Gegnern übernommen und spezifisch umgeprägt hatte („proletarische Nation“, Konzeption eines „nationalen Syndikalismus“ bei Corradini, Mario Viana, Tommaso Monicelli u.&nbsp;a., „Produktivismus“ usw.).<ref>Siehe De Grand: ''Italian Nationalist Association'', S. 19.</ref> Auf dieser Ebene trat sie weniger aristokratisch auf als der Seitenstrang des italienischen Nationalismus, der seine Positionen in Zeitschriften wie ''[[Lacerba]]'' und ''[[La Voce]]'' (mit deren Herausgeber, [[Giuseppe Prezzolini]], Mussolini seit 1909 korrespondierte) formulierte. Diese Gruppen verband mit der ANI jedoch ein zentrales Motiv: der intensive Wille zur „Modernisierung“ bei gleichzeitiger Verachtung und Zurückweisung der „Massengesellschaft“.<ref>Siehe De Grand: ''Italian Nationalist Association'', S. 20.</ref><br />
<br />
Es besteht heute ein weitgehender Konsens darüber, dass sich der Hauptstrang der offiziösen Ideologie des faschistischen Regimes aus dem geistigen Fundus speiste, der vor dem Ersten Weltkrieg von der „[[Präfaschismus|protofaschistischen]]“ ANI – für die sich die Forschung erst in den 1970er Jahren zu interessieren begann – bzw. in deren Umfeld entwickelt worden war.<ref>Siehe De Grand, ''Italian Fascism'', S. 146&nbsp;f.</ref><br />
<br />
: „Es ist geradezu verblüffend, wie der Nationalismus in dieser frühen Phase bereits alle Themen entworfen und aufgezeigt hat, in deren Variationen man später die Originalität Mussolinis hat sehen wollen. In der Phase von 1914 bis 1919 tut Mussolini nichts anderes, als die hier entwickelten Ansätze neu für sich zu entdecken, wobei man Ähnlichkeiten bis in den Wortlaut hinein feststellen kann.“<ref>Karin Priester: ''Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen'', Köln 1972, S. 74.</ref><br />
<br />
Allerdings wird äußerst kontrovers darüber diskutiert, welche praktische Bedeutung dieser Ideologie bei der Aktivierung der faschistischen Bewegung (und schließlich im Regime selbst) zukam. Reduktionistische und personalistische Ansätze, die die faschistische Ideologie aus der geistigen Entwicklung einer einzelnen Person – Mussolinis – ableiten, werden in der wissenschaftlichen Literatur kaum mehr vertreten. Ähnliches gilt für Positionen, die das in der Vorkriegszeit entstandene und während des Krieges multiplizierte faschistische Potential auf Italien reduzieren, wie der britische Historiker Kevin Passmore hervorhebt:<br />
<br />
: „Der Faschismus war nicht das Produkt spezifisch nationaler Traditionen. (…) Wenn sich der Faschismus zuerst in Italien kristallisierte, dann deshalb, weil es die Umstände erlaubten, und nicht, weil er ideologisch prädestiniert war, dies zu tun (…). 1914 gab es in einigen europäischen Ländern protofaschistische Tendenzen. Sie wurden durch den Krieg radikalisiert und brutalisiert und setzten sich danach in der Sprache oder Realität des Bürgerkrieges fort. In keinem Land wurde jeder brutalisiert. Es ist die Aufgabe der Historiker, zu erklären, warum die Brutalisierten in einigen Ländern an die Macht kamen, in anderen aber nicht.“<ref>Passmore: ''Ideological Origins'', S. 29.</ref><br />
<br />
=== Die Anfänge des Faschismus in der Nachkriegszeit ===<br />
==== Der Frühfaschismus als Teil der nationalistischen Mobilisierung ====<br />
Unmittelbar nach dem Ende des Krieges zerfiel das heterogene Lager der Interventionisten im Streit. „Demokratische“ Interventionisten wie [[Leonida Bissolati]], die Annexionen jenseits der italienischen Sprachgrenze ablehnten, wurden von der nationalistischen Rechten nun als ''rinunciatari'' („Verzichtende“) ebenso heftig angegriffen wie die sozialistischen „Drückeberger“ (''imboscati''). Als sich nach der Eröffnung der [[Pariser Friedenskonferenz 1919|Pariser Friedenskonferenz]] abzeichnete, dass die italienischen Maximalforderungen (über das 1915 im [[Londoner Vertrag (1915)|Londoner Vertrag]] Zugesicherte hinaus ganz [[Dalmatien]], [[Rijeka|Fiume]] und die [[Innerkrain]]) gegen den Willen Großbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Staaten nicht durchsetzbar waren, verließen [[Vittorio Emanuele Orlando]] und Sonnino am 24. April 1919 demonstrativ Paris. Daraufhin nahm die nationalistische Agitation gegen den „verstümmelten Sieg“ (''vittoria mutilata'') hysterische Züge an. Sie richtete sich – mit der beifälligen „Sympathie des größten Teils der bürgerlichen öffentlichen Meinung“<ref>Adrian Lyttelton: ''The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919–1929'', London 1987, S. 30.</ref> – schließlich auch gegen die Regierung des neuen linksliberalen Ministerpräsidenten [[Francesco Saverio Nitti]]. Diese hatte am 28. Juni 1919 den [[Friedensvertrag von Versailles|Friedensvertrag mit Deutschland]] und am 10. September 1919 jenen [[Vertrag von Saint-Germain|mit Österreich]] unterzeichnet. Zwei Tage später besetzten zweitausend nationalistische Freischärler – wohlwollend toleriert von den Kommandobehörden der italienischen Armee in [[Istrien]] und Dalmatien – unter Führung des Dichters [[Gabriele D’Annunzio#Fiume: Geburt von faschistischen Ritualen|Gabriele D’Annunzio]] Fiume (siehe [[Italienische Regentschaft am Quarnero]]). Dass Nitti es nicht wagte, der Armee die Räumung Fiumes zu befehlen, sondern vor den Augen der italienischen und europäischen Öffentlichkeit über Monate hinweg mit meuternden Offizieren und einem „selbstverliebten Poseur“<ref>Martin Clark: ''Mussolini'', Harlow 2005, S. 41.</ref> wie D’Annunzio verhandelte, verdeutlichte schlagartig die Stärke der nationalistischen Rechten.<br />
<br />
Die nationalistische Polemik in der Fiume-Krise hatte allerdings nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine innenpolitische Seite. Sie richtete sich gegen die Vertreter der politisch „erwachten“ Unterschichten und damit gegen jene Kräfte, die nach dem Krieg eine fundamentale politische und soziale Veränderung Italiens anstrebten. Den ''diciannovismo'' (sinngemäß etwa „Geist von (19)19“), der sich in Streiks und Demonstrationen, Land- und Fabrikbesetzungen, einem rasanten Wachstum der sozialistischen Partei und der Gewerkschaften und allgemein in einer bis dahin unbekannten Unbotmäßigkeit gegenüber traditionellen Autoritäten äußerte, empfanden die liberalen Eliten als elementare Bedrohung. Eine bürgerliche Statuskrise verschärfte diese Verunsicherung: Schon vor dem Krieg war der italienische Arbeitsmarkt nicht in der Lage gewesen, die Absolventen von Universitäten und höheren Schulen aufzunehmen, und nun suchten zusätzlich tausende demobilisierte Offiziere nach einer „standesgemäßen“ Beschäftigung.<ref>De Grand: ''Italian Fascism'', S. 26 f.</ref> Für D’Annunzio und seine Förderer war der nationalistische Taumel um Fiume vor diesem Hintergrund kein Selbstzweck, sondern Teil einer „sorgfältig gelegten Pulverspur“.<ref>Lyttelton, ''Seizure'', S. 32.</ref> Die „Explosion“ sollte den „Demokraten“ Nitti zu Fall bringen: Dieser hatte im August 1919 das [[Verhältniswahlrecht]] eingeführt, die italienischen Interventionstruppen aus [[Sowjetrussland]] abgezogen, machte offenbar mit der während des Krieges versprochenen [[Bodenreform]] Ernst und wollte die im Sommer 1919 immer noch 1,5 Millionen Mann starke Armee rasch und weitgehend [[Demobilisierung|demobilisieren]]. Auch Nitti verstand D’Annunzios Aktion als Aufkündigung der üblichen Verkehrsformen liberaler Politik durch maßgebliche Teile des Bürgertums:<br />
<br />
{{Zitat|Italien ist auf dem Weg, zu einem großen [[Nicaragua]] zu werden. Und das aufgrund des Willens und der Tätigkeit jener Klassen, die den Anspruch erheben, das Sagen zu haben. Diese blöde und idiotische Bourgeoisie hat nicht den geringsten Sinn für die tödliche Gefahr, in der wir alle schweben, und arbeitet fröhlich daran, die Katastrophe zu beschleunigen.|ref=<ref>Nitti an Olindo Malagodi, 14. September 1919, zitiert nach Maier, ''Recasting'', S. 121.</ref>}}<br />
<br />
[[Datei:Fasci di combattimento.jpg|mini|Im Juni 1919 veröffentlichte Mussolinis Zeitung ''Il Popolo d’Italia'' das offizielle Programm der ''Fasci italiani di combattimento''. Es enthielt eine Reihe „linker“ Reformforderungen, hatte aber weder 1919 noch später irgendeine Bedeutung für die politische Praxis der Faschisten.]]<br />
Die radikale Rechte war 1919 noch zu fragmentiert, um die Politik in Rom zu diktieren. Auch die Reste der interventionistischen ''fasci'', die sich am 23. März 1919 auf Anregung Benito Mussolinis in [[Mailand]] als ''Fasci italiani di combattimento'' konstituiert hatten, erlangten zunächst keine besondere Bedeutung. Ihre im Frühjahr und Sommer 1919 entwickelte Programmatik war kein Ausdruck einer ausgereiften Ideologie, sondern von „Konfusion und Opportunismus“<ref name="Bosworth, Mussolini, S. 111"/> – die Mischung aus Antisozialismus, Reformforderungen und diffuser [[revolution]]ärer Rhetorik unterschied die Faschisten zwar marginal von der prononciert konservativen ANI, war aber nicht innovativ. Wenn es auch zu Beginn kein klares Programm gab, wofür die ''Fasci'' exakt stritten, so waren sich ihre Gründer umso stärker klar, wogegen sie waren. Nämlich sowohl gegen [[Woodrow Wilson|Wilson]] als auch [[Wladimir Iljitsch Lenin|Lenin]], da deren jeweilige Anhänger den italienischen Sieg im Krieg „verstümmelt“ hätten.<ref>{{Literatur |Autor=Ernst Nolte |Titel=Faschismus - Von Mussolini zu Hitler |Auflage=Erweiterte und aktualisierte Neuauflage |Verlag=Edition Antaios |Ort=Schnellroda |Datum=2003 |ISBN=3-935063-19-9 |Seiten=35}}</ref> Die Organisation zog bis zum Ende des Jahres 1919 nur knapp 900 organisierte Anhänger an, meist ehemalige Offiziere der [[Arditi (Sturmtruppen)|Arditi]], [[Futurismus|Futuristen]], Studenten und Vertreter verschiedener Spielarten des „linken“ Interventionismus. Diese Gruppen waren weder sozial noch politisch repräsentativ für die heimkehrenden Kriegsteilnehmer (''combattenti''), als deren Sprecher die ''fasci'' sich erfolglos zu inszenieren versuchten. Mussolini, der ehrgeizige Stichwortgeber der Organisation, sah noch bis weit in das Jahr 1920 in seiner Zeitung ''Il Popolo d’Italia'' und nicht in den zunächst stagnierenden ''fasci'' das Vehikel seines persönlichen Aufstiegs. Mindestens bis zum Herbst 1919 identifizierte die italienische Öffentlichkeit die Begriffe ''fascio'' (dt. in der wörtlichen Bedeutung „Bund“ bzw. „Bündel“), ''fascismo'' und ''fascisti'' allenfalls allgemein mit dem „patriotischen“ Spektrum (im weitesten Sinne mit dem außerparlamentarischen Anhang des ''Fascio parlamentare di difesa nazionale'' von 1917/18), aber noch nicht mit einer bestimmten politischen Organisation, einem spezifischen Inhalt oder Politikstil.<ref>Enzo Santarelli: ''Origini del fascismo 1911–1919'', Urbino 1963, S. 202 f.</ref><br />
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Ein besonderes Merkmal der Faschisten war von Anfang an, dass sie den Antisozialismus nicht nur rhetorisch vertraten, sondern – wie in Ansätzen schon während der interventionistischen Kampagne 1914/15 – handgreiflich und seit dem Frühjahr 1920 systematisch und militärähnlich organisiert auf die Straße trugen.<ref name="ReferenceB">Siehe Lyttelton, ''Seizure'', S. 52.</ref> Mitglieder des Mailänder ''fascio'' griffen bereits am 15. April 1919 eine sozialistische Demonstration an und verwüsteten anschließend Redaktion und Druckerei des sozialistischen Zentralorgans ''[[Avanti! (Zeitung)|Avanti!]]''. Seine politischen Führer Mussolini, [[Cesare Rossi (Politiker)|Cesare Rossi]], [[Giovanni Marinelli]], [[Michele Bianchi]] und Umberto Pasella ließen die ursprünglich vorhandenen antiklerikalen und republikanischen Bestandteile des faschistischen Programms bis zum Frühjahr 1920 fallen, da, so Mussolini, der Kampf gegen die Kirche und für die Republik zur Demokratie und diese zwangsläufig zum Kommunismus führen würde;<ref>Siehe Lyttelton, ''Seizure'', S. 47.</ref> viele ehemalige „Linksinterventionisten“ schieden in dieser Phase aus der Organisation aus. Übrig blieb zunächst vor allem der programmatische Antisozialismus,<ref>Bosworth, ''Mussolini'', S. 115.</ref> als dessen entschiedensten und kenntnisreichsten Vertreter sich Mussolini in seiner Zeitung unermüdlich herausstellte:<br />
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{{Zitat|Ich halte das Versprechen, das ich an jenem stürmischen Abend gab, an dem ich ausgeschlossen wurde, aufrecht: Ich sagte, dass ich unerbittlich sein würde, und in fünf Jahren habe ich der sogenannten italienischen, sogenannten sozialistischen Partei nicht einen Augenblick der Ruhe gegönnt.|ref=<ref>Zitiert nach Clark: ''Mussolini'', S. 41&nbsp;f.</ref>}}<br />
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==== Zusammenbruch der liberalen Hegemonie ====<br />
Die Parlamentswahl vom 16. November 1919, bei der erstmals alle erwachsenen Männer abstimmen konnten und das neue Verhältniswahlrecht galt, beseitigte mit einem Schlag die seit der Staatsgründung nie angefochtene liberale Mehrheit in der Abgeordnetenkammer.<ref>Siehe Maier, ''Recasting'', S. 128.</ref> Die beiden „modernen“ Massenparteien – der PSI und der erst im Januar 1919 gegründete katholische [[Partito Popolare Italiano (1919)|PPI]] – kamen zusammen auf 256 überwiegend in Nord- und Mittelitalien gewonnene Mandate, die verschiedenen liberalen Gruppen zusammen nur noch auf (je nach Zählung) 220 bzw. 252. Lediglich im Süden und auf den Inseln hatte die liberale Klientelpolitik, mit der Wahlen bislang „gemacht“ worden waren, noch funktioniert. Dieses Parlament, dessen Zusammensetzung die Wahl vom 5. Mai 1921 im Kern bestätigte, war in mehrfacher Hinsicht paralysiert. Eine Zusammenarbeit der Katholiken mit dem von den „Maximalisten“ geführten PSI war ausgeschlossen, und die schließlich versuchte Kooperation der Giolittianer mit dem PPI schwierig, da die dort zunächst tonangebende Strömung um [[Luigi Sturzo]] ein durchaus ambitioniertes, auch nach dem Geschmack Giolittis – der im Juni 1920 an die Spitze der Regierung zurückkehrte – entschieden zu „demokratisches“ Reformprogramm vertrat.<br />
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Die Wahl zeigte auch, dass die liberale, konservative und radikale Rechte unter den Bedingungen des allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrechts keine im nationalen Maßstab ins Gewicht fallende Wählerbasis besaß. In Mailand hatte die faschistische Liste, auf der neben Mussolini auch der Schriftsteller [[Filippo Tommaso Marinetti]] und der Dirigent [[Arturo Toscanini]] angetreten waren, lediglich 1,7 % der Stimmen erhalten. Die von einer [[Negative Mehrheit|negativen Mehrheit]] aus „Subversiven“ und „Neutralisten“ beherrschte Abgeordnetenkammer, bei deren Eröffnung die sozialistischen Abgeordneten in den Straßen Roms von Faschisten und Nationalisten angegriffen wurden, befeuerte den rechten Antiparlamentarismus und vermehrte in den folgenden Monaten stetig die Zahl der Liberalen, die bereit waren, eine Diktatur zu akzeptieren.<ref>Siehe Lyttelton, ''Seizure'', S. 35.</ref><br />
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Diese Rechtsentwicklung speiste sich im Kern allerdings nicht aus der „Furcht“ vor einer „italienischen [[Oktoberrevolution]]“ (weder Giolitti noch Mussolini rechneten im Ernst damit, dass die Führung des PSI einen Aufstandsversuch unternehmen würde), sondern aus einer das gesamte Bürgertum erfassenden Abwehrbewegung gegen den im Spätsommer und Herbst 1920 kulminierenden, unkontrollierten Einbruch der „Massen“ in politische und soziale Räume, die bisher Reservat der Eliten gewesen waren. In der Abgeordnetenkammer, bis zum November 1919 ein „vergrößerter liberaler Ortsverein“,<ref>Maier, ''Recasting'', S. 134.</ref> stellten nun die „Subversiven“ die stärkste Fraktion. Viele Industrielle sahen in den auf dem Verhandlungsweg beendeten Fabrikbesetzungen in der Metallindustrie im September 1920 eine nicht mehr akzeptable Einschränkung der freien Verfügung über das Privateigentum. Ähnliches galt für zahlreiche Großgrundbesitzer, als die Landarbeitergewerkschaft [[Federterra]] im Oktober 1920 nach einem sechsmonatigen Streik einen Tarifvertrag durchsetzte, der ihr in einigen Provinzen Norditaliens die Kontrolle über den Arbeitsmarkt sicherte; viele Agrarier waren nun zur „Selbsthilfe“ entschlossen. Bei den Kommunalwahlen im November 1920, dem Höhepunkt der „zwei roten Jahre“ (''biennio rosso''), gewannen die Sozialisten die Mehrheit in 2.162 Stadt- und Gemeinderäten, darunter in großen Städten wie [[Bologna]] und [[Livorno]]. Dieser Wahlerfolg war in vielerlei Hinsicht noch folgenreicher als jener bei der Parlamentswahl des Vorjahres; er verschaffte dem PSI erstmals eine für die traditionellen Herrschaftsbeziehungen in den Gemeinden bedrohliche, „wirkliche Macht“.<ref>Dahlia S. Elazar, ''The Making of Fascism. Class, State and Counter-Revolution, Italy 1919–1922'', Westport (Conn.)/London 2001, S. 58.</ref> Das zeitliche Zusammentreffen der Erschütterung der liberalen Hegemonie in den Gemeinden und des Durchbruchs des Faschismus zur Massenbewegung kann, so der Historiker Philip Morgan, in seiner Signifikanz „schwerlich überschätzt werden.“<ref>Morgan, ''Italian Fascism'', S. 22.</ref> Gegen die kommunalen Machtpositionen des PSI richtete sich der erste massive Schlag der Faschisten, die im Herbst 1920 allgemein „mit der bewaffneten terroristischen Reaktion gegen die sozialistische Partei und die Gewerkschaften identifiziert wurden.“<ref>Lyttelton, ''Seizure'', S. 53.</ref><br />
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==== Der ''squadrismo'' ====<br />
Bereits 1919 hatten einzelne ''fasci'' – teils spontan, teils angeregt vom Sekretär der Organisation, Umberto Pasella – begonnen, bewaffnete ''squadre'' aufzustellen. Dies stand offenbar im Zusammenhang mit den Planungen für einen nationalistischen Putsch während der Fiume-Krise.<ref name="ReferenceB"/> 1920 sandte Mussolini [[Francesco Giunta (Politiker)|Francesco Giunta]] nach [[Triest]], um dort einen ''fascio'' aufzubauen. ''Squadre'' der Triestiner Faschisten unternahmen im Frühjahr und Sommer 1920 erstmals im großen Stil so genannte „Strafexpeditionen“ (''spedizioni punitive''), die sich gegen Sozialisten, Gewerkschafter und die [[Slowenen|slowenische Minderheit]] richteten und die gesamte Grenzregion [[Julisch Venetien|Venezia Giulia]] erfassten. Dort wurde der Antisozialismus durch Nationalitätenkonflikte akzentuiert und brutalisiert, so dass sich der Faschismus noch vor seinem Durchbruch im übrigen Italien zu einer Massenbewegung mit mehreren tausend organisierten Anhängern entwickelte.<br />
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Nachdem bewaffnete Faschisten einen aufsehenerregenden Überfall auf die konstituierende Sitzung des sozialistischen Stadtrates im „roten“ Bologna durchgeführt hatten (21. November 1920), dehnte sich der ''squadrismo'' rasch aus – zunächst in der [[Emilia (Region)|Emilia]], der [[Romagna]], in [[Umbrien]], den [[Marken]] und der [[Toskana]] und bis zum Frühjahr 1921 auf große Teile Nord- und Mittelitaliens aus. Im Süden war der Faschismus vor 1922 nur in [[Apulien]] von Bedeutung. Die Mitgliederzahl der ''fasci'' vervielfachte sich von rund 20.000 Ende 1920 auf fast 250.000 ein Jahr später. Die militärisch organisierten „Strafexpeditionen“, an denen mitunter mehrere tausend Faschisten beteiligt waren, folgten einem rasch ritualisierten Drehbuch. Die betroffene Gemeinde wurde zunächst umzingelt, die ''piazza'' besetzt. Büros und Versammlungslokale der sozialistischen Partei, der Genossenschaften und der Gewerkschaften wurden verwüstet oder in Brand gesteckt. Führende „Rote“ wurden mit dem Schlagstock (''manganello'') verprügelt, und um sie zusätzlich zu demütigen, wurde ihnen häufig noch das abführend wirkende [[Rizinusöl]] eingeflößt. Sozialistische Bürgermeister und Gemeinderäte wurden für „abgesetzt“ erklärt, rote Fahnen heruntergerissen und durch die ''[[Flagge Italiens|tricolore]]'' ersetzt. Vor allem in den ländlichen Gebieten zerstörten die Faschisten auf diese Weise oft binnen weniger Stunden die in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Netzwerke der Sozialisten. Obwohl es nicht die Regel war, dass die Faschisten ihre Gegner gezielt und vorsätzlich töteten, kamen bei diesen Aktionen bis zum Oktober 1922 etwa 3.000 Menschen ums Leben. Meist flohen die führenden Sozialisten nach derartigen Angriffen in die größeren Städte, wodurch es den alten Eliten leichtfiel, die soziale Kontrolle über die Arbeiter und Bauern wiederzuerlangen. In einigen Provinzen, etwa in [[Provinz Ferrara|Ferrara]], wurden die Arbeiter nach der Zerschlagung der sozialistischen Gewerkschaften gezwungen, in faschistische einzutreten.<br />
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Die entscheidende, von den Faschisten konsequent ausgenutzte Schwäche der sozialistischen Bewegung war ihre dezentrale Organisation. Viele Arbeiter waren an eine über den lokalen Horizont hinausgehende politische Kommunikation und Koordination nicht gewöhnt oder verfügten nicht über die erforderlichen kulturellen und materiellen Ressourcen. Fast durchweg unbewaffnet, waren sie den überraschend auftauchenden, mobilen und paramilitärisch organisierten Faschisten nicht gewachsen. Auch der PSI war alles andere als eine straff geführte Kaderorganisation. Die sozialistischen Organisationen jeder einzelnen Provinz – und nicht selten jeder einzelnen Gemeinde – waren eine „Welt für sich und konnten einzeln angegriffen werden.“<ref>De Grand, ''Italian Fascism'', S. 28.</ref> Außerdem war die Partei durch heftige interne Fraktionskämpfe zwischen der reformistischen Rechten, der „maximalistischen“ Parteiführung und der radikalen Linken geschwächt. Letztere löste sich im Januar 1921 vom PSI und gründete die [[Partito Comunista Italiano|kommunistische Partei]]. Diese Konflikte hemmten auch die Entwicklung verspätet organisierter Selbstverteidigungsformationen wie der [[Arditi del Popolo]].<ref>Siehe Spriano, Paolo: ''Storia del Partito comunista italiano. Da Bordiga a Gramsci. Parte prima'', Turin 1967, S. 139–151.</ref> Der Erfolg der faschistischen Kampagne war daher nachhaltig. Die Zahl der Mitglieder des PSI sank von 216.000 (1920) auf 61.000 (1922), da zahlreiche Lokalorganisationen zerstört wurden und viele demoralisierte Mitglieder die Partei verließen. Die Mitgliederzahl der Landarbeitergewerkschaft Federterra, deren Organisationsnetzwerk die Faschisten in den Agrargebieten Norditaliens besonders heftig attackierten, sank von über 800.000 im Jahr 1920 auf etwa 300.000 im Sommer 1922. Während 1920 in der Landwirtschaft 14,1 Millionen Arbeitstage durch Streik verloren gingen, waren es bereits 1921 nur noch 407.000.<br />
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Es ist unstrittig, dass Industrielle, Bankiers und Großgrundbesitzer die faschistische Bewegung maßgeblich gefördert haben. Dies geschah durch großzügige Finanzierung oder durch Unterstützung anderer Art, wie etwa durch die Überlassung von Lastkraftwagen, die zum ritualisierten Erscheinungsbild der „Strafexpeditionen“ gehörten. In einigen Fällen wurden die ''fasci'' oder deren ''squadre'' von lokalen Vereinigungen von Industriellen oder Grundbesitzern überhaupt erst gegründet. Dabei setzten diese eigene Vertrauensleute als Führer ein.<ref>Siehe Morgan, ''Italian Fascism'', S. 36.</ref> Angesichts der Eindeutigkeit der Quellenlage gibt es kein italienisches Pendant zu der jahrzehntelang mit außerordentlicher Heftigkeit geführten Debatte über die [[Großindustrie und Aufstieg der NSDAP|Förderung der NSDAP durch deutsche Industrielle]]. Dieser Zusammenhang wurde schon von Zeitgenossen vielfach vermutet und mitunter nachgewiesen. So schrieb der Präfekt von Mailand, dem bedeutendsten Finanzplatz Italiens und Sitz der faschistischen Führung um Mussolini am 16. Mai 1921 an das Innenministerium:<br />
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: „Ich kann Ihnen berichten, dass die hiesigen Banken stets besonders großzügig mit ihren Subventionen für die faschistischen Organisationen waren, auch wenn es schwierig ist, die exakten Summen zu nennen, da solche Zahlungen direkt und persönlich von den Vorständen kommen und in Protokollen und Budgets nicht erwähnt werden. Es ist auch wahr, wie weithin angenommen wird, dass nicht nur die Banken, sondern auch Industrielle und Geschäftsleute die Organisationen der Faschisten finanzieren.“<ref>Zitiert nach Franzinelli, Mimmo, ''Squadrism'', in: Bosworth, ''Oxford Handbook of Fascism'', S.&nbsp;91–108, hier S. 95.</ref><br />
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Sozial rekrutierten sich die ''squadre'' mit wenigen Ausnahmen fast durchweg aus dem mittleren und kleinen Bürgertum; ihre Mitglieder motivierte vor allem die militante Auseinandersetzung mit den Sozialisten:<br />
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: „Die ''squadre'' waren Gruppen junger Männer vornehmlich bürgerlicher Herkunft, von denen viele im Krieg als Offiziere unterer Dienstgrade gedient hatten. Das waren Studenten und Oberschüler, Söhne von Freiberuflern, lokalen Händlern, Beamten und Grundbesitzern, die mit der antisozialistischen Dynamik des Faschismus sympathisierten. In einigen Gebieten, so in [[Florenz]], besaßen die ''squadre'' auch ein plebejisches Element; hier zogen sie die Herumtreiber und Kleinkriminellen der städtischen Unterwelt an (…). Sie sahen sich selbst als Armee, die auf dem Territorium des Gegners operiert und benahmen sich auch wie eine Besatzungstruppe, die eine feindselige Bevölkerung zu beherrschen und zu unterwerfen hat.“<ref>Morgan, ''Italian Fascism'', S. 50&nbsp;f.</ref><br />
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Weniger beachtet wird häufig, dass der liberale Staat und die ihn tragende politische Klasse zwischen 1920 und 1922 auf mehreren Ebenen mit den Faschisten kooperierte. Diese Zusammenarbeit reichte vom Überstellen entlassener Offiziere in die ''fasci'' und deren weiterer Besoldung über die Verschleppung und Niederschlagung von Strafverfahren gegen Faschisten bis zum Dorfpolizisten, der bei faschistischen Aktionen aus eigenem Antrieb oder auf Weisung von oben „ein Auge zudrückte“.<ref>Clark, ''Mussolini'', S. 48.</ref> Stellenweise gingen Faschisten, Polizei und Armee offen gemeinsam vor, so etwa Anfang März 1921 in Florenz, als es nach der Ermordung des örtlichen Vorsitzenden der kommunistischen Partei zu Unruhen in den Arbeitervierteln der Stadt kam.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy'', S. 140.</ref> Mitunter waren aktive Polizei- und Armeeoffiziere sowie in der Gemeinde oder der Provinz einflussreiche Liberale zugleich Mitglied eines ''fascio''.<ref>Siehe Morgan, ''Italian Fascism'', S. 41&nbsp;f.</ref> Die von der Regierung dekretierte Entlassung hunderter sozialistischer Stadt- und Gemeinderäte, die zuvor von den Faschisten „abgesetzt“ worden waren, honorierte die faschistische Gewalt offiziell. Die von den Präfekten eingesetzten kommissarischen Verwalter waren häufig selbst Faschisten oder sympathisierten mit ihnen.<ref>Siehe Morgan, ''Italian Fascism'', S. 56.</ref> Die Kooperation, zumindest aber die Passivität von Polizei und Justiz war für viele Faschisten die stillschweigende Voraussetzung ihrer Aktivität; als sich am 21. Juli 1921 in [[Sarzana]] auf Anweisung eines Offiziers einige [[Carabinieri]] einer faschistischen „Strafexpedition“ entgegenstellten, führte das zum fluchtartigen Rückzug der überraschten, daraufhin auch von den Einwohnern mit Knüppeln und Mistgabeln attackierten Squadristen und zu einer schweren Krise der gesamten Bewegung. Der politische Ausdruck der Zusammenarbeit von Faschisten und Liberalen war die Integration der Faschisten in den ''blocco nazionale'', den von Giolitti für die Parlamentswahl im Mai 1921 formierten bürgerlichen Wahlblock; die einschüchternde Präsenz der Faschisten in den Wahllokalen vieler norditalienischer Dörfer und Kleinstädte, die 1919 noch mehrheitlich sozialistisch gewählt hatten, machte bereits diese Wahl in Teilen zur Farce.<ref>Siehe Morgan, ''Italian Fascism'', S. 41.</ref><br />
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Die erste Welle des ''squadrismo'' in den Jahren 1920 und 1921 führte zum politischen Durchbruch der faschistischen Bewegung und machte ihren Führer Mussolini zu einer nationalen politischen Figur. Auch viele der später prominenten Faschisten schufen sich als Führer des Squadrismus eine eigene regionale Machtbasis: [[Dino Grandi]] und der ehemalige Anarchist [[Leandro Arpinati]] in Bologna, [[Italo Balbo]] in [[Ferrara]], [[Roberto Farinacci]] in [[Cremona]], [[Renato Ricci]] in [[Carrara]], [[Dino Perrone Compagni]] in Florenz, [[Achille Starace]] im [[Trentino]] usw. Auch in der politischen Symbolik und Mythologie des faschistischen Regimes spielte er eine zentrale Rolle. Dabei verschwanden „die erbärmlichen Tatsachen hinter dem ''squadrismo'', das polizeiliche Gewährenlassen und die Gelder der Industriellen und Agrarier“,<ref>Lyttelton, ''Seizure'', S. 54.</ref> hinter der Erzählung von der „Rettung Italiens“ durch Mussolini.<br />
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==== Krise der Bewegung und Gründung des PNF ====<br />
In der explosionsartig angewachsenen faschistischen Bewegung bauten sich nach der Wahl vom Mai 1921 innerhalb weniger Monate erhebliche Spannungen auf. Die von Mussolini vertretenen dominierenden Kräfte in der Mailänder Führungsgruppe und in der 35-köpfigen Fraktion in der Abgeordnetenkammer waren durchaus bereit, den faschistischen Einfluss langfristig weiter in dem durch den ''blocco nazionale'' gesetzten Rahmen auszubauen. Sie sahen sich perspektivisch als Teil eines „nationalen“ Machtkartells, das – zumindest in der Vorstellungswelt Mussolinis – auch den rechten Rand der Sozialisten bzw. die reformistischen Gewerkschaftsführer einbinden sollte. Diese Richtung bereitete die Gründung einer „normalen“ Partei vor und empfand die ihrem unmittelbaren Einfluss weitgehend entzogene squadristische Gewalt nun eher als Belastung: Am 2. Juli 1921 erklärte Mussolini in ''Il Popolo d’Italia'', dass in Italien keine „bolschewistische Gefahr“ – mit der das Vorgehen gegen den PSI und die Gewerkschaften gerechtfertigt worden war – mehr existiere. Eine einflussreiche Gruppe faschistischer Extremisten lehnte diesen Kurs jedoch ab. Diese selbsterklärten „Revolutionäre“ – „in praktischen Begriffen auf der extremen Rechten, theoretisch auf der Linken der Bewegung“<ref>Lyttelton, ''Seizure'', S. 74.</ref> –, als deren Sprecher vor allem Dino Grandi und Italo Balbo auftraten, waren besonders eng mit dem großagrarischen Konservatismus in Nord- und Mittelitalien verbunden; sie hielten eine völlige und dauerhafte Zerstörung der Arbeiterbewegung für möglich, lehnten Kompromisse mit den Giolittianern ab und forderten offen eine „nationale“ Diktatur. Sie hatten häufig bereits damit begonnen, in ihren Einflussgebieten Arbeiter in faschistische Syndikate zu pressen, die ohne die Stütze der faschistischen Gewalt sofort wieder zerfallen wären.<ref>Siehe Morgan, ''Italian Fascism'', S. 44f.</ref><br />
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Als Mussolini die Verunsicherung nach den Ereignissen von Sarzana auszunutzen versuchte, um in dieser Frage eine Entscheidung herbeizuführen, brach der Konflikt im August 1921 offen aus. Der von dem neuen Ministerpräsidenten [[Ivanoe Bonomi]] vermittelte und von Mussolini gebilligte „Befriedungspakt“ (''patto di pacificazione'') mit den Sozialisten wurde von fast allen wichtigen Führern des Faschismus in den Provinzen abgelehnt. Nachdem eine Konferenz der ''fasci'' der [[Po-Ebene]] in Bologna den Pakt verworfen hatte, erklärte Mussolini am 18. August 1921 seinen Rückzug aus dem Zentralkomitee der ''Fasci di combattimento'' – ein berechnetes Manöver, das seine intendierte Wirkung jedoch zunächst verfehlte und ihn beinahe ins politische Aus befördert hätte. Balbo, Grandi und der [[Venedig|venezianische]] Faschistenführer [[Pietro Marsich]] suchten im August zunächst die Verbindung mit Gabriele D’Annunzio, der aber nicht bereit war, sich an die Spitze der Faschisten zu stellen. Die Krise wurde erst durch einen Ausgleich der Interessen auf dem dritten Kongress der ''Fasci di combattimento'' in Rom beigelegt (7. bis 10. November 1921), wo am 9. November 1921 der ''[[Nationale Faschistische Partei|Partito Nazionale Fascista]]'' (PNF) gegründet wurde.<br />
<br />
Mussolini setzte seine Ziele mit der Gründung der Partei nur teilweise durch. Die ''squadre'' wurden zwar reorganisiert, aber nicht aufgelöst, der „Befriedungspakt“ wurde offiziell aufgekündigt. Der Einfluss des ''Duce'' hatte weiterhin klare Grenzen: „Mindestens die Hälfte der Parteiführung bestand aus leitenden Squadristen, und die einfachen Parteimitglieder standen für gewöhnlich loyal zu ihrem lokalen Boss, aber nicht zu Mussolini.“<ref>Clark, Mussolini, S. 54.</ref> Die Führung des PNF hatte zwar das Recht, für die Gesamtpartei verbindliche politische Positionen zu formulieren, aber offiziell keine Möglichkeit, die Personalauswahl unterhalb der nationalen Ebene zu steuern. Die mächtigen Provinzsekretäre sollten nach dem Statut von 1921 von Delegiertenversammlungen der Provinzen gewählt werden, wodurch die Zersplitterung der faschistischen Bewegung in eine Vielzahl kleiner, sich gegeneinander und gegen die Zentrale abschottender provinzieller Machtzentren fixiert wurde. Dieses „demokratische“ Element führte 1921/22 dazu, dass sich überwiegend die führenden Squadristen die ausschlaggebenden Posten sicherten. Auch das Statut von 1926, das die Wahlämter abschaffte und die Einsetzung des ''segretario federale'' durch die Zentrale vorsah, änderte an der Fragmentierung der Parteistruktur nichts.<br />
<br />
Programmatisch besiegelte die Parteigründung den Bruch mit allen noch übrigen Elementen „linker“ Reformpolitik aus der Anfangszeit des Faschismus. Als leitende Grundsätze proklamierte der PNF „Ordnung, Disziplin, Hierarchie“. Die Partei bekannte sich in „produktivistischen“ Formeln zum Privateigentum und zu ökonomischer „Effizienz“, forderte eine Senkung der Staatsausgaben, die Privatisierung öffentlicher Betriebe und eine die Unternehmer begünstigende Steuerreform. Dieser Marktliberalismus war an ein Bekenntnis zur Nation als „höchster Synthese aller materiellen und immateriellen Werte“ und zum autoritären, von einer technokratischen Elite geführten Staat als „rechtlicher Inkarnation der Nation“ gekoppelt, das für demokratische Organisation und Partizipation keinen Raum mehr ließ. Ein programmatischer Artikel Mussolinis in der nach dem Parteitag gegründeten Zeitschrift ''Gerarchia'' („Hierarchie“) stellte den Faschismus wenig später explizit in eine [[Reaktion (Politik)|reaktionäre]] Traditionslinie des Kampfes gegen die „[[Französische Revolution|Prinzipien von 1789]]“.<ref>Siehe Lyttelton, ''Seizure'', S. 75.</ref><br />
<br />
Zum Zeitpunkt der Gründung der faschistischen Partei war die Mehrzahl ihrer etwa 220.000 Mitglieder männlich, relativ jung (etwa ein Viertel hatte das Wahlalter noch nicht erreicht) und bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher Herkunft – nach Richard Bosworth „die faschistischen Söhne liberaler Väter“.<ref>Bosworth, ''Mussolini’s Italy'', S. 152.</ref> Der Anteil von Industrie- und Landarbeitern soll nach einer von Umberto Pasella veranlassten Untersuchung im Herbst 1921 bei etwa 40 % gelegen haben. Er sank allerdings bis zum Ende der 20er Jahre auf etwa 15 %.<ref>Siehe Bosworth, ''Mussolini’s Italy'', S. 234.</ref> Die Fluktuation in der Partei war hoch, schon 1922 schied etwa die Hälfte der Gründungsmitglieder wieder aus.<br />
<br />
Als wesentlich für die Geschichte des faschistischen Regimes erwies sich, dass die Partei für zahlreiche Mitglieder von Anfang an nicht nur ein politisches Instrument, sondern in vielleicht noch höherem Maße auch eine Quelle von Einkommen und Status war. Bereits vor der Machtübernahme unterhielt der PNF einen beachtlichen Apparat besoldeter Funktionäre, der einen großen Teil der Parteifinanzen – die sich wenige Monate nach der Parteigründung überwiegend aus einzelnen Großspenden von Banken und Industriellen, aber nur zu etwa 40 % aus Mitgliedsbeiträgen und kleineren Spenden speisten<ref>Siehe Payne, ''Geschichte'', S. 141.</ref> – aufzehrte. In diesem Umfeld blühten spätestens nach der Machtübernahme Nepotismus und Korruption, die sowohl für kleine Funktionäre und Amtsträger vor Ort als auch für prominente Führer der Partei eher die Regel als die Ausnahme waren: „Italo Balbo, Anfang 1921 ein mittelloser Ex-Student, war 1924 ein reicher Mann.“<ref>Paul Corner: ''The Fascist Party and Popular Opinion in Mussolini’s Italy'', Oxford 2012, S. 156.</ref> Ganze Provinzorganisationen ähnelten trotz gelegentlicher Inspektionen von außen spätestens in den 30er Jahren einer „dubiosen Geschäften und dem Profit gewidmeten ''camorra''“.<ref>Untersuchungsbericht über die Provinzföderation von Parma aus dem Jahr 1931, zitiert nach Corner, ''Fascist Party and Popular Opinion'', S. 157.</ref> Die endlosen und lähmenden Fraktions- und Cliquenkämpfe, die sich, von Mussolini mehr oder weniger energisch moderiert, nach 1922 auf lokaler Ebene abspielten, waren – obwohl regelmäßig auf dem Boden der offiziösen Ideologie ausgetragen – im Kern sehr häufig Auseinandersetzungen um Posten, Status und Geld: „Der Kampf um persönliche Positionen wurde wichtiger als die Kommunikation von Ideologie.“<ref>Corner, ''Fascist Party and Popular Opinion'', S. 161. Exemplarisch zu Roberto Farinacci Bosworth, Mussolini’s Italy, S. 129.</ref> Das war eine schon unmittelbar nach der Gründung erkennbare Ursache für die „überraschend dysfunktionale Parteiorganisation“<ref>Corner, ''Fascist Party and Popular Opinion'', S. 124.</ref> und erklärt zum Teil, warum der PNF nach dem [[Sturz Mussolinis]] am 25. Juli 1943 einfach zerfiel.<br />
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=== Aufbau ===<br />
Mussolini wurde, als er 1922 beim ''[[Marsch auf Rom]]'' mit einem [[Putsch]] drohte, von König [[Viktor Emanuel III.]] zum [[Ministerpräsident]]en ernannt.<br />
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=== Führerkult ===<br />
[[Datei:Flag of Mussolini as Capo del governo of Fascist Italy.svg|miniatur|Mussolinis [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|persönliche Flagge]] mit römischem Liktorenbündel]]<br />
[[Datei:La Domenica del Corriere (2 Oct 1938).jpg|mini|Propagandistische Darstellung [[Benito Mussolini]]s auf der Titelseite der Zeitung ''La Domenica del Corriere'' (1938)]]<br />
In den Jahren 1924 und 1925 brachen die internen Machtkämpfe offen aus. Mussolini reagierte darauf, indem er zunehmend nicht mehr nur als Anführer der Bewegung, sondern als ''Duce'' („[[Führer]]“) ganz Italiens auftrat. 1925 stellten die „Extremisten“ für kurze Zeit den Generalsekretär der faschistischen Partei und setzten getreu ihrer Kader-Idee Aufnahmebeschränkungen durch. Schließlich versuchten sie Ende 1925, einen Streik zu organisieren, der sich auch gegen Mussolini wandte.<br /><br />
Nach dessen Scheitern wurden parteiinterne Wahlen abgeschafft und die „Extremisten“ aus wichtigen Positionen entfernt. In den folgenden Jahren scheiterten mehrere Versuche, die alten Eliten sowie Offiziere in die Partei zu integrieren. Der Zulauf kam vor allem aus der Beamtenschaft. Eine Dominanz über alle gesellschaftlichen Bereiche wie die [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]] in Deutschland erreichte die faschistische Partei Italiens daher nie.<br />
<br />
1925 verbot Mussolini die Sozialistische Partei und [[Antifaschismus|antifaschistische]] Organisationen und schuf mit seinem Führerkult – dem ''mussolinismo'' – ein Modell für andere faschistische Diktaturen. Der Duce präsentierte sich als Mann des Volkes: Arbeiter, Vater, Sportler, Frauenheld, Soldat, mit Uniform und martialischem Auftreten. Der Großmachtanspruch des antiken [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] blieb leitende Idee des italienischen Faschismus und führte namentlich zum [[Abessinienkrieg|Überfall auf Äthiopien]] 1935. Ab 1938 verfolgte der Faschismus auch offiziell eine [[Judenfeindlichkeit|antisemitische]] Politik, die auch aus eigenem Antrieb entstand, und nicht nur auf deutschen Druck.<br />
<br />
=== Imperialismus ===<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1939.png|mini|hochkant=1.5|Das faschistische Italien mit seinem Kolonialreich in Europa und Afrika (1939)]]<br />
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Die Politik des Faschismus zielte darauf ab, Italien als Großmacht zu etablieren. Dazu gehörten symbolische Aktionen zur Unterstreichung der [[Hegemonie]] (im Sinne [[Antonio Gramsci]]s)<ref>[[Arnd Krüger]]: ''Sport im faschistischen Italien (1922–1933)'', in: G. Spitzer, D. Schmidt (Hrsg.): ''Sport zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung.'' Festschrift für Prof. Dr. [[Hajo Bernett]]. P. Wegener, Bonn 1986, S. 213–226; Felice Fabrizio: ''Sport e fascismo. La politica sportiva del regime, 1924–1936.'' Guaraldi, Rimini 1976</ref> ebenso wie die Demonstration der Stärke unter anderem mit der Einverleibung weiterer Gebiete an der Adriaküste im Zeichen des [[Italienischer Irredentismus|Irredentismus]]. Nachdem eine italienische Kommission, die im griechisch-albanischen Grenzgebiet Grenzstreitigkeiten schlichten sollte, ermordet worden war, ließ Mussolini der griechischen Regierung ein Ultimatum übersenden. Als dieses nicht sofort erfüllt wurde, wurde die Insel Korfu mitten im Frieden beschossen und mehrere Wochen durch italienische Truppen besetzt ([[Korfu-Zwischenfall]]). Der [[Vertrag von Rom (1924)]] besiegelte die Annexion der Stadt [[Rijeka|Fiume]] an das Königreich, nachdem der [[Grenzvertrag von Rapallo]] bereits 1920 den Dazugewinn von Zara bedeutet hatte.<br />
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Vor allem aber sollte sich Italien als die bestimmende Macht im Mittelmeerraum ([[Mittelmeer|Mare Nostrum]]) etablieren und sich als Kolonialmacht behaupten. Bereits 1924 wurde Italien das [[Jubaland]] zugeschlagen, um es dafür zu entschädigen, dass es an der Aufteilung des deutschen Kolonialbesitzes nicht beteiligt worden war. Infolge des – mit äußerst brutalen Mitteln geführten – [[Abessinienkrieg]]es konnte bis zum 9. Mai 1936 ganz [[Kaiserreich Abessinien|Abessinien]] erobert werden.<br />
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1939 ging Italien das als „[[Stahlpakt]]“ bezeichnete Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich ein. Mussolini proklamierte am 1. September 1939 die „Nichtkriegführung“ (non belligeranza) Italiens; das angekündigte „entscheidende Gewicht“ (peso determinante) seines Landes warf er aber schon im Juni 1940 in den Kampf, als England und Frankreich [[Italiens Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien|der Krieg erklärt wurde]].<br />
[[Datei:Italian Fascist Empire.png|mini|Königreich Italien mit bis 1939 eroberten Ländern und Kolonien (dunkelgrün); eroberten Gebieten während des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]]s (grün) und sonstigen Expansionsplänen (hellgrün)]]<br />
Als Kriegsziel wurde abermals die Schaffung eines italienischen Imperiums erklärt. Italien würde sein Territorium auf [[Nizza]], [[Korsika]], [[Malta]], die gesamte Küste [[Dalmatien]]s mitsamt [[Albanien]], [[Kreta]] und weitere griechische Inseln ausweiten. Zu den bisherigen Kolonien würden [[Tunesien]], [[Ägypten]] (mit Sinai-Halbinsel), [[Sudan]] und Teile [[Kenia]]s hinzukommen, um eine Landverbindung von [[Libyen]] nach [[Äthiopien]] sicherzustellen. Auch die Territorien von [[Britisch-Somaliland|Britisch-]] und [[Französisches Afar- und Issa-Territorium|Französisch-Somaliland]] sowie Teile [[Französisch-Äquatorialafrika]]s sollten somit in Besitz genommen werden, mit der Türkei und arabischen Staaten Vereinbarungen über Einflusszonen getroffen werden. Zudem sollten die strategisch wichtigen Stützpunkte [[Aden]] und [[Perim]] unter italienische Kontrolle gelangen.<br />
<br />
Die italienischen Operationen waren jedoch nicht erfolgreich: Der Angriff gegen das bereits geschlagene Frankreich blieb in den Alpen stecken; die Offensive gegen die Briten in Nordafrika Ende 1940 und der Feldzug gegen Griechenland scheiterten und konnten nur durch das Eingreifen der deutschen Wehrmacht überdeckt werden. Die neuere Forschung schreibt die desaströsen Ergebnisse vor allem dilettantischer strategischer Planung und maßloser Selbstüberschätzung insbesondere des „Duce“ selbst zu.<br />
1941 nahm ein italienisches Expeditionskorps am [[Unternehmen Barbarossa|deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion]] teil. Gleichzeitig erreichte die Ausdehnung Italiens und seiner kolonialen Besitztümer auch dank deutscher Unterstützung ihren Höhepunkt. Bald darauf scheiterte die letzte deutsch-italienische Offensive in Nordafrika. Die Kette der Niederlagen für das faschistische Regime setzte sich nun fort: Nach der Kapitulation der Achsentruppen in Tunesien im Mai 1943 eroberten Amerikaner und Briten die Inseln Lampedusa und Pantelleria und landeten im Juli 1943 in der [[Operation Husky]] auf [[Sizilien]]. Der Traum eines italienischen Imperiums war zerplatzt.<br />
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=== Judenverfolgung ===<br />
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch in Italien der [[Judenfeindlichkeit|Antisemitismus]], an dem auch die katholische Kirche beteiligt war ([[Antijudaismus]]), neu entfacht. Die Stellung der italienischen Juden war während dieses Zeitraumes jedoch als vergleichsweise günstig zu betrachten. Die Trägerschichten des [[Risorgimento]] vertraten vor allem liberale Werte, aus denen die Gleichstellung aller Bürger –&nbsp;somit auch der Juden&nbsp;– hervorging. Bei der Ausrufung des Königreichs Italiens im Jahr 1861 musste zudem nicht auf Interessen der katholischen Kirche geachtet werden, die sich der nationalen Einigung generell widersetzte. Die italienischen Juden, vor allem in den Metropolen Nord- und Mittelitaliens ansässig, bildeten dort größtenteils eine urbane, bürgerliche Schicht mit einem vergleichsweise hohen Bildungsniveau. So rückten sie nach der Jahrhundertwende und der Zeit des [[Fin de Siècle]] zeitweise als Symbol der Moderne und deren Auswüchse in den Fokus. Auch im Umfeld des [[Italienisch-Türkischer Krieg|Italienisch-Türkischen Krieges]] wurde die Loyalität der italienischen Juden im erstarkenden Lager der Nationalisten angezweifelt. Im Unterschied zum [[Deutsches Reich|Deutschen Reich]] jedoch fanden derlei Ressentiments keinen Weg in die politische Führungsschicht des Landes, die nach wie vor liberal ausgerichtet war.<ref>Thomas Schlemmer, Hans Woller: ''Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945.'' In: [[Karl Dietrich Bracher]], Hans-Peter Schwarz, [[Horst Möller]] (Hrsg.): In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]]'', Jg. 53, 2005, Heft 2, S. 164–201, [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2005_2.pdf ifz-muenchen.de] (PDF; 7,8&nbsp;MB).</ref><br />
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Nach der Machtergreifung durch die Faschisten im Jahr 1922 konnten die italienischen [[Juden]] ihre gesellschaftliche Stellung halten. Ihnen war es auch nicht verwehrt, dem [[Partito Nazionale Fascista]] beizutreten: Etwa zweihundert Juden waren schon beim [[Marsch auf Rom]] dabei. Einige von ihnen brachten es zu hohen Ämtern in der Partei, so [[Aldo Finzi]], der 1942 aus der Partei ausgeschlossen wurde, sich der Resistenza anschloss und beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] ermordet wurde, oder [[Guido Jung]], italienischer Finanzminister von 1932 bis 1935.<br />
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Öffentlich äußerte sich Mussolini zu Rassentheorien und Antisemitismus sehr kritisch. Eine seiner Geliebten, [[Margherita Sarfatti]], war selber Jüdin. Vor einer Versammlung ausländischer Journalisten erklärte Mussolini im November 1927:<br />
{{Zitat|Faschismus bedeutet Einigkeit, Antisemitismus dagegen Destruktion. Faschistischer Antisemitismus oder antisemitischer Faschismus sind deshalb eine krasse Absurdität. Wir in Italien finden es höchst lächerlich, wenn wir hören, wie die Antisemiten in Deutschland durch den Faschismus an die Macht kommen wollen. Auch von anderen Ländern kommt zu uns die Nachricht, daß ein antisemitisch gefärbter Faschismus Boden zu gewinnen sucht. Wir protestieren energisch dagegen, daß der Faschismus auf diese Weise kompromittiert wird. Der Antisemitismus ist ein Produkt der Barbarei, während der Faschismus auf der höchsten Zivilisationsstufe steht und dem Antisemitismus diametral entgegengesetzt ist.}}<br />
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[[Datei:Difesa della Razza.jpg|mini|Darstellung zum Rassengesetz erschienen in [[La difesa della razza]], November 1938]]<br />
An diesem Standpunkt habe Mussolini konsequent festgehalten, schreibt [[Hugo Valentin (Historiker)|Hugo Valentin]] im Jahr 1937.<ref>Hugo Valentin: ''Antisemitenspiegel: der Antisemitismus: Geschichte, Kritik, Soziologie''. Wien 1937, S. 72.</ref> Aber schon zu Beginn der 1930er Jahre wurden erste Anzeichen eines staatlich verordneten Antisemitismus auch in Italien sichtbar.<ref>Brunello Mantelli: ''Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. Über die tiefen kulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und anderswo''. In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960'' (=&nbsp;Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien 52). Oldenbourg, München 2005, S. 207.</ref> Das Gesetz über die israelitischen Gemeinschaften (''Legge Falco'') brachte nicht nur die Reorganisation der Kultusgemeinschaften mit sich, sondern auch eine verstärkte Kontrolle und Einmischung durch den Staat. Unter anderem sollte der Anteil an jüdischen Führungskräften dadurch beschränkt werden. Dies hinderte Italien vorerst aber nicht daran, aus dem Deutschen Reich geflüchtete Juden aufzunehmen bzw. ihre Weiterreise nach Palästina zu ermöglichen.<br />
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Nach [[Adolf Hitler]]s [[Machtergreifung|Machtübernahme]] in Deutschland nahm Italien zahlreiche [[Geschichte der Juden in Deutschland|Juden aus Deutschland]] auf, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten.<ref>[[Ulrich Wyrwa]]: ''Italien''. In: [[Wolfgang Benz]] (Hrsg.): ''[[Handbuch des Antisemitismus]].'' Band 1: ''Länder und Regionen''. De Gruyter Saur, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-023510-4, S. 170 (abgerufen über [[Verlag Walter de Gruyter|De Gruyter]] Online).</ref> Es kam aber auch in Italien zu einer Reihe antijüdischer Publikationen. Faschistische Zeitschriften wie ''Il Tevere, Giornalissimo, Quadrivio'' zeichneten sich durch ihren radikalen Antisemitismus aus. Die 2009 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1932–38 seiner Geliebten [[Clara Petacci]] zeigen einen Mussolini, der sich privat sehr antisemitisch äußerte.<ref>[https://www.welt.de/kultur/article5257543/Diktator-Mussolini-liess-beim-Sex-die-Stiefel-an.html ''Tagebücher der Geliebten.''] In: ''[[Welt Online]]'', 19. November 2009, abgerufen am 27. November 2009.</ref> Im Vorfeld des [[Abessinienkrieg]]es kam es zu einem weiteren Erstarken des Rassismus. Den Wendepunkt in der Judenpolitik des faschistischen Regimes brachte schließlich das Jahr 1938. Auf Wunsch Mussolinis setzten Wissenschaftler um Guido Landra das [[Manifest der rassistischen Wissenschaftler]] (''Manifesto della razza'') auf, das in den [[Italienische Rassengesetze|italienischen Rassengesetzen]] (''leggi razziali'') gipfelte. Die Juden wurden als außereuropäische, unitalienische und deshalb nicht assimilierbare Bevölkerung definiert.<ref>Zitat aus dem ''Manifesto della razza ariana'' (veröffentlicht in der Tageszeitung "Il giornale d’Italia" vom 14. Juli 1938): ''Gli ebrei rappresentano l’unica popolazione che non si è mai assimilata in Italia perchè essa è costituita da elementi razziali non europei, diversi in modo assoluto dagli elementi che hanno dato origine agli Italiani.'' ([http://www.edurete.org/pd/sele_art.asp?ida=3198 online])</ref><br />
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Die Juden in Italien (39.000 Staatsbürger und 11.200 Ausländer) wurden fortan registriert und ausgegrenzt. Im September 1938 wurden jüdische Schüler und Lehrer aus den staatlichen Schulen ausgeschlossen, ab Herbst 1939 häuften sich physische Übergriffe auf Juden, von Mai 1942 an waren alle erwachsenen Juden unter 56 Jahren zu [[Zwangsarbeit]] verpflichtet, 1943 wurden sie in Lagern interniert.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Italien''. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): ''Handbuch des Antisemitismus.'' Band 1: ''Länder und Regionen''. De Gruyter Saur, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-023510-4, S. 171 (abgerufen über [[Verlag Walter de Gruyter|De Gruyter]] Online).</ref> Als Mussolini im Juli 1943 gestürzt wurde, gab es kaum einen Beruf mehr, den Juden legal ausüben durften. Ab September 1943 wurden in der [[Italienische Sozialrepublik|Italienischen Sozialrepublik]] die Juden enteignet, in [[italienische Konzentrationslager]] eingewiesen und dann über Durchgangslager in die deutschen [[Vernichtungslager]] im Osten [[Deportation#Deportationen während des Nationalsozialismus|deportiert]]. Dabei arbeiteten deutsche und italienische Behörden eng zusammen. Es blieb aber kein Einzelfall, dass sich italienische Militärkommandanten weigerten, an den antijüdischen Aktionen der nationalsozialistischen Truppen teilzunehmen.<ref>{{Der Spiegel|ID=65414139|Titel=Der dunkle Kontinent|Autor=Georg Bönisch/Jan Friedmann/Cordula Meyer/Michael Sontheimer/[[Klaus Wiegrefe]]|Jahr=2009|Nr=21|Datum=2009-05-18|Seiten=82–92}}</ref><br />
<br />
Insgesamt wurden etwa 9.000 Juden unter der Herrschaft des Faschismus in deutsche Konzentrationslager deportiert und getötet.<ref>Carlo Moos: ''Ausgrenzung, Internierung, Deportationen, Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945)''. Chronos Verlag, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0641-1.</ref><br />
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{{Siehe auch|Italienisches Judentum während des Faschismus (1922–1945)}}<br />
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=== {{Anker|Ende des Faschismus in Italien}}Absetzung Mussolinis, deutsche Besetzung Italiens und alliierter Sieg ===<br />
Unter dem Eindruck der verheerenden Niederlagen 1942 und 1943 wurde Mussolini 1943 vom [[Großer Faschistischer Rat|Großen Faschistischen Rat]], dem faschistischen Exekutivorgan, abgesetzt. Diese Absetzung erfolgte systemkonform mit einfachem Mehrheitsbeschluss, da der Rat die höchste Instanz des faschistischen Staates war. Mussolini wurde inhaftiert. König [[Viktor Emanuel III.]] übernahm den Oberbefehl über die Streitkräfte und beauftragte Marschall [[Pietro Badoglio]], eine Militärregierung zu bilden. Dieser erklärte die faschistische Partei und ihre Gliederungen per Gesetz für aufgelöst.<br />
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[[Datei:Monte Cassino.jpg|mini|Nur Ruinen blieben nach der [[Schlacht um Monte Cassino]], bei der im Mai 1944 32.000 Soldaten fielen]]<br />
Das Deutsche Reich versuchte darauf, die Schwarzhemden in Italien wieder an die Macht zu bringen. Am 10. September begann mit dem sogenannten [[Fall Achse]] die [[deutsche Besetzung Italiens]]. Am 12. September 1943 befreiten deutsche Fallschirmjäger im „[[Unternehmen Eiche]]“ mit Lastenseglern den auf dem [[Gran Sasso d’Italia|Gran Sasso]] von königstreuen italienischen Truppen gefangengehaltenen ''Duce'' Mussolini. Deutschland errichtete im nordöstlichen Teil Italiens eine Marionettenregierung unter Mussolini, die [[Italienische Sozialrepublik]] („Republik von Salò“), die am Gardasee residierte. Diese Parallel-Regierung blieb mit Deutschland verbündet, erklärte ihrerseits dem von den [[Alliierte Invasion in Italien|Alliierten besetzten Teil]] Italiens den Krieg und bekämpfte in Mittel- und Norditalien alle Personen und Institutionen, einschließlich [[Partisan]]en, die mit der [[Regierung Badoglio]] sympathisierten und die Besetzung Italiens durch Hitlerdeutschland ablehnten (siehe ''[[Resistenza]]'').<br />
<br />
In den folgenden knapp zwei Jahren war vor allem [[Mittelitalien]] von den schweren Kämpfen entlang der nur langsam vorrückenden Front – Befreiung Roms am 4. Juni 1944 – lokal zwar unterschiedlich betroffen, aber in vielen Gegenden richteten die Kämpfe heftige Verwüstungen an. Viele [[deutsche Kriegsverbrechen in Italien]] in diesen Monaten sind belegt. Kommunistische, sozialistische, katholische und liberale Partisanen der Resistenza kämpften dort gegen deren Truppen und mit ihnen verbündete Italiener. Später wurde dieser Kampf vom Gros der Italiener als „nationaler Befreiungskrieg“ empfunden. Daneben hat sich auch der aus der ursprünglich neofaschistischen Geschichtsschreibung stammende Begriff des „Bürgerkriegs“ etabliert, der in Italien kontrovers diskutiert wird.<br />
<br />
Ende April 1945 wurde Mussolini von kommunistischen Partisanen gefangen genommen und am 28. April in [[Mezzegra]] am [[Comer See]] [[Standrechtliche Erschießung|standrechtlich erschossen]].<br />
<br />
Am 29. April 1945 [[Bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht|kapitulierten die deutschen Streitkräfte bedingungslos]].<br />
<br />
== Gesellschaftliche Verarbeitung ==<br />
Nach Kriegsende wurde in Italien die Zeit des Faschismus – die Beseitigung demokratischer Strukturen, die Zusammenarbeit mit den deutschen Nationalsozialisten und die aktive Beteiligung an der Vertreibung und Ermordung von einem Viertel der italienischen Juden – vollkommen anders rezipiert und verarbeitet als in Deutschland. Vor allem der Vergleich mit dem deutschen Nationalsozialismus überdeckte im kollektiven Gedächtnis die eigene Beteiligung an antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen. Teilweise trugen sogar italienische Juden das Narrativ des anständigen Italieners mit und fügten ihre eigenen Erlebnisse in dieses ein.<ref>{{Internetquelle |url=https://mimeo.dubnow.de/flucht-oder-befreiung/ |titel=Flucht oder Befreiung {{!}} Mimeo |abruf=2021-12-01}}</ref> Ursachen für diesen differenten Umgang mit dem Faschismus waren nicht nur der im Vergleich zum Nationalsozialismus geringere Wirkungsradius der faschistischen Innen-, Außen- und Militärpolitik, sondern auch das Ausbleiben eines internationalen Kriegsverbrecherprozesses wie der [[Nürnberger Prozesse]]. Diese Entwicklung war wiederum bedingt durch den intern herbeigeführten Sturz des Regimes, während dieser in Deutschland erst mit Niederlage und Kapitulation erfolgte.<br />
<br />
In weiten Teilen der italienischen Gesellschaft, vor allem bei der Linken, Anhängern von Sozialisten und Kommunisten, die sich auf die Tradition der Resistenza und des Partisanenkampfes beriefen, war und ist der Faschismus dennoch geächtet. Aufgrund der starken Rolle der Linksparteien in der Nachkriegszeit galt eine (zumindest rhetorische) eindeutige Verurteilung des Faschismus während der ''Ersten Republik'' (1946–1993) daher als gemeinsame Grundüberzeugung aller demokratischen Parteien. Seit den einschneidenden politischen Veränderungen der frühen 1990er Jahre wie dem Aufstieg [[Silvio Berlusconi]]s und der nationalkonservativen, postfaschistischen [[Alleanza Nazionale]] hat jedoch eine positive oder eine relativierende Bewertung der faschistischen Vergangenheit an Einfluss gewonnen.<ref>[[Aram Mattioli]]: ''»Viva Mussolini«. Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis.'' Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010.</ref><br />
<br />
Heute wird die Person Benito Mussolinis an ihren Wirkungsstätten – dem Amtssitz der von ihm geführten Sozialrepublik in [[Gargnano]] am [[Gardasee]], der Familiengruft in [[Predappio]] oder im Mussolini-Museum in der Nähe von [[Forlì]] – teils von neofaschistischen Gruppierungen mystifiziert und ein [[Personenkult]] gepflegt. Die Verherrlichung des Faschismus ist nach geltender italienischer Rechtslage zwar strafbar, zu einer konsequenten Anwendung kommen diese Gesetze jedoch nicht.<br />
<br />
Als bekennende neofaschistische Politikerin galt [[Alessandra Mussolini]], die Enkelin des ehemaligen Diktators.<br />
<br />
== Filmdokumentationen ==<br />
* ''[[Fascist Legacy]].'' Vereinigtes Königreich 1989, Regie: Ken Kirby, Sprachen: Englisch, Italienisch.<br />
* ''La guerra sporca di Mussolini / Mussolini's Dirty War.'' Italien 2008, Regie: Giovanni Donfrancesco, Sprachen: Englisch, Italienisch.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Faschismustheorie]]<br />
* [[Faschistische Schablonenbilder]]<br />
* [[Geschichte Italiens]]<br />
* [[Stile Littorio]]<br />
* [[Liste faschistischer Periodika in Italien]]<br />
<br />
== Literatur ==<br />
'''Aufarbeitung'''<br />
* Davide Conti: ''Gli uomini di Mussolini. Prefetti, questori e criminali di guerra dal fascismo alla Repubblica italiana.'' Einaudi, Turin 2017, ISBN 978-88-06-21540-8.<ref>[[Thomas Migge]]: [http://www.deutschlandfunk.de/fehlende-aufarbeitung-mussolinis-maenner-im-demokratischen.2016.de.html?dram:article_id=381048 ''Mussolinis Männer im demokratischen Rechtsstaat.''] In: ''[[Deutschlandfunk.de]]'', 12. März 2017.</ref><br />
* [[Hans Woller]]: '' Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943–1948''. De Gruyter, Oldenbourg 1996, ISBN 3-486-56199-5 ([https://www.degruyter.com/document/doi/10.1524/9783486594362/html online])<br />
<br />
'''Geschichte'''<br />
* Alberto De Bernardi: ''Una dittatura moderna. Il fascismo come problema storica''. 2. Auflage, Mondadori, Mailand 2001, ISBN 88-424-9646-4.<br />
* Richard J. Bosworth: ''Mussolini and the Eclipse of Italian Fascism: From Dictatorship to Populism'' Yale University Press, New Haven 2021, ISBN 978-0-300-23272-1.<br />
* Richard J. Bosworth: ''The Italian dictatorship. Problems and perspectives in the interpretation of Mussolini and Fascism''. Arnold Press, London 1998, ISBN 0-340-67727-9.<br />
* [[Renzo De Felice]]: ''Mussolini''. Einaudi, Turin 1965–1997 (8 Bde.).<br />
* [[Emilio Gentile]]: ''The Italian road to totalitarianism''. Taylor & Francis, London 2009, ISBN 978-0-7146-5487-4.<br />
* Mario Isnenghi: ''L’Italia del fascio''. Giunti, Florenz 1996, ISBN 88-09-21014-X.<br />
* Malte König: ''Faschismus in Italien. Entstehung, Konsolidierung, Zusammenbruch und Aufarbeitung.'' In: [http://www.buergerimstaat.de/2_10/italien.htm ''Der Bürger im Staat'', 60.2 (2010)], S. 143–151.<br />
* Brunello Mantelli: ''Kurze Geschichte des italienischen Faschismus''. 4. Auflage. Wagenbach, Berlin 2008, ISBN 978-3-8031-2300-8.<br />
* [[Aram Mattioli]]: [http://www.zeit.de/2005/38/A-Abessininienkrieg ''Kriegsverbrechen: Der unrichtbare Dritte.''] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 38/2005.<br />
* Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/2003/21/A-Libyen ''Libyen, verheißenes Land.''] In: ''[[Die Zeit]]'', Nr. 21/2003.<br />
* Manuel Mork: Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität. Eine italienische Provinzstadt im europäischen Fokus 1922 bis 1927, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022) 1, S. 31–62.<br />
* Davide Rodogno: ''Fascism’s European Empire. Italian Occupation during the Second World War''. Cambridge University Press, Cambridge 2006.<br />
* Denis M. Smith: ''Modern Italy. A political history.'' University Press, New Haven CT 1997, ISBN 0-300-07377-1 (früherer Titel ''Italy'').<br />
* [[Angelo Tasca]]: ''Glauben, Kämpfen, Gehorchen. Aufstieg des Faschismus in Italien.'' („Nascita e avvento del fascismo“). Edition Promedia, Wien 2001, ISBN 3-900478-12-0.<br />
* Nicola Tranfaglia: ''La prima guerra mondiale e il fascismo.'' UTET, Turin 1995, ISBN 88-02-04947-5 (Storia d’Italia; 22).<br />
* [[Hans Woller]]: ''Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung.'' München 1999.<br />
<br />
<br />
'''Soziologische und sozialhistorische Ansätze'''<br />
* Ruth Ben-Ghiat: ''Fascist modernities. Italy, 1922–1945'' (= ''Studies on the history of society and culture.'' Band 42). University Press, Berkeley, CA 2001, ISBN 0-520-24216-5.<br />
* Mabel Berezin: ''Making the fascist self. The political culture of interwar Italy.'' University Press, Ithaca NY 1997, ISBN 0-8014-8420-0.<br />
* [[Victoria De Grazia]]: ''The culture of consent. Mass organizing of leisure in Fascist Italy.'' University Press, Cambridge 1981, ISBN 0-521-23705-X.<br />
* Simonetta Falasca Zamponi: ''Fascist spectacle. The aesthetics of power in Mussolini’s Italy.'' Neuauflage. University Press, Berkeley, CA 2000, ISBN 0-520-20623-1 (teilw. Dissertation, Universität Berkeley, 1992).<br />
* Emilio Gentile: ''The sacralization of politics in Fascist Italy'' („Culto del littorio“). University Press, Cambridge 1996, ISBN 0-674-78475-8.<br />
* Giorgio Mezzalira, [[Hannes Obermair]] (Hrsg.): ''Faschismus an den Grenzen / Fascismo di confine'' (= ''[[Geschichte und Region/Storia e regione]].'' Band 20/1). Studienverlag, Innsbruck/Wien/Bozen 2012, ISBN 978-3-7065-5069-7.<br />
* [[Jens Petersen (Historiker)|Jens Petersen]], [[Wolfgang Schieder]] (Hrsg.): ''Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat, Wirtschaft, Kultur'' (= ''Italien in der Moderne.'' Band 2). SH, Köln 1998, ISBN 3-89498-021-4.<br />
* [[Petra Terhoeven]]: ''Liebespfand fürs Vaterland. Krieg, Geschlecht und faschistische Nation in der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36.'' Niemeyer, Tübingen 2003, ISBN 3-484-82105-1 (zugleich Dissertation, TU Darmstadt, 2002).<br />
* Paola S. Salvatori: ''La seconda Mostra della Rivoluzione fascista.'' In: ''Clio.'' Band 39, 2003, Nr. 3, S. 439–459.<br />
* Paola S. Salvatori: ''La Roma di Mussolini dal socialismo al fascismo (1901–1922).'' In: ''Studi Storici.'' Band 47, 2006, Nr. 3, S. 749–780.<br />
* Paola S. Salvatori: ''L’adozione del fascio littorio nella monetazione dell’Italia fascista.'' In: ''Rivista italiana di numismatica e scienze affini.'' Band 109, 2008, S. 333–352.<br />
<br />
'''Verhältnis zur katholischen Kirche'''<br />
* [[Giovanni Miccoli (Kirchenhistoriker)|Giovanni Miccoli]]: ''Das katholische Italien und der Faschismus.'' In: ''[[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]].'' Band 78, 1998, S. 539–566 ([http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/78-1998/0539-0566 PDF]).<br />
* Alessandro Visani: ''Il fascismo, la Santa Sede e le leggi razziali del 1938.'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' Band 87, 2007, S. 337–354 ([http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/87-2007/0337-0354 PDF]).<br />
<br />
'''Verhältnis zum Nationalsozialismus'''<br />
* [[Maurizio Bach]]: ''Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen.'' Nomos, Baden-Baden 1990, ISBN 3-7890-2106-7.<br />
* Matthias Damm: ''Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik'' (=&nbsp;''[[Schriftenreihe Extremismus & Demokratie|Extremismus und Demokratie]].'' Band 27). Nomos, Baden-Baden 2013, ISBN 978-3-8487-0315-9.<br />
* Malte König: ''Kooperation als Machtkampf. Das faschistische Achsenbündnis Berlin-Rom im Krieg 1940/41'' (= ''Italien in der Moderne.'' Band 14). SH, Köln 2007, ISBN 978-3-89498-175-4.<br />
* [[Sven Reichardt]]: ''Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Faschismus und in der deutschen SA.'' Böhlau, Köln 2002, ISBN 3-412-13101-6 (zugleich Dissertation, FU Berlin, 2000).<br />
* Sven Reichardt, [[Armin Nolzen]] (Hrsg.): ''Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich'' (= ''Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus.'' Band 21). Wallstein, Göttingen 2005, ISBN 978-3-89244-939-3.<br />
* Wolfgang Schieder: ''Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland.'' Wallstein, Göttingen 2008, ISBN 978-3-8353-0358-4.<br />
* Thomas Schlemmer, Hans Woller: ''Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]].'' Band 53, 2005, Heft 2, S. 164–201 [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2005_2.pdf (PDF)].<br />
* [[Michele Sarfatti]]: ''Grundzüge und Ziele der Judengesetzgebung im faschistischen Italien 1938–1943.'' In: ''Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken.'' Band 83, 2003, S. 436–444 [http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/83-2003/0436-0444 (PDF)].<br />
<br />
'''Lokalstudien'''<br />
* [[Roger Engelmann]]: ''Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921–1924'' (=&nbsp;''Studien zur Zeitgeschichte.'' Band 40). Oldenbourg, München 1992 ([https://link.bsb-muenchen.de/BV005575469 Volltext online verfügbar]).<br />
* Stefan Lechner: ''„Die Eroberung der Fremdstämmigen“: Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926'' (=&nbsp;''Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs.'' Band 20). Wagner, Innsbruck 2005, ISBN 978-3-7030-0398-1.<br />
* Maurizio Ferrandi, [[Hannes Obermair]]: ''Camicie nere in Alto Adige (1921-1928).'' Meran, Edizioni Alphabeta Verlag 2023, ISBN 978-88-7223-419-8.<br />
<br />
'''Belletristik'''<br />
* Beatrice Salvioni: ''Malnata''. Penguin Verlag, 2024, ISBN 978-3-641-29696-4<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Italian Fascism|Italienischer Faschismus}}<br />
* Franz Haas: [http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/der-herzensgute-massenmoerder-mussolini-1.5665379 ''Der herzensgute Massenmörder Mussolini''.] In: ''[[Neue Zürcher Zeitung|nzz.ch]]'', 8. Mai 2010; abgerufen am 11. März 2015.<br />
* Rolf Maag: [http://www.20min.ch/wissen/history/story/14181083 ''War Mussolini ein «gutmütiger Diktator»?''] 20min.ch, 4. Mai 2010, abgerufen am 11. März 2015.<br />
* Aram Mattioli: [http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2013/03/benito-mussolini ''Benito Mussolini: Politik der Gewalt.''] In: ZEIT Geschichte Nr. 03/2013, abgerufen am 26. April 2015.<br />
* Berthold Seewald: [https://www.welt.de/kultur/history/article108645229/Mussolinis-Vizekoenig-verwuestete-halb-Aethiopien.html ''Mussolinis Vizekönig verwüstete halb Äthiopien.''] [[Die Welt|Welt Online]]; abgerufen am 11. März 2015.<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references responsive/><br />
<br />
[[Kategorie:Faschismus (Italien)| ]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Pogrom_von_Addis_Abeba&diff=255675036Pogrom von Addis Abeba2025-05-03T00:41:43Z<p>ImageUploader12345: Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dieser Flaggen neben Nazi-Flaggen bei einer Veranstaltung des faschistischen Italiens zu s</p>
<hr />
<div>Das '''Pogrom von Addis Abeba''', auch '''Massaker von Addis Abeba''' genannt, bezeichnet die von 19. bis 21. Februar 1937 andauernden [[Pogrom|gewalttätigen Ausschreitungen]] gegen die Einwohner [[Addis Abeba]]s während der [[Abessinienkrieg|Besatzungsherrschaft]] des [[Italienischer Faschismus|faschistischen Italien]]. Sie umfassten einerseits eine generelle Verfolgung der [[Schwarze|schwarzen]] Mehrheitsbevölkerung, die sich in wahllosen [[Massenmord|Massenexekutionen]], schwersten Misshandlungen, großangelegten [[Plünderung]]en und dem nächtlichen [[Brandstiftung|Niederbrennen]] von rund 4000 Häusern äußerte. Andererseits betrieben die Faschisten gleichzeitig auch eine gezielte und systematische Ermordung der städtischen Bildungsschicht. In [[Äthiopien]] sind die Ereignisse nach deren Startdatum im [[Äthiopischer Kalender|äthiopischen Kalender]] allgemein als '''Yekatit 12''' bekannt ([[Amharische Sprache|amharisch]] ''' የካቲት ፲፪''').<br />
<br />
Den Anlass für das Pogrom lieferte ein fehlgeschlagener Attentatsversuch auf den faschistischen Vizekönig [[Rodolfo Graziani]]. Dieser hatte am 19. Februar etwa 3000 Stadtbewohner in seine Residenz geladen, um die Geburt des ersten Sohns des italienischen Thronfolgers [[Umberto II.|Umberto von Savoyen]] zu feiern. Während der Zeremonie warfen zwei Angehörige der äthiopischen Widerstandsbewegung neun Granaten in Richtung der höchsten Vertreter der italienischen Besatzungsmacht, wobei Vizekönig Graziani schwer verletzt wurde. Kurz darauf eröffneten die anwesenden italienischen Soldaten mit Maschinengewehren das Feuer auf die versammelte Menge. Das Palastgelände wurde dabei vom Militär abgeriegelt, fast alle anwesenden Äthiopier kamen darin um. Anschließend erteilte der lokale faschistische Parteisekretär [[Guido Cortese]] der 6. [[Schwarzhemden]]-Division einen dreitägigen Freibrief für „Vergeltungsaktionen“ gegen die schwarze Zivilbevölkerung, die von den Faschisten kollektiv für den Attentatsversuch verantwortlich gemacht wurde. In den folgenden Tagen wurden äthiopische Zivilisten massenhaft erschossen und gehängt, aber auch mit Keulen, Schaufeln oder Mistgabeln erschlagen, im Fluss ertränkt oder von Flammenwerfern in ihren Hütten lebendig verbrannt – darunter überproportional viele Frauen und Kinder.<br />
<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Variante der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteifahne]] der Faschisten]]<br />
Treibende Kraft der Gewaltexzesse waren die faschistischen Milizionäre, jedoch nahmen auch Angehörige der [[Carabinieri]], des Militärs, italienische Siedler und [[Askari|Kolonialtruppen]] am Pogrom teil. Die Gesamtzahl der Pogromopfer ist aufgrund der bisher lückenhaft erfolgten Forschung Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Während die äthiopischen Behörden nach dem [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] 30.000 Tote angaben, hielt die italienische Geschichtsschreibung meist höchstens 3.000 Todesopfer für glaubhaft. Jedoch korrigierten bereits Arbeiten kritischer italienischer Historiker diese Angabe nach oben: so ging Angelo Del Boca (1969) von bis 6.000 Toten aus, Brunello Mantelli (2007) von 15.000 bis 20.000 Toten. Der britische Historiker Ian Campbell, der 2017 die erste umfassende Darstellung des Massakers vorlegte, schätzt in seiner [[Fallstudie]] die Gesamtzahl der Opfer auf 19.200 Menschen, womit Addis Abeba in nur drei Tagen 19 bis 20 % seiner Bevölkerung verloren hätte. Nicht berücksichtigt werden in Campbells Schätzung jene Äthiopier, die nach dem Massaker an den Folgen von Verletzungen verstorben sind oder während ihrer anschließenden Internierung in den Konzentrationslagern [[KZ Danane|Danane]] und [[KZ Nocra|Nocra]] ums Leben kamen. Auch die zur gleichen Zeit in anderen äthiopischen Städten getöteten Menschen werden nicht mitgezählt. <br />
<br />
<gallery mode="packed" heights="125" caption="Opfer des Massakers"><br />
Vittime della strage di Addis Abeba compiuta tra il 19 e il 21 febbraio 1937.jpg<br />
Vittime della Strage di Addis Abeba 2.jpg<br />
Vittime della Strage di Addis Abeba 1.jpg<br />
Beheaded 1.jpg<br />
Beheaded 2.jpg<br />
Ethiopian victims beheaded.jpg<br />
</gallery><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Yekatit-12-Denkmal]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
* [https://www.economist.com/books-and-arts/2017/07/20/italy-and-the-addis-ababa-massacre ''Italy and the Addis Ababa massacre.''] In: economist.com, 20. Juli 2017, abgerufen am 11. Juli 2020.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Ian Campbell: ''The Addis Ababa Massacre: Italy's National Shame.'' Hust & Company, London 2017, ISBN 978-1-84904-692-3.<br />
* [[Angelo Del Boca]]: ''The Ethiopian War 1935–1941.'' The University of Chicago Press, Chicago/London 1969.<br />
* Brunello Mantelli: ''Die verdrängte Erinnerung: Verfolgungspolitik und Kriegsverbrechen des faschistischen Italien.'' In: Christiane Liermann et al. (Hg.): ''Vom Umgang mit der Vergangenheit / Come Affrontare il Passato?'' Tübingen 2007, S. 81.<br />
* [[Aram Mattioli]]: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche.'' In: [[Asfa-Wossen Asserate]], Aram Mattioli (Hg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941'' (= ''Italien in der Moderne.'' Bd. 13). SH-Verlag, Köln 2006, ISBN 3-89498-162-8, S. 9–26.<br />
* Aram Mattioli: ''Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941 (= Kultur – Philosophie – Geschichte. Band 3).'' Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca. Orell Füssli, Zürich 2005, ISBN 3-280-06062-1.<br />
* Alberto Sbacchi: ''Ethiopian Opposition to Italian Rule, 1936–1940.'' In: ders.: ''Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941.'' The Red Sea Press, Lawrenceville 1997 [1978], ISBN 978-0932415745, S. 165–204.<br />
<br />
[[Kategorie:Pogrom|Addis Abeba]]<br />
[[Kategorie:Massaker|Addis Abeba]]<br />
[[Kategorie:Addis Abeba]]<br />
[[Kategorie:Abessinienkrieg]]<br />
[[Kategorie:Konflikt 1937]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_Italiens&diff=255675031Geschichte Italiens2025-05-03T00:39:59Z<p>ImageUploader12345: /* 1935–1943: Abessinienkrieg, Spanienkrieg und erste Jahre des Zweiten Weltkriegs */ Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dies</p>
<hr />
<div>Die '''Geschichte Italiens''' umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der [[Italien|Italienischen Republik]] von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Sie lässt sich 1,3 bis 1,7 Millionen Jahre zurückverfolgen, wobei der [[Cro-Magnon-Mensch|''moderne'' Mensch]] vor etwa 43.000 bis 45.000 Jahren in [[Italien]] auftrat und noch mehrere Jahrtausende neben dem [[Neandertaler]] lebte. Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen seiner Existenz. Etwa 6100 v.&nbsp;Chr. brachten erste Gruppen von außerhalb der [[Apenninhalbinsel]] – wohl über See aus Süd[[anatolien]] und dem [[Naher Osten|Nahen Osten]] – die [[Neolithikum|Landwirtschaft]] mit; die [[Jäger und Sammler]] verschwanden. Im 2.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. setzte eine Entwicklung ein, die aus den Dörfern frühe stadtähnliche Siedlungen machte. Die Gesellschaften wiesen um diese Zeit erstmals deutliche Spuren von [[Hierarchie]]n auf.<br />
<br />
[[Datei:Targa unesco na.jpg|mini|Tafel der UNESCO zur Bezeichnung als Weltkulturerbe, hier Neapel. Die mehr als 50 in Italien befindlichen Stätten reichen von einzelnen Gebäuden über ganze Kernstädte bis zu thematisch übergreifenden Gruppen wie den [[Felsbilder des Valcamonica|Felsbildern des Valcamonica]], prähistorischen [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Pfahlbauten]], den mit der Herrschaft der [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Langobarden]] verbundenen Orten oder einer Gruppe [[Spätbarocke Städte des Val di Noto|spätbarocker Städte]].]]<br />
<br />
Die durch [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Schriftquellen]] belegte Geschichte Italiens beginnt erst nach der Besiedlung durch [[Italiker|italische Völker]]. Neben ihnen erlebte die Kultur der [[Etrusker]], deren Herkunft ungeklärt ist, um 600 v.&nbsp;Chr. ihre Blütezeit. Im 8.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr. hatte die [[griechische Kolonisation]] des süditalienischen Festlandes und [[Sizilien]]s begonnen, an der Westküste der Insel siedelten [[Phönizier]]. Diese Kolonien gehörten später zu [[Karthago]]. Die meisten Gebiete Norditaliens wurden von [[Gallier]]n besiedelt.<br />
<br />
Ab dem 4. Jahrhundert v.&nbsp;Chr. setzte die Expansion [[Rom]]s ein, 146 v.&nbsp;Chr. wurden [[Korinth (antike Stadt)|Korinth]] und Karthago zerstört, die Eroberung des Mittelmeerraums, später auch von Teilen Mittel- und Nordeuropas brachte kulturelle Einflüsse und Menschen aus dem gesamten Reich und den angrenzenden Gebieten nach Italien. Die Halbinsel bildete das Zentrum des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]] und blieb es mit Einschränkungen bis zum Untergang Westroms um 476. Dabei verwandelte sich die agrarische Wirtschaftsbasis, die anfangs aus Bauern bestanden hatte, zu einem System weiträumiger [[Latifundium|Latifundien]] auf der Basis von [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklavenarbeit]]. Ein dichtes [[Römerstraße|Straßennetz]] verband die expandierenden Städte, dank dessen der Warenaustausch, aber auch die Abhängigkeit von externen Gütern, wie Weizen und [[Olivenöl]] aus Nordafrika, anwuchsen. In der [[Spätantike]] erschienen neben der Sklaverei und den freien Bauern auf dem Land Formen der Bindung an den Boden, wie das [[Kolonat (Recht)|Kolonat]], wenngleich noch um 500 zwischen freien und unfreien Kolonen unterschieden wurde ([[Kolonenedikt des Anastasius]]). Im 4.&nbsp;Jahrhundert wurde das Christentum als Staatsreligion durchgesetzt.<br />
<br />
Ab dem 5. Jahrhundert kam Italien unter die Herrschaft [[Germanen|germanischer Stämme]], die Bevölkerung ging bis um 650 drastisch zurück, kurzzeitig eroberte [[Byzantinisches Reich|Ostrom]] im 6.&nbsp;Jahrhundert das ehemalige Kerngebiet des Reiches. Die Städte schrumpften drastisch, das Straßensystem verfiel, fast nur der Handel über die Gewässer bestand fort. Im 8.&nbsp;Jahrhundert wurde der von den [[Langobarden]] etwa zwei Jahrhunderte lang beherrschte Norden dem [[Fränkisches Reich|Frankenreich]] angegliedert, später dem [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reich]], während im Süden Araber und Byzantiner herrschten, ab dem 11. Jahrhundert [[Normannen]]. In den meisten Regionen setzte sich im [[Frühmittelalter]] der [[Feudalismus]] durch, dessen Zusammenhänge mit dem spätrömischen [[Kolonat (Recht)|Kolonat]] äußerst komplex sind. Die oberitalienischen Kommunen, die sich etwa im [[Lombardenbund]] zusammenfanden, konnten sich im 12. und 13. Jahrhundert vom Einfluss des Reichs lösen und eigene Territorien errichten. Von dieser Vielzahl an Territorien waren die bedeutendsten [[Mailand]], die Seemächte [[Republik Genua|Genua]] und [[Republik Venedig|Venedig]], [[Florenz]] und Rom sowie der Süden Italiens, der teils französisch, teils spanisch war. Eine zentrale Rolle spielte die Tatsache, dass der Bischof von Rom zum [[Papst]] der westlichen Kirche aufstieg, es 1054 zur Trennung von der östlichen Kirche kam und der Papst in langwierige Auseinandersetzungen mit den [[Heiliges Römisches Reich|römisch-deutschen Königen]], dann mit dem französischen König [[Philipp IV. (Frankreich)|Philipp IV.]] geriet. Letzterer zwang den Papst 1309 ins [[Avignonesisches Papsttum|Exil nach Avignon]], das bis 1378 andauerte. Die Rückkehr der Päpste nach Rom beschleunigte den Aufbau des [[Kirchenstaat]]s in Mittelitalien, der bis 1870 die politischen Entwicklungen auf der Halbinsel erheblich beeinflusste.<br />
<br />
Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert war Italien das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der [[Renaissance]]. Fünf führende Mächte hatten sich herauskristallisiert, wobei der Kirchenstaat eine ganz eigene Rolle spielte. Ab dem späten 15., vor allem aber im 16. und 17. Jahrhundert mischten sich die europäischen Großmächte – Frankreich, Spanien und Österreich – immer wieder in die italienische Politik ein. Sie schotteten dabei in verschiedenem Maße ihre Märkte gegen auswärtige Waren ab. Gleichzeitig übte das [[Osmanisches Reich|Osmanische Reich]] ab dem späten 14. Jahrhundert starken militärischen Druck insbesondere auf die [[Republik Venedig]] aus. Dennoch strahlten die italienischen Kulturmetropolen, allen voran Rom, Florenz und Venedig, weit über Italien und Europa aus.<br />
<br />
Nach vier Jahrhunderten der Zersplitterung und Fremdherrschaft wurde die Halbinsel im Zuge der Nationalbewegung des [[Risorgimento]] politisch vereint. Der moderne italienische Staat besteht seit 1861, 1866 kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] hinzu, nach dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] [[Julisch Venetien]] (Triest und Görz), das [[Trentino]] und [[Südtirol]]. [[Kolonialismus|Kolonialkriege]] führte Italien vor allem in [[Libyen]] (1951 unabhängig) und [[Äthiopien]] ([[Schlacht von Adua]] 1896, [[Abessinienkrieg]] 1935/36). 1922 bis 1943 regierten die [[Italienischer Faschismus|Faschisten]] unter [[Benito Mussolini]] in Italien, in den letzten beiden Kriegsjahren kontrollierten die deutschen [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] weite Teile des Landes, bis dieses von den [[Alliierte]]n und Partisanengruppen befreit wurde.<br />
<br />
1946 entschied sich das italienische Volk für die Abschaffung der [[Königreich Italien (1861–1946)|Monarchie]] zugunsten der [[Republik]]. Erstmals durften auch Frauen wählen. Seither prägen häufige Regierungswechsel die politische Kultur, bis Anfang der 1990er Jahre unter durchgehender Beteiligung der [[Democrazia Cristiana]]. Dabei verweisen bis zum Ende des [[Kalter Krieg|Kalten Krieges]] Auseinandersetzungen um den [[Eurokommunismus]], teils militant geführte politische Auseinandersetzungen, der Gegensatz zwischen Nord- und Süditalien, der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche|katholischen Kirche]], aber auch [[Korruption]] bis in die politischen Führungsgruppen und [[organisierte Kriminalität]] auf einige der zentralen [[Cleavage-Theorie|Konfliktlinien]] der Gesellschaft. Der Zusammenbruch des alten Parteiensystems und eine Verfassungsänderung im Zuge der [[Tangentopoli]]-Affäre zu Beginn der 1990er Jahre markierte einen politischen Einschnitt und den Übergang zur sogenannten Zweiten Republik.<br />
<br />
== Ur- und Frühgeschichte ==<br />
{{Hauptartikel|Urgeschichte Italiens}}<br />
<br />
=== Paläolithikum: Jäger, Sammler, Fischer (1,3 Millionen Jahre) ===<br />
[[Datei:Caverna delle Arene Candide-ritrovamenti Piccolo Principe-museo archeologia ligure.jpg|mini|Menschliche Überreste des „Kleinen Prinzen“, der vor etwa 23.000 Jahren in [[Ligurien]] beigesetzt wurde. Ihm war ein Pelzumhang beigegeben worden, der aus 400 Vertikalstreifen aus Eichhörnchenfellen bestand.<ref>Art. ''Mantel.'' In: [[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], Band 19, hier: S. 239.</ref> Museo di archeologia ligure von Genua Pegli]]<br />
<br />
Die [[Ausgrabung]]en von [[Pirro Nord]] in [[Apulien]], wo sich die ältesten menschlichen Spuren Italiens fanden, belegen, dass [[Jäger und Sammler]] dort vor 1,3 bis 1,7 Millionen Jahren lebten.<ref>Marta Arzarello, Federica Marcolini, Giulio Pavia, Marco Pavia, Carmelo Petronio, Mauro Petrucci, Lorenzo Rook, Raffaele Sardella: ''L’industrie lithique du site Pléistocène inférieur de Pirro Nord (Apricena, Italie du sud): une occupation humaine entre 1,3 et 1,7 Ma / The lithic industry of the Early Pleistocene site of Pirro Nord (Apricena South Italy): The evidence of a human occupation between 1.3 and 1.7 Ma'' In: L’Anthropologie 113,1 (2009), S.&nbsp;47–58.</ref> Seit etwa 700.000 Jahren ist Italien wohl durchgehend von Menschen bewohnt.<ref>Margherita Mussi: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic.'' Kluwer Academic/Plenum Publishers, New York 2001, S.&nbsp;18.</ref> Bis ins 6.&nbsp;Jahrtausend v.&nbsp;Chr. bildeten Jagd, Fischfang und Sammeln die Grundlagen der Existenz, wobei sich hüttenartige Strukturen neben Höhlen schon für die Zeit vor 230.000 Jahren nahe der französisch-italienischen Grenze als Wohnstätten nachweisen lassen.<ref>Paolo Villa: ''Terra Amata and the Middle Pleistocene archaeological record of southern France.''University of California Press, Berkeley 1983, S.&nbsp;54f.</ref> Der Gebrauch von Feuer ist seit dieser Zeit archäologisch gesichert nachgewiesen.<ref>[[Wil Roebroeks]], Paola Villa: ''On the earliest evidence for habitual use of fire in Europe.'' In: [[Proceedings of the National Academy of Sciences]] 108,13 (2011), S. 5209–5214.</ref><br />
<br />
Im [[Mittelpaläolithikum]] war ganz Italien bewohnt, mit Ausnahme der Inseln [[Sardinien]] und Sizilien. Vor 45.000 bis 43.000 Jahren sind erstmals [[Cro-Magnon-Mensch]]en nachgewiesen. Zwei Zähne aus der ''[[Grotta del Cavallo]]'' wurden entsprechend datiert und gelten als der älteste Beleg für die Existenz des anatomisch modernen Menschen in Europa.<ref>Stefano Benazzi u. a.: ''Early dispersal of modern humans in Europe and implications for Neanderthal behaviour.'' In: ''[[Nature]].'' Band 479, 2011, S. 525–528, [[doi:10.1038/nature10617]]</ref> Einige Jahrtausende später verschwand der [[Neandertaler]]. Nach dem Ende der [[Würmeiszeit]] nahm die Sesshaftigkeit zu, insbesondere an den Küsten, wo Fischfang dominierte. Daneben entstanden in den Hoch- und Mittelgebirgsregionen Hirtenkulturen. Die erste neolithische Kultur Süditaliens war die [[Cardial- oder Impressokultur]], die etwa um 6200 v. Chr. durch Einflüsse aus dem östlichen Mittelmeerraum entstand. Durch Vergleich mit dem Flächenbedarf ähnlicher Gesellschaften ließ sich als grober Näherungswert eine Zahl von 60.000 menschlichen Bewohnern berechnen.<ref>Fulco Pratesi: ''Storia della natura d’Italia'', Soveria Manelli: Rubbettino Editore, 2010, o. S. (Abschnitt ''Un mondo in equilibrio'').</ref> Die Männer waren im Schnitt 1,66–1,74 m groß, Frauen 1,50–1,54 m.<br />
<br />
=== Neolithikum: Landwirtschaft und Dörfer (ab 6100 v. Chr.) ===<br />
Die ersten Ackerbauern ließen sich zwischen 6100 und 5800 v.&nbsp;Chr. im Süden der Halbinsel nieder.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1. Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;28ff.</ref> Sie kamen über die griechischen Inseln, vor allem über Kreta, aus Südanatolien und dem Nahen Osten.<ref>R. J. King, S. S. Özcan, T. Carter, E. Kalfoğlu, S. Atasoy, C. Triantaphyllidis, A. Kouvatsi, A. A. Lin, C.-E. T. Chow, L. A. Zhivotovsky, M. Michalodimitrakis, P. A. Underhill: ''Differential Y-chromosome Anatolian Influences on the Greek and Cretan Neolithic.'' In: Annals of Human Genetics 72 (2008), S. 205–214.</ref> Im Nordwesten bestanden [[Mesolithikum|mesolithische]] und Keramikkulturen noch um 5500 v. Chr. nebeneinander.<ref>Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'' Rom: Carocci editore, 1.&nbsp;Auflage. 2008, 2.&nbsp;Nachdruck 2010, S.&nbsp;32.</ref> Es entstanden verschiedene Dorftypen, Fernhandel bestand etwa mit [[Obsidian]] oder mit Beilen. Dabei fehlen im neolithischen Italien Anzeichen für eine Hierarchisierung der Gesellschaft. Die Männer waren kleiner als im Paläo- und im Mesolithikum, und auch später waren sie nie wieder so klein. So konnte festgestellt werden, dass Frauen im Durchschnitt 1,56&nbsp;m, Männer 1,66&nbsp;m groß waren.<ref>John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy.'' Cambridge University Press, Cambridge 2007, S. 36.</ref><br />
<br />
=== Metallzeitalter: autochthone Bevölkerung, Zuwanderung (Etrusker, Griechen, Karthager), Städte (ab 4200 v. Chr.) ===<br />
{{Linkbox Völker im Italien der Eisenzeit}}<br />
<br />
Um 4200 v. Chr. wurde in [[Ligurien]] als erstes Metall [[Kupfer]] verarbeitet;<ref>Im Val Petronio, östlich von Sestri Levante; vgl. Nadia Campana, Roberto Maggi, Mark Pearce: ''ISSEL DIXIT.'' In: ''La nascità della Paletnologia in Liguria. Atti del Convegno'', Bordighera 2008, S. 305–311. Der Titel bezieht sich auf [[Arturo Issel]] (1842–1922), der schon 1879 ein so hohes Alter des Kupferbergbaus vermutete.</ref> die [[Bronzezeit]] setzte im späten 3. Jahrtausend v. Chr. ein. Es entstanden erstmals proto-urbane Strukturen, in [[Kampanien]] fand sich eine solche „Stadt“ bei [[Poggiomarino]], die vom 17. bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. bestand. Diese „Bronzemetropole“ kam anscheinend ohne Verteidigungsanlagen aus.<ref>[http://www.zeit.de/2003/16/A-Vesuv ''Der Jahrtausendknall''], in: Die Zeit, 10. April 2003. Vgl. C. Albore Livadie: ''Territorio e insediamenti nell’agro Nolano durante il Bronzo antico (facies di Palma Campania): nota preliminare.'' In: ''Actes du colloque L’Eruzione vesuviana delle “Pomici di Avellino” e la facies di Palma Campania (Bronzo antico): Atti del Seminario internazionale di Ravello, 15-17 luglio 1994.'' Edipuglia, Bari 1999, S. 203–245.</ref><br />
<br />
In der Bronzezeit (ca. 2300/2200–950 v. Chr.) sind zahlreiche Kulturen erkennbar, deren Zuordnung zu den Völkern, die in den frühesten Schriftquellen auftauchen, nicht immer gesichert ist. Um 1500 v. Chr. kam es zudem erneut zu starken Zuwanderungen,<ref>[[Harald Haarmann]]: ''Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen'', München: Beck 2010. Ihm folgt die weitere Darstellung.</ref> die Dörfer wurden verstärkt befestigt. Funde wie im sizilianischen La Muculufa (bei [[Butera]]) belegen Weinanbau.<ref>Francesco Carimi, Francesco Mercati, Loredana Abbate, Francesco Sunseri: ''Microsatellite analyses for evaluation of genetic diversity among Sicilian grapevine cultivars'', in: Genet Resources and Crop Evolution 57 (2010) 703–719, hier: S. 704.</ref> Die [[Eisenzeit]], gelegentlich auch die späte Bronzezeit, gilt als Formatierungsphase der Stämme, die in den schriftlichen [[Quelle (Geschichtswissenschaft)|Quellen]] erscheinen. Auf zunehmende Macht einer Kriegerelite deutet die größere Menge an Waffenbeigaben hin. Zugleich wird ein weiträumiger Fernhandel bis in den östlichen Mittelmeerraum erkennbar. Etrusker und Griechen eroberten auf Städten basierende, zusammenhängende Herrschaftsgebiete, eine Entwicklung, die bald ganz Italien erfasste und die in der Herrschaft Roms gipfelte.<br />
<br />
{{Hauptartikel|Etrusker|Magna Graecia}}<br />
[[Datei:Museo guarnacci, tomba del guerriero di poggio alle croci, elmo crestato 01.JPG|mini|Typischer Villanova-Helm aus der römischen Frühzeit, [[Museo Etrusco Guarnacci]] in [[Volterra]]]]<br />
<br />
In Oberitalien lebten im 5. Jahrhundert v. Chr. die gerade eingewanderten [[Kelten]] (lateinisch ''Galli''), dann [[Lepontier]] und [[Ligurer]], im Nordosten [[Veneter (Adria)|Veneter]].<ref>Thomas Urban ''Studien zur mittleren Bronzezeit in Norditalien'', 1993. Allgemein zu den Venetern: Art. ''Veneter.'' In: ''[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]]'', Bd. 32, S. 133–138, ab S. 136 zu den oberitalienischen Venetern.</ref> Mittelitalien war von [[Umbrer]]n (im heutigen Umbrien); [[Latiner]]n, [[Sabiner]]n, [[Falisker]]n, [[Volsker]]n und [[Aequer]]n (im heutigen [[Latium]]) und [[Picener]]n<ref>Grundlegend: Luisa Franchi dell’Orto (Hrsg.): ''Die Picener. Ein Volk Europas. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. 1999'', Rom 1999.</ref> (Marken und nördliche Abruzzen) bewohnt. Im Süden waren [[Samniten]]<ref>Grundlegend: Gianluca Tagliamonte: ''I Sanniti: Caudini, Irpini, Pentri, Carricini, Frentani'', Longanesi, Mailand 1996.</ref> (südliche Abruzzen, [[Molise]] und [[Kampanien]]) ansässig; [[Japyger]] und [[Messapier]] in [[Apulien]]; [[Lukanier]] und [[Bruttium|Bruttii]]. Die [[Sikeler]] besiedelten den Ostteil Siziliens. Viele dieser Völker waren [[Indogermanen|indoeuropäischen]] Ursprungs, einige galten als ''[[Aborigines (Italien)|Aborigines]]''.<br />
Die [[Etrusker]] in Mittelitalien waren keine Indoeuropäer, möglicherweise die [[Sikaner]] auf Sizilien ebenfalls nicht. Auf Sardinien lebten [[Sarden]], die eventuell den [[Scherden]] in ägyptischen Quellen entsprechen.<br />
<br />
Ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. begann die [[griechische Kolonisation]] Süditaliens. Dabei wurden zahlreiche Städte sowohl auf dem Festland (darunter [[Tarent|Taras]], [[Cumae|Kyme]], [[Metapontion]], [[Sybaris]], [[Crotone|Kroton]], [[Reggio Calabria|Rhegion]], [[Paestum]] und [[Neapel]]) als auch auf Sizilien ([[Naxos (Sizilien)|Naxos]], [[Zankle]] und [[Syrakus]]) gegründet. Die griechisch besiedelten Gebiete wurden als ''[[Magna Graecia]]'' (Großgriechenland) bezeichnet. Ein Überbleibsel ist das noch heute gesprochene [[Griko]].<br />
<br />
Die [[Karthago|Karthager]], die sich zu einer bedeutenden See- und Handelsmacht entwickelt hatten, gründeten neben Kolonien auf [[Sizilien]] auch solche auf [[Sardinien]]. Sie gerieten während des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. in anhaltende Konflikte mit den [[Griechische Kolonisation|griechischen Kolonien]], vor allem mit [[Syrakus]]. Hingegen standen sie zeitweise mit den Etruskern im Bündnis. Auch mit Rom pflegte es bis 264 v. Chr. ein gutes Verhältnis. Karthago und Rom schlossen um 508 v. Chr. einen ersten Vertrag, 348 und 279 v. Chr. folgten weitere.<ref>Dazu Barbara Scardigli: ''I Trattati Romano-Cartaginesi. Introduzione, edizione critica, traduzione, commento e indici'', Scuola Normale Superiore, Pisa 1991.</ref><br />
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== Rom ==<br />
=== Italien im expandierenden Römerreich (4. Jahrhundert v. bis 2. Jahrhundert n. Chr.) ===<br />
{{Hauptartikel|Römisches Reich|Römisches Italien}}<br />
[[Datei:Etruscan civilization map-de.png|mini|Die etruskischen Gebiete zur Zeit ihrer größten Ausdehnung mit den Städten des [[Zwölfstädtebund]]s]]<br />
[[Datei:Lupa Capitolina, Rome.jpg|mini|Die Wölfin stillt Romulus und Remus, die sagenhaften Gründer Roms. Die Wölfin stammt aus dem 13. Jahrhundert, die Zwillinge wurden im 15. Jahrhundert hinzugefügt, wie sich 2007 herausstellte.<ref>[http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7499469.stm ''Famed Roman statue „not ancient“''], BBC, 20. Juli 2008</ref> ]]<br />
[[Datei:Punic wars-fr.svg|mini|Der westliche Mittelmeerraum 279 v.&nbsp;Chr.]]<br />
<br />
Rom<ref>Grundlegend zur Geschichte Roms in der Antike: [[Frank Kolb]]: ''Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike.'' Beck, München 2002.</ref> war im 8.&nbsp;Jahrhundert eine kleine bäuerliche Gemeinde, die aus mehreren Dörfern hervorgegangen war. Der traditionellen Überlieferung nach schüttelte es 509 v.&nbsp;Chr. die Königsherrschaft und die Dominanz der Etrusker ab. In der [[Mythologie|mythischen]] Erinnerung hatte die Expansion zunächst im Kampf mit den [[Sabiner]]n, dann gegen die Stadt [[Alba Longa]] begonnen. Auf diese frühe Phase wird die Entstehung der [[Patriziat (Römisches Reich)|Patrizier]] und der [[Plebejer]] zurückgeführt, ebenso die religiöser Einrichtungen, wie die Priesterschaft der [[Vestalin]]nen. Auf den etruskischen König [[Tarquinius Priscus]] führten die Römer den Bau der [[Cloaca Maxima]] oder des [[Kapitolinischer Tempel|Jupitertempels]] zurück. Mit dem Ende der Monarchie übernahm der [[Römischer Senat|Senat]] die wichtigste Rolle im entstehenden Staatswesen.<br />
<br />
Sein Herrschaftsgebiet dehnte Rom zunächst über Mittelitalien, dann zu einem Imperium über den gesamten [[Mittelmeerraum]] aus, um schließlich bis in den Nordseeraum und an den [[Persischer Golf|Persischen Golf]] zu gelangen. Erst nach drei Kriegen (343–341, 327–304 und 298–290 v. Chr.) gelang es, die [[Samniten]] zu unterwerfen.<ref>Lukas Grossmann: ''Roms Samnitenkriege. Historische und historiographische Untersuchungen zu den Jahren 327 bis 290 v. Chr.'' Wellem, Düsseldorf 2009, S. 115.</ref> Mit dem Sieg über den hellenistischen König von [[Epirus (historische Region)|Epirus]], [[Pyrrhos I.]], im Jahr 275 v. Chr. begann Rom den rein italischen Rahmen zu sprengen und seine Macht weiter auszudehnen.<br />
<br />
Diese Expansion überforderte bereits in den beiden ersten [[Punische Kriege|Punischen Kriegen]], die mit einer Unterbrechung von 264 bis 201 v. Chr. andauerten, die Ressourcen der Stadt, so dass es auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen war. Weitere Kriege führte Rom gegen die hellenistischen Reiche im Osten (200 bis 146 v. Chr.), die [[Gallien|Gallier]] Oberitaliens, deren Gebiet 191 v. Chr. zur Provinz [[Gallia cisalpina]] wurde, aber auch Gebiete in Südgallien. 175 v. Chr. folgte [[Ligurien]], dann die Griechen Süditaliens sowie die [[Numider]] in Nordafrika, nachdem Karthago 146 v. Chr. zerstört worden war. Schließlich folgte die Expansion nach [[Kleinasien]] (ab 133 v. Chr.) und auf die [[Iberische Halbinsel]] (bis 19 v. Chr.). 58 bis 51 v. Chr. wurde [[Gallischer Krieg|Gallien erobert]], die Grenze bis über den Rhein vorgeschoben, schließlich folgte (allerdings erst in der frühen Kaiserzeit) [[Britannien|Britannia]].<br />
<br />
Weder die Zentralisierung auf Rom noch der Macht- und Verwaltungsapparat waren geeignet, einen Flächenstaat dieser Größe zu steuern. Auch die Sozial- und Besitzverhältnisse brachten das Reich vielfach an den Rand des Auseinanderbrechens. Bauern- und [[Sklavenaufstände im Römischen Reich|Sklavenaufstände]] (vor allem 135, 104 und [[Spartacus|73–71]] v. Chr.) waren Folge der grundlegend veränderten Lebensbedingungen und der extremen Ungleichheit in den materiellen und rechtlichen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft. Daneben kam es zu einer Verstärkung des Einflusses [[Hellenismus|hellenistischer Kultur]], später auch der Kulturen des Nahen Ostens, die eine Veränderungen abgeneigte, konservative Senatsgruppe als Werteverfall wahrnahm.<br />
<br />
Hinzu kam ein weiteres Problem: Der Sieg Roms war nur durch Truppen der Verbündeten möglich. Da Rom jedoch seinen Bundesgenossen die rechtliche Gleichstellung verweigerte, kam es Ende des 2. Jahrhunderts zu Unruhen und 90/89 v. Chr. zum [[Bundesgenossenkrieg (Rom)|Bundesgenossenkrieg]]. Trotz ihrer Niederlage erhielten die Gemeinden Italiens das römische Bürgerrecht, 42 v. Chr. erhielten dieses Recht auch die bis dahin ausgeschlossenen Städte der [[Po-Ebene]]. Mit dem [[Zensus (Rom)|Zensus]] von 29/28 v. Chr. wurden schließlich alle [[Italiker]] in die Bürgerlisten eingetragen.<ref>[[Dietmar Kienast]]: ''Augustus, Prinzeps und Monarch.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, S. 480.</ref> Damit wurde Italien zu einem einheitlichen, gegenüber dem übrigen Reich bevorzugten Rechtsraum. Dieser Zustand hielt bis 212 n. Chr. an, als allen Bürgern des Reiches das [[Römisches Bürgerrecht|römische Bürgerrecht]] mit den daran hängenden Pflichten verliehen wurde. Zudem war Italien, insbesondere Rom, ein Wirtschaftsraum, auf den fast alle Provinzen ausgerichtet waren. Zugleich musste es immer weniger die Lasten der Verteidigung des Riesenreichs tragen.<br />
<br />
Bis zur Herrschaft des [[Augustus]] litt Italien jedoch unter schweren Machtkämpfen, die mit dem Kampf zwischen [[Lucius Cornelius Sulla Felix|Sulla]] und [[Gaius Marius|Marius]] begannen, und denen soziale Auseinandersetzungen vorangegangen waren, die mit den [[Gracchische Reform|Gracchischen Reformen]] verbunden sind. Sie reichten ins frühe 5. Jahrhundert zurück, als das Amt des [[Volkstribun]]s geschaffen wurde. Diese Bürgerkriege fanden einen weiteren Höhepunkt mit den Kämpfen, aus denen zunächst [[Gaius Iulius Caesar]], dann Augustus als Sieger hervorgingen.<br />
<br />
=== Pax Romana, Verwaltung und Wirtschaft (1. bis 2. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Meyers b9 s0067b.jpg|mini|Die von Augustus durchgesetzte Einteilung Italias in elf Regionen.]]<br />
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Die sich anschließende lange Friedensphase ([[Pax Romana]]) in Italien ließ Wirtschaft, Künste und Kultur aufblühen. Die Bevölkerungsdichte sollte erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden. Die Errungenschaften Roms im Bereich Recht, Verwaltung und Kunst haben die [[westliche Zivilisation]] zutiefst geprägt.<br />
<br />
Die unzureichend gewordene Organisation von Verwaltung und Militär wurde von den frühen Kaisern grundlegend geändert. [[Augustus]] teilte Italien in elf [[Regio (Italien)|Regionen]] auf. Die republikanischen Institutionen wurden formal überwiegend wieder eingesetzt, doch blieben sie weitgehend von seinen Entscheidungen abhängig und veränderten ihren Charakter zu einer administrativen Tätigkeit. Allerdings behielt der Senat in Italien einige Vorrechte, wie etwa die Verfügung über die Prägung der Bronzemünzen ab 15 v. Chr., die Verfügung über die Tempel oder die Leitung des ''[[Aerarium|aerarium Saturni]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 50.</ref> Die [[Volkstribun]]en behielten ihre Rechte, wurden aber formal in Umkehrung ihrer bisherigen Stellung dem Senat unterstellt, faktisch jedoch dem Kaiser.<br />
<br />
Während es in der Republik nur ansatzweise eine Verwaltung gab – es existierten weder Grundsätze noch Apparate oder ausgebildetes Personal –, änderte sich dies unter den Kaisern. [[Claudius]] setzte in der Verwaltung stark auf [[Freigelassene im Römischen Reich|Freigelassene]] (sie verloren ihren Einfluss unter den [[Flavier]]n), [[Domitian]] und [[Hadrian (Kaiser)|Hadrian]] eher auf vermögende Ritter ''([[Eques|equites]])'', also die Gruppe der Händler, Steuerpächter und der städtischen Mittelklasse, für die die Republik nie eine adäquate Aufgabe gefunden hatte. Schon [[Vespasian]] zog verstärkt Provinzialen hinzu, [[Trajan]] zog Männer aus dem Osten in den Senat. Insbesondere in der Finanzverwaltung kam es zu einer Professionalisierung, vor allem, als der römische ''fiscus'' die Verantwortung für die Einnahmen aus den Provinzen übernahm. Es entstand eine Art Zentralverwaltung.<br />
<br />
Als Vermittlerinstanz fungierte vor allem ab dem 2. Jahrhundert das nicht leicht zu fassende ''consilium principis'', das informell zusammengestellt den Kaiser beriet. Hadrian zog erstmals Juristen hinzu. In der [[Spätantike]] übernahm diese Rolle das ''[[consistorium]]''.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 56.</ref> Daneben übte der [[Prätorianerpräfekt]] großen Einfluss aus, der zunächst mit seiner [[Prätorianergarde]] für die Sicherheit des Kaisers verantwortlich war. Er erhielt bald über den Militärbereich hinausreichende richterliche Befugnisse (unter den [[Severer]]n im Umkreis von 100 römischen Meilen um Rom, also knapp 150&nbsp;km) und agierte vielfach als Feldherr. Für die Truppenversorgung verfügte er seit [[Nero]] über eine eigene Naturalienabgabe, die ''annona''. Um ihn herum entstanden schwer durchschaubare Verwaltungseinheiten. Sonderbereiche wie die Spiele oder die Bibliotheken übernahmen nur hierfür zuständige [[Prokurator]]en. In Rom führte ein ''[[praefectus urbi]]'' die städtischen [[Kohorte]]n und saß Eilgerichten vor. Der ''[[praefectus annonae]]'' war für die Lebensmittelversorgung, für die Marktaufsicht und die Schifffahrt auf dem [[Tiber]] sowie die Bäckereien zuständig. Hinzu kam ein ''[[praefectus vigilum]]'', der Feuerwachen organisierte. Die Aufgaben wurden bald zu komplex, so dass unter Trajan ''subpraefecti'' eingesetzt wurden, an die enger gefasste Aufgaben delegiert wurden.<br />
<br />
In Italien wachten die Prätorianer über die Sicherheit. [[Tiberius]] brachte sie nach Rom, nur die Präfekten, die für die Flotten zuständig waren, blieben in [[Misenum]] und [[Ravenna]]. Städtische Magistrate sprachen Recht, es entwickelte sich ein [[Instanz (Recht)|Instanzenzug]] mit der letzten Instanz in Rom. Für den Straßenbau waren nicht mehr die [[Censor]]en zuständig, sondern ''curatores viarum''. Die oftmals chaotischen Finanzen der Städte unterlagen seit [[Nerva]] den ''curatores civitatis''. Um 120 sollte mit vier ''consulares'' die Rechtsprechung in Italien zentralisiert werden, doch setzte sich das System erst Ende des Jahrhunderts in abgeschwächter Form durch. Insgesamt gelang es, die massive Selbstbereicherung, die in republikanischer Zeit aus der Vermengung politischer, militärischer und verwaltungstechnischer Ämter und der Kurzzeitigkeit der Ämter resultiert hatte, auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden. Es dauerte bis Ende des 2. Jahrhunderts, bis sich eine relativ feste Hierarchie mit entsprechenden Gehältern entwickelt hatte.<br />
<br />
Jede Stadt verwaltete ihr Umland mit. Im Gegensatz zu den meisten Provinzstädten unterlagen die italienischen dabei nicht der Tributpflicht. ''Incolae'', einfache Bewohner oder Fremde, und ''attributi'', die abseits der Städte wohnten, hatten mindere Rechte. Die Verbindung zu den übergreifenden Einrichtungen stellten ''patroni'' her, lokale Notabeln.<br />
<br />
Die größte Entlastung für die Wirtschaft des Reiches war das Ende der [[Römische Bürgerkriege|Bürgerkriege]]. Das stellte sich für Italien jedoch ganz anders dar. Dort hatte die politisch und ökonomisch führende Gruppe sogar erheblich von der Zufuhr an [[Sklaverei im Römischen Reich|Sklaven]] und den Tributen der Provinzen profitiert, vor allem die großen Landbesitzer. Auch kam die kaiserliche Unterstützung der ''[[Municipium|municipia]]'' und die ausgedehnten kaiserlichen Domänen der Vermögensbildung der führenden Schichten in den Städten zugute. Doch gerade die [[Latifundien]] hatten wiederum zu einer Verdrängung der Bauern, zu einer Entvölkerung des Landes und zur Ausweitung der Weidewirtschaft geführt, was die Verstädterung weiter förderte. Zudem sahen sich Oliven- und Weizenbauern starker Konkurrenz aus [[Gallien]], [[Hispanien]] und [[Africa]] ausgesetzt. Die seit Trajan zunehmend aus den Provinzen stammenden Kaiser förderten ihrerseits die außeritalischen Gebiete zu Lasten Italiens.<br />
<br />
Des Weiteren belastete die italische Wirtschaft, dass immer noch die meisten [[Römische Legion|Legionäre]] aus Italien stammten und Kriege, wie die Trajans, zu hohen Verlusten und zur Ansiedlung in den östlichen Provinzen führten. Bereits [[Nerva]], Trajans Vorgänger, hatte Italien einen besonderen Rang eingeräumt. Trajan verlagerte die Rekrutierungsgebiete auf die hispanischen Gebiete und versuchte damit, der Auszehrung Italiens entgegenzuwirken. Er untersagte daher die Abwanderung aus Italien, verfügte, dass Senatoren aus den Provinzen mindestens ein Drittel ihres Vermögens in Landbesitz in Italien anlegen mussten,<ref>Diesen Anteil reduzierte [[Mark Aurel]] auf ein Viertel (Sabine Panzram: ''Stadtbild und Elite'', Steiner, Stuttgart 2002, S. 67). Bei [[Plinius der Jüngere|Plinius]] (Epistulae 6,19,4) heißt es: „Occurrit; nam sumptus candidatorum, foedos illos et infames, ambitus lege restrinxit; eosdem patrimonii tertiam partem conferre iussit in ea quae solo continerentur, deforme arbitratus — et erat — honorem petituros urbem Italiamque non pro patria sed pro hospitio aut stabulo quasi peregrinantes habere.“</ref> und versorgte Bauern für das Großziehen von Kindern ''(alimenta).'' Diese Alimentarstiftung, die bis ins 3. Jahrhundert bestand, sicherte durch Zinsen und Darlehen, die Trajan Grundbesitzern gewährte, vermutlich hunderttausenden Kindern monatliche Unterstützung.<ref>Gunnar Seelentag: ''Der Kaiser als Fürsorger. Die italische Alimentarinstitution.'' In: Historia 57 (2008) 208–241.</ref> Häfen, Straßen und öffentliche Bauwerke wurden massiv gefördert, insbesondere in Rom.<br />
<br />
Die mangelnde Versorgung der Latifundien mit Sklaven und die niedrige Produktivität der Güter führten im 2. Jahrhundert dazu, dass die großen Güter zunehmend aufgeteilt und an ''coloni'' verpachtet wurden. Für ihr Land leisteten die [[Kolonat (Recht)|Kolonen]] Abgaben in Form von Geld, Naturalien oder Arbeit. Kaiserliche Domänen gab es vor allem im Süden, doch waren die Provinzdomänen bedeutender.<ref>Paul Petit: ''Pax Romana.'' University of California Press, Berkeley 1976, S. 83.</ref><br />
<br />
Insgesamt scheint es, dass die Latifundien weniger die Ursache des Reichtums als die Früchte der im Handel und in der Produktion erwirtschafteten Gewinne waren. Dabei spielten Minen und Steinbrüche eine wichtige Rolle, die aber auch eher in den Provinzen betrieben wurden und nicht etwa um [[Luna (Italien)|Luna]] bei [[Carrara]], da man in Italien einen Abzug von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft fürchtete. Im Produktionsbereich blieb Italien nur bei der Wollspinnerei führend, vor allem in der Po-Ebene, etwa in [[Altinum (Stadt)|Altinum]], und um [[Tarent]]. Glas und Keramik, Lampen und Metallwaren verloren jedoch ihre führende Rolle. Hinzu kam die scharfe Konkurrenz der ökonomisch immer selbstständiger werden Landgüter, der ''[[Villa rustica|villae]]'', gegen die die Kleinhandwerker, die den Löwenanteil der Waren produzierten, kaum ankamen. Immerhin förderten die Kaiser mit ihren Bauprojekten den Handel mit Ziegeln.<br />
<br />
[[Datei:Colonna traiana, veduta notturna 01.JPG|mini|hochkant|Detail der [[Trajanssäule]] mit Szenen aus dem [[Daker]]krieg]]<br />
<br />
Dabei verschwand der Tauschhandel weitgehend, Münzen zirkulierten in jedem Städtchen. Erstmals kam der Münzpolitik größte Bedeutung zu. Bronzemünzen wurden vom Senat geprägt, Gold- und Silbermünzen vom Kaiser. Im Jahr 64 kam es zu einer ersten Abwertung. Trajan konnte das Münzsystem mit [[Daker|dakischem]] Gold unterfüttern, von dem Rom angeblich 5 Millionen römische Pfund erbeutete, also mehr als 1600 Tonnen.<ref>Karl Strobel: ''Untersuchungen zu den Dakerkriegen Trajans.'' Habelt, Bonn 1984, S. 221, gibt (wie die meisten Historiker) 5 Millionen Pfund an. Karl Christ: ''Geschichte der römischen Kaiserzeit: Von Augustus bis zu Konstantin.'' 6. Auflage. Beck, München 2009, S. 300 bezweifelt diese Zahlen, die von [[Johannes Lydos]] stammen, der sich wiederum auf den Leibarzt Trajans, auf T. Statilius Kriton beruft.</ref> Doch wertete er die Kupfermünzen durch Reduzierung des Kupferanteils ab. Hadrians Friedenskurs stabilisierte das System langfristig, doch machte sich schon unter [[Mark Aurel]] eine deutliche Inflation bemerkbar, also eine zunehmende Wertminderung der Münzen. Diese erreichte in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts ihren Höchststand.<ref>[[Hans Kloft]]: ''Die Wirtschaft des Imperium Romanum.'' von Zabern, Mainz 2006, S. 116.</ref> Zudem genügte die Edelmetallgewinnung nicht mehr dem Bedarf, d. h., sie brachte die Wertrelation zwischen Gold und Silber ins Wanken.<br />
<br />
Das Bankensystem ist nur wenig erforscht. Transaktionen von Münzen ließen sich auf dem Papier arrangieren, so dass die Schwierigkeiten und Risiken der Münz- und Barrenübermittlung gemindert wurden.<ref>[[Reallexikon der Germanischen Altertumskunde]], 25, S. 173.</ref> Der Außenhandel brachte den Randprovinzen erhebliche Einnahmen, doch den größten Umfang besaß der Handel zwischen den Provinzen.<br />
<br />
=== Italien als Provinz im Römischen Reich, Christianisierung (3. bis 5. Jahrhundert) ===<br />
[[Datei:Roman provinces trajan 2.svg|mini|hochkant=1.4|Das Römische Reich und seine [[Römische Provinz|Provinzen]] zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Kaiser [[Trajan]] im Jahre 117]]<br />
<br />
Die Durchsetzung des [[Christentum]]s im 4. Jahrhundert bis hin zum Status der [[Staatsreligion]], die Gründung einer zweiten Hauptstadt im Osten und die Teilung des Reichs sowie die Eingliederung Italiens als gewöhnliche Provinz, dazu die politisch-militärische Unsicherheit, die auch vor Italien nicht Halt machte, charakterisierten die sich verändernde Situation des Landes. Weder die Verfolgungen, vor allem unter [[Valerian]] und [[Diokletian]], noch die [[Heidentum|pagane]] Gegenreaktion auf die christenfreundlichere Politik seit Konstantin durch [[Julian (Kaiser)|Kaiser Julian]] konnten die Ausbreitung des Christentums verhindern. Diese, wenn auch vielfach zerklüftete, aber dennoch in wenigen Formen ins Mittelalter mündende Religion wurde mitsamt ihren Organen von zentraler Bedeutung für das [[Frühmittelalter]].<br />
<br />
Die Berechnung der Einwohnerzahl in der Antike bereitet erhebliche Probleme, so dass die Ergebnisse stark divergieren. Um 200 n. Chr. könnte das Römische Reich 46 Millionen Einwohner gehabt haben, Rom mindestens 700.000, andere Schätzungen liegen erheblich höher. So reichen sie für das 1. Jahrhundert von 54 bis zu 100 Millionen für das Reich und liegen um etwa 1,1 Millionen für Rom.<ref>Günter Stangl: ''Antike Populationen in Zahlen. Überprüfungsmöglichkeiten von demographischen Zahlenangaben in antiken Texten.'' Peter Lang, Frankfurt am Main, 2008, S. 86.</ref> Für das 3. Jahrhundert variieren die Annahmen zwischen 50 und 90 Millionen.<ref>Michael E. Jones: ''The End of Roman Britain.'' Cornell University 1998, S. 262.</ref> [[Marc Bloch]] hielt die Berechnung der Einwohnerzahl für unmöglich.<ref>Marc Bloch: ''Les invasions.'' In: Annales, VIII, 1945, S. 18.</ref> Italien hatte nach den älteren Schätzungen von [[Karl Julius Beloch]] 7 bis 8 Millionen Einwohner, hinzu kamen Sizilien mit 600.000 und Sardinien mit 500.000,<ref>Karl Julius Beloch: ''Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt.'' Duncker & Humblot, Leipzig 1886. Seine Schätzungen lagen zunächst niedriger, für Italien bei 6 Millionen, doch erhöhte er später einige Ergebnisse.</ref> doch fiel diese Zahl bis um 500 auf etwa 4 Millionen und bis 650 gar auf 2,5 Millionen.<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philos. Soc, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref><br />
<br />
[[Datei:Aurelian Walls Rome 2011 1.jpg|mini|Abschnitt der [[Aurelianische Mauer|Aurelianischen Mauer]] um Rom]]<br />
<br />
212 erhielten in der ''[[Constitutio Antoniniana]]'' alle Bürger des Reiches das römische Bürgerrecht, die bisherige Bevorzugung Italiens entfiel. In der Zeit der sogenannten [[Reichskrise des 3. Jahrhunderts|Reichskrise]], die von [[Usurpation]]en und zunehmendem Machtgewinn des Militärs geprägt war (siehe auch [[Soldatenkaiser]]), verlor Italien zunehmend seine Rolle als Kernland des Imperiums; diese Entwicklung sollte sich in der [[Spätantike]] fortsetzen. Darüber hinaus musste Rom nach 270 wieder mit [[Aurelianische Mauer|einer Stadtmauer]] militärisch gesichert werden. Zwischen 254 und 259 waren erstmals wieder germanische Stämme auf italischem Boden erschienen, so etwa die [[Alamannen]], die [[Schlacht von Mediolanum|259 bei Mailand]] und [[Schlacht am Lacus Benacus|268 am Gardasee]] zurückgeschlagen wurden.<br />
<br />
[[Datei:AmbroseOfMilan.jpg|mini|Ambrosius von Mailand, Mosaik in [[Sant’Ambrogio (Mailand)|der Mailänder Kirche, die seinen Namen trägt]]. Es entstand möglicherweise zu seinen Lebzeiten.]]<br />
<br />
Analog zum übrigen Reich wurde die Halbinsel unter [[Diokletian]] in Provinzen aufgeteilt ([[Liste der römischen Provinzen ab Diokletian|Liste]]). Die ''[[Dioecesis]] Italiciana'' bildete einen Teil der ''Praefactura praetorio Italia'', zwei ''Vicarii'' residierten in Mailand und Rom. Die von Mailand aus verwalteten ''Regiones annonariae'' im Norden der Halbinsel dienten dem Unterhalt des kaiserlichen Haushalts, die von Rom aus verwalteten ''Regiones suburbicariae'' dienten der Versorgung Roms. Dabei waren die Inseln mit eingeschlossen. Ein politisch weit über Rom hinaus agierender ''[[Praefectus urbi]]'' verwaltete Rom, das seine Funktion als Kaiserresidenz unter [[Konstantin der Große|Konstantin]] weitgehend einbüßte.<br />
<br />
Theologische Auseinandersetzungen nach dem [[Erstes Konzil von Nicäa|Konzil von Nicaea]] (325) zwischen dem athanasischen Westkaiser [[Constans]] und dem [[Arianismus|arianerfreundlichen]] [[Constantius II.]] im Osten gaben den beiden Bischöfen der Metropolen Mailand und Rom bald ebenfalls eine Sonderstellung. Bischof [[Ambrosius von Mailand]] gewann erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik, während der römische Präfekt diesen nach und nach einbüßte, zumal viele der kaiserlichen Amtsinhaber eher zum [[Heidentum|Paganismus]] neigten. Umgekehrt mischten sich Kaiser, etwa [[Valentinian I.]], in die Bischofswahl in Rom ein. Darüber hinaus war der [[Klerus]] von Abgaben und Diensten befreit, ebenso wie vom Kriegsdienst, womit er endgültig zu einem eigenen Stand wurde.<ref>[[Reinhard Blänkner]], [[Bernhard Jussen]]: ''Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, S. 143.</ref><br />
<br />
Zwar lassen sich in Italien erste Juden ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. belegen, eine erste Synagoge entstand jedoch erst um 100 n. Chr. in [[Ostia Antica|Ostia]]. Im 1. Jahrhundert dürfte die Zahl der Gemeindemitglieder bei rund 60.000 gelegen haben, davon 30.000 bis 40.000 in Rom.<ref>Attilio Milano: ''Il ghetto di Roma. Illustrazione storiche.'' Einaudi, Turin 1987, S. 15–18.</ref> Doch um 300 kam es auf dem [[Synode von Elvira|Konzil von Elvira]] (can. 16/78) zu einem ersten Eheverbot zwischen Juden und Christen, mit dem [[Codex Theodosianus]] (III, 7,2; IX, 7,5) galt dieses Verbot im gesamten Reich bei Androhung der Todesstrafe.<ref>Michael Borgolte, Juliane Schiel, Annette Seitz, Bernd Schneidmüller (Hrsg.): ''Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft.'' Akademie, Berlin 2008, S. 446f.</ref> Außerdem wurden den Juden Kleidungsverbote auferlegt, die Sklavenhaltung verboten (damit der Zugang zum Latifundienbesitz und zur Gutsherrschaft verwehrt) und die Übernahme öffentlicher Ämter. Ab 537 mussten sie dennoch zur Finanzierung dieser Ämter beitragen.<br />
<br />
Seit der Gründung [[Konstantinopel]]s als Hauptstadt des Ostens im Jahre 326 und der faktischen Teilung in [[Weströmisches Reich|Weströmisches]] und [[Byzantinisches Reich|Oströmisches Reich]] im Jahr 395 wurde Italien zu einer immer weniger bedeutenden Provinz. Das Westreich löste sich im Verlauf der [[Völkerwanderung]] unter dem Druck von [[Germanen]] und [[Hunnen]], dem Verlust wirtschaftlich bedeutender Provinzen, der vom Kaiser schließlich nicht mehr zu kontrollierenden Armeeführung und einer räumlich wie sozial zersplitterten Gesellschaft auf.<br />
<br />
[[Datei:Prima tetrarchia Diocletianus.PNG|mini|hochkant=1.4|Römisches Reich im [[3. Jahrhundert]].]]<br />
<br />
Im November 401 standen die germanischen Westgoten [[Alarich I.|Alarichs]], die die Römer zu den Skythen zählten, ähnlich wie Alanen und Hunnen,<ref>[[Orosius]]: ''Historiarum adversum paganos'' VII, 37, 9.</ref> erstmals in Italien. Sie scheiterten jedoch vor Aquileia, dann im März 402 vor der Hauptstadt Mailand. [[Flavius Honorius|Honorius]] residierte fortan im sicheren [[Ravenna]]. Am 6. April 402 erlitten die Goten beinahe [[Schlacht bei Pollentia|eine Niederlage]], [[Stilicho]] erreichte ihren Abzug aus Italien, er schlug sie [[Schlacht bei Verona|bei Verona]] und gewann sie später als Verbündete gegen Ostrom. Erst 408, als die Rheingrenze zusammengebrochen war, drohte Alarich erneut, nach Italien zu ziehen, was er nach dem Sturz Stilichos und dessen Hinrichtung am 22. August auch tat. 410 wurde Rom [[Plünderung Roms (410)|geplündert]], doch zogen die Goten 412 nach [[Gallien]] ab.<br />
<br />
Nach Honorius’ Tod im Jahr 423 bestimmte der Ostkaiser die Politik in Italien. Den römischen Bischöfen, insbesondere [[Leo der Große|Leo I.]], gelang es, sowohl am Hof des Westens als auch dem des Ostens Ansehen zu gewinnen. Dies zeigte sich etwa bei der Invasion der Hunnen unter [[Attila]] im Jahr 452. [[Plünderung Roms (455)|455]] plünderten jedoch die [[Vandalen]] Rom und besetzten Sardinien und Sizilien. Der ''[[Magister militum]]'' [[Ricimer]] beherrschte für einige Jahre die Politik im Westen, bevor Konstantinopel [[Julius Nepos]] unterstützte, der von Dalmatien nach Italien marschierte. Dieser wiederum wurde 475 von [[Orestes (Heermeister)|Orestes]] gestürzt, der seinen Sohn [[Romulus Augustulus]] zum Kaiser erhob, der seinerseits im August 476 von [[Odoaker]] gestürzt wurde. Damit endete ''de iure'' das weströmische Kaisertum – spätestens mit der Ermordung des Julius Nepos in Dalmatien 480. Odoaker erkannte die Herrschaft des Ostkaisers formal an und versorgte seine Truppen mit Land in Italien.<br />
<br />
=== Kirchenorganisation, Bistumshierarchie und Römisches Reich ===<br />
{{Hauptartikel|Urchristentum|Christenverfolgungen im Römischen Reich}}<br />
[[Datei:Privil classe.jpg|mini|Kaiser [[Konstantin IV. (Byzanz)|Konstantin IV.]] (Mitte) erhebt Ravenna zum Erzbistum. Von links nach rechts: [[Justinian II.]], die beiden Brüder des Kaisers und er selbst, zwei Erzbischöfe von Ravenna und drei Diakone.]]<br />
<br />
Ohne die Differenzierung zwischen Amtskirche und Gemeinschaft der Gläubigen zu berücksichtigen, lässt sich auf der formalen Ebene bereits im frühen 2. Jahrhundert eine Verfestigung der Ämterstruktur und eine Ausbreitung des [[Bischof]]samts feststellen, die in der Spätantike jede Stadt erfasste. Diese Heraushebung der Stadt gegenüber dem Umland blieb in Italien, im Gegensatz zu vielen ehemaligen Provinzen des Römerreichs, durchgängig kennzeichnend. Die Grenzen zwischen den Municipia bildeten vielfach die späteren Bistumsgrenzen, wobei zuweilen auch [[Kloster|Klöster]], wie [[Nonantola]] oder [[Abtei Bobbio|Bobbio]], ihr Umland integrieren konnten.<br />
<br />
Eine zentrale Rolle spielte die Hauptstadtgemeinde, die sich auf die Apostel [[Simon Petrus|Petrus]] und [[Paulus von Tarsus|Paulus]] zurückführte, und die besonderes Ansehen genoss.<ref>Vgl. Kristina Sessa: ''The Formation of Papal Authority in Late Antique Italy. Roman Bishops and the Domestic Sphere.'' Cambridge University Press 2011.</ref> Zwischen den Bischöfen [[Damasus I.]] (366–381) und [[Leo der Große|Leo I.]] (440–461) entstand die Vorstellung von einer ''Renovatio Urbis'', der Wiederauferstehung Roms als nunmehr christliche Hauptstadt. So weist bereits [[Cyprian von Karthago]] auf die rechtliche Kontinuität hin, die auf der Kirchenebene auf den Stuhl Petri verweist. Den Anspruch zu den ältesten, auf die Apostel zurückreichenden Bischofssitzen zu zählen, erhoben allerdings auch Ravenna und Aquileia. Mitte des 3. Jahrhunderts fand in Rom eine erste überlieferte [[Konzil|Synode]] von 60 Bischöfen statt. Ende des 6. Jahrhunderts lassen sich in Mittel- und Oberitalien 53 Kirchen fassen, im städtereicheren Süden gar 197. Analog zur staatlichen Organisation entstanden zwei Kirchenprovinzen mit den Zentren Mailand und Rom. Aquileia wurde für die Gebiete bis zur [[Donau]] zuständig. Ravenna blieb zunächst Rom zugeordnet, doch unter [[Justinian I.]] nahm Bischof [[Maximianus von Ravenna]] als erster den Titel eines Erzbischofs (archiepiscopus) an und um 650 wurde Ravenna durch Kaiser [[Konstans II.]] auf einige Jahrzehnte sogar ganz der [[Jurisdiktion (Kirche)|Jurisdiktionsgewalt]] Roms entzogen.<br />
<br />
== Germanen und Ostrom ==<br />
=== Odoaker, Ostgoten und Gotenkrieg (476–568) ===<br />
[[Datei:Palace of Theodoric - Ravenna 2016 (2).jpg|mini|So genannter „Palast Theoderichs“ in [[Ravenna]]. Er wurde Sitz des oströmischen Exarchen. Ob die Ruine tatsächlich Teil des Palastes ist, ist unklar.]]<br />
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Auch nach 476 bestanden in Italien zunächst [[spätantike]] Strukturen fort. Nach dem [[Untergang des Römischen Reiches|Untergang]] des [[Weströmisches Reich|weströmischen Kaisertums]] 476 wurde Italien zuerst von dem ''rex Italiae'' [[Odoaker]] regiert und war dann ab 489 bzw. 493 Kernland des Reichs der [[Ostgoten]], die unter [[Theoderich der Große|Theoderich]] im Auftrag des oströmischen Kaisers [[Zenon (Kaiser)|Zenon]] in Italien eingefallen waren. Theoderich regierte formal im Auftrag des Kaisers und trennte zivile und militärische Gewalt deutlich stärker nach ethnischen Prinzipien auf; die zivile Administration blieb in der Hand der Römer, die Goten übten derweil die Militärverwaltung aus und erhielten Land zugewiesen. Es scheint, als habe die Privilegierung der Ostgoten das Verschmelzen der römischen Aristokratie mit der gotischen Führungsgruppe be- oder gar verhindert.<ref>Dieser Fragestellung geht Marco Aimone: ''Romani e Ostrogoti fra integrazione e separazione. Il contributo dell’archeologia a un dibattito storiografico.'' In: Reti Medievali Rivista, 13, 1 (2012) 1-66 erstmals auf der Grundlage archäologischer Untersuchungen nach.</ref> Die Ostgoten waren [[Arianismus|Arianer]] und standen daher den kirchlichen Organen in Italien fern, was Theoderich in seinen letzten Jahren dazu bewog, den Bischof von Rom gefangen zu setzen oder politisch unter Verdacht Geratene, wie [[Quintus Aurelius Memmius Symmachus|Symmachus]], hinrichten zu lassen: Nachdem 519 das [[Akakianisches Schisma|Schisma]] zwischen Rom und Konstantinopel beigelegt worden war, fürchtete der alternde Gotenkönig zunehmend, er könne an die Oströmer verraten werden. Seine Tochter [[Amalasuntha]] versuchte nach dem Tod ihres Vaters (526) eine römerfreundlichere Politik, wurde jedoch ermordet, was Kaiser [[Justinian I.|Justinian]] im Jahr 535 den Anlass bot, militärisch in Italien zu intervenieren. Sizilien fiel als Erstes; die dortige Zivilverwaltung wurde direkt Konstantinopel unterstellt.<br />
<br />
[[Datei:Erster und Zweiter Gotenkrieg.png|mini|Verlauf der [[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkriege]] Justinians]]<br />
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Italien wurde zwischen 535 und 553 in blutigen Kämpfen von oströmischen Truppen unter Führung der Feldherren [[Belisar]] und [[Narses]] erobert ([[Gotenkrieg (535–554)|Gotenkrieg]]). Kaiser Justinian wollte damit das Römische Reich erneuern ''([[Renovatio imperii]])'', doch führten die Kämpfe zu einer Verelendung weiter Landstriche. 554 wurde die Verwaltung Italiens neu geordnet und die meisten senatorischen Ämter wurden abgeschafft; doch blieb das Amt des Stadtpräfekten unangetastet. Italien wurde schließlich 554 formal Teil des [[Byzantinisches Reich|Oströmischen Reiches]], und 562 fielen auch die letzten gotischen Festungen. Doch kam es bereits 568 zur Invasion der [[Langobarden]] nach Italien, die große Teile des Landes eroberten. Dieses Ereignis gilt gemeinhin als das [[Ende der Antike]] in Italien, dessen staatliche Einheit nun für 1300 Jahre zerbrach. Der langobardische Herrschaftsraum im Norden Italiens zerfiel bald in viele kleinere Herzogtümer (Dukate). Der von Konstantinopel kontrollierte Rest wurde unter Kaiser [[Maurikios]] um 585 in das [[Exarchat von Ravenna]] zusammengefasst. Neben dem Gebiet zwischen Rom und Ravenna blieben große Teile des Südens sowie Ligurien und die Küste Venetiens und Istriens oströmisch-byzantinisch, wobei Ligurien im 7. Jahrhundert an die Langobarden verlorenging.<br />
<br />
Unter Papst [[Gregor der Große|Gregor I.]] wurde das von Ostrom 534 besetzte [[Sardinien]] ab 599 unter Gewaltanwendung katholisiert.<ref>Gregor forderte von den lokalen Autoritäten die Zwangsbekehrung der verbliebenen Heiden in Epist. 9, 204.</ref> 710 besetzten arabische Truppen Sardinien, das zur Provinz ''Africa'' gehört hatte, doch vertrieben die Bewohner 778 die Besatzer<ref>Auguste Boullier: ''L’Île de Sardaigne. Description, histoire, statistique, mœurs, état social.'' E. Dentu, Paris, 1865, S. 78.</ref> und wehrten 821 ihren letzten Angriff ab. Auf der Insel entstanden vier [[Sardische Judikate|Judikate]], selbstständige, von Richtern geführte politische Einheiten, deren letzte, das [[Judikat Arborea]], bis 1478 Bestand hatte. Die Küstenorte wurden, wie in ganz Italien, vielfach aufgegeben.<br />
<br />
Der Gotenkrieg, der harte Fiskalismus der kaiserlichen Verwaltung sowie die Invasion der [[Langobarden]] ab 568, das Abreißen der Handelsbeziehungen und die zunehmende Unsicherheit führten zu einem drastischen Rückgang der Bevölkerung, einem weitgehenden Verschwinden der alten Senatsaristokratie, einem Schrumpfen der Städte, zur Regionalisierung von Machtballungen und einer gesteigerten Agrarisierung der Wirtschaft unter Zunahme der Subsistenzwirtschaft. Der Mittelmeerraum veränderte zudem seine Funktion als Handelsdrehscheibe, zumal die Südseite ab den 630er Jahren von muslimischen Armeen erobert wurde, die bis um 700 auch noch ''[[Africa]]'', die Kornkammer Italiens, eroberten und von dort aus begannen, die italienischen Küstenorte zu plündern.<br />
<br />
=== Langobarden und Byzantiner (568–774) ===<br />
[[Datei:Justinien 527-565.svg|mini|links|[[Byzantinisches Reich]] um 565]]<br />
[[Datei:Exarchate of Italy - 600 AD.png|mini|Oströmische Gebiete um 600]]<br />
[[Datei:Cividale Ratchisaltar - Madonna mit Kind.jpg|mini|Der [[Ratchis]]altar im westlichen Seitenschiff des Domes von [[Cividale del Friuli|Cividale]], Ausschnitt: Madonna mit Kind, um 740]]<br />
<br />
Die gesamte Schicht der Besitzenden wurde im Exarchat in das militärische System eingebunden, lokale Miliztruppen verstärkten die byzantinische Armee. Dabei entstand eine militärisch-politische Hierarchie von regional unterschiedlicher Selbstständigkeit. Sie band sich um Rom stärker an den dortigen Bischof, um Ravenna an den Exarchen, in Venetien an dort entstandene Familienstrukturen, [[Tribun (Venedig)|Tribunen]] und [[Doge von Venedig|Duces]], im Süden an die enger an Byzanz gebundenen Apparate. Kaiser [[Konstans II.]] zog 662 mit einer Armee von Konstantinopel nach Italien, um gegen die Langobarden und Araber zu kämpfen; er residierte bis zu seiner Ermordung 668 in Syrakus auf Sizilien, konnte aber keine nachhaltigen Erfolge erzielen.<br />
<br />
Die Langobarden unterstanden von 574 bis 584 keiner gemeinsamen Führung, doch machte die übergreifende Koordination im Kampf gegen die [[Franken (Volk)|Franken]] die Wiedereinführung eines Königtums notwendig. In Opposition zum byzantinischen [[Exarchat Ravenna]] wählten die Langobarden [[Pavia]] zur Hauptstadt, mit zentralen Funktionen ab dem frühen 7. Jahrhundert. Daneben entstanden königliche Paläste in Verona (nach 580), in Mailand und schließlich in Ravenna. Anders als im Frankenreich herrschten die Könige von Residenzen aus, insbesondere dem Palacium in Pavia, das seit [[Rothari]] eine Art Hauptstadt darstellte, und reisten nicht, wie nördlich der Alpen noch lange üblich, durch ihr Reich, weil dessen Königsmacht an seine physische Anwesenheit gebunden war ([[Reisekönigtum]]). Auch kam es, im Gegensatz zum Frankenreich, zu keiner Verschmelzung der römischen Führungsschichten mit den germanischen, da diese lange als [[Arianer]] der katholischen Bevölkerung fernstanden und Gewalttaten in der frühen Eroberungsphase viele Adelsfamilien, vor allem den senatorischen Adel, in byzantinisches Gebiet vertrieben. Um 600 machte sich allerdings der mäßigende Einfluss der Königin [[Theudelinde]] bemerkbar, der Tochter des Bayernherzogs [[Garibald I.]] Danach wechselten sich arianische und katholische Könige ab. König Rothari ließ 643 die Rechtsgewohnheiten der Langobarden [[Kodex|kodifizieren]]. Währenddessen gelang es den langobardischen [[Herzogtum Benevent|Herzögen von Benevent]] und von [[Herzogtum Spoleto|Spoleto]], ein hohes Maß an Autonomie zu wahren.<br />
<br />
König [[Liutprand (Langobarde)|Liutprand]] (712–744) gelang die Einigung der Langobarden und er nahm den Kampf gegen Byzanz wieder auf. Dabei kam ihm zustatten, dass die Langobarden inzwischen katholisiert waren und sich daher leichter mit den herrschenden römischen Familien verbanden, um eine gemeinsame Herrenschicht zu bilden. Das Edikt König [[Aistulf]]s von 750 unterschied bereits nicht mehr nach ethnischem oder religiösem Hintergrund, sondern teilte die Bevölkerung nach ihrem Vermögen und entsprechend ihrer Ausrüstung verschiedenen militärischen Kategorien zu. 750/751 gelang ihm die Eroberung Ravennas, nachdem gut ein Jahrzehnt zuvor diese Eroberung noch gescheitert war.<br />
<br />
Der mit Papst [[Stephan II. (Papst)|Stephan II.]] verbündete [[Pippin der Jüngere|Pippin]], seit 751 König der Franken, zog zwei Mal nach Italien und zwang Aistulf zur Anerkennung seiner Oberherrschaft und zur Abtretung des Exarchats von Ravenna, das Pippin dem Papst schenkte ([[Pippinische Schenkung]]). Er übernahm nunmehr das Patriziat über die Stadt Rom. Zwischen dem Langobardenreich und Süditalien war damit die Entstehung eines weltlichen Herrschaftsraums, des [[Papst]]es ''(Patrimonium Petri)'', zu einem vorläufigen Abschluss gekommen, da Konstantinopel aufgrund der Bedrohung durch die [[Awaren]] und [[Araber]] seit etwa 650 nur noch gelegentlich im Westen eingreifen konnte.<br />
<br />
== Teil des Frankenreichs, „Nationalkönige“ (774–951) ==<br />
[[Datei:Italy Lothar II.svg|mini|Königreich Italien, (781–1014).]]<br />
<br />
[[Langobardenfeldzug|Ab dem Jahr 774 eroberte]] der Sohn und Nachfolger Pippins, [[Karl der Große|Karl I.]], das Langobardenreich und krönte sich in Pavia mit der [[Eiserne Krone|Langobardenkrone]] zum „König der Franken und Langobarden“. Im Zuge der [[Karolinger|karolingischen]] Reichsteilungen wurde (Nord-)Italien wieder ein selbstständiges Königreich, zunächst unter karolingischen Königen, ab 888 unter einheimischen Königen fränkischer Herkunft wie [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Vienne]] und [[Berengar II.|Berengar von Ivrea]] („[[Nationalkönige]]“).<br />
<br />
=== Fränkische Eroberung ===<br />
Italien blieb im [[Frühmittelalter]] politisch geteilt, immer wieder kam es zu Kampfhandlungen. Die Langobarden hatten 751 Ravenna erobert und seit etwa 750 jeden Handel mit byzantinischen Untertanen verboten. Aufgrund der langobardischen Bedrohung rief der Papst die Franken zu Hilfe. König [[Pippin der Jüngere|Pippin]] eroberte Ravenna, das allerdings nun vom Papst beansprucht wurde. Mit König [[Desiderius (König)|Desiderius]] kam es zu ähnlichen Auseinandersetzungen, so dass Pippins Sohn und Nachfolger [[Karl der Große|Karl I.]] 774 die Langobardenhauptstadt [[Pavia]] angriff und das Langobardenreich eroberte. Karl übertrug die ehemals byzantinischen Gebiete an den Papst und geriet dadurch in Widerstreit zu Konstantinopel. Mit seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 durch den Papst kam es zu einem bis 812 andauernden Bruch zwischen den Kaiserreichen ([[Zweikaiserproblem]]). Der Dukat Spoleto wurde dem Frankenreich angegliedert, nicht jedoch der [[Herzogtum Benevent|Dukat Benevent]]. Der Adel nahm dort eine ähnliche Entwicklung wie unter den Franken, doch zerfiel der Dukat in die Fürstentümer Benevent und Salerno und die Grafschaft Capua.<br />
<br />
Karl teilte Italien in [[Grafschaft]]en und [[Mark (Territorium)|Marken]] ein und brachte fränkische Adlige als Herrenschicht ins Land. Er gewährte den Klöstern und Bistümern Privilegien und stattete sie mit Gutsherrschaften aus. Die langobardischen Freien wurden als [[Arimanni]] in das fränkische Heer aufgenommen. Sie erhielten vor allem in den Bistümern größeren Einfluss und standen auf gleichem Rang wie der fränkische Feudaladel. Zugleich finden sich ab 845 Hinweise, dass die langobardische Sprache verschwand.<ref>Dies zeigt ein [[Placitum]] von 845 aus Trient ([[Joseph von Hormayr]]: ''Kritisch-diplomatische Beyträge zur Geschichte Tirols im Mittelalter'', Bd. 1, Wien 1803, Nr. 2, 26. Februar 845), in dem zwischen „Longobardi“ und „Teutisci“ (solchen, die eine germanische Sprache sprechen) unterschieden wird.</ref> Dennoch ging das Bewusstsein verschiedener Abstammung nicht verloren, was sich in den Namen [[Lombardei]] für das langobardische Kerngebiet und [[Romagna]] für das römisch-byzantinische niederschlug. Dank der [[Karolingische Renaissance|Karolingischen Renaissance]] kam es zu einer zeitweiligen Zunahme von Bildung, Schriftlichkeit und Kunst unter Rückgriff auf römische Überlieferung.<br />
<br />
=== Regnum Italicum, äußere Angriffe ===<br />
Nach dem Tod [[Ludwig der Fromme|Ludwigs des Frommen]] (840) wurde das Frankenreich geteilt und das Regnum Italicum erhielt mit der Hauptstadt Pavia ein höheres Maß an [[Autonomie]]. [[Ludwig II. (Italien)|Ludwig II.]] (844–875) hielt sich mindestens einmal im Jahr auf seinen Reisen durch das Reich dort auf und berief eine Versammlung aller Großen ein. Um die Hauptstadt herum befanden sich in zwei bis drei Tagesreisen Entfernung königliche Paläste, in denen auch Urkunden ausgestellt wurden. Von Januar bis April überwinterte der Hof meist in [[Mantua]], das seit frühkarolingischer Zeit zum kleinen Kreis der Residenzstädte hinzugekommen war. Meist reiste der Hof in der Po-Ebene, nur selten in die Toskana oder gar nach [[Spoleto]]. Solche Reisen verband man mit einem Besuch Roms. Als Ludwig sich zwischen 866 und 872 durchgängig südlich von Rom aufhielt, minderte dies seine Autorität im Norden keineswegs. Hauptaufgabe des Königs war es, die gesellschaftliche Ordnung so zu erhalten, wie sie überliefert war, und vor allem Recht zu sprechen. Dies geschah durch den König oder seine [[Königsbote|missi]] vor möglichst vielen Zeugen, wobei gelegentlich auch Große für Missetaten gegen Untergebene bestraft wurden. Doch hatte jeder seine Position in der als seit jeher als bestehend aufgefassten gesellschaftlichen Hierarchie. Der Freie in der Freiheit, der Knecht in der Knechtschaft: „liber in libertate, servus iin servitute“, wie es in einer Urkunde des Klosters [[Nonantola]] aus dem Jahr 852 heißt.<ref>J. F. Böhmer: Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926), Bd. 3. Die Regesten des Regnum Italiae und der burgundischen Regna. Teil 1. Die Karolinger im Regnum Italiae 840-887 (888), Köln 1991 (RI I, 3 n. 99, Oktober 852).</ref> Ab Berengar I. verschwanden die von Karl dem Großen eingeführten Richter (scabini), deren Einfluss gegenüber den königlichen bzw. Paveser Richtern schon lange rückläufig war. Diese Zuspitzung auf Pavia und die dortige Rechtsausbildung sollte Italien hinsichtlich der Rolle der Rechtskundigen in der Stadtentwicklung einen völlig eigenen Verlauf geben. Im Gegensatz zu den ''scabini'' waren sie nicht von lokalen Herren abhängig, sondern vom König, doch hielten sie sich meist fern vom Hof auf. Sie wurden stärker in lokale Auseinandersetzungen einbezogen, zugleich entwickelte sich ein komplizierteres Rechtsfindungsverfahren, das nun ohne die Zeugenschaft der pauperes (der Armen) auskam. Auch befassten sich die Richter nun fast nur noch mit Auseinandersetzungen innerhalb der lokalen Eliten, nicht mehr denen innerhalb der übrigen ländlichen Welt.<ref>Cristina La Rocca: ''Italy in the Early Middle Ages. 476-1000.'' Oxford University Press, 2002, Abschnitt ''Justice: principles, personnel, and places''.</ref> Die Befreiung von jurisdiktionellen und damit königlichen Eingriffen ganzer Herrschaftsbezirke führte wiederum zu einer größeren inneren Selbstständigkeit, was ein festgelegtes Abgaben- und Leistungssystem gegenüber dem König ausgleichen sollte. Zugleich wurden die unteren Gesellschaftsgruppen von der Möglichkeit ausgeschlossen, die königliche Autorität direkt anzurufen.<br />
<br />
[[Datei:Aghlabid in 900 ad.png|mini|Emirat von Sizilien, [[9. Jahrhundert]].]]<br />
<br />
Ludwig II. führte vor allem im Süden eine eigenständige Außenpolitik, insbesondere gegenüber den Arabern unter den [[Aghlabiden]], die seit 827 begannen, Sizilien zu erobern und sich bald in Süditalien festsetzten. Bis 902 gelang ihnen die Eroberung der Insel, das politische Zentrum verlagerte sich nun von [[Syrakus]] nach [[Palermo]]. Von 843 bis 871 bestand ein arabisches Emirat in [[Bari]], dessen Truppen jedoch von Ludwig II. besiegt wurden. Danach setzte sich Byzanz wieder in den Besitz [[Apulien]]s und erlangte sogar wieder Einfluss in Benevent. Der inzwischen selbstständige Dukat Neapel zerfiel in die Stadtherrschaften [[Neapel]], [[Amalfi]] und [[Gaeta]].<br />
<br />
Im Norden waren es ab 899 [[Magyaren|Ungarn]], die von Nordosten in Italien einfielen. Sie waren erst seit 896 auf dem Gebiet ihres heutigen Staates ansässig. Von dort zogen sie so oft nach Italien, dass der von ihnen berittene Weg bald ''strata Hungarorum'' genannt wurde. Doch kamen sie nicht nur, um zu plündern, sondern sie wurden auch in den dynastischen Auseinandersetzungen eingesetzt.<ref>[[Liutprand von Cremona]] warf dem Karolinger [[Arnulf von Kärnten]] vor, er habe, selbst von 894 bis 899 König von Italien, die Ungarn gegen seine Feinde herbeigerufen (Antapodosis I,13, ed. Joseph Becker, Hannover 1915).</ref> 922 marschierten sie bis nach Apulien, 924 setzten sie unter der Führung eines Salard und (möglicherweise) als Verbündete Berengars die Stadt Pavia und den Königspalast in Brand; dabei kam auch Bischof Johannes III. ums Leben. Erst nach schweren Niederlagen und mit ihrer Christianisierung endeten ihre Kriegszüge nach 955, die beinahe ganz Mittel- und Südeuropa erfasst hatten. In Italien gilt die Invasion der Ungarn als letzte Invasion der „Barbaren“ und damit als Abschluss der [[Völkerwanderung]].<br />
<br />
=== Feudalisierung, erste städtische Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:Lothar I.jpg|mini|Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]], [[Lothar-Evangeliar]], [[Tours]], zwischen 849 und 851 entstanden, [[Bibliothèque nationale de France]], Paris]]<br />
<br />
Im Norden entstanden aus den fränkischen Großeinheiten die Territorialherrschaften dort mächtiger Familien ''(siehe: [[Italienischer Adel]])''. Daneben erlangten die Bistümer erhebliche regionale Macht und im Zuge des ''Incastellamento'' entstanden neue Schwerpunkte. Die fränkischen Großen wiederum brachten ihre Verbündeten aus [[Burgund]] und anderen Reichsteilen in den Kampf um die Vormacht. Um sie kämpften [[Guido von Spoleto|Wido von Spoleto]] und [[Berengar I.|Berengar I. von Friaul]], [[Hugo I. (Italien)|Hugo von Arles und Vienne]] wurde von 926 bis 941 König. [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] machte schließlich [[Berengar II.|Berengar II. von Ivrea]] die Königswürde streitig.<br />
<br />
Neben den Feudalherrschaften<ref>Dazu: [[François Menant]]: ''Lombardia feudale. Studi sull’aristocrazia padana nei secoli X-XIII'', Vita e Pensiero, Mailand 1992.</ref> entstanden in der Nordhälfte erste städtische Herrschaften, wie etwa Rom, das von der Familie des Senators [[Theophylakt I. von Tusculum|Theophylakt]] beherrscht wurde, und [[Republik Venedig|Venedig]], das zwar noch formal Byzanz unterstand, jedoch unter wechselnden Dogenfamilien mit ihrem 811 eingerichteten festen Amtssitz eine eigenständige Außenpolitik führte. Im ''[[Pactum Lotharii]]'' überließ Kaiser [[Lothar I. (Frankenreich)|Lothar I.]] Venedig weitreichende Handelsrechte in Oberitalien, seine Nachfolger erkannten Venedigs Besitz auf Reichsgebiet an. Zugleich hatten sich die Städte der Lagune mehrerer Invasionen fränkischer, slawischer (um 846), arabischer (875) und ungarischer (899 bis 900) Armeen zu erwehren.<br />
<br />
=== Kirchenorganisation ===<br />
Die Eroberungen der Langobarden veränderten die Hierarchie auch der kirchlichen Gemeinden. So unterstellte sich die Hauptstadt Pavia Rom und löste sich von Mailand. Der Sitz des Bistums Aquileia wurde nach [[Grado (Italien)|Grado]] verlegt, das Bistum [[Altinum (Stadt)|Altinum]] wurde auf die weniger gefährdete Insel [[Torcello]] in der [[Lagune von Venedig]] verlegt.<br />
<br />
Größere Veränderungen der Bistumsgrenzen setzten erst die Karolinger im 9. Jahrhundert durch, die mit ihrer Neuordnung Strukturen schufen, die den römischen ähnlicher waren als den zuvor herrschenden langobardischen. Die fränkischen [[Graf]]en, die die [[Gastalde]]n und [[Herzog|Herzöge]] ersetzten, residierten vielfach in den Bistumsstädten, doch mussten die Bischöfe sich um herrschaftliche [[Privileg]]ien und [[Regalien]] bemühen, die ihren ''Comitatus'' sicherten. Vielfach entstand auf der Grundlage verschiedener Rechte ein bischöfliches Territorium innerhalb der Grafschaften. Zu dieser Verselbstständigung trugen die äußeren Angriffe und die relative Schwäche des [[Reichsitalien|Regnum Italicum]] erheblich bei. Die Bischöfe waren zumeist selbst Angehörige der herrschenden Familien und konnten sich durch Verleihung von Einnahmen der Kirchen, Kapellen und Taufkirchen (Pieven) eine Gefolgschaft sichern. Ihrer unmittelbaren Machtausübung standen jedoch mehrere Entwicklungen entgegen. Die karolingischen Gesetze räumten den Pieven das Recht ein, Zehnte einzuziehen, und durch die Zuordnung der ländlichen Bevölkerung erhielten sie eine Art Gebietsherrschaft – ein Spezifikum Italiens. Zudem entstanden in einigen Gebieten Klerikerdynastien aus [[Laie (Religion)|Laienfamilien]], die dem Bistum seine Rechte weitgehend entzogen. Darüber hinaus gingen aus den [[Vasall|Gefolgsleuten]] der Bischöfe neue weltliche Führungsschichten in den Städten hervor.<br />
<br />
Ab 816 kam mit den [[Institutiones Aquisgranenses|Constitutiones Aquisgranenses]] ein neues Element in die kommunale Entwicklung. Mit ihnen entstand ein [[Domkapitel]], da man forderte, dass der Klerus nach klösterlichem Vorbild gemeinschaftlich lebte. Dieser [[Klerus]] war wiederum bemüht, die Verfügungsgewalt über einen größeren Teil des bischöflichen [[Patrimonium]]s zu erhalten. Bei den [[Eigenkirche]]n, die vermögende Adelsfamilien errichteten, trat diese Erscheinung noch stärker zutage. Die [[Kathedrale|Kathedralkirche]] und ihr Patrimonium unterstanden zwar weiterhin dem Bischof, doch die Domkapitel übernahmen nun die Verwaltung der Kathedrale. Der Bischof wurde auf sein Patrimonium begrenzt.<br />
<br />
Rom ging aus den [[Theologie|theologischen]] Auseinandersetzungen mit Byzanz in Italien gestärkt hervor und galt als Garant der rechtgläubigen [[Dreifaltigkeit|Trinitätslehre]] und ihrer [[Christologie]]. Zudem gelang seit Gregor I. die [[Konversion (Religion)|Konversion]] der verbliebenen Arianer und der letzten Heiden – auf Sardinien auch gewaltsam. In Rom entstand eine Ämterhierarchie, die die notwendigen Rechte und Einnahmen sicherte. Damit wurde Rom zu einer weiteren bedeutenden Machtballung in Italien, neben dem Frankenreich und Byzanz sowie den [[Aghlabiden]] bzw. den ihnen nachfolgenden [[Kalbiten]] auf Sizilien.<br />
<br />
Im [[Byzantinischer Bilderstreit|Bilderstreit]] entzog Kaiser [[Leo III. (Byzanz)|Leo III.]] 732/33 dem Papst die Patrimonien [[Kalabrien]] (Bruttium) und Sizilien. [[Otranto]] stieg 986 zum Sitz eines [[Metropolit]]en auf, mit [[Squillace]], [[Rossano]] und [[Santa Severina]] entstanden neue Bistümer. Die südlichen Kirchen wurden organisatorisch und kulturell stark von Byzanz geprägt, was dem Gebiet einen bis heute bestehenden griechischen Charakter verlieh.<br />
<br />
== Reichsitalien (ab 951) ==<br />
[[Datei:Iron Crown.JPG|mini|links|Die [[Eiserne Krone]] der Langobarden, das Symbol der italienischen Königswürde, die 951 Adelheid in die Ehe mit Otto I. einbrachte. Das eigentliche Machtsymbol der Langobardenkönige war jedoch der Speer. Der Speer [[Odin]]s, Gugingus, gab den frühen Langobardenkönigen ihre Abkunftsbezeichnung als Gugingen (ex genere Gugingus).<ref>Frans Theuws: ''Rituals of Power: From Late Antiquity to the Early Middle Ages'', Brill, Leiden 2000, S. 22 bzw. [[Paulus Diaconus]]: ''[[Historia Langobardorum]]'' I, 14.</ref> ]]<br />
[[Datei:Otto I Manuscriptum Mediolanense c 1200.jpg|mini|Otto und Berengar mit ihren Gefolgsleuten. Der sitzende [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] empfängt als Zeichen der Unterwerfung ein abwärts gerichtetes Schwert vom zu seiner Rechten knienden König [[Berengar II.]] Ein Gefolgsmann Ottos, der zu seiner Linken steht, trägt ein Schwert mit der Spitze nach oben als Zeichen der Richtgewalt Ottos; das Schwert eines seiner Männer, der ein Kettenhemd trägt, ist abwärts gerichtet. Illustration einer Handschrift der Weltchronik [[Otto von Freising|Ottos von Freising]], um 1200 (Mailand, [[Biblioteca Ambrosiana]]). Die Protagonisten werden dabei verschieden bezeichnet: Mit knapper Amtsbezeichnung wird Otto als „Otto Theotonicorum rex“ bezeichnet, sein Kontrahent hingegen nur mit „Beringarius“.]]<br />
<br />
951 gewann [[Otto I. (HRR)|Otto I.]] durch die Ehe mit Adelheid, der Witwe Hugos I., die Herrschaft über Nord- und Teile Mittelitaliens und begründete die Verbindung [[Reichsitalien]]s mit dem [[Heiliges Römisches Reich|Reich]]. Nicht Bestandteil des Langobardenreichs und auch des späteren Heiligen Römischen Reichs war hingegen [[Republik Venedig|Venedig]], das zunächst nur aus der [[Lagune von Venedig|dortigen Lagune]] bestand, aber dennoch eine einflussreiche Macht darstellte, die sich ab dem 14. Jahrhundert, vor allem aber 1405 über den Osten und die Mitte Oberitaliens ausbreitete.<br />
<br />
Unter den [[Liudolfinger|Ottonen]] wurde deren [[Ottonisch-salisches Reichskirchensystem|Reichskirchenpolitik]] in Italien fortgesetzt und die Bistümer wurden gestärkt. Damit wurde die Macht jedoch stark zersplittert, wenn auch teilweise die Wiederanbindung des grundbesitzenden Adels an das Reich gelang. Der Konflikt mit Byzanz in Süditalien konnte durch die Ehe [[Otto II. (HRR)|Ottos II.]] mit [[Theophanu (HRR)|Theophanu]] beigelegt werden, doch erlitt er 982 am [[Capo Colonna|Kap Colonna]] gegen die [[Sarazenen]] eine schwere Niederlage. Sein Sohn [[Otto III. (HRR)|Otto III.]], der ihm 983 im Amt folgte, beabsichtigte Rom, den Ort der Kaiserkrönungen, zur Hauptstadt seines Reiches zu machen. 991 machte er Gerbert von Aurillac als Papst [[Silvester II.]] zum Herrn der Reichskirche, doch starb der Kaiser bereits 1002.<br />
<br />
Zahlreiche Italienzüge folgten, um die Herrschaft in Reichsitalien zu sichern. Sie waren mit der [[Kaiserkrönung]] durch den Papst verbunden und wurden häufig als „Romfahrt“ bezeichnet. Ihr ging üblicherweise die Krönung zum König von Italien mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] der Langobarden voraus. Für die Ausstellung von Urkunden war eine „italienische“ Abteilung der Reichskanzlei verantwortlich; die politische Verantwortung übernahm der [[Erzamt|Erzkanzler für Italien]], ein Amt, das ab 965 beim Erzbischof von Köln lag.<br />
<br />
== Byzantiner (bis 1071), Araber (827–1091) ==<br />
[[Datei:MadridSkylitzesFol97raDetail.jpg|mini|Während der Belagerung Benevents (871) verhandelt Emir Soldanos (Mofareg ibn Salem) von Bari mit einem byzantinischen Gesandten, [[Madrider Bilderhandschrift des Skylitzes]], ursprünglich in den 1070er Jahren angefertigt; illustrierte Kopie von etwa 1150 bis 1175, entstanden im Umkreis des normannischen Königshofs in Palermo, Biblioteca Nacional de España in Madrid]]<br />
<br />
Süditalien blieb noch bis ins 11. Jahrhundert partiell byzantinisch bzw. langobardisch (Fürstentümer [[Herzogtum Benevent|Benevent]], [[Fürstentum Capua|Capua]], [[Fürstentum Salerno|Salerno]]). Zur Verteidigung gegen die [[Araber]], die von etwa 827 bis 1091 [[Sizilien]] oder Teile davon beherrschten und von 847 bis 871 ein Herrschaftsgebiet um [[Bari]] unterhielten, warben diese langobardischen Fürsten gegen Ende des 11. Jahrhunderts [[Normannen|normannische Söldner]] an, die danach ganz Süditalien einschließlich der Fürstentümer ihrer Auftraggeber [[Normannische Eroberung Süditaliens|eroberten]] und 1130 auf ehemals langobardischem, arabischem und byzantinischem Gebiet das [[Königreich Sizilien]] gründeten.<br />
<br />
Bereits 668 und 703 hatten muslimische Flotten [[Syrakus]] angegriffen, doch gelang es den Arabern nicht, sich dauerhaft auf der Insel festzusetzen.<ref>Grundlegend: Stefano Del Lungo: ''Bahr ʻas Shâm. La presenza musulmana nel Tirreno centrale e settentrionale nell’alto medioevo.'' Archaeopress, Oxford 2000.</ref> 827 besiegte jedoch Admiral Euphemios den byzantinischen Statthalter Siziliens, um sich seiner Verhaftung zu entziehen, und erklärte sich zum Kaiser. Er rief die seit 800 in Tunesien selbstständig gewordenen [[Aghlabiden]] zu Hilfe, die unter Führung von [[Asad ibn al-Furāt]] bei Lilybaeum ([[Marsala]]) landeten. Nach langwierigen Kämpfen fiel 831 Palermo, 841–880 war [[Tarent]] arabisch, bis 871 hielten sie sich in [[Bari]]. Es kam 846 zu einem Angriff auf Rom (was zu einer Ummauerung der [[Peterskirche]] führte) und 875 auf Venedig und [[Aquileia]]. Auf Sizilien fielen [[Cefalù]] 857, [[Enna]] 859, schließlich Syrakus 878 und [[Taormina]] 902. Etwa 880 bis 915 setzten die Araber sich in [[Agropoli]] nördlich von [[Neapel]] fest, im Jahr 900 zerstörten sie [[Reggio Calabria|Reggio]] in Kalabrien. [[Rometta]] hielt sich bis 965, Byzanz gelang es, von 965 bis 983 Taormina zu besetzen.<ref>[[Ekkehard Eickhoff]]: ''Seekrieg und Seepolitik zwischen Islam und Abendland. Das Mittelmeer unter byzantinischer und arabischer Hegemonie (650–1040).'' de Gruyter, Berlin 1966, S. 189.</ref> 849 gelang es einer päpstlich-kampanischen Flotte, eine sarazenische Flotte vor [[Ostia (Rom)|Ostia]] zu schlagen. 871 gingen Ludwig II., Byzanz und Venedig, unterstützt von Truppen Lothars II., kroatischen und dalmatinischen Hilfstruppen, in Süditalien vor und eroberten Bari zurück. Der Emir floh zu Adelchin von Benevent. Die Aghlabiden erwiderten dies mit einem Angriff von angeblich 20.000 Mann auf Kalabrien und Kampanien, doch unterlagen sie Ludwigs Truppen 873 in Capua. 876 unterstellte sich Bari Byzanz, dem 880 die Eroberung Tarents gelang. Dennoch erlahmte die Expansionskraft der süditalienisch-tunesischen Muslime erst ab 915.<br />
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Die Araber betätigten sich nicht nur als Eroberer und Plünderer, vielfach in Diensten der süditalienischen Großen. Sie brachten auch neue [[Bewässerung]]stechniken und [[Kulturpflanze]]n mit. So wurden Zitronen und Orangen, Datteln, aber auch Baumwolle, Pistazien und Melonen sowie Seide zu wichtigen Produkten der Insel, deren Hauptmärkte nun im Süden lagen. [[Palermo]] löste [[Syrakus]] als größte Stadt Siziliens ab. Die Nachfolger der Aghlabiden, die [[Fatimiden]], setzten 948 [[Hassan al-Kalbi]] als Emir in Sizilien ein, der die Dynastie der [[Kalbiten]] begründete. Gegen sie unterlag Otto II. im Jahr 982 in Kalabrien. Als es um 1030 zu Streitigkeiten innerhalb der Dynastie kam, versuchte Byzanz diese Gelegenheit zur Rückeroberung zu nutzen. General [[Georgios Maniakes]] besetzte 1038 Messina und 1040 Syrakus, doch mussten die Byzantiner bereits 1043 wieder abziehen.<br />
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1063 griff eine pisanische Flotte Sizilien an, doch erst den [[Normannen]] gelang es in einem zähen Kampf von 1061 bis 1091, die Insel zu erobern – 1071 fiel [[Catania]], 1072 Palermo. Sie hatten bereits zuvor die langobardischen Gebiete unterworfen und auch die Byzantiner vertrieben, deren letzte Stadt Bari 1071 fiel. Noch vor Abschluss der Eroberung wandten sich die Normannen dem Kernland von Byzanz zu, das sie ab 1081 zu erobern versuchten. Byzanz sah sich damit einem gleichzeitigen Angriff der Normannen im Westen und der türkischen [[Seldschuken]] im Osten ausgesetzt. Venedig unterstützte in dieser Situation Kaiser [[Alexios I. (Byzanz)|Alexios I.]] mit seiner Kriegsflotte und erhielt im Gegenzug Handelsprivilegien, die seine Händler ab 1082 von allen Abgaben befreiten.<br />
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== Wirtschaft, Handel, Kredit und Marktquote im Hochmittelalter ==<br />
Um 1000 kam es zu einer Intensivierung des Handels und zu einer Steigerung der Produktion. Dies hing mit einer Besserung der klimatischen Bedingungen, dem Rückgang der Epidemien, wie der [[Malaria]], aber auch mit dem Abklingen der Invasionen aus dem Osten (Slawen, Ungarn) und dem Süden (Araber, Berber) zusammen. Die Bevölkerung Italiens, die wieder anstieg, wird für die Zeit um 650 auf 2,5 Millionen,<ref>Josiah Cox Russell: ''Late Ancient and Medieval Population.'' American Philosophical Society, Philadelphia 1958, S. 93f.</ref> für das späte 11. Jahrhundert auf 5 Millionen Einwohner geschätzt. Bis Ende des 14. Jahrhunderts lag sie bei rund 10 Millionen.<ref>''Italien.'' In: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, Sp. 732.</ref><br />
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Dieser Anstieg der Bevölkerung bewirkte oder ermöglichte eine verstärkte [[Landesausbau|Binnenkolonisation]], die ihren Höhepunkt während des 12. Jahrhunderts erlebte. Dabei löste sich das [[Villikation]]ssystem weitgehend auf, die (Wieder-)Einführung von Zitrusfrüchten, Oliven, Baumwolle<ref>Maureen Fennell Mazzaoui: ''The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages, 1100–1600'' Cambridge University Press, Cambridge 1981.</ref> und eine Seidenproduktion bei nur geringen technologischen Veränderungen führten zu einer Intensivierung des Austauschs. Vom wirtschaftlichen Vorsprung der muslimischen Reiche und des Byzantinischen Reichs profitierten zunächst Städte in Süditalien, wie [[Amalfi]], dann [[Salerno]], [[Gaeta]], [[Bari]], sowie die Städte Siziliens. Sie handelten im ganzen Mittelmeerraum mit Holz, [[Mediterraner Sklavenhandel|Sklaven]], Eisen, Kupfer, wofür sie Gewürze, Wein, Luxuswaren, Farbstoffe, [[Elfenbein]] und Kunstwerke erstanden.<br />
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[[Datei:Venezianische Kolonien.png|mini|Kolonialreich und Haupthandelswege Venedigs im östlichen Mittelmeer]]<br />
[[Datei:Genuesische Kolonien.png|mini|Kolonien Genuas]]<br />
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Im 10. Jahrhundert gelang es [[Republik Venedig|Venedig]] durch seine engen Beziehungen zu Byzanz und zu den muslimischen Reichen, nicht nur zu einer Handels-, sondern auch zu einer Seemacht aufzusteigen. [[Republik Genua|Genua]] und Pisa hingegen standen im [[Tyrrhenisches Meer|Tyrrhenischen Meer]] erheblich stärkeren Gegenkräften gegenüber, konnten jedoch binnen eines Jahrhunderts um 1100 die Oberhand gewinnen. Diesen drei bald vorherrschenden Seemächten kamen technische Innovationen, wie [[Kompass]], [[Portolan]], aber auch die Vergrößerung des Frachtraums, die verbesserte Ausbildung der Kaufmannssöhne und der staatliche Schutz von Handelskonvois zustatten. Auch dehnten sie die Handelszeiten aus und verkürzten die Winterpausen.<br />
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Die Dominanz über große Teile des Mittelmeers machte die oberitalienischen Flotten zum gegebenen Transportmittel für Pilger und Kreuzfahrer, was wiederum gewaltige Vermögen hervorbrachte. Schließlich gelang es Genuesen und Venezianern durch überwiegend unter äußeren Zwängen gewährte Privilegien, die byzantinische Konkurrenz weitgehend auszuschalten und den Handel nach [[Konstantinopel]] und tief nach Asien zu dominieren. Sowohl Genua als auch Venedig eroberten zunächst eine Kette von Stützpunkten bis weit in den Osten, die sie zu regelrechten Kolonialreichen ausbauten. Darüber hinaus unterhielten sie Kaufmannskolonien in zahlreichen Städten, die verschiedene Grade der Autonomie erhielten.<ref>Zu den italienischen Kaufleuten in Europa vgl. [[Arnold Esch (Historiker)|Arnold Esch]]: ''Viele Loyalitäten, eine Identität. Italienische Kaufmannskolonien im spätmittelalterlichen Europa.'' In: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 581–608.</ref><br />
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Diesem Handelssystem im Osten musste ein entsprechendes System im Westen und Norden entgegengestellt werden, um Waren zu akquirieren und ausreichende Absatzmärkte zu entwickeln. Dies galt zum einen für Italien selbst, dessen wachsende Bevölkerung durch eine große Zahl von Messen, durch den Ausbau lokaler Märkte mit Waren versorgt wurde, zum anderen für Westeuropa, wo sich italienische Kaufmannskolonien entwickelten. Sie saßen in den Städten der [[Provence]], [[Katalonien]]s und [[Kastilien]]s, im Rheinland, in [[Flandern]] und [[England]]. Sie bildeten analog zu den östlichen Kaufleuten die Schaltstationen für den Handel, für Informationen und sogar für die Ausbildung des Nachwuchses. Sie waren es zudem, die den Luxusbedarf der Höfe einschließlich desjenigen des Papstes deckten.<br />
<br />
Dieser Aufstieg im Zusammenhang mit der ''kommerziellen Revolution''<ref>Erstmals bei Raymond de Roover: ''The Commercial Revolution of the Thirteenth Century.'' Diskussionsbeitrag zu N. S. B. Grass: ''Capitalism – Concept and History.'' In: Business History Review 16 (1942), S. 34–39, Nachdruck 1962.</ref> konnte neben der günstigen räumlichen Lage Italiens und den Kontakten mit ökonomisch weiter entwickelten Nachbarn auf die städtische Kontinuität aufbauen, die hier größer war als in den meisten anderen Gebieten des ehemaligen Römischen Reichs.<ref>Die Debatte hierüber fand in den 1970er bis 90er Jahren statt und teilte Historiker wie Archäologen in solche, die eher einen katastrophischen Umbruch sahen (die ''catastrofisti''), wie [[Andrea Carandini|A. Carandini]], R. Hodges, D. Whitehouse oder G. P. Brogiolo, und die Verfechter einer Kontinuität (die ''continuisti''), wie B. Ward-Perkins, C. Wickham, C. La Rocca.</ref> Die Städte waren Amtssitze von Bischöfen und Äbten, von königlichen Verwaltungsorganen, deren wirtschaftliche Grundlagen dennoch überwiegend im Ländlichen lagen, und die Städte besaßen Märkte und Messen, Häfen und Fernhandelsstraßen und profitierten vom Luxusbedarf. Zudem konnten sie sich im Norden von den Landesherren weitgehend unabhängig machen und den Landadel zwingen, in die Stadt zu ziehen. Mit diesen Entwicklungen brach in Italien die Dominanz des Agrarischen über das Städtische zusammen. Handel, Geldwesen, gewerbliches Unternehmertum unter der Ägide einer aufkommenden bürgerlichen Herrenschicht prägten das Land. Die städtische Bevölkerung dürfte sich zwischen dem 11. und dem frühen 14. Jahrhundert verfünf- oder -sechsfacht haben. Dieses Wachstum war ganz überwiegend dem Zuzug vom Lande zu verdanken, so dass sich neben die ökonomische Revolution eine ''Stadtrevolution'' gesellte. Dieser Zuzug bewirkte zum einen eine massive Vergrößerung der Städte, zum anderen die Entstehung einer Bauindustrie, die zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige wurde.<br />
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Die kommunalen Führungsgruppen bestanden aus Fernhändlern, Immobilienbesitzern und Grundbesitzern. Sie wurden gedrängt, ihr Kapital in Handelsreisen und Schiffsbau zu investieren, aber auch in staatliche Fürsorgeaufgaben, wie die Versorgung mit Getreide und Brot, deren massenhafter Umsatz einen erheblichen Anteil an der Entstehung der großen Vermögen hatte. Auch die Waren an Bord der Schiffe gehörten meist einem oder mehreren Kapitalgebern, die mit dem Schiffsführer durch einen Vertrag verbunden waren. Bald kamen zum Handel und zur Plünderung Geschäfte wie [[Bank]]- oder [[Wechsel (Wertpapier)|Wechselunternehmungen]] hinzu. Dies galt sowohl für den kleinen, lokalen Kreditmarkt als auch für die Fernhandelskredite, die in Venedig stärker staatlich, in Genua stärker privat organisiert waren. Ab dem 12. und 13. Jahrhundert schlossen sich die Händler zu Gesellschaften (compagnie) zusammen, die aus Familienverbänden hervorgingen und Filialen bildeten. In Venedig galten Brüder sogar automatisch als Angehörige ein und derselben Handelsgesellschaft.<ref>Vgl. Frederic C. Lane: ''Family Partnerships and Joint Ventures in the Venetian Republic.'' In: Journal of Economic History 4 (1944), S. 178–196.</ref><br />
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Die Techniken des Geldtransfers und der Kreditvergabe wurden ab dem 12. Jahrhundert erkennbar verbessert. So überwand man sehr viel früher als im übrigen Europa die Risiken des Münztransfers, die Hürden des Wechsels von einem Münzsystem ins andere und entwickelte zugleich durch verdeckte Zinsnahme, die ja aufgrund biblischer [[Zinsverbot|Verbote]] untersagt war, ein umfangreiches Kreditwesen auf der Basis von Wechseln. Auf [[römisches Recht]] gestützt, wurde zudem das [[Seerecht|See]]- und [[Geschichte des Handelsrechts|Handelsrecht]] ausgebaut.<br />
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Um 1250 hatte sich die kommerzielle Revolution so weit durchgesetzt, dass sie das Wesen der italienischen Metropolen dominierte. Die Mentalität der Führungsschichten setzte auf räumliche Expansion, wie etwa nach [[Russland]], [[Geschichte Chinas|China]], [[Indien]] und Afrika, aber auch [[Norwegen]] und in den Ostseeraum, in Italien selbst expandierte der Warenumsatz auf der Grundlage zunehmender Geld- und Marktvermittlung der meisten ökonomischen Transaktionen. Um dem stark angestiegenen Handelsvolumen Wege zu öffnen, dehnte man die Wasserwege, die natürlicherweise zur Verfügung standen, aus, indem man Kanäle baute und die Straßen verbesserte. Der ganz überwiegende Teil des Handels, insbesondere der mit Massengütern, wurde dabei weiterhin auf dem Wasser bewältigt.<br />
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Handel und Gewerbe bildeten in den Städten eine schwer abzugrenzende Einheit. Die [[Zunft|Handwerkerzünfte]] (arti) bezogen sich dabei meist auf den Laden (bottega) und nahmen nur selten „industrielle“ Dimensionen an. Ganz anders war die Situation im [[Bergbau]] und im [[Schiffbau]] sowie im Textilsektor. Bis zum 12. Jahrhundert waren Kalabrien und Sizilien die Zentren der Seidenproduktion, ab dem 13. Jahrhundert auch die Toskana und die Emilia, dort wiederum [[Lucca]] und [[Bologna]]. Zunächst waren die italienischen Tuchhändler vor allem im Zwischenhandel zwischen [[Herzogtum Brabant|Brabant]]-[[Grafschaft Flandern|Flandern]] und Nordfrankreich tätig, doch begannen sie in einer Art Verlagssystem eine Mischung aus Handwerksbetrieben, Lohn- und Heimarbeit zu entwickeln ''(opificio disseminato)''.<br />
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[[Datei:SilverGrossoDogeRanieroZeno1253-1268Venice.jpg|mini|Silbermünze, Venedig zwischen 1253 und 1268]]<br />
[[Datei:Venezia Ducato 1400.jpg|mini|Goldmünze, Venedig 1400]]<br />
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Die Mittlerrolle Italiens erzwang ein doppeltes Münzsystem aus Silber- und Goldmünzen, das zunächst in geringem Umfang die süditalienischen Städte in der Nachfolge der muslimischen betrieben, deren [[Tari (Münze)|Tari]] sie übernahmen. Mitte des 13. Jahrhunderts gingen Florenz und Genua, Ende des Jahrhunderts auch Venedig zu einem Doppelsystem aus Gold- und Silbermünzen über, das den Städten erhebliche Einnahmen brachte und zugleich Preismanipulationen und Verlagerungen der gesellschaftlichen Lasten ermöglichte. So installierte Florenz eine Binnenwährung und eine Währung für den Außenhandel, die stabil gehalten wurde. Dadurch konnte man die Löhne im Vergleich zu den Erträgen aus dem Außenhandel senken, ohne den sozialen Frieden im Innern zu gefährden.<ref>[[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo.'' Venedig 1961, Nachdruck 1995, S. 121.</ref><br />
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Um 1200, vor allem nach der Plünderung Konstantinopels (1204) im Verlauf des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], überstieg das Kapitalangebot den entsprechenden Markt. Dies gab dem Geldverleih und dem Bankwesen neue Möglichkeiten, wobei sich einige der Banken auf Geschäfte der [[Hochfinanz]] spezialisierten. Sie finanzierten königliche Höfe und organisierten die päpstlichen Finanzen. Auch Kriege wurden zunehmend von ihnen vorfinanziert. Das Risiko bestand allerdings darin, dass keine Mindestdeckung des ausgegebenen Kapitals bestand, und vor allem, dass es bei ausländischen Kreditnehmern kaum Möglichkeiten gab, sie zur Rückzahlung zu zwingen.<br />
<br />
Ganz anders verlief hingegen die Entwicklung im Süden Italiens.<ref>Grundlegend zur Zweiteilung Italiens ist immer noch [[David Abulafia]]: ''The Two Italies. Economic Relations between the Norman Kingdom of Sicily and the Northern Communes.'' Cambridge University Press, Cambridge 1977.</ref> Die dortigen Städte standen im 11. Jahrhundert an der Schwelle zur kommerziellen Revolution, doch brachte die normannische Herrschaft nach der Vertreibung der Byzantiner und Berber eine ausgeprägte Feudalisierung unter Dominanz des neu erhobenen Adels. Dessen Latifundien und die fortdauernde Bindung der Bauern an die Scholle verhinderten die Entfaltung agrarischer Vielfalt, zumal der Weizen als Exportgut, das der Kriegsfinanzierung diente, immer größere Flächen in Anspruch nahm. Sowohl Normannen als auch Staufer, Anjou und die spanischen Herrscher nutzten diesen Reichtum zur Finanzierung ihrer Hofhaltung und ihrer Kämpfe untereinander und ihrer Expansionsversuche gegen Byzanz. Zugleich wurden die Kommunen einer rigorosen Steuerverwaltung und einem dem schwankenden Finanzbedarf angepassten Fiskalismus unterworfen sowie kommunale Selbstorganisation weitgehend unterdrückt. Auch spielten Handwerker- und Händlerkorporationen nur eine geringe Rolle.<br />
<br />
Dies führte dazu, dass der italienische Norden den Süden als Rohstoffland betrachtete – etwa von Wein, Öl, Käse, Holz, Salz, Vieh, Meeresfrüchten usw. – und die von den heimischen Dynastien geschaffenen Verhältnisse vertiefte. Die Kaufleute aus Genua, Florenz, Pisa und Venedig ließen sich im 12. Jahrhundert in großer Zahl in den Hafenstädten nieder. Nach dem Ende der Staufer (1268) dominierten die Florentiner vor allem das Reich der Anjou, die Pisaner das aragonesische Sizilien. Zu ihnen kamen im 14. Jahrhundert katalanische Kaufleute, die gleichfalls dazu beitrugen, dass das Kapital abfloss und kaum im Land investiert wurde.<br />
<br />
Alle Bemühungen der Staufer, etwa Bergbau, Zuckerproduktion, Handwerk und Gewerbe zu fördern, der Anjou das Straßennetz auszubauen, und selbst die Einrichtung neuer Messen und Märkte brachten angesichts dieser Grundkonstellation kaum Verbesserungen. Allerdings kamen diese staatlichen Lenkungsversuche den Hafenstädten zugute, da sie stark vom Export profitierten. Neapel wurde als Hauptstadt wieder wichtig für den Schiffbau und als Zentrum für Luxusgüter. Nach der Vereinigung Neapels mit Sizilien (1442) intensivierte sich der Handel mit den Spaniern ungemein, jedoch erhielt Süditalien auch hier eher die Rolle des Rohstofflieferanten. Dabei nahm die Seidenraupenzucht in Kalabrien einen Aufschwung, es wurden [[Merinoschaf]]e eingeführt, [[Thunfisch]] und [[Korallen]] wurden verstärkt ausgeführt.<br />
<br />
== Reformversuche der Kirche und Gesellschaft ==<br />
Im Norden war die zunehmende Verstädterung von Machtkämpfen der landsässigen ''Capitane'' und der eher an die Städte angelehnten ''Valvassoren'', die Inhaber von Lehen waren und Reichsrechte genossen, begleitet. Zugleich kämpften Stadtherren und Einwohnergemeinden um die Vorherrschaft. Die Mailänder [[Pataria]] von 1057<ref>Grundlegend: [[Hagen Keller]]: ''Pataria und Stadtverfassung.'' In: Josefl Fleckenstein (Hrsg.): ''Investiturstreit und Reichsverfassung.'' Thorbecke, Sigmaringen 1973, S. 321–350.</ref> bewirkte zugleich, dass sich das [[Reformpapsttum]], das, ähnlich wie die Aufständischen, die Bekämpfung der [[Simonie]] und des [[Nikolaitismus]] betrieb, in Konflikt mit der kaiserlichen Herrschaft geriet. Dies hing vor allem damit zusammen, dass Papst [[Gregor VII.]] das Recht der Einsetzung des Mailänder Bischofs beanspruchte, schließlich ab 1075 die aller Bischöfe. Bereits 1024 zerstörten die ''Cives'' Pavias die Königspfalz und beendeten damit deren Rolle als königliche Residenz.<ref>Piero Majocchi: ''Pavia città regia. Storia e memoria di una capitale altomedievale.'' Viella, 2008, S. 91f.</ref> Ab den 1080er Jahren sind Konsulatsverfassungen in den Städten fassbar, ab 1093 formelle Bündnisse zwischen Städten.<br />
<br />
[[Datei:Urkunde Wormser Konkordat-bg.png|mini|Urkunde Heinrichs V. von 1122 (s. [[Wormser Konkordat]]), in der er auf die Investitur der Bischöfe mit ''Ring und Stab'' verzichtet.]]<br />
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Im Italien des 11. Jahrhunderts verbanden sich Reformbestrebungen der Kirche<ref>Zu kirchlichen Reformbestrebungen und der Veränderung der Gesellschaft vgl. John Howe: ''Church Reform and Social Change in Eleventh-Century Italy.'' University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1997.</ref> mit Bestrebungen, die Abhängigkeit vom transalpinen Königtum zu mindern. Vor allem in den nördlichen Bistümern hatte das [[Reichskirchensystem]] eine starke Abhängigkeit der Kirchen geschaffen, die sich auch darin zeigte, dass dort vor allem bayerische Bischöfe residierten, wie etwa in Aquileia, in der [[Mark Verona]]<ref>Für das Bistum Verona untersuchte dies Maureen Catherine Miller: ''The Formation of a Medieval Church. Ecclesiastical Change in Verona, 950-1150.'' Cornell University Press, Ithaca, 1993.</ref> und in Ravenna. In anderen Städten entstammten die Bischöfe vielfach der Gruppe der feudalen italienischen Capitane, ab dem 12. Jahrhundert auch der Valvassoren. Die Bischöfe erhielten sich zwar eine gewisse Selbstständigkeit, doch wurden sie zunehmend in das grundherrschaftlich organisierte Herrschaftssystem des Reichs eingebunden. Gegen die Unterwerfung der Bischofswahlen unter den Willen eines königlichen Laien regte sich zunehmend Widerstand. Der Aufstand der Pataria von 1057, der vor allem der moralischen Wiederherstellung der Kirche galt, wirkte auch nach seiner Niederschlagung fort. 1067 bestätigten die [[Päpstlicher Legat|Kardinallegaten]] in Mailand dem Bischof die aus seinem Amt heraus ausgeübte geistliche Gewalt über den gesamten Klerus, die Gemeinschaft der Gläubigen und insbesondere über die Taufkirchen, ganz gleich, ob die daran hängenden Benefizien Laien oder Klerikern zustanden. 1075 untersagte Papst Gregor VII. explizit die Einsetzung von Geistlichen durch Laien in ihre Ämter. Darüber kam es bis zum [[Wormser Konkordat]] (1122) zu einer ersten Streitphase mit den deutschen Herrschern.<br />
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[[Datei:Pedro Berruguete - St Dominic and the Albigenses - WGA02083.jpg|mini|Der heilige [[Dominikus]] und die [[Albigenser]] in [[Albi]] (1207) – katholische und katharische Schriften werden ins Feuer geworfen, doch nur letztere verbrennen – [[Pedro Berruguete]] um 1495.<ref>[http://www.wga.hu/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html St Dominic and the Albigenses] in der [http://www.wga.hu/frames-e.html?/html/b/berrugue/pedro/dominic2.html WEB Gallery of Art]</ref> ]]<br />
<br />
Die spirituelle<ref>Zur Geschichte der Spiritualität in Italien vgl. Pietro Zovatto (Hrsg.): ''Storia della spiritualità italiana.'' Città Nuova, Rom 2002.</ref> und die soziale Dimension der Reformbewegung darf bei den dahinterliegenden ökonomischen und Machtinteressen nicht unterschätzt werden. Um 1034 erschienen mit den Häretikern von Monforte im Piemont erstmals [[Häresie|heterodoxe]] Bewegungen, Gruppen, deren Lehre die Kirchenleitung nicht mit ihren Dogmen für vereinbar hielt. Neben der bereits genannten Pataria (1057) sind hier vor allem [[Arnold von Brescia]]<ref>Zur Rezeption vgl. Romedio Schmitz-Esser: ''Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute.'' LIT Verlag, Münster 2007.</ref> (1155 hingerichtet), die [[Katharer]], die [[Humiliaten]], die italienischen [[Waldenser]] oder die [[Passagini]] zu erwähnen, aber auch [[Ugo Speroni]] († nach 1198), der sich gegen Hierarchie, Priestertum und Sakramente wandte.<br />
<br />
Vielfach am Rande des akzeptierten Spektrums agierten zunächst reformbegeisterte Einsiedler, wie [[Petrus Damiani]], der das Leben des Klerus in Gemeinschaften stärken wollte. Überall entstanden von Klerikern und Laien initiierte [[Kanoniker]]stifte. Im klösterlichen Sektor entstanden die [[Virginianer]], der Orden von Pulsano, die [[Wilhelmiten]], die [[Kartäuser]], die [[Zisterzienser]] sowie die Floriazenser durch [[Joachim von Fiore]]. Gegen die Vielfalt der der Welt zugeneigten Bewegungen entstand wiederum eine Bewegung, die sich von der Welt abwandte, Kontemplation und Buße übte und damit benediktinische Traditionen wieder stärker belebte. So entstanden die Kongregationen der [[Coelestiner]] und der [[Silvestriner]].<br />
<br />
Laienbewegungen, wie die [[Halleluja-Bewegung]] waren von ähnlich großem Einfluss; einige von ihnen betätigten sich antihäretisch. Im 13. Jahrhundert kam die [[Flagellanten]]bewegung auf, welcher der dritte Orden der Franziskaner lange zuneigte. Schließlich kamen Franziskaner und [[Dominikaner]], später auch [[Karmeliter]], [[Augustinereremiten]], [[Serviten]] und [[Sackbrüder]] hinzu. Vor allem die beiden Ersteren setzte der Papst in seinem propagandistischen Kampf gegen den Kaiser ein.<br />
<br />
[[Datei:Hanging and burning of Girolamo Savonarola in Florence.jpg|mini|Die Hinrichtung Savonarolas auf der Piazza della Signoria in Florenz]]<br />
<br />
Im 14. und 15. Jahrhundert wandten sich zahlreiche Kongregationen karitativen Aufgaben zu, wie es schon früher [[Beginen und Begarden]] getan hatten. So entstand ein überaus dichtes Netz von Hospitälern und Bruderschaften, wobei viele Institutionen in kommunaler Hand waren oder von den Städten ins Leben gerufen wurden. Dass die Vertreter dieser Bewegungen sich damit jedoch keineswegs zufriedengaben, zeigen Männer und Frauen wie [[Bernhardin von Siena]], [[Katharina von Genua]] oder [[Franziska von Rom]], die der Mystik neue Impulse gaben, vor allem aber [[Girolamo Savonarola]], der zur Durchsetzung seiner Ideen 1494 bis 1498 die politische Macht in Florenz an sich riss.<br />
<br />
Dabei blieb Italien von Hexenverfolgungen weitgehend verschont.<ref>Dies und das Folgende nach Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 44f.</ref> Zwar gab es sie in den Alpentälern (die schwersten Verfolgungen fanden in [[Valcamonica]] von 1518 bis 1521<ref>Massimo Prevideprato: ''Tu hai renegà la fede – Stregheria ed inquisizione in Valcamonica e nelle Prealpi lombarde dal XV al XVIII secolo.'' Vannini, Brescia 1992.</ref> und bis mindestens 1525 in [[Como]] statt), doch [[Andrea Alciati]] (1492–1550), führender Kommentator des [[Codex Iuris Civilis]], verfasste aus Anlass der dortigen Verfolgungen Gutachten, in denen er in kaum zu überbietender Schärfe von „nova holocausta“ sprach. Er warf der [[Inquisition]] vor, sie schaffe das Phänomen der Hexerei erst, statt es, wie sie behauptete, zu bekämpfen.<ref>Wolfgang Behringer: ''Witches and Witch-Hunts. A Global History.'' Polity Press, Cambridge 2004, S. 167.</ref> Schon 1505 war der Franziskaner Samuel de Cassini aus Mailand gegen die Verfolgungen aufgetreten, dennoch kamen sie vereinzelt bis nach 1700 vor.<ref>Wolfgang Behringer: ''Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung.'' Beck, München 2002, S. 61.</ref><br />
<br />
Die [[Inquisition]] war von Rom in den Auseinandersetzungen mit den zahlreichen sozialen und religiösen Bewegungen gegründet worden und stützte sich vor allem auf die Dominikaner. Die Waldenser, die „Armen von Lyon“, wurden 1184 in dem von Papst [[Lucius III.]] verfassten Edikt ''Ad Abolendam'' als [[Häresie|Häretiker]] aufgeführt. Eine erneute Verurteilung folgte 1215 unter Papst [[Innozenz III.]] 1252 wurden die Waldenser in der von Papst [[Innozenz IV.]] verfassten [[Päpstliche Bulle|Bulle]] ''[[Ad Extirpanda]]'' erneut nebst anderen Gruppen verurteilt. Ab den 1230/1240er Jahren gingen die Verfolgungen von der Inquisition aus. Während die Inquisition das waldensische Bekenntnis in Kalabrien und in der Provence ausrottete, überlebte es in einigen Tälern der [[Cottische Alpen|Cottischen Alpen]].<br />
<br />
== Papst, Normannen, Staufer (bis 1268) ==<br />
Im hohen und späten Mittelalter waren weite Teile Mittelitaliens von der [[Römisch-katholische Kirche|römisch-katholischen Kirche]] dominiert und, ebenso wie Oberitalien, unmittelbar von den Machtkämpfen zwischen Kaiser und [[Papst]] (beginnend mit dem [[Investiturstreit]] und endend im 14. Jahrhundert) sowie von den Kämpfen zwischen den Kommunen betroffen. Letztere ordneten sich meist als [[Ghibellinen und Guelfen]] den streitenden Hauptparteien zu. Daneben bestanden auch innerhalb der Kommunen oft starke Spannungen.<br />
<br />
Dabei spielte das Ende der arabischen und der byzantinischen Herrschaft im Süden eine erhebliche Rolle. 1038 und 1040 gelang Byzanz zwar die Rückeroberung von [[Messina]] und [[Syrakus]], doch nun führten Auseinandersetzungen bei Hof und das Ausgreifen der als Söldner ins Land geholten Normannen zum Zusammenbruch sowohl der byzantinischen als auch der arabischen Herrschaft.<br />
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[[Heinrich II. (HRR)|Heinrich II.]] griff 1021 im Süden ein; ihm unterwarfen sich die süditalienischen Fürsten und er belagerte das byzantinische [[Troia (Apulien)|Troia]] in Apulien. Das Papsttum, das bis 1012 von den [[Crescentier]]n abhängig war, hing nun von den [[Tuskulaner]]n ab. Sein Sohn und Nachfolger traf jedoch mehrere langfristig wesentlich folgenreichere Entscheidungen: Mit der Einsetzung Suidgers von Bamberg als Papst [[Clemens II.]] schuf [[Heinrich III. (HRR)|Heinrich III.]] 1046 die Voraussetzungen für das Reformpapsttum. Er belehnte darüber hinaus 1047 den Normannen [[Rainulf II.]] mit der Grafschaft [[Aversa]] und Drogo von Hauteville mit seinem apulischen Landbesitz, der auf byzantinischem Gebiet lag. Damit traten erstmals Normannenführer in eine Lehnsbindung zum Reich. Der Papst belehnte seinerseits 1059 [[Robert Guiskard]] mit Apulien, Kalabrien und dem noch zu erobernden Sizilien. Unter seiner Führung eroberten dann die Normannen in einer Art Kreuzzug<ref>Diese Einreihung als frühester Kreuzzug bietet Paul E. Chevedden: ''“A Crusade from the First”: The Norman Conquest of Islamic Sicily, 1060–1091.'' In: Al-Masaq: Islam and the Medieval Mediterranean 22 (2010), S. 191–225.</ref> von 1061 bis 1091 Sizilien<br />
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[[Datei:Italy 1050.jpg|mini|Italien um 1050]]<br />
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Ein weiterer wichtiger Faktor war die Durchsetzung des [[Lehnswesen|Lehnsrechts]] in Oberitalien, bei der sich der Kaiser zugunsten der [[Valvassor]]en einsetzte ([[Constitutio de feudis]], 1037), um damit der Macht der Großen, die sich im von den Kaisern nur selten aufgesuchten Italien verselbständigt hatten, ein Gegengewicht entgegenzusetzen. Um die Macht der [[Große]]n weiter einzuschränken, stattete er mehrere Städte mit Privilegien aus. Dementsprechend wurde einer der mächtigsten Capitane, [[Gottfried III. (Niederlothringen)|Gottfried der Bärtige von Tuszien]], zum Protektor der Reformpäpste. Dies war umso wichtiger, als die Normannen unzuverlässige Verbündete waren; so marschierten sie 1066 in das [[Patrimonium Petri]], und trotz des [[Anathema|Kirchenbanns]] gegen ihn besetzte [[Robert Guiskard]] das Fürstentum Salerno (1076), die letzte langobardische Herrschaft. Diese für Papst [[Gregor VII.]] äußerst bedrohliche Situation dürfte sein vergleichsweise mildes Verhalten gegenüber [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] bei seinem [[Gang nach Canossa|Bußgang nach Canossa]] mit bedingt haben.<br />
<br />
Der Papst erkannte 1080 alle Eroberungen der Normannen an und löste Robert Guiskard vom Bann. Robert trat nun massiv gegen [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrich IV.]] auf und befreite den Papst aus der Gefangenschaft. Zudem sorgten die Normannen für eine langsame Rekatholisierung – in [[Santa Severina]] wurde der orthodoxe Ritus bis ins 13. Jahrhundert beibehalten – der einst byzantinischen Bistümer und die Gründung neuer Episkopate. [[Gallipoli (Apulien)|Gallipoli]] behielt den byzantinischen Ritus bis 1513, [[Bova (Kalabrien)|Bova]] sogar bis 1573 bei (dort besteht bis heute ein griechisch geprägter Dialekt). Auf Sizilien wurden die von den Muslimen aufgehobenen Bistümer wieder eingerichtet. Darüber hinaus traf Robert Vorbereitungen, das durch die Eroberungen der [[Seldschuken]] geschwächte Byzanz zu erobern. Damit wiederum machte er sich Venedig zum Feind, das die Festsetzung einer Macht auf beiden Seiten der Adria im Interesse der Freiheit seiner Handelswege nicht mehr duldete.<br />
<br />
[[Datei:Hugo-v-cluny heinrich-iv mathilde-v-tuszien cod-vat-lat-4922 1115ad.jpg|mini|Mathilde von Tuszien und Hugo von Cluny als Fürsprecher [[Heinrich IV. (HRR)|Heinrichs IV.]], Vita Mathildis des Donizio, um 1115. Vatikanstadt, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Ms. Vat. lat. 4922, f. 49<sup>v</sup>)]]<br />
<br />
Die Staufer erhoben nun Anspruch auf die [[Mathildische Güter|Mathildischen Güter]] und umwarben dabei auch Mailand, das damit begonnen hatte, sich mit der Unterwerfung von [[Lodi (Lombardei)|Lodi]] (1111) und [[Como]] (1127) ein eigenes Territorium zu schaffen.<br />
<br />
Das [[Schisma]] von 1130 – in Rom bekämpften sich die Familien der [[Pierleoni]] und der [[Frangipani (Adelsgeschlecht)|Frangipani]] –, das erst 1139 durch das [[Zweites Laterankonzil|Zweite Laterankonzil]] beendet wurde, schwächte hingegen die päpstliche Seite, die sich nun gezwungen sah, den Normannen zahlreiche Rechte einzuräumen. [[Lothar III. (HRR)|Lothar III.]] suchte auf Ersuchen von Aufständischen den seit 1130 zum König gekrönten [[Roger II. (Sizilien)|Roger II.]] 1136 bis 1137 zu bekämpfen. Roger war in der Schlacht von Nocera (24. Juli 1132) gegen die Aufständischen unter Rainulf von Alife unterlegen. Lothar zog nun Mailand auf seine Seite. Dadurch wurden die Feinde Mailands, allen voran Pavia und [[Cremona]], beinahe automatisch seine Gegner. Pisa, Venedig und Genua unterstützten wiederum Lothar bei der Eroberung [[Bari]]s. Doch das Heer weigerte sich, Roger nach Sizilien zu verfolgen, so dass es diesem bis 1138 gelang, nicht nur Papst [[Innozenz II.]] gefangen zu setzen, sondern auch alle Rechte im Süden Italiens zurückzugewinnen, nachdem 1139 Rogers Hauptgegner Rainulf gestorben war. 1143/44 geriet der Papst zudem durch einen Aufstand in Rom unter [[Arnold von Brescia]] in Bedrängnis.<br />
<br />
[[Konrad III. (HRR)|Konrad III.]] verhandelte nun mit dem byzantinischen Kaiser [[Manuel I. (Byzanz)|Manuel I.]] wegen eines Bündnisses gegen die Normannen, die Byzanz angegriffen hatten. 1148 beschlossen sie einen gemeinsamen Kriegszug, der zur Aufteilung des Normannenreiches führen sollte. Roger verbündete sich mit dem französischen König und mit den [[Welfen]]. Nach dem Tod des Kaisers verfolgte sein Nachfolger [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich I.]] zwar eine ähnliche Politik, doch duldete er keine byzantinische Beteiligung. Auch zog er [[Welf VI.]] auf seine Seite, indem er ihn mit riesigen Ländereien belehnte. 1154 starb Roger II.<br />
<br />
[[Datei:Arrivo aragonesi.jpg|mini|Die Flotte [[Peter III. (Aragón)|Peters III. von Aragón]] – der König ist durch die Krone kenntlich gemacht – landet in Trapani auf Sizilien, Biblioteca Vaticana. Die Insel bleibt bis 1861 in spanischer Hand.]]<br />
<br />
Das Normannenreich stellte inzwischen eine bedeutende mittelmeerische Macht dar (1146 eroberte es Tunis), zumal ihm nun erhebliche wirtschaftliche Mittel zur Verfügung standen. 1155 und 1156 gelang ihm der Ausgleich mit dem Papst sowie mit Genua und Venedig. Es versuchte jedoch vergeblich, das Byzantinische Reich zu erobern, und unternahm 1185 unter [[Wilhelm II. (Sizilien)|Wilhelm II.]] einen letzten Versuch, der jedoch gleichfalls scheiterte. Die [[Kreuzzüge]] hatten nicht nur zu maßlosen Plünderungen, sondern auch zu einer Verdichtung der Handelsbeziehungen insbesondere der süditalienischen, später auch der norditalienischen mit dem gesamten Mittelmeerraum geführt. Das Normannenreich kämpfte in Italien in wechselnden Koalitionen gegen kaiserliche und päpstliche Ansprüche, konnte aber durch seinen langfristigen Wechsel auf die Seite des Papstes ab 1155 in die Rolle des Beschützers gegen die Machtansprüche der römisch-deutschen Kaiser hineinwachsen, bis es 1190 per Erbfolge an die [[Staufer]] fiel. Diese erhielten 1194 das Normannenreich. [[Palermo]] war Hauptstadt und Residenz Kaiser [[Friedrich II. (HRR)|Friedrichs II.]], der im Süden aufgewachsen war.<br />
<br />
Süditalien war trotz der dynastischen Verbindung in der Stauferzeit formal nie Teil des Heiligen Römischen Reichs und stellte zudem ein päpstliches Lehen dar. Die Päpste fürchteten, die Staufer würden den Kirchenstaat „umklammern“, und kämpften gegen deren Dominanz. Im Streit zwischen Friedrich II. und den Päpsten, den seine Nachfolger fortsetzten, unterlagen die beiden letzten Staufer 1266 und 1268 gegen [[Karl I. (Neapel)|Karl I. von Anjou]]. 1282 brachte ein Volksaufstand zunächst Sizilien ([[Sizilianische Vesper]]), dann ein Erbgang 1442 das festländische Süditalien an [[Krone Aragonien|Aragón]] (das ab 1492 ein Teil [[Spanien]]s wurde).<br />
<br />
== Kommunen, Signorien, Reichspolitik (11. bis 15. Jahrhundert) ==<br />
=== Kommunale Selbstständigkeit ===<br />
[[Datei:20110724 Milan Cathedral 5260.jpg|mini|Der [[Mailänder Dom]]]]<br />
<br />
In Norditalien emanzipierten sich die Städte ab dem Ende des 11. Jahrhunderts von der kaiserlichen Oberherrschaft und dehnten allmählich ihre Herrschaft über das Umland aus, indem sie die kleinen [[Valvassor]]en ihrer eigenen städtischen Lehensherrschaft unterwarfen. Typisch war bald die „republikanisch“ orientierte Konsularverfassung, die ab etwa 1080 greifbar ist. Der sich ab 1164 formierende [[Lombardenbund]] besiegte den römisch-deutschen Kaiser [[Friedrich I. (HRR)|Friedrich Barbarossa]], der die Städte stärker der kaiserlichen Kontrolle unterwerfen wollte,<ref>[[Ferdinand Opll]]: ''Ytalica Expeditio. Die Italienzüge und die Bedeutung Oberitaliens für das Reich zur Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas (1152–1190).'' In: Hubert Houben (Hrsg.): ''Deutschland und Italien zur Stauferzeit'', Göppingen 2002, S. 93–135.</ref> 1176 in der Schlacht bei [[Legnano]]. Mit dem Ende der Staufer wurden die Städte faktisch unabhängig (wenn sie auch, sofern sie sich in Reichsitalien befanden, weiterhin formal die kaiserliche Oberherrschaft akzeptierten) und usurpierten kaiserliche Rechte ([[Regalien]]).<br />
<br />
Unter den Kommunen, die im Süden der sehr viel stärker zentralisierenden Macht der Normannen und ab 1268 der Anjou gegenüberstanden, konnten nur die im Norden einen Status weitgehender Selbstständigkeit erreichen. Der [[Republik Venedig]], die als einzige auch formal vom Reich unabhängig war, gelang es im 9. und 10. Jahrhundert auch von Byzanz weitgehend unabhängig zu werden. 992 und 1082 erhielten ihre Händler Handelsprivilegien, die trotz schwerer Rückschläge dazu führten, dass sie den Handel im östlichen Mittelmeer dominierten. Zwar machte ihnen darin Pisa Konkurrenz, doch verdrängte Venedig diese Konkurrenz zwischen 1099 und 1126 weitgehend, als sich der byzantinische Kaiser gezwungen sah, sein Vorhaben aufzugeben, Pisa gegen Venedig auszuspielen. Nachdem sein Nachfolger 1171 alle Venezianer hatte verhaften lassen, bediente sich Venedig des [[Vierter Kreuzzug|Vierten Kreuzzugs]], um Konstantinopel zu erobern. Von 1204 bis 1261 steuerte die Stadt das [[Lateinisches Kaiserreich|Lateinische Kaiserreich]], nach dessen Untergang Genua die Handelsströme kontrollierte. Infolgedessen unterstützte Venedig die Rückeroberungspläne der Staufer und Anjou und lieferte sich vier umfassende Kriege mit Genua, die erst 1381 endeten. Das Konkurrenzverhältnis blieb jedoch bestehen.<br />
<br />
Mailand wurde 1162 von Friedrich Barbarossa unterworfen und zerstört, erholte sich aber rasch. Doch entstand zunächst unter der Führung Cremonas der Lombardenbund sowie der unter Venedigs Einfluss entstandene [[Veroneserbund]]. Sie standen im Bund mit den Normannen, dem Papst und dem byzantinischen Kaiser, gegen dessen Annexionspläne sich Friedrich gewandt hatte, so dass die römisch-deutsche Herrschaft zusammenbrach. Nach der [[Schlacht von Legnano]] (1176) und den Friedensschlüssen von Venedig (1177) und [[Friede von Konstanz|Konstanz]] (1183) konnten zwar viele Reichsrechte wiederhergestellt werden, doch die Unabhängigkeit der Kommunen war nicht mehr grundsätzlich gefährdet.<br />
<br />
Andererseits führte die Heirat [[Heinrich VI. (HRR)|Heinrichs VI.]] mit [[Konstanze von Sizilien|Konstanze]], der Erbin des Normannenreiches, 1194 dazu, dass das Römisch-deutsche mit dem Normannenreich vereinigt wurde. [[Friedrich II. (HRR)|Friedrich II.]] musste jedoch, um sich gegen die Welfen durchsetzen zu können, den Kirchenstaat in der [[Goldbulle von Eger]] (1213) im von [[Innozenz III.]] geschaffenen Umfang anerkennen. Andererseits setzte er im Süden ein zentralistisches Regiment durch, das in Anknüpfung an normannische Traditionen kommunalen Freiheiten nur wenig Raum ließ. Auch brach er den Widerstand des regionalen Adels und überzog das Land mit einem Netz von Burgen; zugleich monopolisierte er große Teile des Handels.<br />
<br />
=== Staufer und Anjou ===<br />
[[Datei:Cortenuova1237.JPG|mini|Der ''Carroccio'' des [[Lombardenbund]]s, ein von Ochsen gezogener Triumphwagen, der den Truppen [[Friedrich II. (HRR)|Kaiser Friedrichs II.]] in der [[Schlacht von Cortenuova]] in die Hände fiel, 14. Jahrhundert]]<br />
<br />
Gegen diese für die Kommunen bedrohliche Macht entstand 1226 ein neuer Lombardenbund. Zugleich kam es zwischen Staufern und Päpsten zu heftigen Konflikten, die 1227 zum Bann gegen Friedrich und daraufhin zum offenen Krieg führten. Dabei unterstützte der Lombardenbund den Papst, zahlreiche andere Städte, wie etwa Cremona oder Pisa, unterstützten hingegen den Kaiser, vielfach, weil sie sich nur so des Expansionsdrucks ihrer Nachbarn erwehren konnten. Friedrich siegte zwar 1237 bei [[Schlacht von Cortenuova|Cortenuova]], doch seine Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung Mailands führte dazu, dass der Krieg fortgesetzt wurde. Nun verbanden sich auch Genua und Venedig offen gegen den Kaiser, zumal es ihm 1238 nicht gelungen war, [[Brescia]] zu erobern.<br />
<br />
Nach dem Tod Friedrichs (1250) versuchten seine Anhänger in Italien zunächst immer noch, die Reichsrechte durchzusetzen, doch [[Karl I. (Neapel)|Karl von Anjou]], der vom Papst gekrönte König Siziliens, beendete die Macht der Staufer in zwei Schlachten ([[Schlacht bei Benevent|Benevent]] und [[Schlacht bei Tagliacozzo|Tagliacozzo]], 1266 und 1268). Karl nahm die normannischen Eroberungspläne gegen Byzanz wieder auf und fand dabei die Unterstützung Venedigs, da Konstantinopel 1261 wieder Hauptstadt von Byzanz war und der dortige Kaiser den Venezianern den Zutritt verwehrte. Es gelang Kaiser [[Michael VIII.|Michael Palaiologos]] nicht nur, die Invasoren zu schlagen, sondern 1282 einen [[Sizilianische Vesper|Aufstand]] zu entfachen, der die Anjou schwächte und dazu führte, dass Sizilien an Aragón kam. Damit zersplitterte sich die Macht im Süden in zwei Herrschaftsbereiche, die sich über Jahrzehnte bekämpften.<br />
<br />
Der Kirchenstaat war kaum fester gefügt als zuvor, zumal die Päpste ab 1309 in [[Avignon]] residierten (bis 1378, siehe [[Avignonesisches Papsttum]]) und immer stärker vom französischen König abhängig wurden. Auch litt die Wirtschaft unter den langwierigen Kämpfen und der fiskalischen Ausbeutung der Städte, so dass diese bald von den oberitalienischen endgültig überflügelt wurden. Neapel geriet in genuesische, dann vor allem florentinische Abhängigkeit. Zwischen den einzelnen Kommunen und auch innerhalb der Städte kam es immer wieder zu Konflikten; diese angespannte Lage in Ober- und Mittelitalien spiegelt sich in [[Dante Alighieri|Dantes]] (1265–1321) Werken mehrfach wider.<br />
<br />
Italien hatte sich weitgehend von der Reichspolitik abgekoppelt, was sich auch darin zeigt, dass erst 1310 bis 1313 ein König, [[Heinrich VII. (HRR)|Heinrich VII.]], zur Kaiserkrönung nach Italien zog, wo er zunächst überwiegend freundlich empfangen wurde und sogar teilweise als „Friedensbringer“ betrachtet wurde (so etwa von Dante und [[Dino Compagni]]), bevor seine Politik, die das Einfordern von verlorenen Reichsrechten zum Ziel hatte, bei vielen Guelfen auf Widerstand stieß. Heinrich, seit 1312 Kaiser, vergab aufgrund seiner brüchigen Stellung in Reichsitalien notgedrungen gegen hohe Summen das [[Reichsvikar]]iat an die mächtigsten Signorien, woraus vor allem die Herren von Verona und von Mailand Vorteil zogen. 1313 ging Heinrich offensiv gegen König [[Robert von Anjou]] vor, der gegen ihn agiert hatte und sogar den Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien bestritt, doch starb der Kaiser noch vor einem Feldzug gegen Neapel. Der Papst, der dieses Recht in Abwesenheit eines Kaisers beanspruchte, ernannte nach Heinrichs Tod Robert zum Reichsvikar in Italien. Pläne König [[Johann von Böhmen|Johanns von Böhmen]], den französischen König in die Herrschaftsverhältnisse einzubeziehen, scheiterten 1333. Sie brachten sogleich ein Bündnis zwischen guelfischen und ghibellinischen Städten zustande, denen sich sogar Robert von Anjou anschloss.<br />
<br />
[[Ludwig IV. (HRR)|Ludwig IV.]] unternahm 1327 einen Italienzug und ließ sich im Januar 1328 von stadtrömischen Vertretern zum Kaiser krönen. Aufgrund seines Konflikts mit dem Papsttum war die Krönung jedoch faktisch illegitim und er selbst zog sich bereits 1329 aus Italien zurück. Sein Nachfolger [[Karl IV. (HRR)|Karl IV.]] betrieb ebenfalls eine begrenzte Italienpolitik, die vor allem auf Geldzahlungen abzielte; auf die Durchsetzung kaiserlicher Rechte, wie noch Heinrich VII., legte sein Enkel bereits keinen Wert mehr, denn er betrachtete dies als nicht mehr durchsetzbar. Der Anspruch der römisch-deutschen Könige auf Reichsitalien blieb zwar formal bestehen, faktisch war jedoch an eine effektive Herrschaftsausübung nicht mehr zu denken.<ref>Zur Italienpolitik der römisch-deutschen Könige im 14. Jahrhundert siehe zusammenfassend Roland Pauler: ''Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert.'' WBG, Darmstadt 1997.</ref><br />
<br />
=== Signorie ===<br />
[[Datei:Castelvecchio Verona-01.JPG|mini|Die Stadtfestung [[Castelvecchio]] der Scaligeri, der Signori von [[Verona]]]]<br />
<br />
In den Kommunen Ober- und Mittelitaliens setzte sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert die ''[[Signoria]]'' (Signorie) durch, eine Form monokratischer Herrschaftsausübung, bei der ein „starker Mann“ ''(signore)'' an der Spitze stand. Dies hing zum einen mit den permanenten Konflikten zwischen Guelfen und Ghibellinen zusammen, zum anderen mit inneren Konflikten zwischen ''populus'' und ''milites'' bzw. Magnaten. [[Oligarchie|Oligarchische]] und [[Plutokratie|plutokratische]] Gruppen dominierten die Städte weiterhin, auch bestanden vielfach die kommunalen Strukturen fort. Die Kosten für die in diesen Kämpfen inzwischen unabdingbaren [[Söldner]]truppen ermöglichten es immer weniger Städten, sich militärisch durchzusetzen. Nach und nach gewannen wenige Signorien in wechselnden Koalitionen die kleineren Städte, die sie in zahlreichen Kriegen eroberten. Die herausragenden Städte waren am Ende des 14. Jahrhunderts Florenz, Pisa und [[Siena]], Mailand, [[Mantua]] und [[Verona]], [[Bologna]], [[Padua]] und [[Ferrara]], schließlich Venedig und Genua. Im Laufe des 15. Jahrhunderts setzte sich Florenz in der Toskana durch (1406 Besetzung von Pisa), Mailand in der Lombardei, Venedig im Nordosten, während sich Mantua und Ferrara halten konnten. Dabei sicherten sich die [[Visconti]] in Mailand eine reichsrechtlich untermauerte Stellung, während sich Genua und Venedig von 1378 bis 1381 bekämpften ([[Chioggia-Krieg]]) und Florenz noch unter den Folgen des [[Ciompi-Aufstand]]s von 1378 litt. 1396 übernahm der französische König die Herrschaft über Genua. Venedig konnte 1435 Kaiser [[Sigismund von Luxemburg|Sigismund]] die reichsrechtliche Anerkennung seiner Eroberungen der letzten drei Jahrzehnte abringen.<br />
<br />
=== Kirchenstaat und Abendländisches Schisma (1378–1417) ===<br />
[[Datei:BNMsItal81Fol18RomeWidowed.jpg|mini|Rom als in Schwarz gekleidete, den Verlust des Papsttums betrauernde Witwe, [[Bibliothèque nationale de France]], MS Ital. 81, f. 18.]]<br />
<br />
In Mittelitalien setzte sich der Kirchenstaat weitgehend durch, doch führte das [[Abendländisches Schisma|Abendländische Schisma]] zur Verbreitung des Nepotismus und zur Einrichtung von lokalen Dynastien, die der Vereinheitlichung des Kirchenstaats widerstanden. Zudem kam es mehrfach zu massiven Eingriffen durch König [[Ladislaus (Neapel)|Ladislaus]] († 1414), dessen Reich allerdings nach seinem Tod in eine schwere Krise geriet, da es zu Nachfolgekämpfen kam. Im Norden kam es zu einer erneuten Verschärfung der Konflikte zwischen Guelfen und Ghibellinen, was die Institution der Signorie stärkte.<br />
<br />
Die Bischöfe, die ihre Machtstellung weitgehend eingebüßt hatten, versuchten vielfach diese zurückzugewinnen. Die Domkapitel, die die Bischofswahlen durchführten, wurden zunehmend von den lokal dominierenden Familien beherrscht, die die Wahlen zu ihren Gunsten zu steuern versuchten. Daher zog [[Johannes XXII.]] 1322 die Benefizien des Patriarchats Aquileia ein. Ähnliches geschah in Mailand und Ravenna, Genua und Pisa.<br />
<br />
Doch viel gravierender wirkte sich aus, dass nach der Wahl [[Urban VI.|Urbans VI.]] im Jahr 1378 zwei Obödienzen zustande kamen, Gebiete also, in denen verschiedene Päpste Anerkennung fanden. Vor allem in den Randgebieten Norditaliens wurden vielfach zwei konkurrierende Bischöfe eingesetzt; häufig kamen französische Bischöfe ins Land, vor allem im Süden. Dieser Zustand hielt bis 1417 an, als man sich auf dem [[Konzil von Konstanz]] auf [[Martin V.]] einigte. Weitere Kongregationen entstanden, wie die [[Olivetaner]], die [[Ambrosianer]]brüder, die [[Hieronymiten]] und die [[Jesuaten]].<br />
<br />
=== Wechselnde Koalitionen, Karl VIII. von Frankreich ===<br />
[[Datei:Italy 1454 after the Peace of Lodi.jpg|mini|Italien nach dem Frieden von Lodi (1454)]]<br />
[[Datei:Francesco granacci, entrata di Carlo VIII a Firenze.jpg|mini|Einzug König Karls VIII. von Frankreich in Florenz, [[Uffizien]], [[Francesco Granacci]], 1518]]<br />
<br />
1442 fiel das Königreich Neapel an Aragón, womit im westlichen Mittelmeer eine neue Großmacht entstand, die sich vielfach in die politischen Auseinandersetzungen Italiens einmischte. Die Herrschaft der wechselnden Päpste, die, ähnlich wie die anderen Mächte, immer wieder die Koalitionen wechselten, war darüber hinaus von Spannungen mit den [[Konzil]]ien, von wechselnden Residenzorten und von Zeiten gekennzeichnet, in denen mehrere Päpste gleichzeitig das Pontifikat beanspruchten. Kurzzeitig brachte die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) im Jahr 1454 den [[Frieden von Lodi]] zustande, der erstmals die Tatsache anerkannte, dass keine Macht Italien einigen konnte. Mit dem Anschluss an die nunmehr verbündeten Rivalen Venedig und Mailand durch Florenz und [[Alfons V. (Aragón)|Alfons V.]] unter Mitwirkung des Papstes kam sogar eine [[Lega italica]] zustande. Doch wirkten eher Zweier- und Dreierbündnisse stabilisierend, bis die Lega 1470, kurz nach der Eroberung Negropontes durch die Osmanen noch einmal erneuert wurde. Infolgedessen wurde Venedig kurzzeitig unterstützt, doch brachen die alten Konflikte zwischen Frankreich und Aragón, zwischen Florenz und Rom ([[Pazzi-Verschwörung|Verschwörung der Pazzi]] von 1478) und zwischen Venedig und Rom gegen Mailand, Florenz und Neapel (Ferrara-Krieg, bis 1484) bald wieder aus. Selbst die Besetzung des apulischen Otranto durch die Osmanen im Jahr 1480 konnte dies nicht dauerhaft verhindern.<ref>Hubert Houben (Hrsg.): ''La conquista turca di Otranto (1480) tra storia e mito. Atti del convegno internazionale di studio, Otranto-Muro Leccese, 28-31 marzo 2007.'' 2 Bde., Congedo, Galatina 2008, passim.</ref><br />
<br />
1494 marschierte [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich nach Neapel und besetzte die Stadt, doch verbanden sich [[Alexander VI.]], Venedig, Mailand, Spanien und [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] in der „[[Heilige Liga (1495)|Liga von Venedig]]“ gegen ihn. Trotz dieser Niederlage eröffnete der Feldzug eine Reihe äußerer Eingriffe.<br />
<br />
Die enormen Kosten der politisch-militärischen Konflikte ließen die großen Bankhäuser, die schließlich fast als einzige in der Lage waren, die Finanzierung zu gewährleisten, rapide anwachsen. Dies gilt etwa für die Bardi und die [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]]. Darüber hinaus gerieten die Agrarstädte immer mehr ins Hintertreffen, denn erhebliche Teile der Erträge gingen an die dominierenden Häuser im Norden. Zugleich wurde der Süden zu einem Randgebiet spanischer Herrschaft. Sie entrissen Sardinien 1326 Pisa – hingegen gelang es Genua Korsika zu verteidigen.<br />
<br />
=== Vertreibung der Juden aus den spanischen Gebieten, Ghettos (ab 1492) ===<br />
[[Datei:10 Roma gheto porta.jpg|mini|Pforten im Getto von Rom]]<br />
<br />
{{Hauptartikel|Geschichte der Juden in Spanien}}<br />
Nach der Vereinigung der beiden iberischen Mächte Aragón und Kastilien im Jahr 1492 und der Eroberung der letzten muslimischen Herrschaft, des [[Emirat von Granada|Emirats von Granada]], setzte mit dem [[Alhambra-Edikt]] eine [[Geschichte Spaniens#Eroberung Granadas, Vertreibung der Juden|gegen Muslime und Juden gerichtete Bekehrungs- und Vertreibungspolitik]] ein. Sie wurde auf den spanischen Teil Italiens übertragen.<br />
<br />
Die dortigen Juden lebten vom 5. bis zum 13. Jahrhundert ganz überwiegend in Rom,<ref>[http://www.romaebraica.it/la-storia-della-comunita-ebraica-di-roma/ ''La storia della Comunità Ebraica di Roma''], Website der Gemeinde in Rom.</ref> im Süden und auf den großen Inseln, im Hochmittelalter auch im Norden.<ref>Gian Maria Varanini, Reinhold C. Mueller: ''Ebrei nella terraferma veneta del Quattrocento. Atti del convegno di studi, Verona, 14 novembre 2003.'' Florenz 2005, passim.</ref> [[Moses von Lucca]] und sein Sohn [[Kalonymus]], dessen ''Responsa'' (um 940) als älteste Schrift der [[Aschkenasim]] gelten, gingen 920 nach [[Mainz]]. Die recht großen Gemeinden prosperierten unter den Muslimen im Süden, auch unter den Byzantinern durften sie Landwirtschaft betreiben.<br />
<br />
Doch die Normannen belasteten sie zunehmend, vor allem aber einige Päpste. Auf dem [[Viertes Laterankonzil|Vierten Laterankonzil]] wurde 1215 eine eigene [[Judentracht|Judenkleidung]] vorgeschrieben, und alle Juden sollten in abgegrenzten Quartieren leben. 1429 schützte Papst [[Martin V.]] die Juden, doch sein Nachfolger [[Eugen IV.]] untersagte 1442 den Bau von Synagogen. Ab 1471 verfolgten die Päpste erneut eine tolerantere Politik, es kam zu einer Blüte jüdischer Druckereien. Um 1500 traten Endzeitprediger auf, darunter [[Ascher Lemlein]].<br />
<br />
Die Anjou setzten die Juden gleichfalls starkem [[Bekehrung (Christentum)|Bekehrungsdruck]] aus. 1288 kam es zu einer ersten Vertreibung in Neapel, 1293 wurden im Königreich die meisten Gemeinden zerstört. Besser hingegen erging es ihnen unter der aragonesischen Herrschaft; als Aragón 1442 das Königreich Neapel übernahm, prosperierte die dortige jüdische Gemeinde. Um 1300 lebten etwa 12.000 bis 15.000 Juden in Süditalien,<ref>[http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0010_0_09774.html ''Italy''], Jewish Virtual Library.</ref> ab 1399 veranstalteten sie eigene Synoden. Da im Norden das Zinsnahmeverbot einer Kreditversorgung vor allem der kleinen Orte im Wege stand, entstanden Hunderte kleiner Gemeinden. In den dortigen ''Judenhäusern'' lebte die Familie des Geldleihers zusammen mit seinen Angestellten. 1397 wurden Geldverleiher gezielt nach Florenz geholt.<br />
<br />
1492 wurde die spanische Vertreibungspolitik auf Sizilien und Sardinien, 1541 auf Neapel ausgedehnt (gültig bis 1735), viele flohen nach Norden, vor allem nach Rom, Venedig, Mailand und [[Livorno]]. Die größte Synagoge Venedigs war die 1555 errichtete ''Scuola Spagnola''. Als Mailand 1597 spanisch wurde, mussten 900 Juden die Stadt verlassen. Die zahlreichen Zuwanderer von der Iberischen Halbinsel brachten die dortigen Sprachen mit.<ref>Rafael Arnold: ''Spracharkaden. Die Sprache der sephardischen Juden in Italien im 16. und 17. Jahrhundert.'' Universitätsverlag Winter, 2006, passim.</ref> 1638 forderte [[Simone Luzzato]], 57 Jahre [[Rabbi (Gelehrter)|Rabbi]] der Gemeinde in Venedig, erstmals eine Tolerierungspolitik und argumentierte dabei ökonomisch.<br />
<br />
Im Gefolge der [[Franziskanische Orden|franziskanischen]] Anti-Wucherkampagnen kam es in vielen Städten zur zwangsweisen Ansiedlung der Juden in festgelegten, abgeschlossenen Bezirken, wie etwa im [[Römisches Ghetto|römischen]] (ab 1555) oder im [[Ghetto (Venedig)|venezianischen]] Ghetto (ab 1516).<ref>Roberto Bonfil: ''Gli Ebrei in Italia nell’epoca del Rinascimento'', Sansoni, 1991, S. 64. Weitere Ghettos entstanden in: Florenz 1571, [[Siena]] 1571, [[Mirandola]] 1602, [[Verona]] 1602, [[Padua]] 1603, [[Mantua]] 1612, [[Rovigo]] 1613, [[Ferrara]] 1624, [[Urbino]], [[Pesaro]], [[Senigallia]] 1634, [[Modena]] 1638, [[Este (Venetien)|Este]] 1666, [[Reggio nell’Emilia|Reggio Emilia]] 1670, [[Conegliano]] 1675, [[Turin]] 1679, [[Casale Monferrato]] 1724, [[Vercelli]] 1725, [[Acqui Terme|Acqui]] 1751, [[Moncalvo]] 1732, [[Finale Emilia]] 1736, [[Correggio (Emilia-Romagna)|Correggio]] 1779.</ref> Letzteres wurde 1797 auf Veranlassung [[Napoleon Bonaparte|Napoleons]] aufgelöst. Das römische Ghetto bestand bis 1870, obwohl es die Franzosen zwischen 1798 und 1814 bereits aufgelöst hatten. [[Paul IV.]] ließ 1555 den [[Talmud]] öffentlich verbrennen, 1559 wurde er auf den [[Index Librorum Prohibitorum|Index]] gesetzt. Ab 1569 wurden Juden nur noch in Rom und [[Ancona]] geduldet.<br />
<br />
== Wirtschaft im Spätmittelalter, kommerzielle Revolution ==<br />
=== Ökonomischer Rückgang ===<br />
[[Datei:Torre dei peruzzi (2014).JPG|mini|Florenz: einer der Türme der Unternehmerfamilia [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], der im 13./14.&nbsp;Jh. ganze Quartiere gehörten.]]<br />
<br />
1347 bis 1351 trafen mehrere Katastrophen das italienische Wirtschaftssystem. Schon 1315 bis 1317 hatte eine Reihe von Missernten eine Hungerkatastrophe bewirkt und die [[spätmittelalterliche Agrarkrise]] angestoßen. Im Westen begann 1337 der [[Hundertjähriger Krieg|Hundertjährige Krieg]]. Das [[Byzantinisches Reich|byzantinische Reich]] hatte sich von den Attacken der Kreuzfahrer ([[Lateinisches Kaiserreich]] 1204 bis 1261), an denen italienische Handelsstädte nicht ganz unbeteiligt gewesen waren, nie ganz erholt und schaffte es nicht, dem Vordringen mittelasiatischer Völker in [[Kleinasien]] Einhalt zugebieten. Ab 1348 traf der [[Schwarzer Tod|Pest]] den gesamten Handelsraum Italiens. Unter diesen Bedingungen kam es zu den größten Bankrotten des Mittelalters.<br />
<br />
Hunger und Pandemie hatten starke Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Die für den Anfang des 14. Jahrhunderts auf 11 Millionen geschätzte Einwohnerzahl Italiens brach bis etwa 1350 auf 8 Millionen ein. Um 1450 erreichte sie vielleicht wieder 9 Millionen, um sich erst im 16. Jahrhundert wieder vollständig zu erholen. Zahlreiche [[Wüstung]]en hingen zudem mit der Flucht in die Städte zusammen, in denen angesichts des Fehlens von Handwerkern steigende Löhne lockten. Diese wiederum gaben bald Anlass zu verstärkter Mechanisierung. Zugleich verschärften sich die innerstädtischen Konflikte zwischen der dominierenden Schicht und den Handwerkern, die etwa im [[Ciompi-Aufstand]] von 1378 in Florenz gipfelten. Bis 1370/80 stiegen die Preise stark an, stabilisierten sich um 1400, um danach bis um 1480/90 zu stagnieren.<br />
<br />
=== Veränderungen der kommunalen Wirtschaft ===<br />
Die Handwerksbetriebe lagerten nun spezialisierte Tätigkeiten zunehmend aus, viele konzentrierten sich auf den wachsenden Bedarf an Luxusgütern. Seide, Druckerzeugnisse, Eisen-, Metall-, Leder- und Edelsteinverarbeitung expandierten, ebenso die Papierherstellung und einige Bereiche des Baugewerbes. Italiens Dominanz in der Wirtschaft ging dabei insgesamt deutlich zurück, wozu auch die Gefährdung seiner Flottenherrschaft im Mittelmeerraum beitrug.<br />
<br />
Die Rückkehr des Papstes aus Avignon lenkte hingegen erhebliche Kapitalströme nach Italien und förderte damit den Aufstieg der [[Medici]], [[Salviati (italienisches Adelsgeschlecht)|Salviati]] und [[Strozzi]] in Florenz, der [[Borromeo]] in Mailand, der [[Grimaldi]] und [[Spinola]] in Genua oder der [[Chigi (Adelsgeschlecht)|Chigi]] in [[Siena]]. Auch die Zahl der mittleren und kleinen Unternehmen – wie etwa das des [[Francesco Datini]] – nahm zu. Dabei führten Kriegskosten oftmals dazu, dass sich die Kommunen an den Händler- und Bankiersvermögen schadlos hielten, was diese wiederum dazu veranlasste, einflussreiche Positionen in den Städten anzustreben oder ihr Vermögen in Immobilien zu investieren. Aus den städtischen Posten konnte man einerseits wiederum Gewinn ziehen, andererseits konnte man Einfluss auf Gesetzgebung und Finanzierungsmethoden gewinnen. Einkünfte aus Steuerpacht und Ausgaben der Kommunen trugen nun viel stärker zur Vermögensbildung der führenden Schichten bei.<br />
<br />
=== Landbebauung, Landgemeinden, Halbpacht ===<br />
Basis der Wirtschaft blieb trotz der Verstädterung der Landbau, in dem nach wie vor die meisten Menschen ihre Betätigung fanden. Dabei erhielt in den Städten der [[Weizen]] wieder seine Vorrangstellung vor anderen Getreidearten wie [[Hirse]] zurück, während auf dem Lande diese Sorten weiterhin eine wichtige Rolle spielten, ebenso wie Hülsenfrüchte. Dies galt auch für die [[Stadtarmut]], die auf die billigere Hirse oder [[Bohne]]n, ab dem 16. Jahrhundert auf [[Mais]] zurückgriff. Hauptlieferanten von Fleisch waren Schwein, Schaf und Ziege, hinzu kamen Geflügel und Fisch. Rinderzucht wurde erst im 15. Jahrhundert und dann hauptsächlich in der Po-Ebene betrieben, wobei die [[Milchwirtschaft]] eine erhebliche Rolle spielte. Bis dahin wurden Rinder hauptsächlich als Zugvieh gezüchtet und an Bauern verpachtet. Die Weidewirtschaft bestand vielfach als [[Transhumanz]] im alpinen Bereich, in den [[Abruzzen]] und auf Sardinien, aber auch als [[Alm (Bergweide)|Almwirtschaft]] in den Alpen. Im Gegensatz zur Weizen- und Viehwirtschaft expandierte der Weinbau stark, ebenso wie der Anbau von Olivenbäumen.<br />
<br />
Anders als im Hochmittelalter mit seiner Binnenkolonisation kam es nun eher zu [[Melioration]]en. Neue und überkommene Kulturen wurden ausgeweitet, die Agrarlandschaft änderte sich vor allem im Umkreis der zahlreichen Städte. Systematisch wurden nun Gärten für Gemüse und Obst im Umland und in den Vorstädten angelegt und, ähnlich wie die Felder der Bauern, Tag und Nacht bewacht. In Bologna engagierte man 1291 allein 45 Wächter, um die Getreideausfuhr zu verhindern.<ref>[[Hans Conrad Peyer (Historiker)|Hans Conrad Peyer]]: ''Zur Getreidepolitik oberitalienischer Städte im 13. Jahrhundert'', Diss. Wien 1950, S. 54.</ref> Die Expansion der Landbebauung in die Wälder, die zunehmend gerodet wurden, untergrub die Nahrungsgrundlagen erheblicher Teile der Landbevölkerung, die sich bis dahin partiell ohne Marktvermittlung ernähren und mit Brenn- und Bauholz versorgen konnten. Auch gefährdete die Abholzung den Schiffbau, so dass etwa Venedig Wälder unter Schutz stellte. Darüber hinaus verstärkte sich die Bodenerosion und die Überschwemmungen wurden sehr viel weniger im Entstehungsbereich abgefangen, so dass es am Unterlauf vielfach zu Katastrophen und zur Vernichtung von Ackerland und Ökoreserven kam. Gleichzeitig laugte vielfach der Boden aus, so dass sich die Bauern gezwungen sahen, Weiden unter den Pflug zu nehmen.<br />
<br />
Der [[Ertragsindex]] stieg nach 1350 von 3:1 auf 4:1, trotz Landflucht und Bevölkerungsrückgang. Entgegen allen negativen Entwicklungen ermöglichte dies eine relativ sichere Versorgung der städtischen Bevölkerung. Zugleich wurde mit der Auflösung des Fronhofsystems fast jede Form der Unfreiheit, sieht man von einigen Regionen im Norden und Süden ab, aufgehoben. Es entstanden regelrechte Landgemeinden, die von Abgaben befreit waren. Allerdings kamen Mitte des 13. Jahrhunderts Teilpachtverträge auf, die auf der Abgabe von Naturalien basierten. Die häufigste, bis ins 20. Jahrhundert bestehende Form war die ''[[Mezzadria]]'' ''([[Naturalpacht]])'', die im 12. und 13. Jahrhundert bescheidene Anfänge nahm, jedoch im 14. bis 16. Jahrhundert Verbreitung in fast ganz Italien fand. Durch Verschuldung gerieten die Bauern wieder in ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis. Sie mussten vielfach ihr Land und ihr Vieh verkaufen und verloren zunehmend die Kontrolle über die Landgemeinden, Kleinbauern hielten sich aufgrund ihres unmittelbaren Marktzugangs fast nur im Umkreis der Städte. Auch gelang es Bauern in der Po-Ebene, sich zwischen bäuerliche Bevölkerung und Grundbesitzer zu positionieren und als Pächter ''(fittavoli)'' aufzutreten. Die Bauern hatten sowohl an den Grundbesitzer als auch den Pächter, und darüber hinaus an die Kommunen Abgaben zu leisten.<br />
<br />
=== Rollenteilung zwischen den Machtzentren ===<br />
Die oberitalienischen Metropolen erlebten bereits vor Beginn der [[Kreuzzüge]] eine Phase intensivierten Handels und deutlichen Bevölkerungsanstiegs; zudem erlangten sie immer größere Autonomie. Die Erträge der Bauern stiegen, den Kommunen gelang es, ihr Umland wirtschaftlich auf die Bedürfnisse der Stadt auszurichten. Während Genua und Venedig vorrangig vom Fernhandel, Krieg und Kaperei im Mittelmeer lebten und tief nach Asien vordrangen, profitierte Mailand sowohl davon als auch vom transalpinen Handel, ähnlich wie [[Verona]]. Florenz hingegen wurde zur Zentrale des europäischen Tuchhandels. Seine Schafweiden befanden sich bis zum 15. Jahrhundert in England und später in Mittelitalien, vor allem den [[Abruzzen]], im 16. Jahrhundert in [[Kastilien]]. Hingegen führten die unausgesetzten Kämpfe zwischen Papst und Kaiser, und nach dem Ende der Staufer zwischen Anjou, Byzanz und Aragón dazu, dass die ertragreichen Rohstoffausfuhren in Süditalien das Übergewicht gewannen und die kommunale Selbstorganisation zunehmend eingeschränkt wurde.<br />
<br />
Bis Ende des 13. Jahrhunderts gelang es den großen Florentiner Gesellschaften, den Weizenexport Süditaliens fast zu monopolisieren. Sie erwarben dort die in den Städten Oberitaliens nachgefragten Weizenmengen und boten dafür vor allem toskanische Tuche, die sie überwiegend in [[Neapel]] verkauften. Die Anjou, die den Süden seit den 1260er Jahren beherrschten, brauchten ihrerseits gewaltige Geldmengen, da sie [[Byzantinisches Reich|Byzanz]] erobern wollten und nach der [[Sizilianische Vesper|Sizilianischen Vesper]] von 1282 [[Krone Aragón|Aragón]] bekämpften, das Sizilien besetzt hatte. Sie setzten alles daran, ihre Rohwarenproduktion zu erhöhen. Der Weizenhandel machte die Florentiner Bankhäuser der [[Peruzzi (Handelsgesellschaft)|Peruzzi]], aber auch die Bardi und Acciaiuoli, die den Handel unter sich aufteilten und sogar die [[Republik Venedig|Venezianer]] zeitweise verdrängten, ganz außergewöhnlich reich.<br />
<br />
=== Handel, Edelmetalle, Geldpolitik ===<br />
[[Datei:Fiorino 1340.jpg|mini|Goldflorin, geprägt zwischen 1332 und 1348 in Florenz; Lilie von Florenz, Johannes der Täufer mit Nimbus. Zur Rechten des Täufers finden sich drei Halbmonde, das Wappen der [[Strozzi]].]]<br />
<br />
Trotz der Entwicklung des Wechsels, des Kreditwesens und der Depositenbanken beruhte die Zirkulation von Waren im Spätmittelalter auf Münzen. Ihr Edelmetallgehalt bestimmte ihren Wert. Der Umgang mit [[Rechnungswährung|Rechengeld]] änderte nichts Grundsätzliches an dieser Abhängigkeit. Venezianer und Genuesen zahlten in Byzanz mit Silber, während sie für ihre Waren Goldmünzen erhielten, d. h. vor allem [[Hyperpyron|Gold-Hyperpyra]].<ref>Dies und das Folgende nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes.'' Beck, München 2009, S. 24–26.</ref> Im 12. Jahrhundert basierte hingegen der Handel Italiens noch entweder auf [[Tauschhandel]] oder auf Silbermünzen, denn nur das [[Königreich Jerusalem]], das [[Königreich Sizilien]] und das Reich der [[Almohaden]] brachten neben Byzanz Goldmünzen in Umlauf. Während das Silber im Westen an Wert verlor, floss gleichzeitig das künstlich teuer gehaltene Silber der oberitalienischen Handelsstädte nach Osten ab. Ihnen drohte demzufolge der Verlust ihrer Funktion als Handelsdrehscheibe durch Auszehrung ihrer Silberreserven.<br />
<br />
Die Handelsstädte Florenz und Genua durchbrachen 1252 als erste die Trennung zwischen dem Silbergebiet und dem islamisch-byzantinischen Goldgebiet, indem sie beide Edelmetalle, die die Städte nun in ausreichendem Maße erreichten, als Münzen zirkulieren ließen. Dabei dürfte für Genua der Goldzufluss aus dem Handel mit der Levante und dem Maghreb und der in untragbarem Ausmaß schwankende Feingehalt der bereits in Süditalien umlaufenden [[Tari (Münze)|Goldtarì]] eine entscheidende Rolle gespielt haben, den [[Genovino]] aufzulegen. Im Florentiner Fall mögen Getreidekäufe in Sizilien für die Einführung des [[Florin (Goldmünze)|Florin]] (ab 1533 Scudo d’Oro) eine wichtige Rolle gespielt haben. Venedig zögerte bis 1284, den [[Dukat (Münze)|Golddukaten]] einzuführen, da hier der Goldzustrom zunächst noch geringer war.<br />
<br />
Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber hing stark von deren Verfügbarkeit ab.<ref>Dies und das Folgende nach: Hans-Jürgen Hübner: ''Quia bonum sit anticipare tempus. Die kommunale Versorgung Venedigs mit Brot und Getreide vom späten 12. bis ins 15. Jahrhundert.'' Peter Lang, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 126–132.</ref> War Gold 1284 noch elfmal so teuer wie Silber, so stieg sein Kurs 1305 bis 1330 auf 1:14,2. Ab etwa 1320 lieferten die Goldminen im Raum des ungarischen [[Kremnica|Kremnitz]] große Goldmengen, die ab 1324/25 die Prägung einer ungarischen Goldmünze gestatteten. 1327 vereinbarten Ungarn und Böhmen zudem einen Ausfuhrstopp für Silber nach Italien. Darüber hinaus kam es in den 1330er Jahren zu einem verstärkten Goldzustrom aus dem [[Ural]] und aus [[Mali]] (bis in die 1370er Jahre), der den Silber-Kursverfall bremste und zeitweise umkehrte. Binnen weniger Jahre wurde Venedig zum führenden Goldexporteur, während es zuvor der führende Silberexporteur gewesen war.<br />
<br />
Gold wurde immer billiger. 1331/32 fiel der Gold- gegenüber dem Silberkurs von 1:14,2 bis 1350 auf einen Tiefststand von 1:9,4. Nun kehrten die Münzprägestätten ihre Politik um und versuchten, den Silberzulauf zu verstärken. Die venezianische [[Zecca (Venedig)|Zecca]] stellte 1354 die Prägung der Silbermünzen ein, um durch ein künstlich erzeugtes Unterangebot ihren Wert zu halten. In dieser Zeit stabilisierte sich der Kurs zwischen 1:9,9 und 1:10,5, schwankte von 1401 bis 1500 zwischen 10,7 und 11,6 und um 1509 lag er bei 1:10,7. Entscheidend dürfte dabei gewesen sein, dass Venedig seine nahöstlichen Gewürzkäufe, die es praktisch zu einem Monopol ausbaute, fast nur noch mit Golddukaten bezahlte. Die Stadt wurde dadurch zum größten „Goldleck“ Europas.<br />
<br />
Immer wieder griffen die Städte massiv in die Wechselkurse zwischen den Münzen ein, deren Gold- und Silberanteil immer stärker vermindert wurde, während die Händler gezwungen wurden, weiterhin zum Nominalkurs zu wechseln. Venedig ging sogar so weit, dass es 1353 in seinem Kolonialreich stark überbewertete Münzen massenhaft zwangsweise eintauschen ließ, um seine Silberreserven zu schonen. Nach [[Alan M. Stahl|Alan Stahl]]<ref>[[Alan M. Stahl]]: ''The Venetian Tornesello. A medieval colonial coinage'', American Numismatic Society, New York 1985, S. 45.</ref> prägte die Zecca allein 1375 rund 6 Millionen Münzen und machte durch Zwangsumtausch einen Gewinn von fast 3000 Dukaten. Die Gewinne waren so hoch, dass man in Venedig bereit war, die daraus resultierende Inflation in Kauf zu nehmen.<br />
<br />
Der Umgang mit den Münzsystemen wurde so geläufig, dass er auch als Mittel der Destabilisierungspolitik eingesetzt wurde. Mailand brachte 1429 stark überbewertete Münzen in Umlauf, die im Tausch gegen venezianisches Silbergeld 20 % Gewinn brachten. Venedig halbierte daraufhin den Silbergehalt des umlaufenden [[Bagattino]], gleichzeitig lehnte es Zahlungen in dieser Münze ab und verlangte von seinen Untertanen „gute Münzen“. Mit den Gewinnen wurde der [[Condottiere|Söldnerführer]] [[Francesco I. Sforza|Francesco Sforza]] bezahlt. Mailand brachte wenig später neue Münzen in Umlauf, was neben Einschmelzungen dazu führte, dass die venezianischen Münzen gänzlich verschwanden und sich nur noch der „schlechte“ Bagattino hielt. 1453 wies der Senat die [[Zecca (Venedig)|Zecca]] an, eine ausschließlich für Oberitalien gedachten Münze zu prägen. Doch große Mengen an gefälschten Münzen zwangen schnell zur Reduzierung des Nominalwertes. 1463 konnten 20.000 gefälschte Bagattini konfisziert werden. Erst 1472 verabschiedete sich der venezianische [[Rat der Zehn]] von dieser Variante des „Münzimperialismus“, wie ihn [[Reinhold Mueller]] bezeichnet hat. Dies geschah offenbar, weil Mailand abermals versuchte, durch Überflutung Oberitaliens mit nachgemachten Münzen die venezianische Münzpolitik auszunutzen. Der Rat der Zehn reduzierte den Wert der bedrohten Münzen um volle 40 %, was nach Antonio Morosini einer Vernichtung von einer Million Dukaten an Kaufkraft gleichkam. Gleichzeitig wurden die schlechten Silbermünzen durch vertrauenswürdige Kupfermünzen ersetzt, deren Wert durch Limitierung der Auflagen kontrolliert wurde.<br />
<br />
== Renaissance (ab dem 14. Jahrhundert) ==<br />
{{Hauptartikel|Renaissance}}<br />
[[Datei:Leonardo da Vinci (1452-1519) - The Last Supper (1495-1498).jpg|mini|links|[[Das Abendmahl (Leonardo da Vinci)|Das Abendmahl]] von [[Leonardo da Vinci]], 1495–1498]]<br />
[[Datei:Da Vinci Vitruve Luc Viatour.jpg|mini|[[Der vitruvianische Mensch]], Proportionsstudie nach [[Vitruv]], ebenfalls von da Vinci, um 1492]]<br />
<br />
Im Italien des späten 14. Jahrhunderts liegen die Anfänge der Renaissance; als Kernzeitraum gelten das 15. und 16. Jahrhundert. Das wesentliche Charakteristikum ist die Wiedergeburt antiken Geistes, der [[Humanismus]] war die prägende Geistesbewegung. Vorreiter der Entwicklung waren italienische Dichter des 14. Jahrhunderts wie [[Francesco Petrarca]], der durch seine Beschäftigung mit antiken Schriftstellern und durch seinen Individualismus den Glauben an den Wert humanistischer Bildung förderte und das Studium der Sprachen, der Literatur, der Geschichte und Philosophie außerhalb eines religiösen Zusammenhangs als Selbstzweck befürwortete. Hinzu kam eine Neuorientierung in der Wissenschaft, wo das [[Theozentrismus|theozentrische]] Weltbild des Mittelalters durch eine stärker [[Anthropozentrismus|anthropozentrische]] Sicht der Dinge abgelöst wurde.<br />
<br />
In der Literatur leiteten im 14. Jahrhundert [[Dante Alighieri]]s ''[[Göttliche Komödie]]'' (''La Divina Commedia,'' 1307–1321), Francesco Petrarcas Briefe, Traktate und Gedichte und [[Giovanni Boccaccio]]s ''Il Decamerone'' (1353) das Zeitalter der Renaissance ein. Die drei Autoren, die wegen ihrer herausragenden Bedeutung als die „drei Kronen“ der italienischen Literatur ''(tre corone fiorentine)'' bekannt sind, schrieben in der Volkssprache, dem ''[[Italienische Sprache#Geschichte|volgare]]''. Graf [[Baldassare Castiglione]] beschreibt in ''Il Cortegiano'' (1528) den Idealtypus eines Renaissancemenschen.<br />
<br />
Vorbedingung war die Möglichkeit, griechisches und arabisches Wissen aufzunehmen. Auch die sozialen und politischen Zustände in Italien trugen zu den Umbrüchen bei. Dort war die Erinnerung an die Antike noch am lebendigsten,<ref>[[Jacob Burckhardt]]: ''Die Kultur der Renaissance in Italien'', bearb. v. [[Walter Goetz]]. 12. Auflage. Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-05311-4.</ref> Verkehrswege verbanden sie mit den Zentren der Bildung und im politisch zersplitterten Byzanz bestand die Möglichkeit, Kunst und Bücher zu erwerben. Die großen Vermögen, die durch den Handel entstanden, machten es möglich, große öffentliche und private Kunstprojekte in Auftrag zu geben. Zudem erlebte die Entwicklung zur pragmatischen Schriftlichkeit bereits im frühen 13. Jahrhundert einen Aufschwung, der Schriftverkehr der Kaufleute vertiefte und verbreiterte die Literalität, so dass die Zahl der Alphabetisierten zunahm.<br />
<br />
Im 15. Jahrhundert gehörte Italien zu den am stärksten [[Urbanisierung|urbanisierten]] Regionen Europas. Die Städte boten relativ große politische Freiheit, die zu neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Wegen anregten. Dies galt vor allem für die selbstständigen Mächte Italiens, also das [[Herzogtum Mailand]], die [[Republik Venedig]], [[Florenz]], das [[Königreich Neapel]] und den [[Kirchenstaat]], aber auch für die Höfe von Ferrara oder Mantua.<br />
<br />
Die Päpste verhielten sich kaum anders als die weltlichen Fürsten. Sie führten Kriege und versuchten durch Intrigen Macht und Reichtum [[Nepotismus am Heiligen Stuhl|der eigenen Familien zu vergrößern]]. Der Sohn Papst [[Alexander VI.|Alexanders VI.]] [[Cesare Borgia]], der sich als Söldnerführer und Machtpolitiker betätigte und versuchte, Italien unter seine Herrschaft zu bringen, diente [[Niccolò Machiavelli]] als Vorbild für sein staatsphilosophisches Werk ''[[Der Fürst]]''.<br />
<br />
== Konkurrenz der Weltmächte, Wirtschaftskrise, Bevölkerungsrückgang ==<br />
[[Datei:Habsburg Map 1547.jpg|mini|links|Die habsburgischen Gebiete in Europa im Jahr 1547]]<br />
[[Datei:Ottoman empire de.svg|mini|Das Osmanische Reich zwischen 1481 und 1683]]<br />
<br />
Nach der Entdeckung [[Amerika]]s 1492 durch den Genuesen [[Christoph Kolumbus|Columbus]], aber auch Nordamerikas 1497 durch den von Venedig nach England gegangenen [[Giovanni Caboto]], sowie der zunehmenden Nutzung des Seeweges nach [[Indien]] verlor Italien nach und nach seine herausragende wirtschaftliche Bedeutung durch Verlagerung der Haupthandelsrouten vom Mittelmeer zum Atlantik. Andere Staaten, insbesondere [[Spanien]] und [[Portugal]], nahmen an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung zu, da sie auf Grund der [[Kolonialisierung]] zunächst [[Südamerika]]s neue [[Rohstoff]]ressourcen und Absatzmärkte erschlossen und zudem über größere Binnenressourcen verfügten als die italienischen Stadtstaaten. Zugleich verlor der Handel mit dem in den Nahen Osten und nach Nordafrika expandierenden [[Osmanisches Reich|Osmanenreich]] an Bedeutung, während zugleich die Konkurrenz von Holländern und Engländern zunahm.<br />
<br />
Besonders in Süditalien dominierte die Agrarwirtschaft und der Großgrundbesitz, [[Manufaktur]] und später [[Fabrik]] waren die Ausnahme. Aber auch die Landwirtschaft stagnierte, so dass die Ertragsziffern in Italien bei 7 verharrten, während sie etwa in England und Holland bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf 9, hundert Jahre später gar auf 10 stiegen. Dies war einer der Gründe, dass die dortige Bevölkerung stark anstieg, während sie sich in Italien von etwa 13,5 Millionen (um 1600) auf 11,7 (1650) verminderte. Dies kontrastiert besonders stark mit der Tatsache, dass die Bevölkerung noch zwischen 1500 und 1600 von 9 auf 13,5 Millionen, also um etwa die Hälfte angewachsen war.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 24 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref><br />
<br />
=== Europäischer Kriegsschauplatz (1494–1559) ===<br />
{{Siehe auch|Italienische Kriege}}<br />
[[Datei:Italy 1494 de.svg|mini|links|Italien um 1494]]<br />
[[Datei:Leoattila-Raphael.jpg|mini|Papst [[Leo X.]] (1513–1521) ließ sich in einem von seinem Vorgänger in Auftrag gegebenen Gemälde von [[Raffael]] als Papst [[Leo der Große|Leo I.]] (440–61) porträtieren, wie er dem [[Hunnen]]könig [[Attila]] im Jahr 452 unbewaffnet entgegentritt. Der Legende nach erschienen die Heiligen Roms, Petrus und Paulus, mit Schwertern und bewogen Attila, auf seinen Marsch nach Rom zu verzichten. Eliodor-Raum der [[Stanzen des Raffael]], Vatikan 1514]]<br />
<br />
Eine der Ursachen für den Bevölkerungsrückgang waren die unausgesetzten Kriege. Nach dem Tod König [[Ferdinand I. (Neapel)|Ferrantes von Neapel]] intervenierte König [[Karl VIII. (Frankreich)|Karl VIII.]] von Frankreich 1494 in Italien. Er zwang im nächsten Jahr Florenz, den Kirchenstaat und Neapel zur Kapitulation. [[Ferdinand II. (Aragón)|Ferdinand von Aragón]], [[Maximilian I. (HRR)|Maximilian I.]] sowie [[Republik Venedig|Venedig]], Mailand und der Kirchenstaat verbanden ihre Kräfte am 31.&nbsp;März 1495 in einer „[[Heilige Liga (1495)|Heiligen Liga]]“ und zwangen den französischen König zum Rückzug über die Alpen.<br />
<br />
[[Ludwig XII.]] nahm die expansive Politik Karls VIII. wieder auf und annektierte 1499 das [[Herzogtum Mailand]]. Er und Ferdinand von Aragón teilten im [[Vertrag von Barcelona]] 1500 das Königreich Neapel unter sich auf. Danach sollte der Norden an Frankreich, der Süden an Spanien kommen. Im [[Vertrag von Lyon]] 1504 wurde nach einem erneuten Krieg Unteritalien wieder in das Königreich Aragón eingegliedert, da die Franzosen Neapel verlassen mussten. 1507 gelang es den Franzosen, sich der [[Republik Genua]] zu bemächtigen. Die [[Liga von Cambrai]] (Österreich unter Maximilian I., der Papst, Spanien, England, Ungarn, [[Savoyen]] und einige [[Liste der historischen Staaten in Italien|italienische Staaten]]) versuchte im Oktober 1508 die [[Republik Venedig#Kriege um Oberitalien, Politik der Neutralität, Verlust des Kolonialreichs, Streit mit Päpsten und Habsburgern|Seerepublik Venedig]] aufzuteilen, scheiterte jedoch.<br />
<br />
Papst [[Julius II.]] (1503–1513) schwenkte auf ein neues politisches Ziel um: die Befreiung Italiens von den „Barbaren“. Die Eidgenossenschaft, Spanien, Venedig und der Papst vereinigten sich zur „[[Heilige Liga (1511)|Heiligen Liga]]“, um die Franzosen aus Mailand zu vertreiben, was ihnen 1512 gelang. Die Schweizer restituierten die Dynastie der [[Sforza]] und annektierten den größten Teil des [[Kanton Tessin|Tessins]] ([[Domodossola]], [[Locarno]], [[Lugano]]). In der [[Schlacht bei Marignano]] unterlagen die Schweizer jedoch im September 1515 wieder den Franzosen und sie mussten Mailand räumen. [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] von Frankreich und [[Karl V. (HRR)|Karl I. von Spanien]] einigten sich im [[Vertrag von Noyon]] 1516 auf den [[Status quo]].<br />
<br />
1525 gelang es [[Karl V. (HRR)|Karl]], seit 1519 römisch-deutscher Kaiser, in der [[Schlacht bei Pavia (1525)|Schlacht von Pavia]] Mailand an sein Haus zu bringen und die französische Oberherrschaft in Italien zu beenden. Die Truppen des Kaisers plünderten 1527 Rom ([[Sacco di Roma]]). 1529 schloss Karl mit Frankreich und dem Papst im [[Damenfriede von Cambrai|Vertrag von Cambrai]] Frieden, da die [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Osmanen auf Wien marschierten]]. Im [[Frieden von Crépy]] 1544 verzichtete Franz I. auch auf seinen Anspruch auf Neapel und erhielt von Karl V. im Gegenzug [[Burgund]] zurück. 1559 konnte [[Philipp II. (Spanien)|Philipp II.]] im [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] allerdings Neapel gewinnen.<br />
<br />
=== Reformation und Gegenreformation ===<br />
[[Datei:Sarpi Historia.jpg|mini|''Historiae Concilii Tridentini'' von [[Paolo Sarpi]]]]<br />
<br />
Das [[Fünftes Laterankonzil|5. Laterankonzil]] (1512–1517) kam mit der [[Kirchenreform]] kaum voran. Es verbot den Druck nicht autorisierter Bücher und bestätigte das [[Konkordat von Bologna]] (1516) zwischen [[Leo X.]] und König [[Franz I. (Frankreich)|Franz I.]] Dadurch wurden französische Eroberungen aus den Italienkriegen anerkannt, die zunehmende Loslösung der französischen Kirche von Rom rückgängig gemacht.<br />
<br />
Die Reformation hatte nicht nur jenseits der Alpen Erfolge, sondern zunächst auch in Italien. Doch die katholische Seite ging scharf gegen jede protestantische Äußerung vor. 1530 wurde daher [[Antonio Bruccioli]] aus Florenz vertrieben und der konvertierte, im venezianischen [[Kroatien]] eingesetzte Bischof [[Pietro Paolo Vergerio]] verließ das Land. 1531 kam es zu einer öffentlichen Disputation in Padua, sie blieb jedoch die einzige. [[Erasmus von Rotterdam]], der in Italien erstmals 1514 verlegt wurde,<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 21.</ref> galt als Häretiker, zuweilen sogar als „Lutheraner“ (Erasmus lutheranus).<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 7–11 (ital. 1992) konnte dies anhand von Inquisitionsakten nachweisen.</ref> Doch wurden mit dieser Bezeichnung auch andere Gruppen, wie die [[Calvinismus|Calvinisten]], [[Sakramentarier]], [[Evangelisch-reformierte Landeskirche Graubünden|Graubündner Reformierte]] bezeichnet.<ref>Silvana Seidel Menchi: ''Erasmus als Ketzer. Reformation & Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts'', Leiden 1993, S. 33f.</ref><br />
<br />
1542 wurde die Inquisition reorganisiert, um den Protestantismus zu bekämpfen. 1558 wurde Bartolomeo Fonzio, der Übersetzer von Luthers Schrift ''An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung'' hingerichtet, 1566 Bruccioli, 1570 der Humanist [[Aonio Paleario]].<br />
<br />
Das [[Trienter Konzil]] (1545 bis 1563) befasste sich mit der Kirchenkritik der [[Reformation]]. Seine Beschlüsse beinhalteten, neben dogmatischen Beschlüssen, die Abschaffung der Missbräuche im [[Ablass]]wesen, das Verbot der Ämterhäufung im Bischofsamt und die Einrichtung von [[Priesterseminar]]en sowie einen Index verbotener Bücher (1559). Außerdem durften Bischöfe gegen Häretiker vorgehen. Für [[Martin Luther]] war Venedig das Eingangstor nach Italien, doch stießen die protestantischen Gruppen auf harte Repression.<ref>Massimo Firpo: ''Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento. Un profilo storico.'' Laterza, Bari 2008, passim.</ref> 1571 entstand die ''Indexkongregation'', die sich mit der umfassenden Kontrolle des stark angewachsenen Buchmarktes befasste und damit die Tätigkeit der in Trient 1562 eingesetzten Zensurkommission dauerhaft fortführte.<br />
<br />
=== Osmanisches Reich ===<br />
Das Osmanische Reich bedrängte die italienischen Seemächte und lenkte ihren Handel mit Asien und Nordafrika entsprechend seinen politischen Interessen. 1453 [[Belagerung von Konstantinopel (1453)|eroberten die Osmanen Konstantinopel]], 1475 musste Genua seine Kolonie in [[Feodossija|Kaffa]] am Nordrand des [[Schwarzes Meer|Schwarzen Meeres]] aufgeben, eine Region, in der sich Genua und Venedig seit Jahrhunderten bekriegt hatten. Venedig verlor 1460 seine Stützpunkte auf dem [[Peloponnes]], doch konnte es die Hauptinsel [[Kreta]] noch bis 1645 bzw. 1669 halten. Unter [[Süleyman I.]] (1520–1566) expandierten die Osmanen, die bereits 1480 bis 1481 mit [[Otranto]] erstmals einen italienischen Ort besetzt hatten, Richtung [[Belgrad]] und [[Rhodos]], das sie 1522 eroberten.<br />
[[Schlacht bei Mohács (1526)|Bei Mohács]] unterlag der [[Ludwig II. (Böhmen und Ungarn)|ungarische König]], der Sultan ließ 1529 [[Erste Wiener Türkenbelagerung|Wien belagern]].<br />
<br />
Weiteren Erfolgen im Osten folgte der Sieg des [[Khair ad-Din Barbarossa]] 1538 über die Flotte der [[Heilige Liga (1538)|Heiligen Liga]] unter [[Andrea Doria]] bei [[Preveza]]. Zwar konnten die vereinigten Flotten Spaniens und Venedigs die Osmanen in der [[Seeschlacht von Lepanto]] 1571 besiegen, doch die modernisierte türkische Flotte stellte bereits wenige Jahre später wieder eine erhebliche Bedrohung dar, und Venedig konnte [[Zypern]] nicht zurückerobern. Zudem setzten die Korsaren Nordafrikas den Handelskonvois durch das westliche Mittelmeer zu, vor allem, nachdem ihnen 1574 die Rückeroberung des seit 1535 von Spanien besetzten [[Tunis]] gelungen war.<br />
<br />
=== Spanische und österreichische Vorherrschaft ===<br />
[[Datei:Quadrupla Milano.jpg|mini|Mailänder Münze mit dem spanischen König]]<br />
<br />
Der [[Frieden von Cateau-Cambrésis]] (1559) verfestigte die spanische Herrschaft im gesamten Süden Italiens, auf den Inseln, in Mailand und im [[Stato dei Presidi]] im Süden der [[Toskana]]. Zugleich lagen der Kirchenstaat, das [[Großherzogtum Toskana]] und Genua sowie weitere Kleinstaaten im Einflussbereich [[Madrid]]s. [[Savoyen]] wurde immer wieder zum Schlachtfeld zwischen Spanien und Frankreich. Nur Venedig konnte seine Unabhängigkeit bewahren.<br />
<br />
Ende des 16. Jahrhunderts verlagerte sich zunehmend der Handel vom Mittelmeer in den [[Atlantischer Ozean|Atlantik]], wozu auch die Kriege in Italien beitrugen. Dort kollidierten die kaiserlichen und die französischen Interessen zunächst im [[Mantuanischer Erbfolgekrieg|Erbfolgekrieg von Mantua]] (1628–1631). Die Pestepidemien von 1630 bis 1632 und 1656 bis 1657 (Neapel, Rom, Ligurien, Venetien) und der spanische Fiskalismus wirkten sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung aus; so sperrte die Toskana jeden Verkehr mit dem Süden, setzte eine [[Quarantäne]] nach venezianischem Vorbild durch und informierte die benachbarten Mächte.<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 105f.</ref> Mit diesen Maßnahmen gelang es Italien lange vor den modernen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten, die Epidemien, wenn auch unvollständig, einzudämmen.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 190f. (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Plünderungen, Hunger, Epidemien förderten in ihrer Wechselwirkung den ökonomischen und politischen Niedergangs, der allerdings scharf mit der kulturellen Entwicklung kontrastierte. Italien blieb sowohl im künstlerischen als auch im wissenschaftlichen Bereich noch lange führend.<br />
<br />
Gegen die spanische Fiskalpolitik kam es zu Aufständen, deren in Italien bekanntester der des Fischers [[Tommaso Masaniello]] aus Neapel war. Er entzündete sich 1647 an Abgaben auf Lebensmittel, und obwohl Masaniello ermordet wurde, gelang es den Aufständischen unter Führung des [[Gennaro Annese]] am 17. Dezember, die Spanier aus der Stadt zu vertreiben. Unterstützung fanden sie durch den Franzosen [[Henri II. de Lorraine, duc de Guise|Henri II. de Guise]]. Er beanspruchte als Nachkomme [[René I. (Anjou)|Renés I. von Anjou]] das Königreich Neapel und konnte die Truppen des [[Juan de Austria]] besiegen. Die Aufständischen riefen die [[Republik Neapel]] aus, die bis zum 5. April 1648 bestand. Innere Streitigkeiten führten jedoch dazu, dass der Neapolitaner Gennaro Annese den Spaniern die Tore öffnete. Beim Versuch, die Stadt zurückzugewinnen, geriet Henri II. am 6. April in spanische Gefangenschaft. Ähnliche Volksaufstände fanden 1647/48 unter Führung des [[Giuseppe d’Alesi]] in Palermo statt und unter [[Ippolito von Pastina]] in [[Salerno]]. 1701 erhob sich der Adel Neapels vergeblich in der Verschwörung von Macchia gegen die spanische Herrschaft, ein Aufstand, der seine Bezeichnung nach [[Gaetano Gambacorta]], Fürst von Macchia, erhielt.<br />
<br />
Nach dem Ende des spanischen Zweigs der [[Habsburg]]er ([[Karl II. (Spanien)|Karl II.]] starb am 1. November 1700 kinderlos) begann 1701 der [[Spanischer Erbfolgekrieg|Spanische Erbfolgekrieg]]. Eine Allianz um die österreichischen Habsburger und England kämpfte dabei gegen eine von Frankreich geführte Koalition. Letztlich gelang es Frankreich, mit [[Philipp V. (Spanien)|Philipp V.]] die bis heute amtierende Dynastie der [[Haus Bourbon|Bourbonen]] zu installieren. Im [[Friede von Utrecht|Frieden von Utrecht]] 1713 wurden [[Österreich]] das zuvor spanische [[Mailand]], [[Neapel]] (ohne [[Sizilien]]) und [[Sardinien]] zugesprochen. Es wurde damit zur vorherrschenden Macht in Italien. Gegen die österreichische Herrschaft kam es 1746 zu einem Aufstand in Genua, den ein jugendlicher Steinewerfer ausgelöst haben soll; sein Kurzname ''Balilla'' findet sich in der [[Il Canto degli Italiani|italienischen Nationalhymne]] wieder.<ref>Ilaria Porciani: ''Stato e nazione: l’immagine debole dell' Italia.'' In: Simonetta Soldani, Gabriele Turi (Hrsg.): ''Fare gli italiani'', Bologna 1993, Bd. I, S. 385–428.</ref><br />
<br />
Der Herzog von [[Savoyen]] erhielt [[Sizilien]] sowie [[Markgrafschaft Montferrat|Montferrat]]. 1720 tauschte das Haus Savoyen mit Österreich seinen Besitz Sardiniens gegen Sizilien ein und erhielt somit die Königswürde. Erster Herrscher des neuen [[Königreich Sardinien|Königreichs Sardinien-Piemont]] wurde [[Viktor Amadeus II.]]<br />
<br />
[[Datei:Corsica ponte genovese tavignano Altiani.jpg|mini|Genuesische Brücke über den [[Tavignano]] bei [[Altiani]] im Osten Korsikas]]<br />
<br />
Spanien erwarb 1735/38 Neapel und Sizilien, 1748 [[Parma]] und gründete dort eine [[Sekundogenitur]]. Nach dem Aussterben der [[Medici]] in Florenz 1737 stiftete der Herzog von Lothringen dort eine Sekundogenitur für das Haus [[Habsburg-Lothringen]]. 1768 verkaufte die Republik Genua die Insel [[Korsika]] an Frankreich. Italien war von 1701 bis 1748 Kriegsschauplatz der Großmächte (Europäische Erbfolgekriege). Bis 1796 blieb dieses System stabil, doch geriet Italien in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ins Abseits. Zwar stieg die Bevölkerungszahl von 1700 bis 1800 von 13,6 auf 18,3 Millionen, doch sank angesichts erheblich schnellerer Wachstumsraten in vielen Nachbarländern der Anteil an der europäischen Gesamtbevölkerung.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Vor allem aber gelang es der Agrarproduktion trotz Ansätzen zur Liberalisierung etwa im [[Großherzogtum Toskana]] (1764) kaum mehr, mit der Zahl der Konsumenten mitzuhalten.<br />
<br />
=== Merkantilismus, Ausweitung des Kapitalverkehrs ===<br />
Trotz einer gewissen Zunahme des münzlosen Geldverkehrs und des Umfangs des Kreditwesens<ref>Dazu Elena Maria Garcia Guerra, Giuseppe De Luca: ''Il Mercato del Credito in Età Moderna. Reti e operatori finanziari nello spazio europeo.'' Mailand 2010.</ref> blieb Europas Wirtschaft weiterhin von der Zufuhr von Edelmetallen abhängig. Die Versorgung mit Silber und Gold hing dabei zunehmend von Lateinamerika ab. Um 1660 kamen von dort Gold und Silber im Wert von rund 365 Tonnen Silber, während Europa nur noch 20 bis 30 Tonnen pro Jahr produzierte.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 95f.</ref> Gleichzeitig erhöhte sich der Abfluss in den Ostseeraum, die Levante und Ostasien so stark, dass nur 80 t in Europa blieben. Spanien investierte den überwiegenden Teil dieses Edelmetallstroms in den [[Achtzigjähriger Krieg|Krieg gegen die Niederlande]]. Ähnlich agierte Frankreich. Dabei standen kurzfristige fiskalische Interessen im Vordergrund, aber langfristig löste diese Politik Inflationsschübe aus und schadete der Wirtschaft. Die Münzen wurden abgewertet, bis sie kaum noch Edelmetall enthielten, so dass sie durch reine [[Kupfermünze]]n ersetzt wurden. 1607 – unter [[Philipp III. (Spanien)|Philipp III.]] – kam es zum dritten spanischen Staatsbankrott;<ref>Bernd Roeck: [http://books.google.de/books?id=MytxfKWsfn4C&pg=PA124&lpg=PA124&dq=1607+Spanien+bankrott&source=bl&ots=Vu98WIqB7e&sig=XcFyoOtPZVE5BCiFiH1qxl1RsAw&hl=de&sa=X&ei=rTHMU5T6GIWR7AaU3oDQBg&ved=0CC8Q6AEwAg#v=onepage&q=1607%20Spanien%20bankrott&f=false Geschichte Augsburgs]</ref> willkürliche Abwertungen folgten bis 1680. Dabei lag der Nennwert viel höher als der Metallwert, die Münzen wurden zudem immer wieder beschnitten ([[Münzverschlechterung]]). Die Abgaben erfolgten hingegen nach dem Gewicht. Der „Bauer war grausam gefangen zwischen zwei Gruppen; die eine gab ihm das Geld allein nach dem Nennwert, die andere nahm es ihm allein nach Gewicht.“<ref>Thomas Babington Macaulay, zitiert nach Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 110.</ref><br />
<br />
[[Datei:Colbert1666.jpg|mini|links|Porträt des Beraters des französischen Königs Jean-Baptiste Colbert, Philippe de Champaigne 1655. Colberts merkantilistische Politik behinderte die italienischen Exporte und führte zur Stärkung französischer Konkurrenz.]]<br />
<br />
Auch Frankreich ging zunächst den Weg der Kupferwährung, zuletzt 1654 bis 1657, und importierte dazu große Mengen aus Schweden. [[Jean-Baptiste Colbert|Colbert]], Berater König [[Ludwig XIV.|Ludwigs XIV.]], setzte jedoch ab 1659 stärker darauf, den Abfluss von Edelmetallen aus Frankreich zu bremsen und den Zufluss zu fördern. Um dies zu erreichen, stärkte er die Exportgewerbe, erhöhte den Gold- zu Lasten des Silberkurses. Dadurch stabilisierte er die Staatsschuld so sehr, dass sich viele Ausländer entschlossen, ihre Edelmetalle hier anzulegen. Colbert gab ab 1671 Rentenpapiere gegen Geldeinlage zu 7 % Zinsen aus; zudem hielt er das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber bei etwa 15:1.<br />
<br />
Das Heilige Römische Reich sah hingegen eine starke Kupferinflation (s. [[Kipper- und Wipperzeit]]), die erst während des [[Dreißigjähriger Krieg|Dreißigjährigen Krieges]] zurückging. Gegen Ende des Jahrhunderts stabilisierten sich die Währungen. Gewinner dieser Entwicklung waren die [[Niederlande]], die den [[Dukaton]] (nach dem Vorbild des [[Zecchine|venezianischen Dukaten]]) nicht als Gold-, sondern als Großsilbermünze von hohem Ansehen einführten. Dies verstärkte wiederum den Zufluss spanischen Silbers und die Wiederausfuhr. 1683 stellte man fest, dass von den 15–18 Millionen [[Gulden]], die als spanisches Silber hereinflossen, nur 2,5 bis 4 Millionen im Lande blieben. Doch nicht nur hierin gewannen die Niederlande und wenig später England, einen entscheidenden Vorsprung. Zunächst gründete man 1609 nach dem Vorbild des venezianischen [[Banco di Piazza di Rialto]] (1587–1638) die [[Amsterdamer Wechselbank|Wisselbank]]. Ihr gelang es nicht nur, den Münzwert zu stabilisieren, sondern auch durchzusetzen, dass alle größeren Wechsel nur noch über diese [[Clearing]]stelle verrechnet werden durften. Dieser bargeldlose Ausgleich von Forderungen zwischen Konten gab ihr eine der Eigenschaften einer [[Zentralbank]].<ref>Stephen Quinn, William Roberds: ''An Economic Explanation of the Early Bank of Amsterdam, Debasement, Bills of Exchange, and the Emergence of the First Central Bank.'' Federal Reserve Bank of Atlanta, September 2006, S. 41–44.</ref><br />
<br />
Doch man ging viel weiter als in Italien, um den [[Geldumlauf]] zu erhöhen und zu beschleunigen. Man gestattete den Kunden ähnlich wie in Venedig Gold zu deponieren, wofür sie als Quittung ''Recepissen'' erhielten. Am Edelmetallmarkt [[Amsterdam]], der bald zum bedeutendsten wurde, waren einerseits alle Münzen in ausreichender Menge vorhanden, vor allem aber liefen nur noch die ''Recepissen'' als Bargeld für größere Beträge um. Eine ähnliche Ausweitung des Geldverkehrs erreichte Frankreich durch die Ausgabe von verzinslichen Staatspapieren, die gleichfalls per [[Indossament]] veräußert werden konnten. So weitete man die umlaufende Geldmenge aus und verbilligte auf diese Art langfristig Kredite, was wiederum Handel und Produktion weiter stimulierte. Gerade in dieser Zeit ging, nachdem der venezianische [[Pfefferhandel]] lange Widerstand geleistet hatte, ab den 1620er Jahren sein Volumen erheblich zurück. Wenige Jahre später galt Pfeffer nicht mehr als „östliche“ Ware, sondern als „westliche“. Holländer und Engländer – Letzteren gelang 1663 der Einstieg in die [[Goldwährung]], 1697/98 die Währungsstabilisierung –, zeitweilig Portugiesen, hatten den Gewürzhandel weitgehend monopolisiert. Darüber hinaus fielen die Landhandelswege nach Asien immer mehr zurück, Venedig verlor nach und nach seine Kolonien.<br />
<br />
Der Handel mit dem Osten kam im Lauf des 17. Jahrhunderts zunehmend in holländische und englische Hand, um im 18. Jahrhundert weitgehend von Engländern dominiert zu werden. Sie waren in der Gewerbeorganisation, in der wendigen Anpassung an sich verändernde Moden und Märkte, aber auch durch die hinter den Händlern stehende politische Macht und schließlich durch bessere Kapitalausstattung überlegen. Während industriell gefertigte Tuche auf den italienischen Markt drängten, wanderten Zucker- und Baumwollproduktion, zwei bedeutende Produktionszweige seit dem 15. Jahrhundert, Richtung Amerika ab.<br />
<br />
Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts blieb in Italien das [[Indossament]] verboten. Damit blieb der bargeldlose Verkehr in den Händen der Messbankiers, nicht der Kaufleute. Zwar griffen italienische Merkantilisten wie [[Bernardo Davanzati]] (1529–1606) die französischen Ideen auf, doch wirkte seine ''Lezione delle monete'' (1588) eher im Ausland als in Italien. [[Antonio Serra]] (1568–1620) erörterte, wie man die [[Handelsbilanz]] zu deuten habe und wie man in Gebieten den Geldumlauf sichern könne, die nicht über Gold- oder Silberbergbau verfügten, wie das Königreich Neapel (gedruckt 1613).<ref>Pietro Custodi (Hrsg.): ''Breve trattato delle cause che possono far abbondare li regni d’oro e d’argento dove non sono miniere.'' Mailand 1803.</ref> Die italienischen Staaten reformierten ihre Münzsysteme, die weiterhin auf Gold und Silber basierten ([[Bimetallismus]]), versuchten dabei die Kupfermünzen zu begrenzen und die Münzwerte an die Gold-Silber-Relation anzupassen. Venedig reformierte sein Münzwesen 1722 und 1733, Genua ab 1745, Savoyen 1755 und Mailand 1778. Dabei zeichneten sich Ansätze ab, nicht nur die staatlichen Währungsräume zu vereinheitlichen und die Zahl der verschiedenen Münzen zu verringern, sondern auch in ganz Italien zu Vereinheitlichungen zu gelangen.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 124f.</ref><br />
<br />
Zudem setzte sich die Vorstellung durch, Geld habe im Wirtschaftsablauf neutral zu sein (siehe [[Geldfunktion]]). Die aufkommenden Zentralbanken sollten nicht willkürlich Geld auflegen, sondern über Kreditvergabe den Geldumlauf beschleunigen. Für [[David Hume]] (1711–1776) sollte es nur noch das „Öl für das Wirtschaftsgetriebe“ darstellen; [[Adam Smith]] (1723–1790) trennte Geld- und Wirtschaftssphäre vollständig. Es war noch nicht möglich, eine [[Papierwährung]] durchzusetzen; fehlgeschlagene Versuche, wie etwa durch [[John Law]], erhöhten das Misstrauen gegen solche Versuche, so dass die partielle Abhängigkeit vom Bergbau fortbestand.<br />
England hatte einen weiteren wirtschaftlichen Vorteil, nachdem es die Ausgabe von Banknoten stabilisiert hatte. Die [[Bank of England]] erhielt in London ein Monopol, während ''Country Banks'' ab 1708 das ländliche Kapital mobilisierten. Ab der Mitte des Jahrhunderts kamen zunehmend [[Privatbankier|Privatbanken]] auf, zum Beispiel die [[Barings Bank]].<br />
<br />
1821 stellte die Bank of England die Einlösepflicht von Banknoten in Gold („[[Golddeckung]]“) wieder her, eine Regelung, die sie auch während der Bankenkrise von 1825/26 unter Rückgriff auf ihre [[Goldreserven]] durchhielt. Bald setzte sich der [[Goldstandard]] durch, und die Zentralbank übernahm die Funktion einer Bank der Banken, um die Liquidität des Bankensystems zu gewährleisten.<ref>Michael North: ''Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.'' Beck, München 2009, S. 227.</ref><br />
<br />
In Italien bestanden bei der [[Einigung Italiens|Einigung des Landes]] (1861) fünf Banken, die Noten herausgeben durften. Diese waren die ''Banca nazionale del Regno d’Italia'', die ''Banca nazionale toscana'', die ''Banca Romana'', der ''Banco di Sicilia'' und der ''Banco di Napoli''; 1870 kam die ''Banca toscana di Credito'' hinzu. Nach dem Zusammenbruch der 'Banca Romana' wurde 1893 die [[Banca d’Italia]] gegründet; sie erhielt 1920 das Monopol auf die Herausgabe von Banknoten.<br />
<br />
== Napoleon, Wiener Kongress (1796–1815) ==<br />
[[Datei:Italia, 40 lire di napoleone imperatore, 1808.JPG|mini|40-Lire-Stück mit Napoleon als König von Italien]]<br />
<br />
1796/97 unterwarf [[Napoleon Bonaparte]] im [[Italienfeldzug (Erster Koalitionskrieg)|Italienfeldzug]] große Teile Ober- und Mittelitaliens und zwang im [[Frieden von Campo Formio]] Österreich und das römisch-deutsche Kaisertum zur Anerkennung seiner Eroberungen und zum Verzicht auf die Lehensrechte in Italien. Österreich erhielt nach der Selbstauflösung der [[Republik Venedig]] deren Gebiet (außer den [[Ionische Inseln|Ionischen Inseln]]). Frankreich gründete im übrigen Italien [[Vasallenstaat]]en. Teile Norditaliens wurden zur „Transalpinischen Republik“ zusammengefasst, die dann in Cisalpinische bzw. [[Cisalpinische Republik|Cisalpine Republik]] umbenannt wurde. Genua wurde zur [[Ligurische Republik|Ligurischen Republik]], das 1799 eroberte [[Königreich Neapel]] zur [[Parthenopäische Republik|Parthenopäischen Republik]]. Der Kongress der kurzlebigen [[Cispadanische Republik|Cispadanischen Republik]] erklärte am 7. Januar 1797 mit der aus Frankreich importierten grün-weiß-roten Trikolore – in der damaligen Variante mit Querstreifen – zum ersten Mal einen Vorläufer der [[Flagge Italiens]] zur Nationalflagge eines italienischen Staates;<ref>Vgl. etwa [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 4.</ref> die grün-weiß-rote Trikolore wurde in der Folgezeit zu einem wichtigen Symbol der italienischen Nationalbewegung. 1798 nahmen die Franzosen Papst [[Pius VI.]] gefangen und ließen den [[Kirchenstaat]] zur [[Römische Republik (1798–1799)|Römischen Republik]] ausrufen.<br />
<br />
Im [[Zweiter Koalitionskrieg|Zweiten Koalitionskrieg]] erlitt Frankreich 1799 in Italien eine Niederlage gegen Österreich und Russland. Die französische Herrschaft in Italien brach zusammen, die alte Ordnung (so der Kirchenstaat) wurde zum Teil wiederhergestellt. 1800 kam es zur erneuten französischen Eroberung, Napoleon ließ Italien wieder neu ordnen. Das [[Großherzogtum Toskana]] wurde zum [[Königreich Etrurien]], die ''Cisalpine Republik'' zur ''Republik Italien'' mit Napoleon als erstem Konsul. Piemont blieb unter französischer Militärverwaltung. Nach seiner [[Kaiserkrönung Napoleons I.|Kaiserkrönung]] 1804 wandelte Napoleon die Republik Italien zum [[Königreich Italien (1805–1814)|Königreich Italien]] um. Er krönte sich 1805 in Mailand mit der [[Eiserne Krone|Eisernen Krone]] zum ''König von Italien''. Im [[Friede von Pressburg|Frieden von Preßburg]] 1805 nach dem Dritten Koalitionskrieg verlor Österreich das venezianische Gebiet wieder an Frankreich, das den Westteil Venetiens dem ''Königreich Italien'' zuschlug und aus dem östlichen Teil (den Gebieten an der östlichen Adria) einen neuen Vasallenstaat formte, die [[Illyrische Provinzen|Illyrischen Provinzen]]. 1806 wurden die Bourbonen erneut aus dem Königreich Neapel verjagt und Napoleons Bruder [[Joseph Bonaparte|Joseph]] dort als Herrscher eingesetzt, 1808 sein Schwager [[Joachim Murat]].<br />
<br />
[[Datei:Italie 1812.png|mini|links|Italien im Jahr 1812]]<br />
[[Datei:Italy 1843 de.svg|mini|Italien nach dem [[Wiener Kongress]]]]<br />
<br />
Auf Sizilien und Sardinien konnten sich die (süditalienischen) Bourbonen und die Savoyer unter britischem Flottenschutz halten. 1808 besetzte Napoleon erneut den Kirchenstaat und schlug ihn dem Königreich Italien zu. Teile des Kirchenstaats wurden annektiert, ebenso das Königreich Etrurien, Ligurien und Parma. Bis auf Sizilien und Sardinien stand Italien also unter direkter oder indirekter französischer Herrschaft, ehe 1814/15 die napoleonische Herrschaft zusammenbrach.<br />
<br />
Durch den [[Wiener Kongress]] kam es zur Neuordnung Italiens. Österreich bekam zur Lombardei nun Venetien dazu, das damit seine Unabhängigkeit endgültig verlor; der Kirchenstaat wurde wiederhergestellt, verlor aber [[Avignon]] an Frankreich; das [[Königreich Sardinien]] bekam die Republik Genua zugesprochen; in Parma-Piacenza und [[Guastalla]] wurde Napoleons Frau, die Habsburgerin [[Marie-Louise von Österreich|Marie-Louise]], als Herrscherin eingesetzt; [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] wurde fortan vom Haus Habsburg-Este regiert; das von einer habsburgischen Nebenlinie regierte [[Großherzogtum Toskana]] wurde wiederhergestellt; die zuvor formal getrennten Königreiche Neapel und Sizilien wurden zum [[Königreich beider Sizilien]] vereinigt.<br />
<br />
== {{Anker|Nationale Einigung Italiens}}Unabhängigkeitsbewegungen und Einigungskriege (bis 1870) ==<br />
{{Hauptartikel|Risorgimento}}<br />
<br />
Die Epoche der Nationalstaatsgründung – mit umstrittenen zeitlichen Grenzen – wird in Italien mit dem Begriff „[[Risorgimento]]“ („Wiederauferstehung“) beschrieben.<ref>Dazu [[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 91.</ref><br />
<br />
=== Kampf gegen Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus ===<br />
Nach 1815 war das Königreich Sardinien der letzte bedeutende Staat unter einer einheimischen Dynastie. Italien unterlag weiterhin dem Einfluss fremder Mächte, obwohl durch den Untergang des [[Heiliges Römisches Reich|Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation]] 1806 „Reichsitalien“ mit den daran hängenden Ansprüchen und Titeln verschwand. Je mehr die (in der Regel ausländischen) Fürsten Italiens nun bestrebt waren, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Zeit vor Napoleon zurückzudrehen, desto mehr wurde der Korse als fortschrittlicher, anti-absolutistischer Herrscher gesehen.<br />
<br />
[[Datei:Paleis met tuin Caserta.jpg|mini|links|Der [[Haus Bourbon|Bourbonenpalast]] von Caserta (Reggia di Caserta) entstand ab 1752 und sollte der eindrucksvollste Palast Europas werden. Allein der Park erstreckt sich über eine Fläche von 120&nbsp;ha. Neben dem Palast in Neapel bestanden drei weitere Hauptresidenzen. Heute gehört die Gesamtanlage zum Weltkulturerbe.]]<br />
[[Datei:Donghi 5 giornate 1848.jpg|mini|Barrikaden während der ''Fünf Tage von Mailand'', Aquarell, Felice Donghi (1828–1887), März 1848]]<br />
<br />
Der Wunsch, Italien von Fremdherrschaft, Zerstückelung und Absolutismus zu befreien, erfasste immer mehr Menschen. Geheimbünde entstanden, vor allem die in Neapel einflussreichen, gegen die Franzosen kämpfenden und Aufstände organisierenden „[[Carbonari]]“ (Köhler). Eine bedeutende Rolle spielten der Publizist [[Giuseppe Mazzini]] und die von ihm gegründete Bewegung „[[Junges Italien|Giovine Italia]]“ (Junges Italien), der sich in den [[1830er#Europa|1830er Jahren]] viele ehemalige Mitglieder der Carboneria nach deren weitgehender Zerschlagung anschlossen. Die Carbonari zwangen im Juli 1820 die nach Napoleon zurückgekehrten Spanier unter [[Ferdinand I. (Sizilien)|Ferdinand I.]] zur Annahme [[Verfassung von Cádiz|einer Verfassung]], die neben Gott das Volk als Souverän und Ursprung der Macht betonte. Sie wurde nach der Unterdrückung des Aufstands aber widerrufen.<ref>Jens Späth: ''Revolution in Europa 1820–23. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und Sardinien-Piemont.'' (= ''Italien in der Moderne'', Bd. 19), Böhlau, Köln 2012, ISBN 978-3-412-22219-2 ([https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/archiv-fuer-sozialgeschichte/2013/08_09/revolution-in-europa-1820201323 Rezension]).</ref> Eine zweite, durch die französische [[Julirevolution von 1830]] ausgelöste Welle von Erhebungen Anfang 1831 in [[Herzogtum Modena|Modena-Reggio]] und im Kirchenstaat scheiterte ebenfalls.<ref>[[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano.'' Laterza, Rom / Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9, S. 49–52.</ref><br />
<br />
=== Führungsrolle Piemonts, gescheiterte Revolutionen ===<br />
[[Datei:Italien 1843–1870.png|mini|Italien 1843–1870, gelb und orange habsburgisch, Schritte der Vereinigung]]<br />
Das vergleichsweise liberal regierte [[Königreich Sardinien|Königreich Sardinien-Piemont]], das 1848 die [[Jüdische Emanzipation|Emanzipation der Juden]] und [[Statuto Albertino|eine Verfassung]] durchsetzte, machte sich die Forderung nach einer Einigung Italiens zu eigen, es kam zu den [[Italienische Unabhängigkeitskriege|Italienischen Unabhängigkeitskriegen]].<br />
<br />
Nach mehrtägigen Straßen- und Barrikadenkämpfen kam es im [[Revolutionen 1848/1849|Revolutionsjahr 1848]] zur Bildung provisorischer Regierungen in Mailand (18. bis 22. März 1848), [[Repubblica di San Marco|Venedig]] (17. März 1848 bis 22. August 1849) und Palermo, dessen Parlament Sizilien für unabhängig erklärte (12. Januar 1848 bis 15. Mai 1849). 1849 erhob sich die Bevölkerung der ewigen Stadt gegen die weltliche Herrschaft des Papstes, woraufhin die von einem [[Triumvirat]] regierte [[Römische Republik (1849)|Römische Republik]] (9. Februar bis 4. Juli 1849) ausgerufen wurde.<br />
<br />
Die Revolutionen wurden allesamt niedergeschlagen; die Armee Sardinien-Piemonts, dessen König [[Karl Albert (Sardinien-Piemont)|Karl Albert]] am 24. März 1848 Österreich den Krieg erklärt hatte, wurde im Juli 1848 bei [[Schlacht bei Custozza (1848)|Custozza]] und nach Wiederaufnahme des Kriegs im März des Folgejahrs bei [[Schlacht bei Novara (1849)|Novara]] von den Österreichern unter [[Josef Wenzel Radetzky von Radetz|Radetzky]] geschlagen. Der Monarch dankte daraufhin zugunsten seines Sohnes [[Viktor Emanuel II.]] ab. In der Folge kam es zur Restauration der Herrschaft der Bourbonen, Österreichs und Papst [[Pius IX.|Pius’ IX]].<br />
<br />
[[Datei:With Victor Emmanuel.jpg|mini|[[Giuseppe Garibaldi|Garibaldi]] und [[Viktor Emanuel II.]], Sebastiano De Albertis (1828–1897), um 1870]]<br />
<br />
=== Staatsgründung, Anschluss des Südens an Piemont (1860) ===<br />
[[Datei:Italy 1864 de.svg|mini|links|Italien 1860–1866]]<br />
[[Datei:Italy 1870 de.svg|mini|links|Italien 1866–1870 nach dem [[Dritter Italienischer Unabhängigkeitskrieg|dritten Krieg gegen Österreich]]]]<br />
<br />
1855/56 nahm Savoyen auf Seiten Frankreichs am [[Krimkrieg]] teil, wodurch Viktor Emanuel die Unterstützung der dortigen Regierung für seine Einigungspläne erlangte. 1859 griffen die Savoyer erneut Österreich in Oberitalien an, diesmal mit Unterstützung Frankreichs ([[Sardinischer Krieg]]). In den Schlachten von [[Schlacht von Magenta|Magenta]] und [[Schlacht von Solferino|Solferino]] unterlagen die Österreicher, im [[Vorfrieden von Villafranca]] fiel die Lombardei an Savoyen. Parallel dazu gab es Aufstände in der Toskana, [[Modena]] und in anderen Gebieten. Als Folge schlossen sich [[Herzogtum Parma|Parma-Piacenza]], [[Großherzogtum Toskana|Toskana]], [[Herzogtum Modena|Modena]] und Teile des Kirchenstaats 1860 Sardinien-Piemont an.<br />
<br />
Die Volksabstimmungen, deren Abstimmungsmodus nicht frei oder fair genannt werden kann,<ref>Es standen nur die Alternativen „Annessione alla monarchia costituzionale del Re Vittorio Emanuele II“ und ein „Regno separato“ zur Wahl. Zudem galt das piemontesische Zensuswahlrecht und Analphabeten, deren Zahl fast 80 % betrug, waren von der Abstimmung ausgeschlossen. Vgl. [[Peter Stadler]]: ''Cavour. Italiens liberaler Reichsgründer''. Oldenbourg Verlag, München 2001, ISBN 3-486-56509-5, S. 146.</ref> über den Anschluss an Italien ergaben in den Regionen folgende Ergebnisse:<ref>Nach: Jörg Fisch: ''Das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder die Domestizierung einer Illusion'', Beck, München 2010, S. 125, „Tabelle 3: Die Plebiszite im Zusammenhang mit der italienischen Einigung, 1860–1870“.</ref><br />
{| class="wikitable sortable"<br />
! Gebiet !! Ja !! Nein !! Datum<br />
|-<br />
| [[Toskana]]<br />
|style="text-align:right"| 366.571<br />
|style="text-align:right"| 14.925<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Emilia-Romagna|Emilia]]<br />
|style="text-align:right"| 426.006<br />
|style="text-align:right"| 756<br />
|style="text-align:right"| 11./12. März 1860<br />
|-<br />
| [[Nizza]]<br />
|style="text-align:right"| 25.743<br />
|style="text-align:right"| 160<br />
|style="text-align:right"| 15. April 1860<br />
|-<br />
| [[Savoyen]]<br />
|style="text-align:right"| 130.533<br />
|style="text-align:right"| 237<br />
|style="text-align:right"| 22. April 1860<br />
|-<br />
| [[Neapel]]<br />
|style="text-align:right"| 1.302.064<br />
|style="text-align:right"| 10.312<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Sizilien]]<br />
|style="text-align:right"| 432.053<br />
|style="text-align:right"| 667<br />
|style="text-align:right"| 21. Oktober 1860<br />
|-<br />
| [[Marken]]<br />
|style="text-align:right"| 133.807<br />
|style="text-align:right"| 1.212<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Umbrien]]<br />
|style="text-align:right"| 97.040<br />
|style="text-align:right"| 380<br />
|style="text-align:right"| 4./5. November 1860<br />
|-<br />
| [[Venedig]], Mantua<br />
|style="text-align:right"| 647.246<br />
|style="text-align:right"| 69<br />
|style="text-align:right"| 21./22. Oktober 1866<br />
|-<br />
| [[Rom]], Provinzen<br />
|style="text-align:right"| 133.681<br />
|style="text-align:right"| 1.507<br />
|style="text-align:right"| 2. Oktober 1870<br />
|}<br />
<br />
Eine besondere Rolle im Einigungsprozess spielten die Freiwilligenverbände unter Führung [[Giuseppe Garibaldi]]s, die 1860 im Zuge des legendären „[[Zug der Tausend|Zugs der Tausend]]“ das [[Königreich beider Sizilien]] unter ihre Kontrolle brachten. Auch hier floh König [[Franz II. (Sizilien)|Franz II.]], und Garibaldi rief sich im Namen Viktor Emanuels zum Diktator Siziliens aus. Der Ministerpräsident von Sardinien-Piemont, [[Camillo Benso von Cavour|Cavour]], sandte ein Heer in den Süden, einerseits um Garibaldi zu Hilfe zu kommen, andererseits, um zu verhindern, dass das Risorgimento eine republikanische Stoßrichtung erhielt. Die Truppen von Sardinien besetzten auch weitere Teile des Kirchenstaats (Umbrien und Marken). Plebiszite in Umbrien, in den Marken und in beiden Sizilien besiegelten den Anschluss an Sardinien-Piemont. Am 17. März 1861 wurde Viktor Emanuel II. zum König von Italien ausgerufen.<ref>Dazu ausführlich Denis Mack Smith: ''Cavour and Garibaldi 1860. A study in political conflict.'' Cambridge University Press, reissued with a new preface, Cambridge 1985 (1954).</ref><br />
<br />
=== Anschluss Venetiens und des Friauls (1866) sowie des Kirchenstaats (1870) ===<br />
Infolge der Niederlage Österreichs gegen Preußen in der [[Schlacht bei Königgrätz]] im [[Deutscher Krieg|Krieg von 1866]], in dem Italien Verbündeter des Siegers war, jedoch bei [[Seeschlacht von Lissa (1866)|Lissa]] und [[Schlacht bei Custozza (1866)|Custozza]] selbst traumatische Niederlagen erlitt, kamen [[Venetien]] und das [[Friaul]] gemäß dem [[Frieden von Wien (1866)|Frieden von Wien]] vom 3. Oktober 1866 an Italien. Die offizielle Übergabe der Stadt erfolgte am 19. Oktober, Plebiszite bestätigten am 21. und 22. Oktober den Anschluss.<br />
<br />
Versuche Garibaldis, Rom für das neu gegründete Königreich Italien zu erobern, wurden 1862 am [[Aspromonte]] bzw. 1867 bei [[Mentana]] von italienischen bzw. päpstlichen und französischen Truppen gestoppt.<ref>Pascal Oswald: ''Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘. Vom Volturno nach Mentana (1860–1870).'' (= ''Geschichte & Kultur. Kleine Saarbrücker Reihe.'' Band 9) Verlag für Geschichte & Kultur, Trier 2023 ([https://riviste.unimi.it/index.php/risorgimento/article/view/27361 Rezension (italienisch)]). Für eine digitale Kurzfassung vgl. auch Pascal Oswald: ''[http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf Vom Volturno nach Mentana: Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘.]'' In: ''risorgimento.info'' (abgerufen am 6. März 2020).</ref> Entgegen den Bestimmungen der 1864 zwischen Italien und Frankreich abgeschlossenen [[Septemberkonvention]], in deren Folge die Hauptstadt von Turin nach Florenz verlegt wurde, eroberten 1870 italienische Truppen den verbliebenen Teil des [[Kirchenstaat]]es. Daraufhin wurde Rom 1871 die neue Hauptstadt Italiens. Papst [[Pius IX.]], der seine weltliche Herrschaft damit verloren hatte, sah sich bis zu seinem Tod 1878 als „Gefangener im Vatikan“ und verbot Katholiken die Teilnahme am politischen Leben Italiens.<ref>[[Denis Mack Smith]]: ''Storia d’Italia 1861–1969.'' Laterza, Bari 1972 (Sonderausgabe mit ''[[Il Giornale]]''), S. 151.</ref> Die sogenannte [[Römische Frage]] belastete das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Kirche noch bis zum Abschluss der [[Lateranverträge]] 1929 unter Mussolini.<br />
<br />
=== Gleichstellung der Juden ===<br />
Im Norden waren die Juden, deren Zahl zwischen 1800 und 1900 von 34.000 auf 43.000 vergleichsweise langsam stieg,<ref>Michele Sarfatti: ''Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione'', Einaudi, Turin 2000, S. 9.</ref> lange nicht anerkannter Teil der Gesellschaft, wie etwa die [[Viva-Maria-Bewegung]] von 1799 zeigte, die nach dem Abzug der Franzosen in der Toskana wütete und der allein in Siena 13 Juden zum Opfer fielen.<ref>[[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 169f.</ref> Aber auch Napoleon war spätestens ab 1806 „diesen Galgenvögeln“ gegenüber feindselig eingestellt, allerdings zielte er stärker auf ihre Verfassung und wies Vorschläge, sie auszuweisen, zurück.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 179.</ref> Er wollte aus ihnen „nützliche“ Franzosen machen und sie der Kontrolle eines eigens eingerichteten „Großen Sanhedrin“ unterstellen, der auch für die Gebiete in Italien verantwortlich war, die Frankreich angeschlossen worden waren. Napoleons Schwester [[Elisa Bonaparte|Elisa Baciocchi]], die 1809 Großherzogin der Toskana wurde, setzte sich hingegen für die Gleichstellung der Juden ein.<ref>Ulrich Wyrwa: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich'', Mohr Siebeck, 2003, S. 184f.</ref> Die jüdischen Gemeinden, vor allem die Älteren, standen ihrerseits den französischen Reformen, insbesondere der Einführung der Zivilehe, meist ablehnend gegenüber. Beim Ende der französischen Herrschaft verhinderten entsprechend vorbereitete Armeeeinheiten neue [[Pogrom]]e in Florenz und in Livorno, die aufzuflammen drohten, weil viele glaubten, die Juden seien Verbündete der Fremdherrscher gewesen. Doch der wirtschaftliche Schaden dieser Fremdherrschaft war so groß gewesen, dass die Gemeinden die Rückkehr der alten Herren feierten.<br />
<br />
Die Jüngeren setzten zunehmend auf die nationale Einigung Italiens, zunächst auf eine Verfassung. Sie nahmen Kontakt zu den Carbonari auf, vor allem aber nutzten sie das Vehikel der gemeinsamen Sprache, des toskanischen Dialekts, zur Betonung der nationalen Einheit. Während der Revolutionsjahre 1848 und 1849, in der Toskana noch kurz zuvor, erhielten die Juden erstmals die vollständige rechtliche Gleichstellung. Doch 1852 wurde die Verfassung in der Toskana annulliert, was im übrigen Italien scharf kritisiert wurde. Viele Juden hatten inzwischen freie Berufe ergriffen und fürchteten die Rückkehr zu den alten Verhältnissen. Herzog [[Leopold II. (Toskana)|Leopold]] stand mit seiner neo-absolutistischen Rechristianisierungspolitik bald allein da. Mit der Einigung Italiens wurden die Juden endgültig gleichgestellt, wenn auch antisemitische Strömungen fortbestanden, insbesondere im Wissenschaftsbereich.<br />
<br />
== {{Anker|Königreich Italien}}Königreich Italien (1861–1946) ==<br />
{{Hauptartikel|Königreich Italien (1861–1946)}}<br />
<br />
=== Königreich, ostafrikanische Kolonien, Ära Giolitti ===<br />
Das 1861 gegründete Königreich Italien war mit wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, dem Nord-Süd-Gegensatz und dem [[Brigant#Briganten in Süditalien|Brigantenwesen]] im Süden konfrontiert, das 1861 bis 1865 Züge eines Bürgerkriegs annahm. Über Jahre wurde der Ausnahmezustand immer wieder verlängert, [[Militärgericht|Militärtribunale]] ließen eine unbekannte Zahl von Rebellen und Handlangern ''(manutengoli)'' inhaftieren oder [[Erschießung|füsilieren]]. 1861 bis 1862 wurden allein in der [[Provinz Catanzaro]] 1560 Briganten „ausgeschaltet“.<ref>Lutz Klinkhammer: ''Staatliche Repression als politisches Instrument. Deutschland und Italien zwischen Monarchie, Diktatur und Republik.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich'', Oldenbourg, München 2005, S. 133–157, hier: S. 139.</ref> Erst die Auflösung der Militärzonen 1870 zeugte vom Ende der Rebellionen. Es wurde versäumt, die dortigen Verhältnisse durch eine Landreform und eine gerechte Besteuerung zu verbessern. Über 75 % der 21,8 Millionen Einwohner waren bei der Gründung Italiens (1861) Analphabeten.<ref>Waltraud Weidenbusch: ''Das Italienische in der Lombardei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schriftliche und mündliche Varietäten im Alltag'', Gunter Narr Verlag, 2002, S. 67f. liefert diese Zahlen, wenn sie auch für die Lombardei eine höhere Alphabetisierungsrate sieht.</ref><br />
<br />
Bis 1876 war im liberalen Italien die „historische Rechte“ ''(Destra Storica)'' an der Regierung. 1876 kam mit [[Agostino Depretis]] die „Linke“ ''(Sinistra)'' an die Macht, Sie hielt sich dort bis zum Regierungsantritt [[Francesco Crispi]]s 1887. Diese Lager sind nicht mit [[Politische Partei|politischen Parteien]] zu verwechseln. Für die Regierungspraxis im liberalen Italien wurde zunehmend der ''[[Trasformismo]]'' kennzeichnend, der darauf abzielte, Teile der Opposition ins eigene Lager herüberzuziehen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Geschichte Italiens in der Neuzeit.'' Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 205–213.</ref><br />
<br />
[[Datei:Adoua 1.jpg|mini|links|Äthiopische Truppen greifen italienische an, Gravur um 1896]]<br />
<br />
1882 trat Italien dem im Oktober 1879 geschlossenen [[Zweibund]] (Österreich-Ungarn und dem [[Deutsches Kaiserreich|Deutschen Reich]]) bei, der dadurch zum [[Dreibund]] wurde. Italien suchte Anschluss an die Kolonialmächte. 1881–1885 eroberte es äthiopische Gebiete am [[Rotes Meer|Roten Meer]], die 1890 zur [[Kolonie Eritrea]] zusammengefasst wurden. 1889 folgte der südliche Teil [[Somalia]]s; sie wurden später [[Italienisch-Somaliland]]. Der Versuch, weitere äthiopische Gebiete zu erobern, scheiterte 1894–1896 mit der [[Schlacht von Adua|Niederlage von Adua]]. Im [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg mit dem Osmanischen Reich]] 1911/12 eroberte Italien [[Italienisch-Libyen|Libyen]] und den [[Italienische Ägäis-Inseln|Dodekanes]]. Der italienische Expansionsdrang im Zeitalter des [[Imperialismus#Italien|Imperialismus]] ([[Italienische Kolonien]], [[Italienischer Irredentismus]]) wurde vom Großbürgertum entscheidend<!--??--> mitgetragen; im Fall Libyen spielte [[Giovanni Giolitti#Politische Ämter|Giovanni Giolitti]] (von November 1903 bis März 1914 Ministerpräsident von fünf Kabinetten) eine wichtige Rolle.<br />
<br />
[[Datei:HumbertoI-1900CyC.jpg|mini|Titelblatt einer spanischen Zeitung zum Tod König Umbertos I.]]<br />
<br />
Starke soziale Spannungen traten offen zu Tage, Italiens Sozialgesetzgebung belegte in Europa den letzten Platz.<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Berlin 1997, S. 90.</ref> Die Sozialisten standen nicht nur in Opposition zur Sozialpolitik, sondern auch zur kolonialen Expansion. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] finanzierte die Kolonialpolitik mit Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen. Die innenpolitischen Gegensätze kulminierten im [[Bava-Beccaris-Massaker]] von Mailand. Dort war es am 7. Mai 1898 zu Massendemonstrationen gegen die steigenden Brotpreise gekommen. General [[Fiorenzo Bava-Beccaris]] ließ, nachdem der Belagerungszustand ausgerufen worden war, mit Artillerie und Gewehren in die Menge schießen.<ref>[[Ada Negri]] widmete dem Ereignis ein Sonett mit Titel [https://archive.org/stream/maternita00negruoft#page/193/mode/1up ''Sette maggio 1898''] (in der Nachdichtung von Hedwig Jahn mit dem Titel „Der siebente Mai 1898“ erschienen in ''Mutterschaft'', Berlin 1905, S. 104).</ref> Dabei wurden je nach Angaben zwischen 82 und 300 Personen getötet.<ref>[[Adolphus William Ward]], [[George Walter Prothero]], [[Stanley Leathes]] (Hrsg.): ''Riots at Milan''. In: ''[[The Cambridge Modern History]], Vol. XII, The Latest Age.'' University Press, Cambridge 1910, S. 220 ([https://books.google.com/books?id=vas8AAAAIAAJ&pg=PA220 online]).</ref><ref>Raffaele Colapietra: [http://www.treccani.it/enciclopedia/fiorenzo-bava-beccaris_%28Dizionario-Biografico%29/ ''Bava Beccaris, Fiorenzo''] In: Dizionario Biografico degli Italiani – Treccani, Bd. 7 (1970).</ref> König [[Umberto I.]] gratulierte dem General in einem Telegramm und zeichnete ihn mit einem Orden aus. Damit schuf er sich Feinde, und 1900 wurde er, seit 22 Jahren amtierender König, in [[Monza]] von dem Anarchisten [[Gaetano Bresci]] erschossen.<br />
<br />
Sein Nachfolger wurde [[Viktor Emanuel III.]] Politisch dominierend war aber [[Giovanni Giolitti|Giolitti]], der 1901 bis 1903 zunächst Innenminister, ab 1903 mit Unterbrechungen bis 1914 Ministerpräsident (und oft in Personalunion auch Innenminister) war. Er dominierte oder prägte die italienische Politik dermaßen, dass man von der ''Ära Giolitti'' spricht. Er war gegenüber den reformerischen und revolutionären Bewegungen zu Zugeständnissen bereit und förderte die Industrialisierung. Zwar war 1886 eine staatliche Subventionierung der privaten Krankenversicherung und 1898 eine erste obligatorische Unfallversicherung eingeführt worden,<ref>Ute Klammer: ''Alterssicherung in Italien. Eine institutionelle, theoretische und empirische Analyse.'' Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 87f.</ref> doch erst Giolitti führte 1912 nach deutschem Vorbild eine staatliche Sozialversicherung ein. Zudem reformierte er das Wahlrecht, so dass es keine Vermögensgrenzen mehr gab und die Zahl der Wahlberechtigten auf 8 Millionen Männer anstieg. Bereits 1919, acht Jahre vor Deutschland, entstand eine Arbeitslosenversicherung.<ref>[[Georg Wannagat]]: ''Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts.'' Bd. 1, Mohr, Tübingen 1965, S. 83.</ref><br />
<br />
=== Massenauswanderung, zögerliche Industrialisierung, Arbeiterparteien ===<br />
[[Datei:Italienische Emigration pro Region 1876-1915.svg|mini|links|Massenauswanderung aus Italien nach Regionen, 1876 bis 1915]]<br />
<br />
Die staatliche Reaktion auf die drastischen sozialen Veränderungen war erst sehr spät erfolgt, denn die gesellschaftlichen Eliten verweigerten sich lange und verließen sich vielfach auf das Wirken der die Sozialsysteme seit dem Mittelalter dominierenden [[Römisch-katholische Kirche in Italien|Kirche]]. Ihr stand aber kein adäquates kommunales oder zünftisches System mehr zur Seite. Die Bevölkerung Italiens wuchs von 18,3 Millionen Menschen um 1800 auf 24,7 um 1850 und auf 33,8 Millionen um das Jahr 1900.<ref>Massimo Livi Bacci ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte'', München: Beck 1999, S. 19 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> Dennoch sank Italiens Anteil an der Bevölkerung Europas weiter. Dies hing zum einen mit seinem Entwicklungsrückstand zusammen und zum anderen damit, dass es ab etwa 1852 zu einer Massenauswanderung größten Ausmaßes kam. Bis 1985 wanderten rund 29 Millionen Menschen aus. Dabei kamen von 1876 bis etwa 1890 die meisten aus dem Norden und dort besonders aus Venetien (17,9 %), Friaul-Julisch-Venetien (16,1) und dem Piemont (12,5 %). Danach wanderten verstärkt Italiener aus dem Süden aus. Von 1880 bis 1925 wanderten 16.630.000 Menschen aus, wovon 8,3 Millionen aus dem Norden stammten, davon wiederum 3.632.000 aus Venetien. Aus dem Süden wanderten 6.503.000 aus und der Rest aus Mittelitalien.<ref>[http://www.emigrati.it/Emigrazione/CariAmici.asp HOME emigrati.it]</ref> Hauptziele waren die Vereinigten Staaten von Amerika, in denen die Nachfahren der [[Italiener]] heute mit einem Bevölkerungsanteil von 6 % die drittgrößte europäische Einwanderungsgruppe nach Deutschen und Iren darstellen, [[Argentinien]], wo die Italienischstämmigen etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, sowie [[Brasilien]]. Auch nach [[Kanada]], [[Australien]] und in weitere Länder [[Lateinamerika]]s wanderten viele aus.<br />
<br />
Der Umfang der Auswanderung erklärt sich zum einen aus dem Niedergang der Landwirtschaft und den scharfen Konflikten, die durch die Konservierung alter Strukturen und durch den Kapitalmangel sowie durch den Großgrundbesitz und die [[Halbpacht]] noch verschärft wurden. Zugleich bot die zögerliche [[Industrialisierung]] in den schnell wachsenden Städten kaum genügend Arbeitsplätze. Darüber hinaus war der Binnenkonsum gering, zumal der [[Fiskalismus]], der zum Ausbau der Infrastruktur für notwendig gehalten wurde, die Einkommen weiter belastete. Schließlich waren die Unternehmen im Vergleich zu den ausländischen mit nur geringem Kapital ausgestattet. Daher errichtete die Regierung von 1878 bis 1887 hohe Zollschranken und verfolgte eine protektionistische Politik, die die noch schwache Textil- und [[Schwerindustrie]] in der Aufbauphase schützen sollte. Frankreich beantwortete die [[Schutzzollpolitik]] mit entsprechenden Gegenzöllen.<br />
<br />
[[Datei:Italia ferrovie 1861.03.17.png|mini|links|Das Eisenbahnnetz im Jahr 1861]]<br />
[[Datei:Italia ferrovie 1870 09 20.png|mini|und im Jahr 1870]]<br />
<br />
Während im Norden die Industrialisierung gefördert und die [[Infrastruktur]] ausgebaut wurde, stützte die Regierung im Süden die [[Latifundien]], wobei in beiden Fällen die Protagonisten von Schwerindustrie bzw. Agrarwirtschaft ihren Einfluss im Norden bzw. Süden durchsetzen konnten. So wurde das [[Geschichte der Eisenbahn in Italien|Eisenbahnnetz ab 1839 ausgebaut]] (als erstes [[Bahnstrecke Napoli–Portici|Neapel-Portici]]; dann vor allem in habsburgisch beherrschten Gebieten: 1840 Mailand-Monza, 1844/46 Pisa-Livorno und -Lucca, 1846 Mailand-Venedig; erst 1855 Turin-Genua in [[Königreich Sardinien|Sardinien-Piemont]]), ebenso wie die Bahnstrecken zu Häfen. Die 1837 im österreichischen Gebiet gegründeten [[Lombardisch-venetianische Eisenbahnen|Lombardisch-venetianischen Eisenbahnen]] übernahm Italien 1866, die Betriebsführung ging an die [[Rothschild (Familie)|Familie Rothschild]]. 1905 entstanden die bis heute bestehenden [[Ferrovie dello Stato|Staatsbahnen]].<ref>Einen guten Überblick über die Entstehung der italienischen Bahnen bietet Italo Briano: ''Storia delle ferrovie in Italia.'' 3 Bde., Mailand: Cavallotti, 1977; die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe beleuchtet stärker Stefano Maggi: ''Politica ed economia dei trasporti nell’età contemporanea (secoli XIX–XX). Una storia della modernizzazione italiana.'' Il Mulino, Bologna 2001.</ref> Die Produktion von [[Lokomotive]]n blieb wegen hoher Rohstoffpreise bis zum Ersten Weltkrieg gering; bei den Waggons dominierten [[Güterwaggon]]s.<ref>Dies ist das Ergebnis von Carlo Ciccarelli, Stefano Fenoaltea: ''The Rail-Guided Vehicles Industry in Italy, 1861–1913: The Burden of the Evidence.'' In: Christopher Hanes, Susan Wolcott (Hrsg.): ''Research in Economic History'', Bd. 28, Emerald Group Publishing 2012, S. 43–115.</ref><br />
<br />
Große Probleme bereitete die Währungspolitik, denn im [[Deutsch-Französischer Krieg|Deutsch-Französischen Krieg]] hatte auch Italien die freie [[Konvertibilität|Konvertierbarkeit]] ausgesetzt. Nun setzte sich der [[Goldstandard]] durch, der dafür sorgte, dass Geldnoten nur in einem festgesetzten Verhältnis zu den [[Goldreserve]]n ausgegeben werden durften. Man erwartete, dass dies für eine Stabilisierung der Währungsverhältnisse durch den [[Goldautomatismus]] sorgen würde, wobei sich die jeweiligen [[Zentralbank]]en an strikte Regeln halten mussten. Wurde eine [[Währung]] schwächer, führte dies demnach zu einem Goldabfluss in Richtung der stärkeren Währung, womit die Banknotenausgabe entsprechend den verminderten Goldreserven vermindert werden musste. Dies erhöhte die Zinsen und [[Deflation|senkte die Preise]]. Im Land, dem Gold zuströmte, wuchs der Papiergeldumlauf; dadurch sanken die Zinsen und die Preise stiegen. Ab einem bestimmten Punkt kehrte sich der Goldfluss wieder um, die [[Zahlungsbilanz]] wurde ausgeglichen, die Währung stabilisiert. Auch wenn sich die Zentralbanken häufig nicht an die Vorgaben hielten, war das System erfolgreich, weil man auf die jederzeitige Umtauschbarkeit von Geld und Gold vertraute. Mit der Anbindung der 1865 gegründeten, auf [[Bimetallismus]], also auf Gold- und Silbermünzen basierenden [[Lateinische Münzunion|Lateinischen Münzunion]] und damit der [[Italienische Lira|Lira]] ans Gold konnte die Regierung soviel Vertrauen herstellen, dass ausländisches Investivkapital nach Italien kam. Finanzminister [[Sidney Sonnino]] versuchte zudem die großen Vermögen ebenso zu belasten, wie der Konsum belastet wurde; er scheiterte aber am konservativen Widerstand. Nach der Überwindung der Wirtschaftskrise ab 1896 gelang es, einen ausgeglichenen [[Staatshaushalt]] zu erreichen.<br />
<br />
[[Datei:Filippo Turati 70.jpg|mini|[[Filippo Turati]] (1857–1932), einer der Gründer der [[Partito Socialista Italiano|Sozialistischen Partei]] und Kopf einer eher sozialdemokratisch ausgerichteten Gruppe; später bekämpfte er Mussolini]]<br />
<br />
In den 1880er Jahren kam es zu schweren Arbeitskämpfen, um 1889 setzten Repressionen gegen den Partito Operaio (Arbeitspartei) ein, so dass der Zusammenschluss aller sozialistischen Organisationen des Landes in einer Partei angestrebt wurde. Den Industriearbeitern gelang es, sich 1892 im [[Partito dei Lavoratori Italiani]] (Partei der italienischen Arbeiter) zu organisieren, die 1893 in [[Partito Socialista Italiano]] (Sozialistische Partei Italiens) umbenannt wurde. Ministerpräsident [[Francesco Crispi]] setzte ab 1894 Ausnahmegesetze gegen die Sozialisten durch, doch blieben sie letztlich ohne Erfolg. 1901 versuchte sein Nachfolger [[Giovanni Giolitti]] die Partei, die in den Wahlen 32 Sitze gewonnen hatte, in die Regierung einzubinden, was diese jedoch ablehnte. Doch von 1908 bis 1912 kam es zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken, bis sich ein radikaler Syndikalismus durchsetzte. 1912 spaltete sich der [[Partito Socialista Riformista Italiano]] ab, der aus patriotischen Gründen dem [[Italienisch-Türkischer Krieg|Krieg gegen die Osmanen]] zustimmte. 1917 wechselte die Mehrheit der sozialistischen Abgeordneten zu den Kriegsbefürwortern über, die Parteiführung lehnte den Krieg hingegen weiterhin ab.<br />
<br />
=== Erster Weltkrieg ===<br />
Obwohl Italien durch den [[Dreibund]] an Deutschland und Österreich gebunden war, erklärte die Regierung [[Antonio Salandra]] bei Ausbruch des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieges]] die Neutralität des Landes, da sie den Dreibund als ein Verteidigungsbündnis betrachtete, Österreich-Ungarn aber [[Julikrise#Vom österreichisch-serbischen zum großen europäischen Krieg|offensiv in den Krieg eingetreten war]]. In der Folge entbrannte ein innenpolitischer Streit um eine Kriegsteilnahme. Die Interventionisten, zu denen der damals noch der Sozialistischen Partei zugehörige [[Benito Mussolini]] gehörte, sahen in einem Kriegseintritt die Chance, die [[irredentistisch]]en Pläne zu verwirklichen, und gewannen schließlich die Oberhand. Der Irredentismus beinhaltete die Forderung nach dem Anschluss des [[Trentino]] und [[Istrien]]s, teilweise auch anderer Gebiete (Korsika, [[Nizza]], Savoyen, [[Monaco]], [[Tessin]], Dalmatien, Malta, [[San Marino]], [[Südtirol]]). Die unter österreichischer Herrschaft stehenden Gebiete Trentino (damals ein Teil [[Tirol]]s) und [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] (Istrien, [[Triest]] und ein Teil [[Friaul]]s) waren die vorrangigen Ziele. Im März 1915 verhandelte Italien mit [[Österreich-Ungarn]], das aber allenfalls bereit war, südliche Teile des Trentino abzutreten. Die [[Triple Entente|Entente]]-Mächte versprachen Italien im Falle eines Kriegseintritts auf ihrer Seite mehr: das südliche Tirol bis zum [[Brennerpass]], das österreichische Küstenland, die Ostadriaküste (v. a. [[Dalmatien]], das bis Ende des 18. Jahrhunderts zur [[Republik Venedig]] gehört hatte) und eine Erweiterung [[Italienische Kolonien|des Kolonialbesitzes]]. Nachdem im [[Londoner Vertrag (1915)|Londoner Vertrag]] am 26. April 1915 diese Gebietserweiterungen zugesagt worden waren, kündigte Italien am 4. Mai den Dreibund. Mit der [[Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn|Kriegserklärung an Österreich-Ungarn]] am 23. Mai (die Erklärung an das [[Deutsches Reich|Deutsche Reich]] erfolgte erst 1916) trat es auf Seiten der [[Triple Entente]] in den Ersten Weltkrieg ein.<ref>{{Literatur |Autor=Maddalena Guiotto |Titel=Italien und Österreich: ein Beziehungsgeflecht zweier unähnlicher Nachbarn |Hrsg=Maddalena Guiotto, Wolfgang Wohnout |Sammelwerk=Italien und Österreich im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit / Italia e Austria nella Mitteleuropa tra le due guerre mondiali |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag=Böhlau |Ort=Wien |Datum=2018 |ISBN=978-3-205-20269-1 |Seiten=17}}</ref><br />
<br />
Italien und Österreich-Ungarn standen sich an zwei [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Fronten]] gegenüber: im gebirgigen [[Isonzo]]-Gebiet und in den Alpen im Trentino und südlich davon. Italien begann also weitgehend einen [[Gebirgskrieg 1915–1918|Gebirgskrieg]], der die Verteidiger begünstigte. Daneben gab es noch kleinere Seegefechte in der Adria (Pula und [[Kotor]] waren Häfen der [[K.u.k. Marine#Im Ersten Weltkrieg| k. u. k. Kriegsmarine]]). An der Isonzofront fanden von 1915 bis 1917 elf [[Isonzoschlachten|Schlachten]] statt, die Italien nur geringe Gebietsgewinne brachten. Im Trentino versuchte Österreich-Ungarn 1916, die Isonzofront durch einen [[Österreich-Ungarns Südtiroloffensive 1916|Großangriff]] zu brechen. Der Angriff scheiterte nach anfänglichen Gewinnen aber. Er musste eingestellt werden, weil Russland am 4. Juni 1916 an der [[Ostfront (Erster Weltkrieg)|Ostfront]] die [[Brussilow-Offensive]] begann.<br />
<br />
<gallery><br />
Italian Front 1915-1917.jpg|Karte der [[Italienfront (Erster Weltkrieg)|Italienfront]]<br />
Battle of Caporetto.jpg|[[Zwölfte Isonzoschlacht]]<br />
Battle of Vittorio Veneto.jpg|[[Schlacht von Vittorio Veneto]]<br />
</gallery><br />
<br />
Als Italien 1917 in der [[Isonzoschlachten#Elfte Isonzoschlacht, 17. August bis 12. September 1917|elften Isonzoschlacht]] das [[Bainsizza-Plateau|Bainsizza-Hochplateau]] eroberte, geriet der Südabschnitt der angeschlagenen österreich-ungarischen Isonzofront in Gefahr. Für einen Entlastungsangriff am oberen [[Isonzo]] wurden mehrere deutsche Divisionen zur Verfügung gestellt. Im Oktober 1917 gelang deutschen und österreich-ungarischen Truppen bei [[Schlacht von Karfreit|Karfreit/Caporetto]] in der [[Zwölfte Isonzoschlacht|zwölften Isonzoschlacht]] ein Durchbruch, der das [[Geschichte des italienischen Heeres#Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg|italienische Heer]] bis an den [[Piave]] zurückwarf. Gleichzeitig brach die italienische Gebirgsfront nordöstlich von [[Asiago (Venetien)|Asiago]] zusammen. Ein weiterer Vormarsch der [[Mittelmächte]] scheiterte jedoch am [[Monte Grappa]] und am Hochwasser führenden Piave. Kurz danach entsandten die [[Alliierte]]n zur Stabilisierung Verstärkung. Der italienische Generalstabschef [[Luigi Cadorna|Cadorna]] wurde wegen dieser schweren Niederlage abgelöst. Im Februar 1916 begann Österreich-Ungarn mit [[Luftangriff]]en auf Städte Norditaliens, darunter auf Verona und auf Padua.<ref>Stephen Harvey: ''The Italian War Effert and the Strategic Bombing of Italy.'' In: History 70 (1985) 32–45.</ref> Venedig wurde am 14. August 1917 und am 27. Februar 1918 von österreichischen Flugzeugen angegriffen, 1917 wurde das Krankenhaus (ospedale civile) getroffen.<ref>[[Andrea Moschetti]]: ''I danni ai monumenti e alle opere d’arte delle Venezie nella guerra mondiale MCMXV–MCMXVIII.'' C. Ferrari, Venedig 1932, S. 65.</ref><br />
<br />
[[Datei:Kingdom of Italy 1919 map.svg|mini|links|Italien nach dem [[Vertrag von Saint-Germain]]]]<br />
<br />
Im Juni 1918 konnte Italien in der zweiten [[Piaveschlacht]] den letzten österreichischen Durchbruchsversuch abwehren. Im Oktober 1918 begann Italien mit einer Offensive, bei der Österreich-Ungarn am 29. Oktober in der [[Schlacht von Vittorio Veneto]] unterlag. Im [[Waffenstillstand von Villa Giusti]] wurde Österreich-Ungarn gezwungen, allen alliierten und italienischen Forderungen nachzukommen, was einer bedingungslosen Kapitulation gleichkam. Italienische Truppen besetzten danach die ihnen zugesprochenen Gebiete, darunter Südtirol. Einer geplanten Offensive durch das [[Inntal]] gegen das Deutsche Reich kam der [[Waffenstillstand von Compiègne (1918)|Waffenstillstand an der Westfront]] zuvor. Ein separater Kriegsschauplatz war ab Januar 1916 der [[Geschichte Albaniens#Erster Weltkrieg|Süden Albaniens]], das Italien als seine [[Interessensphäre|Einflusssphäre]] betrachtete und von es seine Truppen erst 1920 abzog.<ref>Pietro Pastorelli: ''L’Albania nella politica estera italiana, 1914–1920.'' Jovene, Neapel 1970.</ref><br />
<br />
Italien hatte insgesamt 5.615.000 Männer mobilisiert, davon fielen 650.000,<ref>Antonella Astorri, Patrizia Salvadori: ''Storia illustrata della prima guerra mondiale.'' Bd. 1, Florenz 1999, S. 160.</ref> 947.000 wurden verletzt<!--, auch 589.000 Zivilisten starben -->. 1976 Produktionsanlagen waren an der Kriegsproduktion beteiligt; allein bei FIAT schnellten die Beschäftigungszahlen von 4000 auf 40.500 in die Höhe. 1917 nahmen dabei 168.000 Arbeiter an 443 Streiks teil, 1920 kam es zu [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]], an denen eine Million Arbeiter teilnahm.<ref>Vito Avantario: ''Die Agnellis. Die heimlichen Herrscher Italiens.'' Campus 2002, S. 217.</ref><br />
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Im [[Vertrag von Saint-Germain]] 1919 wurden Italien [[Trentino]], [[Südtirol]], das [[Kanaltal]], das gesamte [[Österreichisches Küstenland|Küstenland]] und ein Teil der [[Krain]], die Stadt [[Zadar|Zara]] und einige [[Dalmatien|norddalmatinische Inseln]] zugesprochen. Italien bekam damit dennoch weniger, als es erwartet hatte. Auf die erhoffte Herrschaft über den ganzen Ostadriaraum und die Vergrößerung seines Kolonialbesitzes musste es verzichten. Aus Protest verließ der italienische Ministerpräsident [[Vittorio Emanuele Orlando]] die Friedensverhandlungen.<br />
<br />
Die mehrheitlich italienischsprachige Stadt [[Rijeka|Fiume]], die dem Königreich nicht zugesprochen worden war, wurde 1919 von paramilitärischen Verbänden unter Leitung [[Gabriele D’Annunzio]]s besetzt: Dieser rief die [[italienische Regentschaft am Quarnero]] aus, die aber ohne internationale Anerkennung, auch von Seiten Italiens, blieb. Nachdem D’Annunzio zur Aufgabe gezwungen worden war, vereinbarten Italien und Jugoslawien im [[Grenzvertrag von Rapallo]], einen unabhängigen [[Freistaat Fiume]] anzuerkennen. Durch einen [[Staatsstreich]] übernahmen dort 1922 italienische Nationalisten die Macht, die eine Angliederung an Italien anstrebten. Diese wurde mit dem [[Vertrag von Rom (1924)|Vertrag von Rom]] im Januar 1924 besiegelt.<br />
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== {{Anker|Faschistische Diktatur unter Benito Mussolini}}{{Anker|Zweiter Weltkrieg}}Faschismus und Zweiter Weltkrieg (1922–1945) ==<br />
{{Hauptartikel|Italienischer Faschismus|Gruppo veneziano}}<br />
[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) Fasces Emblem.svg|mini|Das [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|Liktorenbündel-Emblem]] (''L’emblema del fascio littorio'') in der von 1927 bis 1929 verwendeten Form.]]<br />
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Die tiefe wirtschaftliche, soziale und politische Krise nach dem Ersten Weltkrieg, den Italien mitgewonnen hatte, dessen Sieg aber nach Ansicht der Nationalisten von italienischen Verzichtspolitikern und den Alliierten „verstümmelt“ worden war ([[Gabriele D’Annunzio]] prägte das enorm einflussreiche Schlagwort der ''Vittoria mutilata''), führte das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Die zwei „roten Jahre“ ''([[Biennio rosso]])'' 1919 und 1920 wurden von der politischen Agitation der Linken geprägt: Demonstrationen und Streiks, die vielfach mit gewaltsamen [[Betriebsbesetzung|Fabrikbesetzungen]] und Landbesetzungen endeten, legten die Wirtschaft Italiens lahm. Den Regierungen unter [[Vittorio Emanuele Orlando]] und [[Francesco Saverio Nitti]] gelang es nicht, der schwierigen Lage Herr zu werden. [[Benito Mussolini]] nutzte die Angst vor einer bolschewistischen Revolution, um sich als ein Garant von [[Law and Order (Politik)|Recht und Ordnung]] zu präsentieren. Unterstützung fand er dabei in weiten Teilen des Bürgertums, insbesondere bei den betroffenen Industriellen und Grundbesitzern. Es folgten 1921 und 1922 die zwei „schwarzen Jahre“ ''([[Biennio nero]])''. [[Faschismus|Faschistische]] Squadristen, die paramilitärisch organisierten [[Schwarzhemden]], gingen mit Gewalt gegen sozialistische und katholische [[Gewerkschaft]]sbewegungen sowie gegen linke, als subversiv bezeichnete politische Gegner vor. Insgesamt starben zwischen 1919 und 1922 wohl etwa 1.000 Faschisten und Antifaschisten in den [[bürgerkrieg]]sähnlichen Kämpfen.<br />
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Nachdem Mussolini Ende 1921 aus der lose zusammenhängenden faschistischen Bewegung eine Partei, den [[Partito Nazionale Fascista]] (PNF), geschaffen hatte, organisierte er im Oktober 1922 mit etwa 26.000 faschistischen Anhängern einen [[Sternmarsch]], der als [[Marsch auf Rom]] ''(Marcia su Roma)'' in die Geschichte einging. Am 28. Oktober trafen diese Gruppen im strömenden Regen vor den Toren Roms ein. Der Anführer des Marsches reiste später mit einem Schlafwagen aus [[Mailand]] an, als infolge angeblicher Putschdrohungen König [[Viktor Emanuel III.]] Ministerpräsident [[Luigi Facta]] bereits entlassen hatte. Der König ernannte daraufhin Mussolini zum [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidenten]]; die Faschisten zogen zu einem Siegesmarsch in Rom ein.<br />
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[[Datei:La Domenica del Corriere (2 Oct 1938).jpg|mini|Propagandistische Darstellung [[Benito Mussolini]]s auf der Titelseite der Zeitung ''La Domenica del Corriere'' (1938)]]<br />
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Im Juli 1923 gewährte ein neues Wahlgesetz, die ''[[Legge Acerbo]]'', der stimmenstärksten Partei zwei Drittel der Parlamentssitze. Kurz nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1924|Parlamentswahlen vom 6. April 1924]] wurde der sozialistische Oppositionspolitiker [[Giacomo Matteotti]] entführt und ermordet. Indizien deuten darauf hin, dass Mussolini selbst den Auftrag für diesen Mord gegeben hatte – in einer berühmt-berüchtigten Rede vor der Abgeordnetenkammer am 3. Januar 1925 gab er dies selbst zu. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, den Aufbau der faschistischen [[Diktatur]] anzukündigen und voranzutreiben, nachdem er im Gefolge der Krise zeitweise unter starken Druck der Kirche, von Gewerkschaften und Opposition, aber auch von „intransigenten“, revolutionär-squadristischen Kreisen des Faschismus geraten war. Im November 1926 wurden endgültig alle Oppositionsparteien verboten. Zu den Wahlen 1928 traten nur noch Kandidaten an, die vom PNF zugelassen wurden; mit der Schaffung des „Faschistischen Großrats“ ''(Gran Consiglio del Fascismo)'' existierte nun auch ein Gremium, das Partei- und Staatsfunktionen vereinte. Der institutionelle Umbau des italienischen Staates zur faschistischen Diktatur war damit abgeschlossen.<br />
<br />
Getreu der nationalistischen Ideologie betrieb das Regime eine strikte [[Italianisierung]]spolitik. Die am meisten Leidtragenden waren ethnische Minderheiten im Lande, insbesondere [[Frankoprovenzalische Sprache|Frankoprovenzalen]], Slawen und [[Geschichte Südtirols#Zwischenkriegszeit (1918–1939)|Südtiroler]].<br />
<br />
Am 11. Februar 1929 wurden die [[Lateranverträge]] zwischen dem [[Vatikanstadt|Vatikan]] und dem Königreich Italien abgeschlossen. In dem von dem Kardinalstaatssekretär [[Pietro Gasparri]] und Mussolini unterzeichneten Vertragswerk wurde die Souveränität eines [[Kirchenstaat]]es anerkannt, wurden die Beziehungen zwischen der Kirche und dem italienischen Staat geregelt und wurden dem Vatikan Entschädigungen zugesprochen. Das faschistische Regime löste damit die seit 1870 mit der Einnahme Roms durch italienische Truppen schwelende Frage des Verhältnisses von katholischer Kirche und italienischem Staat. Dieser Erfolg brachte dem Faschismus die Zustimmung auch vieler bürgerlich-konservativer Kreise, die von der faschistischen Gewaltpolitik noch abgeschreckt worden waren.<br />
<br />
Wirtschaftspolitisch hatte das Regime mit den Folgen der [[Weltwirtschaftskrise|Großen Depression]] zu kämpfen. Die drei wichtigsten, beinahe bankrotten Banken wurden bereits 1926 von der öffentlichen Hand übernommen und unter den Schutzschirm des 1933 gegründeten Staatskonzerns ''[[Istituto per la Ricostruzione Industriale]]'' gestellt, das erst am 28. Juni 2000 aufgelöst wurde. Es wurde massiv in öffentliche Infrastrukturen investiert. Mehr und mehr unterstützte das Regime einen [[protektionistisch]]en Kurs. Die [[Weizenschlacht]] ''(battaglia del grano)'' sollte die Autarkie in der Nahrungsmittelversorgung erreichen. Die Trockenlegung der [[Pontinische Ebene|Pontinischen Ebene]] war ein umfangreiches [[Arbeitsbeschaffungsprogramm]] für arme Familien aus dem Norden Italiens, besonders für Venetien und die Emilia.<br />
<br />
Außenpolitisch verfolgte Italien nach dem ungeschickten Überfall auf [[Korfu]] 1923 zunächst eine Politik, die das Land als Stütze der internationalen Ordnung und als Friedensgaranten im Mittelmeerraum erscheinen lassen sollte. Zunehmend jedoch radikalisierten sich die faschistische Kultur und Politik – eine Rückkehr zu roher Gewalt, jetzt auf internationaler Ebene, war die Konsequenz eines Weltbildes, das auf der Vorstellung eines ewigen Kampfes und der imperialistischen Expansion Italiens fußte. So setzte Mussolini mit einer bisher ungekannten Brutalität den [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|Zweiten Italienisch-Libyschen Krieg]] fort, den noch das liberale Italien 1922 begonnen hatte, der letzten Endes im [[Völkermord in der Cyrenaika]] gipfelte.<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' München 2010 (Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), S. 132 f.</ref> Zudem begann Mussolini Ende der 1920er-Jahre, in zahlreichen europäischen Ländern subversiv über Geheimagenten Einfluss zu nehmen.<ref>Wolfgang Altgeld: ''Vorlesung. Das faschistische Italien.'' Bonn 2016, S. 220–222.</ref> Gemäß der von [[Dino Grandi]] vertretenen Maxime des ''peso determinante'' stellte Italien das „entscheidende Gewicht“ auf der Waagschale der europäischen Diplomatie dar und sollte in keinem Fall eine Feindschaft mit England beginnen.<ref>[[Rudolf Lill]]: ''Das faschistische Italien (1919/22–1945).'' In: [[Wolfgang Altgeld]] u.&nbsp;a. (Hrsg.): ''Geschichte Italiens''. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2016, S. 392–454, hier S. 419 f.</ref><br />
<br />
=== 1935–1943: Abessinienkrieg, Spanienkrieg und erste Jahre des Zweiten Weltkriegs ===<br />
[[Datei:Faschistisches Italien mit Kolonialreich 1939.png|mini|hochkant=1.5|Das faschistische Italien mit seinem Kolonialreich in Europa und Afrika (1939)]]<br />
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Mit dem [[Abessinienkrieg]] begann Italien eine kriegerische expansionistische Außenpolitik, um den Traum vom italienischen [[Lebensraum-Politik|Lebensraum]] ''(spazio vitale)'' schrittweise umzusetzen: Das [[Kaiserreich Abessinien]] konnte trotz internationaler Proteste erobert werden und wurde mit den bestehenden Kolonien Eritrea und Somalia zu [[Italienisch-Ostafrika]] zusammengeschlossen. Dabei kam es zu zahlreichen Völkerrechtsverbrechen und massivem Einsatz von Giftgas;<ref>Aram Mattioli: ''Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935–1936.'' In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]].'' Bd. 51, Heft 3, 2003, S. 311–337, [http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2003_3.pdf online (PDF; 7&nbsp;MB)].</ref> zugleich unterdrückte Mussolinis Partei Kontakte italienischer Soldaten mit afrikanischen Frauen ''(madamato)''.<ref>Antonella Randazzo: ''L’Africa del Duce. I crimini fascisti in Africa''. Arterigere, Varese 2008, S. 237f.</ref> Der anfängliche militärische Erfolg – die Kampfhandlungen in Abessinien gingen tatsächlich bis zur Eroberung Italienisch-Ostafrikas durch die Briten im November 1941 weiter – festigte die Herrschaft der Faschisten und deren Popularität im Inland, führte aber zu einer zunehmenden Isolierung im Ausland. Der [[Völkerbund]] verhängte Sanktionen, an denen sich allerdings das vom [[NS-Regime]] beherrschte Deutschland nicht beteiligte. Dies und die [[Italienische Intervention in Spanien|Intervention]] beider Staaten im [[Spanischer Bürgerkrieg|Spanischen Bürgerkrieg]] zugunsten der nationalistischen Militärs um [[Francisco Franco]] – auf der Gegenseite kämpfte bis 1939 das [[Garibaldi-Bataillon]] – führten 1936 zu einer Annäherung an Deutschland, der sogenannten „[[Achse Rom-Berlin]]“.<br />
[[Datei:Benito Mussolini and Adolf Hitler.jpg|mini|Mussolini 1937 bei Hitler in München]]<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|miniatur|Variante der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|schwarzen Parteiflagge]] der Faschisten]]<br />
1937 trat Italien aus dem Völkerbund aus, nachdem es bereits dem von Deutschland und Japan 1936 gegründeten [[Antikominternpakt]] im November 1937 beigetreten war. 1939 folgten die Okkupation des [[Königreich Albanien|Königreichs Albanien]] und das als „[[Stahlpakt]]“ bezeichnete Kriegsbündnis mit dem Deutschen Reich. 1938 erließ Italien rassistische Gesetze, die vor allem Juden und Afrikaner diskriminierten.<br />
<br />
In den [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkrieg]] griff Italien zunächst nicht ein. Es war für einen größeren Krieg noch längst nicht gerüstet und seine Streitkräfte waren nach der Intervention in Spanien sowie Ostafrika in einer Phase der Modernisierung. Mussolini proklamierte 1939 daher zunächst die „Nichtkriegführung“ ''(non belligeranza)'' seines Landes.<br />
<br />
Angesichts des erfolgreich verlaufenden deutschen [[Westfeldzug|Feldzugs gegen Frankreich]] fürchtete Mussolini, auf einer Friedenskonferenz ohne eigene militärische Erfolge nicht profitieren zu können. Der „Duce“ erklärte Großbritannien und Frankreich gegen den Rat seiner Generäle am 10. Juni 1940 [[Kriegserklärung Italiens an Frankreich und Großbritannien|den Krieg]] und begründete diesen Schritt mit der Ambition, das ''Imperium Romanum'' wieder aufleben zu lassen: Italien wollte sein Territorium auf [[Nizza]], [[Korsika]], [[Malta]], die gesamte Küste Dalmatiens mitsamt [[Albanien]], [[Kreta]] und weitere griechische Inseln ausweiten. Zu den bisherigen Kolonien würden [[Tunesien]], [[Ägypten]] (mit der [[Sinai-Halbinsel]]), [[Sudan]] und Teile [[Kenia]]s hinzukommen, um eine Landverbindung von [[Libyen]] nach [[Italienisch-Ostafrika]] zu schaffen. Auch die Territorien von [[Britisch-Somaliland|Britisch]]- und [[Französisches Afar- und Issa-Territorium|Französisch-Somaliland]] sowie Teile [[Französisch-Äquatorialafrika]]s sollten somit in Besitz genommen und mit der [[Türkei]] und arabischen Staaten Vereinbarungen über Einflusszonen getroffen werden. Zudem sollten [[Aden]] und [[Perim]] unter italienische Kontrolle kommen.<br />
<br />
Bei seinen eigenen Kriegsanstrengungen konnte Italien jedoch – abgesehen von einer kurzlebigen Vertreibung der Briten aus Ostafrika ([[Ostafrikafeldzug]]) – keine Erfolge verzeichnen: Der Angriff gegen das militärisch bereits geschlagene Frankreich blieb nach geringen Geländegewinnen in den Alpen stecken; die Offensive gegen die Briten in Nordafrika Ende 1940 und der [[Griechisch-Italienischer Krieg|Feldzug gegen Griechenland]] (ab dem 28. Oktober 1940) gerieten jeweils zum Desaster, das nur durch das Eingreifen der deutschen [[Wehrmacht]] überdeckt werden konnte ([[Balkanfeldzug (1941)]], [[Afrikafeldzug]]). Ursachen waren mangelnde Ausbildung, zum Teil schlechte Ausrüstung, vor allem aber dilettantische strategische Planung und maßlose Selbstüberschätzung des „Duce“ und einiger Generäle. Trotz Überlegenheit auf dem Papier gelang es der [[Regia Marina|italienischen Marine]] nicht, die [[Royal Navy|britische Marine]] aus dem Mittelmeer zu vertreiben. Später verhinderte Kraftstoffmangel solche Vorhaben. In Ostafrika unterlag die italienische Armee britischen Truppen, die von äthiopischen Einheiten unterstützt wurden. Im Mai 1941 zog [[Haile Selassie]] wieder in Addis Abeba ein. Viele Italiener adaptierten das Erklärungsmuster, Italiener seien menschlicher als die Deutschen; sie könnten nicht hassen und deswegen auch keine Kriegsverbrechen begehen.<ref>Osti Guerazzi: ''Zum Selbstbild der italienischen Armee während des Krieges und nach dem Krieg''. In: ''Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten.'' Herausgegeben von [[Harald Welzer]], [[Sönke Neitzel]] und [[Christian Gudehus]]. Fischer TB 2011, ISBN 978-3-596-18872-7.</ref><br />
<br />
Am [[Russlandfeldzug 1941|deutschen Feldzug gegen die Sowjetunion]] nahmen von 1941 bis 1943 [[Italienisches Expeditionskorps in Russland|das Expeditionskorps]] und die [[8ª Armata|8. Armee]] mit insgesamt 62.000 bzw. 230.000 Mann teil. Allein die 8. Armee verlor dabei etwa 77.000 Mann.<ref>Steven D. Mercatante: ''Why Germany Nearly Won. A New History of the Second World War in Europe.'' ABC-CLIO, Santa Barbara 2012, S. 167.</ref> Auch auf dem Balkan verfolgten die Italiener teilweise ein nationalistisches Regiment, vor allem gegenüber den [[Slowenien|Slowenen]] und in der Zusammenarbeit mit der faschistischen Bewegung der [[Ustascha]] in [[Kroatien]]. Im September 1942 scheiterte [[Schlacht von Alam Halfa|die letzte deutsch-italienische Offensive in Nordafrika]]; seitdem riss die Kette ihrer militärischen Niederlagen nicht mehr ab.<br />
<br />
Neben den militärischen Niederlagen und Nahrungsmittelknappheit führten auch die angloamerikanischen Bombardierungen italienischer Städte zur allmählichen Erosion der „inneren Front“.<ref>Dazu auch Pietro Cavallo: ''Italiani in guerra. Sentimenti e immagini dal 1940 al 1943.'' Il Mulino, Bologna 2020, ISBN 9788815287380. ([https://aro-isig.fbk.eu/issues/2022/1/italiani-in-guerra-pascal-oswald/ Rezension])</ref> Ab Herbst 1942 kam es erstmals zu massiven ''area bombings'' norditalienischer Städte, welche direkt die Zivilbevölkerung trafen, mit dem Ziel, politischen und psychologischen Druck auszuüben.<ref>Marco Gioannini: ''Bombardare l’Italia. Le strategie alleate e le vittime civili.'' In: [[Nicola Labanca]] (Hrsg.): ''I bombardamenti aerei sull’Italia. Politica, stato e società (1939–1945).'' Il Mulino, Bologna 2012, S. 79–98.</ref><br />
<br />
Nach der [[Tunesienfeldzug#Massicault|Kapitulation der Achsentruppen in Tunesien]] im Mai 1943 eroberten amerikanische und britische Truppen Ende Juni die Inseln [[Lampedusa]] und [[Pantelleria]]. Mit der [[Operation Husky|Landung britischer und amerikanischer Truppen auf Sizilien]] begann am 10. Juli 1943 der [[Italienfeldzug (Zweiter Weltkrieg)|Italienfeldzug]]. Am 19. Juli 1943 erlitt Rom seine erste Bombardierung, die zahlreiche Todesopfer forderte und insbesondere das Viertel [[Nomentano – San Lorenzo|San Lorenzo]] traf.<ref>Cesare De Simone: ''Venti angeli sopra Roma. I bombardamenti aerei sulla Città Eterna (19 luglio e 13 agosto 1943).'' Mursia, Mailand 1993.</ref><br />
<br />
=== Sommer 1943: Seitenwechsel der italienischen Regierung ===<br />
[[Datei:ItalyDefenseLinesSouthofRome1943 4.jpg|mini|Deutsche Verteidigungslinien in Mittelitalien 1943]]<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-312-0983-03, Rom, Festnahme von Zivilisten.jpg|mini|Deutsche und italienische RSI-Soldaten nehmen Zivilisten nach dem [[Attentat in der Via Rasella]] auf eine Südtiroler Polizeieinheit am 23.&nbsp;März 1944 vor dem [[Palazzo Barberini]] fest. Sie wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] ermordet.]]<br />
<br />
In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 stimmte der [[Großer Faschistischer Rat|Große faschistische Rat]] für eine Resolution [[Dino Grandi]]s, die den Organen des liberalen Staats wieder ihre Macht zurückgab. Tags darauf ließ König [[Viktor Emanuel III.]] Mussolini verhaften und ernannte [[Marschall]] [[Pietro Badoglio]] zum neuen Regierungschef.<ref>Emilio Gentile: ''25 luglio 1943.'' Laterza, Bari/Rom 2018, ISBN 978-88-581-3123-7. ([https://www.sehepunkte.de/2019/03/32711.html Rezension])</ref> Nach dem [[Sturz Mussolinis]] wurde Italien während der folgenden 45 Tage bis zum 8. September von einer autoritären Militärdiktatur geführt, die gewaltsam gegen Demonstranten vorging.<ref>Nicola Gallerano, [[Luigi Ganapini]], Massimo Legnani: ''L’Italia dei quarantacinque giorni. Studio e documenti.'' [[Istituto Nazionale Ferruccio Parri|Istituto Nazionale per la Storia del Movimento di Liberazione]], Mailand 1969. Auf Deutsch auch [[Jens Petersen (Historiker)|Jens Petersen]]: ''Sommer 1943.'' In: Hans Woller (Hrsg.): ''Italien und die Großmächte 1943–1949'' (= ''Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.'' Band 57). Oldenbourg, München 1988, S. 23–48.</ref> Kurz nach seinem Regierungsantritt erklärte Badoglio die [[Partito Nazionale Fascista|faschistische Partei]] und ihre Gliederungen per Gesetz für aufgelöst. Am 3. September 1943 schloss die [[Regierung Badoglio]] mit den Alliierten den [[Waffenstillstand von Cassibile]], der am Abend des 8. September 1943 öffentlich bekanntgegeben wurde. Im Krieg waren seit 1940 bis dahin etwa 198.500 Italiener gestorben.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945'', [[Rowman & Littlefield|Lexington Books]], Lanham 2001, S. 162, Anm. 40.</ref> <br />
<br />
Der deutschen Wehrmacht gelang es, große Teile der italienischen Armee zu entwaffnen, die nur vereinzelt Widerstand entgegensetzte und sich rasch auflöste.<ref>Elena Aga Rossi: ''A Nation Collapses: The Italian Surrender of September 1943.'' Cambridge University Press, 2006, ISBN 978-0-521-59199-7.</ref> Hitler versuchte die „Schwarzhemden“ wieder an die Macht zu bringen und ließ dazu Mussolini am 12. September 1943 im [[Unternehmen Eiche]] befreien. Große Teile Nord-, Mittel- und Süditaliens inklusive Roms wurden [[Fall Achse|von deutschen Truppen besetzt]] und in diesem Gebiet eine [[Marionettenregierung]] unter Mussolini eingesetzt, welche die [[Italienische Sozialrepublik]] (kurz RSI oder informell ''Republik von Salò'') proklamierte. Diese faschistische Parallelregierung blieb mit Deutschland verbündet, erklärte ihrerseits dem von den Alliierten besetzten Teil Italiens den Krieg und führte in Norditalien Krieg gegen [[Partisan]]en. Etwa 20.000 italienische Soldaten schlossen sich in Griechenland den Partisanen an.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington Books, Lanham 2001, ISBN 978-0-7391-0195-7, S.&nbsp;105.</ref> Die nach Süditalien geflohene Regierung Badoglio erklärte am 13. Oktober 1943 dem Deutschen Reich [[Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich (1943)|den Krieg]].<br />
<br />
=== {{Anker|Deutsche Besatzung}} 1943–1945: Faschistische Sozialrepublik (RSI), deutsche Besatzung und Resistenza ===<br />
Zum 1. Oktober 1943 wurden im Norden zwei deutsche Operationszonen gegründet, nämlich die [[Operationszone Adriatisches Küstenland]], bestehend aus den Provinzen [[Provinz Udine|Udine]], [[Provinz Görz|Görz]], [[Provinz Triest|Triest]], [[Pula|Pola]], [[Provinz Fiume|Fiume]] und [[Provinz Laibach|Laibach]] (Laibach stand kurzzeitig ebenfalls unter italienischer Verwaltung) und die [[Operationszone Alpenvorland]], bestehend aus den Provinzen [[Belluno]], [[Südtirol|Bozen]] und [[Trentino|Trient]]. Entlang der Grenze [[Grenze zwischen Italien und der Schweiz|zur Schweiz]] und zu Frankreich entstand aus einem etwa 50&nbsp;km tiefen Streifen die [[Operationszone Nordwest-Alpen]].<br />
<br />
Vor allem [[Mittelitalien]] wurde von den schweren Kämpfen entlang der [[Gustav-Linie|vorrückenden Front]] verwüstet. Die Zivilbevölkerung wurde zum Ziel deutscher Repressalien (→ [[Deutsche Kriegsverbrechen in Italien]]). Ab Mitte September 1943 wurden beim [[Massaker vom Lago Maggiore]] mindestens 56 Juden ermordet.<ref>Aldo Toscano: ''L’olocausto del Lago Maggiore (settembre – ottobre 1943).'' Verbania, Alberti 1993.</ref> Als [[Repressalie]] für das [[Attentat in der Via Rasella]] in Rom vom 23. März 1944 gegen das SS-[[Polizeiregiment]] „Bozen“ wurden tags darauf beim [[Massaker in den Ardeatinischen Höhlen]] 335 Zivilisten erschossen, unter ihnen 75 Juden.<ref>[https://www.shalom.it/blog/roma-ebraica-bc7/fosse-ardeatine-cerimonia-religiosa-della-comunita-ebraica-b393961 ''Shalom'' - Zeitschrift der Jüdischen Gemeinde Roms] (ital.) 5. April 2019</ref><br />
<br />
In der vielfältig gegliederten [[Resistenza]] zur Befreiung Italiens fanden sich Kommunisten, Sozialisten, Katholiken und Liberale. Im September 1943 entstand das [[Comitato di Liberazione Nazionale]], in dem Vertreter von sechs Parteien kooperierten. Die Zahl der Kämpfer wird auf 130.000 geschätzt, die Gesamtzahl der aktiven Unterstützer auf vielleicht 250.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;207.</ref> Vor allem die SS, aber auch Truppen Mussolinis gingen mit terroristischen Maßnahmen gegen Partisanen vor, wie etwa in [[Sant’Anna di Stazzema]] bei Lucca, wo die SS etwa 560 Zivilisten ermordete, oder im [[Massaker von Marzabotto]].<br />
<br />
Auf Initiative [[Pius XII.|Pius’ XII.]] erklärte Generalfeldmarschall [[Albert Kesselring]] Rom Anfang Juni 1944 zur offenen Stadt, die am 4.&nbsp;Juni 1944 von alliierten Truppen befreit wurde.<br />
<br />
Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage unternahm Mussolini kurz vor Kriegsende einen Fluchtversuch in die Schweiz, wurde jedoch in [[Dongo (Lombardei)|Dongo]] am [[Comer See]] am 27.&nbsp;April 1945 von kommunistischen Partisanen erkannt und gefangen genommen. Trotz einer Zusage, ihn an die Alliierten auszuliefern, wurde er zusammen mit seiner Geliebten [[Clara Petacci]] am 28. April in [[Mezzegra|Giulino di Mezzegra]] erschossen. Am 29. April kapitulierten die deutschen Streitkräfte bedingungslos. Allein 30.000 Italiener in deutschen Kriegsgefangenenlagern wurden in Frankreich interniert (insgesamt 65.000), in der Sowjetunion weitere 11.000.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;157. Nur 10.000 der 60.000 gefangenen Italiener kehrten aus sowjetischen Gefangenenlagern zurück.</ref> Von den 40.000 Italienern, die auf Titos Seite gekämpft hatten, kam etwa die Hälfte ums Leben;<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;106f.</ref> insgesamt starben etwa 70.000 Partisanen, mindestens 77.000 Soldaten fielen zwischen dem 8.&nbsp;September 1943 und dem Kriegsende.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S.&nbsp;154. Demnach werden auch 87.303 angegeben.</ref><br />
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{{Anker|Judenverfolgung}}<br />
<br />
=== Ausgrenzung der Juden, Fluchtversuche der Juden und ihre Ermordung ===<br />
[[Datei:Exterior view of Fossoli concentration camp, Italy (1944).jpg|mini|[[Durchgangslager Fossoli]], 1944]]<br />
[[Datei:Giorno memoria Verona.jpg|mini|Güterwaggon, in dem Juden in die Vernichtungslager transportiert wurden, zur Erinnerung an den Holocaust 2007 in Verona aufgestellt]]<br />
<br />
1924 zählte man 54.000 Juden, was etwa 0,14 % der damaligen Bevölkerung Italiens entsprach (zum Vergleich: im Deutschen Reich lebten ca. 550.000 Juden). 1931 bestanden 23 jüdische Gemeinden in Italien. 1936 zählte man 28.299 Juden in Libyen.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 184f.</ref> Im August 1938 wurde eine Judenzählung nach den Kriterien der Faschisten vorgenommen, bei der 58.412 Juden registriert wurden, wobei 46.656 „mosaischen Glaubens“ waren. Sie lebten vorwiegend in den Großstädten des Nordens, 1938 lebten zudem 12.799 in Rom. Überall dort, wo die Spanier lange geherrscht und fast alle Juden vertrieben hatten, also im gesamten Süden, lebten nur sehr wenige von ihnen – 1931 waren es nur noch etwa 1.500.<br />
<br />
Im Norden hingegen waren sie Teil der Gesellschaft, wenn diese auch nicht frei von [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945#Italien|Antisemitismus]] war. [[Leonida Bissolati]] fabulierte 1879 (im Alter von 22 Jahren) über die unterschiedliche Intelligenz von Semiten und Indoeuropäern, doch hielt sich die Politik von diesen Thesen fern. Das galt nicht für einige Wissenschaften, wie die [[Anthropologie]], deren Gründer in Italien, [[Giuseppe Sergi]], 1889 den Rassen verschiedene Fähigkeiten zur Kulturbildung zuschrieb. Der Sprachwissenschaftler [[Angelo De Gubernatis]] behauptete 1886 als erster in Italien öffentlich einen „Gegensatz zwischen arischer und semitischer Rasse“. Erst spät<!--??--> drangen diese durch den Kolonialismus verstärkten, auch in der Medizin verbreiteten Denkmuster, die nicht mehr auf den Schutz und die Erhaltung des Einzelnen, sondern der Rasse abzielten, auch in die Politik vor, ohne zunächst fassbare Wirkung zu erzielen.<ref>Brunello Mantelli: ''Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung.'' In: [[Christof Dipper]] (Hrsg.): ''Deutschland und Italien 1860–1960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich.'' Oldenbourg, München 2005, S. 207–226.</ref><br />
<br />
[[Datei:Ernesto Nathan.jpg|mini|links|[[Ernesto Nathan]] (1848–1921), 1907–1913 Bürgermeister von Rom]]<br />
<br />
Die Gleichstellung der Juden erlaubte einigen von ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg. 1876 wurde [[Isacco Artom]] erster jüdischer Senator, [[Giuseppe Ottolenghi]] wurde 1902 Kriegsminister, [[Alessandro Fortis]] (1905–1906), [[Sidney Sonnino]] (1909–1910) und [[Luigi Luzzatti]] (1910–1911) waren Premierminister, 1922 zählte das Parlament 24 jüdische Abgeordnete.<ref>Martin Baumeister: ''Ebrei fortunati? Juden in Italien zwischen Risorgimento und Faschismus.'' In: [[Petra Terhoeven]] (Hrsg.): ''Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.'' Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, S. 43–60, hier: S. 46.</ref> [[Giuseppe Emanuele Modigliani]] (Bruder des Malers [[Amedeo Modigliani]]) oder [[Claudio Treves]] (Onkel von [[Carlo Levi]]) repräsentierten die Sozialistische Partei. [[Ernesto Nathan]] war von 1907 bis 1913 Bürgermeister von Rom. In den Anfangsjahren waren zahlreiche Juden in den Oppositionsparteien und im Widerstand aktiv, einige gehörten jedoch auch zu den Unterstützern des Regimes wie etwa [[Enrico Rocca]], der Gründer der faschistischen Partei in Rom. Innerhalb der faschistischen Bewegung fanden sich von Anfang an Personen mit eindeutig antisemitischer Ausrichtung, Mussolini selbst verspottete jedoch Hitlers Rassentheorien und die Politik des Regimes war bis 1938 nicht antisemitisch.<br />
<br />
Mussolinis Haltung änderte sich erst nach dem Abschluss der „[[Achse Rom-Berlin]]“ 1936. Mit dem „[[Italienische Rassengesetze|Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse]]“ vom 17. September 1938 erließ Italien Rassengesetze, die sich gegen die Juden richteten. Diese mussten den Öffentlichen Dienst verlassen, durften nur mehr geringen Grundbesitz haben und nur kleine Firmen leiten. Im Innenministerium wurde die „[[DemoRazza|Generaldirektion für Demographie und Rasse]]“ eingerichtet, die eine Judenzählung betrieb und die jüdische Bevölkerung Schritt für Schritt ausgrenzte. Nach dem Kriegseintritt im Juni 1940 folgte Zwangsarbeit für italienische und Internierung in [[Italienische Konzentrationslager|Konzentrationslagern]] für ausländische Juden. Der Katalog diskriminierender Gesetze und Verordnungen wurde ständig erweitert; als Mussolini im Juli 1943 gestürzt wurde, gab es kaum einen Beruf mehr, den Juden legal ausüben durften.<br />
<br />
Nachdem die Wehrmacht am 12. September 1943 Italien besetzt hatte, befahl [[Heinrich Himmler]] am 24. September 1943 die [[Deportation#Deportationen während des Nationalsozialismus|Deportation]] der italienischen Juden.<ref>Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich.'' Donzelli 2009, S. 80.</ref> Am 13. Oktober wurde die [[Biblioteca della Communità Israelitica]] beschlagnahmt. Am 16. Oktober erfolgte unter [[Wilhelm Harster]] die erste „Judenrazzia“ in Rom. 1007 Juden wurden nach Auschwitz deportiert. Von diesen starben 811 sofort, vor allem durch [[Gaskammern und Krematorien der Konzentrationslager Auschwitz|Massenvergasungen]]. Nur 149 Männer und 47 Frauen überlebten.<ref>Eintrag ''Wilhelm Harster.'' In: [[Andreas Schulz (Historiker)|Andreas Schulz]], Günter Wegmann, [[Dieter Zinke]], ''Die Generale der Waffen-SS und der Polizei. Die militärischen Werdegänge der Generale sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang'' (= ''Deutschlands Generale und Admirale.'' Teil 5, Band 2). Biblio, Bissendorf 2005, ISBN 3-7648-2592-8, S. 59–67.</ref> In der [[Italienische Sozialrepublik|Republik von Salò]] wurden zunächst die verbliebenen 39.000 Juden enteignet, dann 8.566 über Durchgangslager wie die [[Risiera di San Sabba]] bei [[Triest]] in die Vernichtungslager im Osten Europas deportiert.<ref>Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 185.</ref> Dabei arbeiteten nationalsozialistische und faschistische Behörden eng zusammen, die Häscher erhielten Belohnungen.<ref>Sie erhielten 5.000 Lire für jeden zur Deportation ausgeliefertem Mann, 2.000 pro Frau und 1.000 pro Kind (Charles T. O’Reilly: ''Forgotten Battles. Italy’s War of Liberation, 1943–1945.'' Lexington, Lanham 2001, S. 69).</ref> Etwa ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Italiens kam auf diese Weise ums Leben.<ref>Carlo Moos: ''Ausgrenzung, Internierung, Deportationen, Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945).'' Chronos, Zürich 2004, ISBN 3-0340-0641-1.</ref> 1946 reisten über 20.000 der Überlebenden illegal von La Spezia in das zu dieser Zeit noch britische [[Völkerbundsmandat für Palästina|Palästina]] ([[La-Spezia-Affäre]]).<ref>Ada Sereni: ''I clandestini del mare. L’emigrazione ebraica in terra d’Israele dal 1945 al 1948.'' Mursia, 2006.</ref><br />
<br />
1995 zählten die jüdischen Gemeinden 26.706 Mitglieder, 2001 nur noch 25.143 und Ende 2010 noch 24.930. Die Gesamtzahl wird auf 28.400 geschätzt,<ref>Sergio DellaPergola: ''World Jewish Population, 2010.'' Hrsg. v. Berman Institute – North American Jewish Data Bank, University of Connecticut, 2010, S. 50.</ref> davon lebte rund die Hälfte in Rom, dessen Großrabbiner von 1951 bis 2002 [[Elio Toaff]] war.<br />
<!-- Im Oktober 1982 kam es zu einem Terroranschlag auf die Hauptsynagoge in Rom.--><br />
<br />
== Republik Italien ==<br />
=== Ende der Monarchie, Gebietsabtretungen ===<br />
[[Datei:Evolution of Franco-Italian border.jpg|mini|Grenzverschiebungen zwischen Frankreich und Italien 1860 und 1947]]<br />
[[Datei:Italien Referendum 1946.svg|mini|Diese Karte zeigt die Zustimmungsraten zur Einführung einer Republik in den 31 italienischen Wahlkreisen beim Referendum von 1946. An den Farbabstufungen erkennbar sind starke regionale Unterschiede im Abstimmungsverhalten: Während im Norden überall mehr als 50 % der Wähler die neue Staatsform begrüßten, erhielten im Süden die Monarchisten eine breite Mehrheit.]]<br />
<br />
König [[Viktor Emanuel III.]] trat, diskreditiert durch den Faschismus (Ernennung Mussolinis zum Premier, Unterzeichnung der Rassengesetze), am 9. Mai 1946 zugunsten seines Sohnes [[Umberto II. (Italien)|Umberto&nbsp;(II.)]] zurück. Am 2. Juni 1946 fand, gleichzeitig mit der [[Wahl der Verfassunggebenden Versammlung in Italien 1946|Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung]], eine [[Referendum über die Abschaffung der Monarchie in Italien 1946|Volksabstimmung über die künftige Staatsform statt]]. An beiden Wahlen durften erstmals auch [[Frauenwahlrecht|Frauen]] teilnehmen. 54,3 Prozent votierten für eine Republik, die übrigen 45,7 Prozent für eine Monarchie.<ref>[https://elezionistorico.interno.gov.it/index.php?tpel=F&dtel=02/06/1946&tpa=I&tpe=A&lev0=0&levsut0=0&es0=S&ms=S amtliche Statistik]</ref><br />
Angehörige des [[Haus Savoyen|Hauses Savoyen]] mussten danach Italien verlassen.<br />
<br />
Die [[Politisches System Italiens#Verfassung|republikanische Verfassung]] trat 1948 in Kraft. Auf Grund der Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur legte man den Schwerpunkt der politischen Macht auf ein [[Politisches System Italiens#Legislative|kompliziertes parlamentarisches System mit zwei gleichberechtigten Kammern]]. Die von beiden Kammern abhängige Regierung erhielt eine relativ schwache Stellung. Die erstmals vorgesehene umfassende [[Politisches System Italiens#Zentralismus gegen Föderalismus|Dezentralisierung]] wurde in den Jahren danach nur zögerlich durchgesetzt.<br />
<br />
Im [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag]] von 1947 verlor Italien auch formal seine Kolonien [[Italienisch-Libyen|Libyen]], [[Kaiserreich Abessinien|Äthiopien]] und [[Kolonie Eritrea|Eritrea]]. [[Italienisch-Somaliland]] wurde zuerst von den Briten besetzt und anschließend von den Vereinten Nationen als Treuhandgebiet wieder unter italienische Verwaltung (1949–1960) gestellt.<br />
[[Datei:Litorale 3.png|mini|Das Gebiet um Triest zwischen 1947 und 1954 bzw. 1993]]<br />
Auch das italienische Mutterland war von Gebietsabtretungen betroffen. Die Gemeinden Briga und Tenda (frz. [[La Brigue]] und [[Tende]]) mussten an Frankreich abgetreten werden, das [[Dodekanes]] (mit [[Rhodos]]) fiel an Griechenland. Italien musste auch den Großteil [[Julisch Venetien]]s ([[Istrien]], die Städte [[Rijeka|Fiume]] und [[Zadar|Zara]] sowie die [[Dalmatien|norddalmatinischen]] Inseln) an [[Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien|Jugoslawien]] abtreten. [[Triest]] und sein Umland wurden zunächst internationalisiert und in zwei Zonen ([[Zone A]] und [[Zone B]]) geteilt (Schaffung eines [[Freies Territorium Triest|Freien Territoriums Triest]]), ehe 1954 eine Regelung getroffen wurde. Die Stadt Triest blieb bei Italien, das südliche Umland wurde Jugoslawien zugeschlagen. Mit dem [[Pariser Friedenskonferenz 1946|Pariser Vertrag von 1947]] wurden damit, vorbehaltlich des Territoriums um Triest, die heutigen Grenzen Italiens festgelegt. Im Zuge dieser Grenzänderungen sowie bereits zuvor zwischen 1943 (Waffenstillstand) und 1945 kam es seitens der kommunistischen Partisanen Jugoslawiens zu Massakern an der italienischen Bevölkerung sowie an slawischen Antikommunisten ([[Foibe-Massaker]]). Zwischen 200.000 und 350.000 ethnische [[Italiener]] ''(Esuli)'' wurden in der Zeit von 1943 bis 1954 aus Jugoslawien vertrieben.<ref>Enrico Miletto: ''Istria allo specchio. Storia e voci di una terra di confine.'' FrancoAngeli, Mailand 2007, S. 136.</ref> Jene Gebiete, die das faschistische Italien während des Zweiten Weltkriegs oder kurz davor erworben hatte, also „Mittelslowenien“, Dalmatien und das Königreich Albanien (das nach der Aufteilung Jugoslawiens auch die albanischsprachigen Teile des [[Kosovo]] und der [[Banschaft Vardar]] umfasste), verlor Italien ebenso.<br />
<br />
=== Kalter Krieg und Wirtschaftswunder, Gegensatz zwischen Christdemokraten und Kommunisten ===<br />
Unter [[Ministerpräsident]] [[Alcide De Gasperi]] gehörte das Land zu den Mitbegründern der [[NATO]], des [[Europarat]]s und der [[Europäische Wirtschaftsgemeinschaft|Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft]]. Seine Partei, die [[Democrazia Cristiana]], war die wichtigste politische Partei Italiens zwischen 1945 und 1993 und stellte fast alle Ministerpräsidenten in diesem Zeitraum. Sie verstand sich als gemäßigte katholische Volkspartei, deren sozial- und wirtschaftspolitisches Programm bereits während des Krieges zwischen dem 18. und 23. Juli im [[Kloster Camaldoli|Kloster]] von [[Camaldoli (Poppi)|Camaldoli]] festgelegt worden war ''(Codice di Camaldoli)''.<ref>Nico Perrone: ''Il dissesto programmato. Le partecipazioni statali nel sistema di consenso democristiano.'' Dedalo, Bari 1991, S. 7ff.</ref><br />
<br />
Die [[Kommunistische Partei Italiens]] mit ihren Vorsitzenden [[Palmiro Togliatti]] und [[Enrico Berlinguer]] war mit über zwei Millionen Mitgliedern<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 122.</ref> und zirka 30 % der Wählerstimmen die stärkste kommunistische Partei Westeuropas. 1976 konnte die Partei mit 34,4 %<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187f.</ref> ihr bestes Ergebnis bei den Parlamentswahlen verzeichnen, 1984 gelang es ihr zum ersten und einzigen Mal, als stärkste Partei aus einer Wahl hervorzugehen. Sie erreichte bei der [[Europawahl 1984]] 33,3 % der Stimmen und lag damit vor den Christdemokraten mit 33,0 %.<ref>Christian Jansen: ''Italien seit 1945.'' UTB, Göttingen 2007, S. 187.</ref><br />
<br />
Obwohl sich die PCI unter Berlinguer vom Kommunismus sowjetischer Prägung lossagte und versuchte, den Weg des [[Eurokommunismus]] zu beschreiten – so verurteilte sie den [[Prager Frühling|Einmarsch in Prag 1968]] –, hielt die Furcht vor einer Machtbeteiligung an. Auch von Seiten der [[Vereinigte Staaten|USA]] gab es erhebliche Bedenken gegen eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten, da man einen [[Domino-Effekt]] befürchtete.<ref>[http://www.zeit.de/1976/04/schlappheit-und-schlendrian/komplettansicht Schlappheit und Schlendrian] In: Die Zeit, 16. Januar 1976.</ref> 1950 wurde die geheime [[paramilitär]]ische Einheit [[Gladio]] gegründet, die nach einer Invasion von Truppen des [[Warschauer Pakt]]es [[Guerilla]]-Operationen gegen die Invasoren durchführen sollte. Ihre Existenz wurde 1990 bekannt.<br />
<br />
Unter Beibehaltung eines [[Verhältniswahlrecht]]s (ohne 4- oder 5-Prozent-Hürde) gelang es der [[Democrazia Cristiana]] durch die Einbeziehung von in der Regel vier oder fünf kleineren Parteien ([[Partito Socialista Italiano|Sozialisten]], [[Partito Socialista Democratico Italiano|Sozialdemokraten]], [[Partito Repubblicano Italiano|Republikaner]] und [[Partito Liberale Italiano|Liberale]], sog. ''[[Pentapartito]]''), die Kommunisten von einer Regierungsübernahme abzuhalten. Doch vertraten diese Parteien zunehmend Partikularinteressen, zahlreiche Regierungskrisen und eine Zunahme der organisierten Kriminalität bis in Regierungskreise hingen damit zusammen.<br />
<br />
Nach dem Krieg erlebte Italien, ähnlich wie das übrige Westeuropa, ein „[[Wirtschaftswunder]]“ ''(miracolo economico)''. Die Bevölkerung wuchs von 1951 bis 1961 von 47,5 auf 50,6 Millionen, in den Jahren 1959 bis 1962 wuchs das [[Bruttonationaleinkommen|Bruttosozialprodukt]] jedoch erheblich schneller, nämlich um 6,4 und 5,8, dann um 6,8 und 6,1 %.<ref name="Giuseppe Vottari 2001">Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001).'' Mailand 2004, S. 191.</ref><br />
<br />
Der Boom blieb jedoch hauptsächlich auf den Norden und die Mitte Italiens beschränkt. Viele Süditaliener mussten nach wie vor ihre Heimat verlassen, um Arbeit zu finden, und ins europäische Ausland (besonders Deutschland, Schweiz, Belgien und Frankreich) oder in eine norditalienische Region auswandern (siehe auch [[Gastarbeiter]]). Ab 1973 kehrten viele Gastarbeiter aus dem europäischen Ausland nach Italien zurück. Zum einen war auch im Süden die extreme Armut fast völlig verschwunden; anstelle der Elendsviertel und Baracken, die in den Nachkriegsjahren an den Rändern der durch [[Landflucht]] und [[Urbanisierung]] rasch wachsenden Großstädte oft entstanden waren, wurden infolge des ''legge 167-1962'' [[Großwohnsiedlung]]en gebaut. Zum anderen begann durch die erste [[Ölpreiskrise]] (ab Oktober 1973) in vielen Industrieländern eine jahrelange Phase der [[Stagnation]] und [[Inflation]] („[[Stagflation]]“) mit relativ hohen Arbeitslosenquoten.<br />
<br />
=== 1970er und 1980er Jahre: Bleierne Jahre, Historischer Kompromiss ===<br />
Die Nachwirkungen der [[68er-Bewegung]] zeigten sich in Italien in gesellschaftlichen Liberalisierungen und neuen sozialen Bewegungen, die von den „roten“ Universitäten ausgingen, etwa der [[Frauenbewegung]]. Im Jahr 1975 vereinbarten Arbeitgeber und Gewerkschaften die ''[[scala mobile]]'', nach der die Löhne automatisch der Inflationsentwicklung folgen sollten. Andererseits radikalisierten sich einige linke Bewegungen, was zu einer Welle von Gewalt und Terrorismus führte.<br />
<br />
[[Datei:Aldo Moro br.jpg|mini|[[Aldo Moro]] in Gefangenschaft der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]]]]<br />
<br />
Der linksextreme Terrorismus der [[Rote Brigaden|Roten Brigaden]] und die Attentate neofaschistischer Extremisten, an denen möglicherweise Geheimdienste beteiligt waren, prägten das Land in den 1970er Jahren, die als '''anni di piombo''' (bleierne Jahre) bezeichnet wurden. Zwischen dem [[Bombenanschlag auf der Piazza Fontana]] 1969 und 1983 wurden mehr als 14.000 Anschläge mit 374 Toten und über 1170 Verletzten verübt.<ref>Ruth Glynn, Giancarlo Lombardi: ''Remembering Aldo Moro.'' In: dies. (Hrsg.): ''Remembering Aldo Moro: The Cultural Legacy of the 1978 Kidnapping and Murder.'' Routledge, Abingdon, New York 2012, S. 1–16, hier [https://books.google.de/books?id=8EMrDwAAQBAJ&pg=PA1 S. 1 f.] Eine Grafik zur Entwicklung der Anschlagsanzahlen zeigt Tobias Hof: ''Staat und Terrorismus in Italien 1969–1982.'' Oldenbourg, München 2012, [https://books.google.de/books?id=lGzoBQAAQBAJ&pg=PA51 S. 51].</ref> Die Destabilisierung der politischen Situation ließ einen Staatsstreich nicht unwahrscheinlich scheinen. Bekannt sind die Putschpläne der [[Carabinieri]] unter [[Giovanni De Lorenzo]] im Jahr 1964 (''Piano Solo''<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003'', il Mulino, Bari 2006, S. 207f.</ref>) und der ''Golpe Borghese'' von Fürst [[Junio Valerio Borghese]].<ref>Aurelio Lepre: ''Storia della prima Repubblica. L’Italia dal 1943 al 2003.'' Il Mulino, Bari 2006, S. 246.</ref><br />
<br />
Es kam in dieser Situation zu einer Annäherung von Christdemokraten und Kommunisten. An der Ausarbeitung des [[Historischer Kompromiss|Historischen Kompromisses]] ''(compromesso storico)'' waren der Christdemokrat [[Aldo Moro]] und der Kommunist [[Enrico Berlinguer]] beteiligt. Nach den [[Parlamentswahlen in Italien 1976|Wahlen von 1976]], bei denen die Kommunisten stark zulegten, wurde [[Giulio Andreotti]] Ministerpräsident einer Minderheitsregierung, die auf die Tolerierung der Kommunisten angewiesen war. Am 11. März 1978 kam es, abermals unter Führung von Andreotti, zur Bildung einer Regierung der nationalen Solidarität, an der erstmals die Kommunisten beteiligt sein sollten. Am 16. März wurde Aldo Moro entführt und am 9. Mai nach 55-tägiger Geiselhaft von den Roten Brigaden ermordet. Der [[Anschlag von Bologna 1980]] markierte den Höhepunkt der terroristischen Aktionen in Italien.<br />
<br />
Der Einfluss der [[Römisch-katholische Kirche in Italien|katholischen Kirche]] auf die Gesellschaft schwand. 1984 wurde ein neues [[Konkordat]] mit dem Heiligen Stuhl unterzeichnet, durch das der [[Katholizismus]] seinen Status als [[Staatsreligion]] verlor. Bereits 1970 wurde die [[Ehescheidung]] gegen ihren Widerstand ermöglicht; das Gesetz wurde 1974 bei einer Beteiligung von 87,7 % in einer Volksabstimmung von 59,3 % der Wähler befürwortet.<ref>Markus Schaefer: ''Referenden, Wahlrechtsreformen und politische Akteure im Strukturwandel des italienischen Parteiensystems.'' Lit, Münster 1998, S. 39.</ref> 1979 wurde die [[Schwangerschaftsabbruch|Abtreibung]] legalisiert.<br />
<br />
Der Anteil der Bevölkerung, die einen Studienabschluss erwarb, stieg im Rahmen der [[Bildungsexpansion]] drastisch an. Im akademischen Jahr 2006/07 waren 1.809.186 Studenten an 95 Universitäten eingeschrieben,<ref>{{Webarchiv | url=http://statistica.miur.it/scripts/IU/IU2007_02_sintesi.pdf | wayback=20130517011229 | text=MIUR – Unterrichtsministerium: Studierende 2006/7}} (PDF; 57&nbsp;kB).</ref> was etwa 3 % der Bevölkerung entsprach, während es 1960/61 noch 0,4 % oder 217.000 Studenten gewesen waren.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.ricercaitaliana.it/universita_chifaricerca.htm |wayback=20120307025541 |text=''Ricerca Italiana'' |archiv-bot=2023-05-11 17:49:30 InternetArchiveBot }}.</ref><br />
<br />
Als Anfang der 1970er das [[Bretton-Woods-System]] zusammenbrach, begann weltweit eine Zeit freier Wechselkurse. Die [[Ölpreiskrise]] im Winter 1973/74 trug dazu bei, die Inflation zu erhöhen; es kam zu einer [[Stagflation]]. 1979/80 folgte eine zweite Ölkrise. Die italienische Wirtschaft bekam die Folgen der Krise besonders zu spüren, die Regierung des sozialistischen Ministerpräsidenten [[Bettino Craxi]] reagierte ab 1983 mit Kürzungen und einer schrittweisen Abschaffung der ''scala mobile''. Die Craxi-Jahre waren von einem außerordentlichen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, wobei sich das Bevölkerungswachstum verlangsamte (von 1971 bis 1981 von 54,1 auf 56,5 Millionen Einwohner, bis 1991 auf 56,8 Millionen<ref name="Giuseppe Vottari 2001" />). 1987 kündigte die Regierung Craxi den ''sorpasso'' an, denn Italien hatte Großbritannien „überholt“ und war nun zur fünftgrößten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen.<ref>[http://www.zeit.de/1987/10/craxi-will-nicht-weichen/komplettansicht ''Craxi will nicht weichen.''] In: ''Die Zeit'', 27. Februar 1987; [http://www.zeit.de/1987/33/italien-das-wunder ''Italien: Das Wunder.''] In: Die Zeit, 7. August 1987; {{Der Spiegel|ID=13523582|Titel=Madonna, was ist passiert in bella Italia?|Jahr=1987|Nr=32|Datum=1987-08-03|Seiten=98–107}}</ref> Dieses Wachstum konnte nur durch eine massiv ausgeweitete [[Staatsverschuldung]] aufrechterhalten werden, was die Lage der öffentlichen Haushalte dramatisch verschlechterte; die Staatsverschuldung verdoppelte sich im Laufe der 1980er Jahre. Die [[Inflation]] blieb relativ hoch, die [[Italienische Lira|Lira]] wurde abgewertet (was Exporte förderte und Importe bremste, also die eigene Industrie stützte).<br />
<br />
=== Zerfall der etablierten Parteien und Privatisierungen (1990–1994) ===<br />
Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen gelangen dem Staat Anfang der 1990er Jahre einige Erfolge. Nach den Attentaten gegen die Staatsanwälte [[Giovanni Falcone]]<ref>Zum 10. Jahrestag erschien u. a. Francesco La Licata: ''Storia di Giovanni Falcone.'' Mailand 2002, 3. Auflage. 2005.</ref> und [[Paolo Borsellino]]<ref>[[Alexander Stille]]: ''Excellent Cadavers. The Mafia and the Death of the First Italian Republic.'' Random House 2011.</ref> im Jahr 1992 wurden die Gesetze noch einmal verschärft.<br />
<br />
Ab 1992 erfolgte durch die Aufdeckung von Korruptions- und Parteifinanzierungsskandalen ([[Tangentopoli]] und [[Mani pulite]]) eine grundlegende Neuordnung der Parteienlandschaft. Die Christdemokraten, die Sozialisten, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Republikaner, die das Land vierzig Jahre lang geführt hatten, hörten innerhalb eines Jahres auf, als eigenständige Parteien zu existieren oder verschwanden in der völligen Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig stürzte der Zusammenbruch des Ostblocks die Kommunisten in eine ideologische Krise. Aus der KPI gingen die nun sozialdemokratisch orientierte PDS ([[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]]) sowie zahlreiche kommunistische Neugründungen hervor. Im wohlhabenden Norden des Landes wurde der Unmut der Bevölkerung über die Politik von der sezessionistisch auftretenden [[Lega Nord]] angesprochen. Dieser Zusammenbruch des etablierten Parteiensystems und die damit einhergehenden politischen Veränderungen gelten als größte Zäsur der italienischen Nachkriegsgeschichte. Obwohl die Verfassung aus dem Jahr 1948 unverändert gültig ist, wurde es üblich von der Zeit vor dem Umbruch der Jahre 1992–94 als Erste Republik ''(prima repubblica)'' und den Jahren danach als Zweite Republik ''(seconda repubblica)'' zu sprechen.<br />
<br />
Auch finanziell stand Italien vor dem Kollaps, die Schulden überstiegen das BIP, die Lira wurde um 20 % abgewertet.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Diss., Universität Hamburg 2011, Springer 2012, S. 177.</ref> Dies veranlasste die Regierung unter [[Giuliano Amato]] 1992 zu einem scharfen Sparkurs. Als äußerste Maßnahme wurden sämtliche Bankkonten einer einmaligen Sonderbesteuerung unterworfen, was das Vermögen der meisten Haushalte erstmals seit den 1960er Jahren reduzierte.<ref>Orazio P. Attanasio, Agar Brugiavini: ''L’effetto della riforma Amato sul risparmio delle famiglie italiane.'' In: ''Ricerche quantitative per la politica economica 1995.'' hgg. v. d. Banca d’Italia, S. 596.</ref> Die Regierung [[Carlo Azeglio Ciampi|Ciampi]], eine parteilose Expertenregierung ''(governo tecnico)'', setzte 1993 diesen Kurs der Privatisierung und der Auflösung der Netzwerke aus staatlich-privaten Patronage- und Klientelverhältnissen fort, um den Euro einführen zu können, wofür Ciampi den Spitznamen ''Signor Euro'' erhielt. Im Zuge der Sanierung der Staatsfinanzen machte man sich an eine [[Privatisierung]] der zahlreichen, durch politische [[Patronage]] korrumpierten Staatsbetriebe. Diese erwirtschafteten zeitweise die Hälfte des BIP. Den Anfang machten 1990 die Banken, die verpflichtet wurden, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln. 1994 befanden sich bereits 73 % des Aktienkapitals in den Händen von Sparkassen-Stiftungen, die bis 2005 das gesamte Kapital privatisierten. Dabei konnten die fünf größten Banken ihren Marktanteil unter den von 1100 auf 800 verminderten Banken von 34 auf 54 % steigern.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 179.</ref> Daraus entstanden letztlich zwei Großgruppen, 2007 die [[Intesa Sanpaolo|Intesa-San-Paolo]]- und die [[Unicredit]]-Gruppe. Weit dahinter liegen [[Mediobanca]], [[Monte dei Paschi di Siena]] und [[UBI Banca|Unione di Banche Italiane]]. 1993 wurde die Trennung von Geschäfts- und Finanzbanken, die 1936 eingeführt worden war, wieder abgeschafft, so dass [[Universalbank]]en entstanden. Insgesamt brachten alle Privatisierungen zusammen dem Fiskus weit über 100 Milliarden Euro ein, womit sie die größte jemals durchgeführte Privatisierungswelle darstellten. Allein die Verkäufe der Anteile an [[Eni (Unternehmen)|ENI]] und [[Enel]] brachten 35 Milliarden Dollar ein.<ref>David Furch: ''Marktwirtschaften unter dem Druck globalisierter Finanzmarkte. Eine Vergleichende Untersuchung der Finanzsysteme und Corporate-Governance-Strukturen in Deutschland und Italien.'' Springer 2012, S. 181 f.</ref> Strategische Anteile an der Energieversorgung, der Luft- und Raumfahrtindustrie und an der Daseinsvorsorge blieben allerdings in staatlicher Hand. Zwar stieg der Streubesitz an den Unternehmensaktien, doch haben Shareholderabsprachen eher die Kontrolle durch einzelne Familien gestärkt, während der Einfluss der Banken zurückging.<br />
<br />
=== Wechselnde Regierungsbündnisse, Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise und Pandemie (seit 1994) ===<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 1994|Parlamentswahlen 1994]], bei denen erstmals ein gemischtes Mehrheits- und Proporzwahlrecht mit Sperrklausel Anwendung fand, setzte sich überraschenderweise die Koalition des Bau- und [[Medienunternehmer]]s [[Silvio Berlusconi]] gegen das Linksbündnis unter Führung von [[Achille Occhetto]] durch. Seine [[Forza Italia]], nur wenige Monate zuvor gegründet, hatte sich mit der Lega Nord sowie der [[Alleanza Nazionale]] verbündet, die aus dem postfaschistischen [[Movimento Sociale Italiano]] hervorgegangen war. Doch zerbrach die Koalition nach nur wenigen Monaten. Die daraufhin einberufene Expertenregierung unter [[Lamberto Dini]], dem ehemaligen Generaldirektor der italienischen Zentralbank und Finanzminister unter Berlusconi, regierte von Januar 1995 bis Mai 1996.<br />
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Die Wahlen von 1996 gewann eine Mitte-links-Koalition ([[L’Ulivo|Ulivo]]) unter Führung des ehemaligen Christdemokraten [[Romano Prodi]]. In der Regierung ''Prodi I'' (Mai 1996 – Oktober 1998) saßen erstmals eurokommunistische Minister. Prodis strikter Sparkurs ebnete Italien den Weg in die [[Euro]]zone. Von seinen Verbündeten verlassen, musste er zurücktreten und [[Massimo D’Alema]] bzw. [[Giuliano Amato]] sein Amt überlassen. Der aus der kommunistischen Partei 1991 hervorgegangene [[Democratici di Sinistra|Partito Democratico della Sinistra]] (PDS) hatte sich nach der Vereinigung mit anderen [[Sozialismus|sozialistischen]] Gruppen 1998 in „Linksdemokraten“ ([[Democratici di Sinistra]], DS) umbenannt. Ihr Vorsitzender D’Alema blieb bis 2000 Ministerpräsident, ihm folgte Giuliano Amato, der dieses Amt bereits von Juni 1992 bis April 1993 innegehabt hatte.<br />
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Die Wahlen 2001 konnte Berlusconis Bündnis [[Casa delle Libertà]] für sich entscheiden. Nach fünf Jahren Amtszeit musste er sich bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2006|Parlamentswahlen 2006]] erneut Romano Prodi geschlagen geben. Mitte Mai 2006 wurde dann auch mit [[Giorgio Napolitano]] der Kandidat Romano Prodis zum Präsidenten der Republik gewählt, mit dem zum ersten Mal ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei dieses Amt einnahm.<br />
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Auf der Ebene der Gemeinden, Provinzen und [[Italienische Regionen|Regionen]] wurden ebenso Reformen durchgeführt wie auf der nationalen Ebene. Auch wurden 1997 Reformen der [[Italienische Streitkräfte|Streitkräfte]] eingeleitet, die 2005 in die Aussetzung der [[Wehrpflicht]] mündeten. Auf eine Verfassungsreform zur Stärkung der Regierung, zur Verbesserung der parlamentarischen Arbeit und zur Einführung einer Vertretung der [[Gebietskörperschaft]]en konnte man sich jedoch nicht einigen. Das [[Italienisches Parlamentswahlrecht|italienische Parlamentswahlrecht]] wurde hingegen seit 2005 mehrfach geändert.<br />
<br />
Die Staatsfinanzen litten weiterhin an einer hohen Steuerhinterziehung (je nach Schätzung 20–30 % des [[Bruttoinlandsprodukt|BIP]]), an den wachsenden Lasten in Gesundheitswesen und Altersversorgung, sowie an einer zu sehr auf Rom ausgerichteten Finanzierung der Regionen. Steigende Zinsen, bei gleichzeitigem Anstieg der Steuer- und Abgabenlast, belasteten die Gesamtwirtschaft. Als problematisch wird zudem die Schwerfälligkeit von Justiz und Verwaltung angesehen. Die strukturellen Probleme Süditaliens sind ungelöst; als besonders hemmend gilt der Einfluss der organisierten Kriminalität auf das Wirtschaftsleben.<br />
<br />
Im Januar 2008 zerfiel das von [[Romano Prodi]] geführte Bündnis, nachdem sich der Koalitionspartner [[Popolari-Unione Democratici per l’Europa|UDEUR]] aus dem Bündnis zurückgezogen hatte. Prodi scheiterte in der [[Vertrauensfrage]]. Staatspräsident [[Giorgio Napolitano]] beauftragte daraufhin den Senatspräsidenten [[Franco Marini (Politiker)|Franco Marini]] mit der Bildung einer Übergangsregierung, doch musste er das Mandat zur Regierungsbildung am 4. Februar wieder zurückgeben.<ref>[[Tagesschau (ARD)|Tagesschau]]: ''[https://tsarchive.wordpress.com/2008/02/04/italien92/ Neuwahlen in Italien rücken näher] (tagesschau.de-Archiv)'' vom 4. Februar 2008.</ref> Daraufhin löste Napolitano beide Kammern des Parlaments auf und schrieb [[Parlamentswahlen in Italien 2008|Neuwahlen]] aus.<ref>[http://www.corriere.it/politica/08_febbraio_06/napolitano_scioglie_camere_rammarico_mancata_riforma_elettorale_890d58ba-d4a3-11dc-a819-0003ba99c667.shtml ''Sciolte le Camere, si vota il 13 e 14 aprile''] Corriere della Sera, 6. Februar 2008.</ref><br />
<br />
Aus diesen ging mit 46,8 % (Abgeordnetenkammer) und 47,3 % (Senat) Silvio Berlusconis neues Wahlbündnis [[Popolo della Libertà]] – [[Lega Nord]] – [[Movimento per le Autonomie|Movimento per l’autonomia]] als Sieger hervor. Die [[Kabinett Berlusconi IV|vierte Regierung]] Silvio Berlusconis wurde am 8. Mai 2008 vereidigt. Bedingt durch die [[Finanzkrise]] schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2008 um 1 %, im Jahr 2009 um weitere 5 %. Dank seines Bankensystems und der niedrigen Verschuldung der Privathaushalte konnte sich das Land zunächst vor den wirtschaftlichen Folgen schützen,<ref>[http://www.handelsblatt.com/politik/international/euro-zone-italien-haelt-sich-im-trubel-abseits;2527850 ''Italien hält sich im Trubel abseits.''] In: ''[[Handelsblatt]]'' 11. Februar 2010.</ref> wurde jedoch 2011 von der [[Eurokrise]] erfasst.<br />
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[[Datei:Meloni Official Portrait2022.jpg|mini|[[Giorgia Meloni]], seit dem 22. Oktober 2022 [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidentin]]]]<br />
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Angeführt vom Präsidenten des Abgeordnetenhauses [[Gianfranco Fini]] verließen seit Mitte 2010 zahlreiche Parlamentarier Berlusconis Koalition, bis dieser im November 2011 über keine Mehrheit mehr im Abgeordnetenhaus verfügte. Von ihm selbst ausgelöste Skandale und anstehende Gerichtsverfahren sowie die Zuspitzung der Eurokrise zwangen Silvio Berlusconi am 12. November 2011 zum Rücktritt.<br />
<br />
Staatspräsident Napolitano beauftragte den Parteilosen und ehemaligen [[Europäische Kommission|EU-Kommissar]] für Binnenmarkt und Wettbewerb [[Mario Monti]] mit der Bildung einer [[Kabinett Monti|neuen Regierung]]. Die [[Eurokrise|Schuldenkrise im Euroraum]] verschärfte sich, Ende 2011 hatte Italien 1,9 Billionen Euro Schulden. Die Zinsen für Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit erreichten im November 2011 bei 7,56 % den höchsten Satz.<ref>[http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/krisenstaat-anleihe-bringt-italien-relativ-guenstiges-geld-a-806218.html ''Anleihe bringt Italien relativ günstiges Geld.''] Spiegel online, 29. Dezember 2011.</ref> Die Arbeitslosigkeit lag im März 2012 bei 9,3 %, dabei stieg die seit langem hohe Arbeitslosigkeit unter den 19- bis 24-Jährigen auf 31,9 %.<ref>{{Webarchiv | url=http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/arbeitslosigkeit-in-italien-auf-hoechstem-stand-seit-2004-513147/index.do | wayback=20120406074143 | text=''Arbeitslosigkeit in Italien auf höchstem Stand seit 2004''}}, in: Wirtschaftsblatt, 2. April 2012.</ref> Im Dezember lag die Arbeitslosenquote bereits bei 11,2 % oder 2,9 Millionen.<ref>[http://www.oe24.at/welt/Arbeitslosigkeit-in-Italien-auf-Rekordhoch/93362535 ''Arbeitslosigkeit in Italien auf Rekordhoch''], oe24.at, 1. Februar 2013.</ref><br />
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Am 25. Februar 2013 gewann das Mitte-links-Bündnis von [[Pier Luigi Bersani]] knapp die [[Parlamentswahlen in Italien 2013|Wahl]] mit 29,54 % der Stimmen vor dem Bündnis Berlusconis, das 29,18 % erhielt.<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-02/wahl-italien-bersani-berlusconi ''Gespaltene Mehrheit in Italien.''] In: ''Die Zeit'' online, 26. Februar 2013.</ref> Die vom Berufskomiker Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung ([[MoVimento 5 Stelle]]) konnte mit 25,09 % einen überraschenden Erfolg feiern. [[Enrico Letta]] vom [[Partito Democratico]] wurde auf Vorschlag von Staatspräsident Napolitano vom Parlament zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Nach einem parteiinternen Machtkampf wurde Letta nach weniger als einem Jahr im Amt vom ehemaligen Bürgermeister von Florenz, [[Matteo Renzi]], abgelöst. Unter der Regierung Renzi wurden zahlreiche Reformvorhaben auf dem Arbeitsmarkt, in den Sozialsystemen und den staatlichen Institutionen durchgeführt sowie gesellschaftspolitische Liberalisierungen wie die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft ''(unione civile)''. Die von Renzi angestrebte Verfassungsänderung wurde am [[Verfassungsreferendum in Italien 2016|4. Dezember 2016]] durch das Volk in einem Referendum abgelehnt, infolgedessen trat Renzi zurück. Neuer Ministerpräsident wurde [[Paolo Gentiloni]], welcher zuvor als [[Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit (Italien)|Außenminister]] in Renzis Kabinett diente.<ref>[http://www.blick.ch/news/ausland/italien-gentiloni-gewinnt-vertrauensabstimmung-im-italienischen-senat-id5897522.html „Gentiloni gewinnt Vertrauensabstimmung im italienischen Senat“], abgerufen am 15. Dezember 2016.</ref><br />
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Im Jahr 2015 kulminierte die [[Flucht und Migration über das Mittelmeer in die EU|Flucht und Migration über das Mittelmeer]] zu einer [[Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016]], von der insbesondere Italien betroffen war und in dem Zusammenhang unter anderem wegen chaotischer Zustände auf der Insel [[Lampedusa]] in die Schlagzeilen geriet. Spätestens seit 2015 ist Italien für nach Europa ziehende afrikanische Migranten beliebtes Ziel- und [[Transitland]].<br />
<br />
Bei den [[Parlamentswahlen in Italien 2018|Parlamentswahlen am 4. März 2018]] konnten die Fünf-Sterne-Bewegung mit 32,68 % und die nunmehr italienisch-national auftretende [[Lega Nord|Lega]] (ohne den Zusatz Nord) mit 17,34 % die größten Zugewinne verzeichnen und bildeten zusammen eine Regierung unter Führung des parteilosen [[Giuseppe Conte]]. [[Luigi Di Maio]] von der Fünf-Sterne-Bewegung und [[Matteo Salvini]] von der Lega übernahmen jeweils den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten. Nachdem Salvini die Beendigung der Regierungskoalition erklärte, bildete Conte sein [[Kabinett Conte II|Kabinett]] um, das neben der Fünf-Sterne-Bewegung von Partito Democratico, [[Liberi e Uguali]], [[Italia Viva]] und dem [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]] unterstützt wurde. Im Januar 2021 verließ Italia Viva das Regierungsbündnis und Conte erklärte seinen Rücktritt. Während der Regierungszeit von Conte wurde unter anderem eine [[Verfassungsreferendum in Italien 2020|Verfassungsreform zur Verkleinerung des Parlaments]] beschlossen und in einer Volksabstimmung bestätigt.<br />
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Staatspräsident [[Sergio Mattarella]] (seit 2015 im Amt) sprach sich gegen Neuwahlen während der [[COVID-19-Pandemie in Italien|COVID-19-Pandemie]] aus, von der Italien seit Januar 2020 betroffen ist, und beauftragte [[Mario Draghi]], den früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank und früheren Gouverneur der italienischen Zentralbank, eine [[Kabinett Draghi|Regierung]] zu bilden, die am 13. Februar 2021 vereidigt wurde. Diese [[Regierung der nationalen Einheit]] wurde insbesondere von [[Fünf-Sterne-Bewegung]], [[Partito Democratico]], [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] getragen. Die rechtsnationale Partei [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] war an dieser Regierung nicht beteiligt.<br />
<br />
Nach einer Vertrauensabstimmung, die Draghi zwar gewann, bei der aber mit der Fünf-Sterne-Bewegung, Lega und Forza Italia drei Regierungsparteien nicht teilnahmen, reichte Draghi seinen Rücktritt ein und Präsident Mattarella löste am 21. Juli 2022 beide Parlamentskammern auf.<ref>Die Zeit: [https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/regierungskrise-italien-mario-draghi Der Pakt des Vertrauens ist zerbrochen]</ref> Aus den [[Parlamentswahlen in Italien 2022|vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. September 2022]] gingen die [[Fratelli d’Italia (Partei)|Brüder Italiens]] unter Führung von [[Giorgia Meloni]] und deren Koalitionspartner [[Lega Nord|Lega]] und [[Forza Italia (2013)|Forza Italia]] als Sieger hervor (43,79 % der Wählerstimmen für die Abgeordnetenkammer und 44,02 % für den Senat) und konnten eine Rechts-Mitte-Regierung ([[Kabinett Meloni]]) unter Einbeziehung auch kleinerer Parteien bilden (Stand Oktober 2022: [[Noi con l'Italia]], [[Cambiamo!|Italia al Centro]], [[Coraggio Italia]], [[Unione di Centro]], [[Movimento Associativo Italiani all’Estero]]). Giorgia Meloni wurde am 22. Oktober 2022 als Ministerpräsidentin vereidigt, womit zum ersten Mal in der Geschichte Italiens seit der Staatsgründung 1861 eine Frau dieses Amt bekleidet.<br />
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=== Bevölkerungswachstum, Zuwanderung ===<br />
[[Datei:Saldo naturale e saldo migratorio - Italia -- Natural increase and net migration - Italy (1862-).png|mini|250px|Wanderungssaldo zwischen 1862 und 2014]]<br />
1861 hatte Italien 21,7 Millionen Einwohner, bei der Volkszählung 1901 über 30 Millionen und 1931 41,6 Millionen Einwohner. Lag die [[Geburtenrate]] pro tausend Einwohner um 1850 bei 38,6, so sank sie bis 1913 auf immer noch sehr hohe 31,7, die [[Sterberate]] sank im selben Zeitraum jedoch viel schneller von 29,9 auf 18,7,<ref>Massimo Livi Bacci: ''Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte.'' Beck, München 1999, S. 176 (ital. Bari: Laterza 1998).</ref> so dass die Bevölkerungszahl steil anstieg. 1946 hatte Italien etwa 45,5 Millionen Einwohner, 1960 über 50, 1975 mehr als 55 Millionen. Die [[zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer]] lag 1946 bei 3,01 Kindern pro Frau und noch im Jahr 1976 oberhalb der natürlichen Reproduktionsrate bei 2,11. Danach nahm sie bis 1995 auf 1,17 ab und schwankt seither zwischen 1,2 und 1,3.<ref>Anna Montanari: ''Stranieri extracomunitari e lavoro.'' Wolters Kluwer Italia, Mailand 2010, S. 11 Anm. 26, ISBN 978-88-13-29103-7.</ref> Bei den neu Zugewanderten lag sie 2006 etwa doppelt so hoch; bis 2009 sank sie auf 2,05.<ref>''Sedicesiomo Rapporto Sulle Migrazioni 2010'', hgg. v. d. Fondazione ISMU (Iniziative e studi sulla multietnicità), Mailand 2011, S. 40.</ref><ref>siehe auch [http://www.ismu.org/ www.ismu.org]</ref><br />
<br />
Die Bevölkerung stieg weiter an, auf etwa 60 Millionen Einwohner im Jahr 2011, wobei das Bevölkerungswachstum nunmehr überwiegend auf Zuwanderung zurückzuführen war, deren jährlicher Saldo zwischen etwa 300.000 und 600.000 lag; ansonsten übertrifft seit 1993 die Zahl der Sterbefälle die der Geburten, im Jahr 2010 um 25.000.<ref>[[Istituto Nazionale di Statistica]]: [http://www.istat.it/salastampa/comunicati/in_calendario/bildem/20110524_00/testointegrale20110524.pdf ''Bilancio demografico nazionale. Anno 2010''] (PDF).</ref> 2010 lag die Geburtenziffer bei 9,3 und die Sterbeziffer bei 9,7.<ref>[http://www.demo.istat.it/altridati/indicatori/2010/Tab_1.pdf ISTAT] (PDF; 13&nbsp;kB).</ref> Die [[Lebenserwartung]] stieg von 50 Jahren im Jahr 1920 auf 77,5 im Jahr 1994. 2010 lag sie bei 79,1 Jahren bei Männern und bei 84,3 bei Frauen.<br />
<br />
Die Zahl der Zuwanderer ist seit den 1990er Jahren stark angestiegen, nachdem Italien bis 1972 überwiegend Auswandererland gewesen war.<ref>Giovanna Zincone: ''The case of Italy.'' In: Giovanna Zincone, Rinus Penninx, Maren Borkert (Hrsg.): ''Migration Policymaking in Europe. The Dynamics of Actors and Contexts in Past and Present.'' Amsterdam University Press, Amsterdam 2012, S. 247–290, hier: S. 247.</ref> 1991 zählte das Statistikinstitut ISTAT 625.034 Ausländer bei 56,8 Millionen Einwohnern, 1997 schätzte man ihre Zahl auf 1,25 Millionen,<ref>William Stanton (2003): ''The Rapid Growth of Human Populations, 1750–2000. Histories, Consequences, Issues Nation by Nation.'' ISBN 0-906522-21-8, S. 30.</ref> Anfang 2011 auf 5,4 Millionen.<ref>Dies und das Folgende nach: Fondazione Ismu (Hrsg.): ''Diciassettesimo Rapporto sulle Migrazioni 2011'', S. 8.</ref> Davon kamen 969.000 aus [[Rumänien]], 483.000 aus [[Albanien]], 452.000 aus [[Marokko]]; dann folgten [[China]] (210.000) und die [[Ukraine]] (201.000). Die meisten Immigranten leben im Norden Italiens. Bis März 2012 kamen 64.000 Flüchtlinge aus Nordafrika via [[Mittelmeerroute]] nach Italien.<ref>[http://www.dradio.de/aktuell/1696923/ ''Schutz statt Abwehr von Flüchtlingen''], Deutschlandradio, 8. März 2012.</ref><ref>zum aktuellen Stand siehe auch {{Webarchiv|url=https://frontex.europa.eu/along-eu-borders/migratory-map/ |wayback=20190225141446 |text=frontex.europa.eu |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}</ref> Die Zahl der „stranieri“ wurde 2023 auf 5,775 Millionen geschätzt.<ref>[https://www.vita.it/sono-5-milioni-e-775mila-gli-stranieri-che-vivono-in-italia/ ''Sono 5 milioni e 775mila gli stranieri che vivono in Italia''], in: Vita, 13. Februar 2024.</ref> Die Einwanderungs- und [[Flüchtlingspolitik]] war und ist ein wichtiges Thema der italienischen Politik.<br />
<br />
== Verwaltung des Kulturerbes ==<br />
Seit 1974 besteht das [[Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Aktivitäten (Italien)|Ministerium für Kulturgüter und -aktivitäten]] unter wechselnden Namen. Dem Ministerium sind 157 [[Staatsarchiv]]e, 298 archäologische Stätten, 58 Bibliotheken, 244 Museen, insgesamt 1052 staatliche Institutionen zugeordnet, hinzu kommen 2.119 nicht-staatliche (Stand: 26. Februar 2012).<ref>{{Webarchiv|url=http://www.beniculturali.it/mibac/opencms/MiBAC/sito-MiBAC/MenuPrincipale/LuoghiDellaCultura/Ricerca/index.html |wayback=20190914211414 |text=''Luoghi della Cultura'' |archiv-bot=2022-11-07 18:29:36 InternetArchiveBot }}, Website des Kultusministeriums.</ref> Einige der Museen sind Nationalmuseen. Zu diesen zählen das [[Archäologisches Nationalmuseum Ferrara|Archäologische Nationalmuseum in Ferrara]] sowie das von [[Archäologisches Nationalmuseum Florenz|Florenz]], das [[Museo Nazionale Romano|von Rom]] und [[Archäologisches Nationalmuseum Neapel|von Neapel]], dann dasjenige [[Archäologisches Nationalmuseum Tarent|von Tarent]] sowie das [[Museo Nazionale Alinari della Fotografia]] in Florenz. Hinzu kommen das [[Museo Archeologico Nazionale di Reggio Calabria]], ehemals ''Museo Nazionale della Magna Grecia'', in Reggio, das [[Museo Nazionale G. A. Sanna]] auf Sardinien ebenso wie das [[MAXXI – Museo nazionale delle arti del XXI secolo|Nationalmuseum der Kunst des 21. Jahrhunderts]] in Rom. Allerdings ist die Bezeichnung „Nationalmuseum“ nicht genau abgegrenzt, so dass zahlreiche weitere, überregional bedeutende staatliche Museen mitzurechnen sind.<br />
<br />
In keinem Land gehören so viele Stätten zum [[UNESCO-Welterbe]] (2024: 60), 2024 kam die [[Via Appia]] hinzu. Die früheste geschützte Stätte sind die seit 1979 eingetragenen [[Felsbilder des Valcamonica]] und seit 1980 das gesamte historische Zentrum von Rom, seit 1982 das von Florenz, 1987 Venedig und seine Lagune, 1995 Neapels Kernstadt, im Jahr 2000 die von Verona, 2011 die [[Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen|Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen]] und die [[Die Langobarden in Italien, Orte der Macht (568 bis 774 n. Chr.)|Stätten der Langobarden]]. Neben dem Schutz, dem ein ''Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale'' dient, arbeiten die Institutionen vor allem daran, die Kulturschätze zu erhalten und zu restaurieren sowie der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich zu machen, bzw. zu halten.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
{{Portal|Italien}}<br />
<br />
== Literatur ==<br />
=== Überblickswerke ===<br />
* [[Wolfgang Altgeld]], [[Thomas Frenz]], Angelica Gernert u.a (Hrsg.): ''Geschichte Italiens.'' 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Reclam, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-15-011067-6 (erstmals 2002 unter dem Titel „Kleine italienische Geschichte“).<br />
* Charles L. Killinger: ''The History of Italy'', Greenwood Press, Westport 2002, ISBN 0-313-31483-7.<br />
* [[Girolamo Arnaldi]]: ''Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute'', Wagenbach, Berlin 2005, ISBN 3-8031-3617-2. (deutsche Übersetzung des 2004 bei Laterza erschienenen ''L’Italia e i suoi invasori'')<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart'', C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50284-9.<br />
* [[Michael Seidlmayer]]: ''Geschichte Italiens. Vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis zum ersten Weltkrieg'' (= ''[[Kröners Taschenausgabe]]'', 341). 2., erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 1989, ISBN 3-520-34102-6.<br />
* Georges Jehel: ''L’Italie et le Maghreb au Moyen Âge. Conflits et échanges du VIIe au XVe siècle'', Presses universitaires de France, 2001, ISBN 2-13-052263-7.<br />
* [[Peter Herde]]: ''Guelfen und Neoguelfen. Zur Geschichte einer nationalen Ideologie vom Mittelalter zum Risorgimento'', Steiner, Stuttgart 1986, ISBN 3-515-04596-1.<br />
* Attilio Milano: ''Storia degli ebrei in Italia'', Einaudi, Turin 1992, ISBN 88-06-12825-6.<br />
* Christopher Kleinhenz (Hrsg.): ''Medieval Italy'', 2 Bde., Routledge, New York 2004, ISBN 0-415-93930-5.<br />
* {{RGA|15|544|593|Italien|[[Volker Bierbrauer]] u. a.}}<br />
* {{LexMA|5|705|762|Italien}}<br />
* [[David Gilmour, 4. Baronet|David Gilmour]]: ''Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart'', Klett-Cotta, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-608-94770-0.<br />
* [[Christopher Duggan]]: ''A Concise History of Italy'', 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 2013, ISBN 978-0-521-76039-3.<br />
* Christopher Duggan: ''The Force of Destiny. A History of Italy since 1796'', Allen Lane, London 2007, ISBN 978-0-7139-9709-5.<br />
* [[Denis Mack Smith]]: ''Modern Italy. A Political History'', Yale University Press, 1997 (aktualisierte und erweiterte Neuauflage, erstmals 1958 unter dem Titel ''Italy. A modern history'').<br />
* [[Christian Jansen]], [[Oliver Janz]]: ''Geschichte Italiens. Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.'' Kohlhammer, Stuttgart 2023.<br />
* [[Giorgio Candeloro]]: ''Storia dell’Italia moderna'', 11 Bde., Feltrinelli, Mailand 1956–1986 (einst Standardwerk).<br />
<br />
=== Regionen und Städte ===<br />
* Adele Cilento: ''Bisanzio in Sicilia e nel sud dell’Italia'', Magnus, Udine 2005, ISBN 88-7057-196-3<br />
* Thomas Dittelbach: ''Geschichte Siziliens. Von der Antike bis heute'', Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-58790-0<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Medieval Rome. Stability and Crisis of a City, 900–1150'', Oxford University Press, Oxford 2015.<br />
* [[Cinzio Violante]]: ''Economia, società, istituzioni a Pisa nel Medioevo'', Dedalo, Bari 1980.<br />
* [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]: ''Geschichte von Florenz'', Beck, München 2013.<br />
* [[Robert Davidsohn]]: ''Geschichte von Florenz'', 4 Bde., Berlin 1896–1927 (einst Standardwerk, vielfach veraltet, enorme Detailtiefe).<br />
* John M. Najemy: ''A History of Florence, 1200–1575'', Blackwell Publishing, 2006 (ital.: ''Storia di Firenze dal 1200 al 1575'', Einaudi, Turin 2014).<br />
* Teofilo Ossian De Negri: ''Storia di Genova'', Giunti Editore, Florenz, 2003, ISBN 88-09-02932-1<br />
* [[Alberto Tenenti]], [[Ugo Tucci]] (Hrsg.): ''Storia di Venezia'', 12 Bde., Rom 1992–1995.<br />
* [[Giovanni Treccani|Giovanni Treccani degli Alfieri]] (Hrsg.): ''Storia di Milano'', 16 Bde., Mailand 1962.<br />
* [[Alessandro Barbero]]: ''Storia del Piemonte. Dalla preistoria alla globalizzazione.'' Einaudi, Turin 2008.<br />
<br />
=== Wirtschaftsgeschichte ===<br />
* [[Vera Zamagni]]: ''Introduzione alla storia economica d’Italia'', Il Mulino, Bologna 2007 (Einführung, Mittelalter bis Gegenwart), ISBN 978-88-15-12168-4<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica d’Italia. Il Medioevo'', Sansoni, Florenz 1967.<br />
* [[Alfred Doren]]: ''Italienische Wirtschaftsgeschichte'', Jena 1934 (vielfach veraltet, dennoch ein Epochenwerk).<br />
* Valerio Castronovo: ''Storia economica d’Italia. D’all Ottocento ai giorni nostri'', Einaudi, Turin 2006, ISBN 88-06-13621-6<br />
* Rolf Petri: ''Storia economica d’Italia. Dalla Grande guerra al miracolo economico (1918–1963)'', Il Mulino, Bologna 2002.<br />
* Neville Morley: ''Metropolis and Hinterland. The City of Rome and the Italian Economy, 200 BC-AD 200'', Cambridge University Press, 1996.<br />
* Richard A. Goldthwaite: ''The Economy of Renaissance Florence'', The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2009, ISBN 978-0-8018-8982-0<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''Storia economica di Venezia dall’XI al XVI secolo'', Venedig 1961, Nachdruck 1995.<br />
* ''Mercanti e banchieri ebrei'' (= Zakhor. Rivista di storia degli Ebrei d’Italia I), Giuntina, Florenz 1997, ISBN 88-8057-047-1<br />
* [[Paolo Malanima]], Vera Zamagni: ''150 years of the Italian economy, 1861–2010'', in: ''Journal of Modern Italian Studies'' 15 (2010) 1–20.<br />
<br />
=== Vorschriftliche Geschichte ===<br />
* [[Margherita Mussi]]: ''Earliest Italy. An Overview of the Italian Paleolithic and Mesolithic'', Springer, 2001, ISBN 0-306-46463-2.<br />
* John Robb: ''The Early Mediterranean Village. Agency, Material Culture, and Social Change in Neolithic Italy'', Cambridge University Press, 2007, ISBN 978-0-521-84241-9.<br />
* Andrea Pessina, Vincenzo Tiné: ''Archeologia del Neolitico. L’Italia tra VI e IV millennio a.C.'', 2. Auflage. Carocci, Rom 2010, ISBN 978-88-430-4585-3.<br />
* Robert Leighton: ''Sicily before History. An Archaeological Survey from the Palaeolithic to the Iron Age'', Cornell University Press, 1999, ISBN 0-8014-8585-1.<br />
<br />
=== Antike, Frühmittelalter ===<br />
* Furio Durando u. a.: ''Magna Graecia. Kunst und Kultur der Griechen in Italien'', Hirmer, München 2004, ISBN 3-7774-2045-X.<br />
* Sabatino Moscati: ''Italia Punica'', Rusconi, Mailand 1986, 1995 (Tascabili Bompiani 2000).<br />
* [[Moses I. Finley]]: ''Das antike Sizilien. Von der Vorgeschichte bis zur arabischen Eroberung'', dtv, München 1993, ISBN 3-423-04592-2.<br />
* [[Martin Dreher]]: ''Das antike Sizilien'', C. H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-53637-3.<br />
* [[Hans-Joachim Gehrke]], [[Helmuth Schneider (Althistoriker)|Helmuth Schneider]] (Hrsg.): ''Geschichte der Antike. Ein Studienbuch'', 2., erweiterte Auflage. Metzler, Stuttgart 2006, ISBN 3-476-02074-6.<br />
* Neil Christie: ''From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800'', Ashgate Publishing, Aldershot 2006, ISBN 1-85928-421-3.<br />
* Cristina La Rocca (Hrsg.): ''Italy in the Early Middle Ages'', Oxford University Press, Oxford 2002.<br />
* [[Chris Wickham]]: ''Early Medieval Italy. Central Power and Local Society, 400-1000'', University of Michigan Press, Ann Arbor 1990, ISBN 0-472-08099-7.<br />
* [[Walter Pohl]], Peter Erhart (Hrsg.): ''Die Langobarden. Herrschaft und Identität'', Wien 2005. (26 Beiträge zur archäologischen, geschichtswissenschaftlichen und linguistischen Langobardistik, Abteilung 3: ''Langobardische Herrschaft und langobardische Identitäten in Italien''), ISBN 3-7001-3400-2.<br />
* Paolo Cammarosano: ''Storia dell’Italia medievale. Dal VI all’XI secolo'', Laterza, Bari 2001, ISBN 88-420-6338-X.<br />
* [[Ovidio Capitani]]: ''Storia dell’Italia medievale, 410–1216.'' Laterza, Bari 1992, ISBN 88-420-2998-X.<br />
* Dick Harrison: ''The Early State and the Towns. Forms of Integration in Lombard Italy, AD 568–774'', Lund University Press, Lund 1993, ISBN 91-7966-218-8.<br />
* Clemens Gantner, Walter Pohl (Hrsg.): ''After Charlemagne. Carolingian Italy and its Rulers'', Cambridge University Press, 2021.<br />
* [[Salvatore Cosentino]] (Hrsg.): ''A Companion to Byzantine Italy'', Brill, Leiden/Boston 2021 (= Brill’s Companions to the Byzantine World, 8) (zum byzantinischen Italien zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, gegliedert nach den Themen ''Society and Institutions'', ''Communications, Economy and Landscape'' sowie ''Culture and Education''; die Einführung von Cosentino und [[Enrico Zanini]] (byzantinische Archäologie) trägt den Titel ''Mapping the Memory of Byzantine Italy'', unterteilt in ''Written Memory'' und ''Material Sources'').<ref>[https://www.academia.edu/75308645/A_Companion_to_Byzantine_Italy_ed_Salvatore_Cosentino_Brill_Leiden_Boston_2021_Brill_s_Companions_to_the_Byzantine_World_8_33_maps_25_figures_abbreviations_notes_on_contributors_index_pp_XVIII_829 Rezension]</ref><br />
<br />
=== Hoch- und Spätmittelalter, Renaissance ===<br />
* Johannes Bernwieser: ''Honor civitatis. Kommunikation, Interaktion und Konfliktbeilegung im hochmittelalterlichen Oberitalien.'' Herbert Utz, München 2012, ISBN 978-3-8316-4124-6.<br />
* Thomas James Dandelet, John A. Marino: ''Spain in Italy. Politics, Society, and Religion 1500–1700.'' Brill, Leiden 2007, ISBN 978-90-04-15429-2.<br />
* Andrea Gamberini, Isabella Lazzarini (Hrsg.): ''The Italian Renaissance States.'' Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-01012-3.<br />
* Gudrun Gleba: ''Die oberitalienischen Städte vom 12. bis 15. Jahrhundert. Forschungstendenzen der achtziger Jahre.'' In: Zeitschrift für Historische Forschung 20 (1993) 463–483.<br />
* [[Elke Goez]]: ''Geschichte Italiens im Mittelalter''. Primus Verlag, Darmstadt 2010, ISBN 978-3-89678-678-4 ([http://www.sehepunkte.de/2010/12/18082.html Rezension]).<br />
* Kenneth Gouwens: ''The Italian Renaissance. The Essential Sources'', Blackwell Publishing, 2004, ISBN 0-631-23165-X.<br />
* Alberto Grohmann: ''La città medievale.'' Laterza, Bari 2010, ISBN 978-88-420-6844-0.<br />
* Dennys Hay, John Law: ''Italy in the Age of the Renaissance 1380–1530.'' Longman, London/New York 1989, ISBN 0-582-48358-1.<br />
* [[Hagen Keller]]: ''Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien (9.–12. Jahrhundert).'' Niemeyer, Tübingen 1979, ISBN 3-484-80088-7.<br />
* John Larner: ''Italy in the Age of Dante and Petrarch 1216–1380.'' Longman, London/New York 1980, ISBN 0-582-48366-2.<br />
* [[Gino Luzzatto]]: ''An Economic History of Italy. From the Fall of the Roman Empire to the Beginning of the 16th Century.'' 2006 (Nachdruck der 2. Auflage von 1963; italienische Originalausgabe Florenz 1928).<br />
* [[Heike Johanna Mierau]]: ''Kaiser und Papst im Mittelalter'', Böhlau, Köln u. a. 2010, ISBN 978-3-412-20551-5.<br />
* [[Ferdinand Opll]]: ''Zwang und Willkür. Leben unter städtischer Herrschaft in der Lombardei der frühen Stauferzeit.'' Böhlau, Wien 2010 (Aussagen von 80 Zeugen von 1184 bilden die Grundlage), ISBN 978-3-205-78499-9<br />
* [[Bernd Rill]]: ''Sizilien im Mittelalter. Das Reich der Araber, Normannen und Staufer.'' Belser, Stuttgart 1995, ISBN 3-7630-2318-6.<br />
<br />
=== Bis zur Staatsgründung ===<br />
* [[Alberto Mario Banti]]: ''Il Risorgimento italiano'', Laterza, Rom/Bari 2004, ISBN 88-420-7174-9.<br />
* [[Lucy Riall]]: ''Risorgimento. The history of Italy from Napoleon to nation state'', Palgrave Macmillan, 2009, ISBN 978-0-230-21670-9.<br />
* [[Ruggiero Romano]], Corrado Vivanti: ''Storia d’Italia'', Bd. 3: ''Dal primo Settecento all’Unità'', Einaudi, Turin 1973, ISBN 978-88-06-36475-5.<br />
* Alberto Mario Banti, [[Paul Ginsborg]]: ''Storia d’Italia. Annali.'' Bd. 22: ''Il Risorgimento'', Einaudi, Turin 2008, ISBN 978-88-06-16729-5.<br />
* [[Ulrich Wyrwa]]: ''Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg in Preußen'', Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148077-5.<br />
* John Anthony Davis: ''Naples and Napoleon. Southern Italy and the European revolutions (1780–1860)'', Oxford University Press, 2006.<br />
* Marco Severini: ''La Repubblica romana del 1849'', Marsilio, Venedig 2011, ISBN 978-88-317-0803-6.<br />
* Lauro Rossi (Hrsg.): ''Giuseppe Garibaldi. Due secoli di interpretazioni'', Gangemi, Rom 2011, ISBN 978-88-492-6974-1.<br />
* Salvatore Lupo: ''L’unificazione italiana. Mezzogiorno, rivoluzione, guerra civile'', Donzelli, 2011, ISBN 978-88-6036-627-6.<br />
* Gigi Di Fiore: ''Controstoria dell’Unità d’Italia. Fatti e misfatti del Risorgimento'', Rizzoli, Mailand 2010, ISBN 978-88-17-04281-9.<br />
* Gualtiero Boaglio: ''Die Entstehung des Begriffs Italianità'', in: Florika Griessner, Adriana Vignazia (Hrsg.): ''150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen'', Praesens, Wien 2014, S. 66–81.<br />
<br />
=== Königreich und Faschismus ===<br />
* Giuseppe Vottari: ''Storia d’Italia (1861–2001)'', Mailand 2004, ISBN 88-483-0562-8.<br />
* [[Martin Clark (Historiker) |Martin Clark]]: ''Modern Italy, 1871 to the Present'', 3. Auflage. Pearson Longman, Harlow u. a. 2008, ISBN 978-1-4058-2352-4.<br />
* Giulia Brogini Künzi: ''Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?'' Schöningh, Paderborn 2006, ISBN 3-506-72923-3.<br />
* [[Stefan Breuer]]: ''Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-17994-3.<br />
* [[Lutz Klinkhammer]]: ''Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945'', Niemeyer, Tübingen 1993, ISBN 3-484-82075-6.<br />
* [[Carlo Gentile]]: ''Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg. Italien 1943–1945'', Diss. Köln 2008, Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-76520-8.<br />
* Giampiero Carocci: ''Storia degli ebrei in Italia. Dall’emancipazione a oggi'', Newton & Compton, Rom 2005, ISBN 88-541-0372-1.<br />
* [[Regine Wagenknecht]]: ''Judenverfolgung in Italien. 1938–1945. „Auf Procida waren doch alle dunkel“'', Edition Parthas, Berlin 2005, ISBN 3-936324-22-0.<br />
* Monica Fioravanzo: ''Mussolini e Hitler. La Repubblica sociale sotto il Terzo Reich'', Donzelli Editore, Rom 2009, ISBN 978-88-6036-333-6.<br />
* [[Wolfgang Schieder]]: ''Der italienische Faschismus'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60766-0.<br />
* Davide Rodogno: ''Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940–1943)'', Bollati Boringhieri 2003 (Übersetzung ins Englische unter dem Titel ''Fascism’s European Empire. Italian Occupation During the Second World War'', Cambridge University Press, 2006, ISBN 0-521-84515-7).<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
* [[Peter Hertner]]: ''Wirtschafts- und Finanzkrisen im liberalen und faschistischen Italien'', in: [[Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken]] 89 (2009), S. 285–315 ([http://www.perspectivia.net/publikationen/qfiab/89-2009/0285-0135 online]).<br />
<br />
=== Republik (seit 1946) ===<br />
* [[Christian Jansen]]: ''Italien seit 1945'', UTB, Göttingen 2007, ISBN 3-8252-2916-5.<br />
* Dieter Münch: ''Einführung in die politische Geschichte Italiens. 1943–2009'', Baltic Sea Press, Rostock 2009, ISBN 978-3-942129-01-5.<br />
* [[Hans Woller]]: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert'', C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60174-3.<br />
<br />
=== Geschichtsschreibung ===<br />
* [[Andreas Mehl]]: ''Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen'', Kohlhammer, Stuttgart 2001, ISBN 3-17-015253-X.<br />
* Gabriele Zanella: ''Storici e storiografia del Medioevo italiano'', Pàtron, Bologna 1984.<br />
* [[Fulvio Tessitore]]: ''Contributi alla storiografia arabo-islamica in Italia tra Otto e Novecento'', Edizioni di Storia e Letteratura, Rom 2008, ISBN 978-88-6372-054-9.<br />
* William J. Connell: ''Italian Renaissance Historical Narrative'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 347–363.<br />
* Edoardo Tortarolo: ''Italian Historical Writing, 1680–1800'', in: ''The Oxford History of Historical Writing'', Bd. 3, Oxford University Press, 2012, S. 364–383.<br />
* Silvia Riccardi: ''Die Erforschung der antiken Sklaverei in Italien vom Risorgimento bis Ettore Ciccotti'', Steiner, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07137-7.<br />
* Eugenio Di Rienzo: ''Storia d’Italia e identità nazionale. Dalla grande guerra alla Repubblica'', Le Lettere, Florenz 2006, ISBN 88-7166-986-X.<br />
* Angelo D’Orsi, Patrizia Cancian, Bruno Bongiovanni: ''La città, la storia, il secolo. Cento anni di storiografia a Torino'', Il Mulino, Florenz 2001, ISBN 978-88-15-07802-5.<br />
* Umberto Massimo Miozzi: ''La scuola storica romana 1926–1943'', Rom 1982, ISBN 88-8498-105-0.<br />
* Norbert Campagna, Stefano Saracino: ''Staatsverständnisse in Italien. Von Dante bis ins 21. Jahrhundert'', Nomos, 2018.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|History of Italy|Geschichte Italiens}}<br />
{{Wikisource|Italien}}<br />
'''Archive, Quellen'''<br />
* [http://www.ilmondodegliarchivi.org/ ''Il Mondo degli Archivi online'']<br />
* [http://eudocs.lib.byu.edu/index.php/History_of_Italy:_Primary_Documents ''History of Italy: Primary Documents''], EuroDocs: Online Sources for European History, [[Brigham Young University]]<br />
* Malte König: [https://guides.clio-online.de/guides/regionen/italien/2023 ''Italien''], in: ''[[Clio-online|Clio Guide]] – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften'', 2023<br />
'''Jüdische Geschichte Italiens'''<br />
* [http://moked.it/vita-ebraica/ebrei-in-italia/ ''Ebrei in Italia''], in: ''moked/מוקד. il portale dell’ebraismo italiano'', 8. Juli 2008<br />
* [http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005455 ''Italy''], in: ''Holocaust Encyclopedia'', 23. März 2010, [[United States Holocaust Memorial Museum]]<br />
<br />
== Anmerkungen ==<br />
<references responsive /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Geschichte nach Staat/Europa}}<br />
<br />
{{Lesenswert|4. März 2012|100412535}}<br />
<br />
[[Kategorie:Italienische Geschichte| ]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fasces&diff=255675018Fasces2025-05-03T00:35:58Z<p>ImageUploader12345: /* Republik und politische Linke in Italien */ Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dieser Flaggen neben Nazi-Flaggen bei einer</p>
<hr />
<div>[[Datei:Faisceaux (Rome).jpg|mini|hochkant=0.6|Antikes [[Römisches Reich|römisches]] Relief zweier [[Liktor]]enbündel mit seitlichem Beil]]<br />
[[Datei:Emblem of Cispadane Republic.svg|mini|hochkant=0.6|Emblem der Cispadanischen Republik (1797)]]<br />
[[Datei:Seal of the United States Senate.svg|mini|hochkant=0.6|Republikanische Liktorenbündel im Siegel des [[Senat der Vereinigten Staaten|Senats der Vereinigten Staaten]] (seit 1876)]]<br />
Die '''Fasces''' (von Plural {{LaSkl|Fasces}}) ist ein [[Bündel]] aus mehreren [[Holz|hölzernen]] [[Zweig|Ruten]] (daher oft auch '''Rutenbündel''' genannt), in denen ein [[Richtbeil (Strafvollzug)|Beil]] steckt. In der Antike war es das Amtssymbol der höchsten Machthaber bei den [[Etrusker]]n und später im [[Römisches Reich|Römischen Reich]]. Die Fasces wurden diesen von ihren Amtsdienern, den [[Liktor]]en, vorangetragen, und werden daher auch '''Liktorenbündel''' genannt ({{LaSkl|Fasces Lictoriae}}, [[Französische Sprache|französisch]]: ''faisceau de licteur'', [[Italienische Sprache|italienisch]]: ''fascio littorio'', [[Englische Sprache|englisch]]: ''lictor’s fasces'').<br />
<br />
In neuerer Zeit wird das Liktorenbündel von Staaten verwendet, die einen Bezug zum Römischen Reich herstellen möchten, etwa von [[Frankreich]] und den [[Vereinigte Staaten von Amerika|Vereinigten Staaten von Amerika]]; aber auch das [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|faschistische Italien]] und die faschistische [[Wappen Italiens#Faschistische Sozialrepublik (1943–1945)|Sozialrepublik (RSI)]] verwendeten dieses Machtsymbol. Eine mögliche Deutung könnte die Symbolik sein, dass ein einzelner Stab leichter zu brechen ist als ein Stabbündel. Das Beil stand als Symbol für die [[Todesstrafe]], die von den Amtsträgern angeordnet werden konnte.<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
=== Etruskische Ursprünge ===<br />
Das Rutenbündel mit Beil ist seit den Anfängen der etruskischen Geschichte belegt. In einem in der südlichen Toskana gelegenen Grab bei [[Vetulonia]] (etruskisch [[Liste etruskischer Ortsnamen|Vatluna]]) fand man ein solches Rutenbündel in verkleinertem Maßstab als Weihegabe. Das Artefakt ist aus Eisen hergestellt und stammt aus dem 7.&nbsp;Jahrhundert v.&nbsp;Chr. Bei dem beigefügten Beil handelt es sich um eine Doppelaxt.<ref>[[Jacques Heurgon]]: ''Die Etrusker.'' 4. Auflage. Reclam, Stuttgart 1993, ISBN 3-15-010400-9, S. 66.</ref><br />
<br />
Die Fasces als Attribute der Macht werden auch von den antiken Autoren als spezifisch etruskisch beschrieben. Nach [[Silius Italicus]], einem Dichter aus der Zeit der [[Flavier]], wurde das Rutenbündel in Vetulonia entwickelt.<ref>Silius Italicus, ''Punica'' VIII, 483 ff.</ref> Die Rutenbündel tragenden Amtsdiener zählten bei den etruskischen Herrschern ebenso zu den Insignien ihrer Macht wie das [[Zepter]], die bestickte [[Toga]] ''(toga praetexta)'' und ein Herrscherstuhl ''(sella curulis)''. Die Axt besaß bereits bei den Mittelmeerkulturen auf [[Kreta]] und [[Sardinien]] einen politischen und religiösen Charakter. Die mediterranen Kulturströmungen brachten die Doppelaxt als Attribut der Macht in das archaische Italien, wo die Axt zur Waffe und zum Symbol des Anführers wurde.<ref>[[Massimo Pallottino]]: ''Etruskologie: Geschichte und Kultur der Etrusker.'' 7. Auflage, Springer, Basel 1988, ISBN 3-0348-6048-X, S.&nbsp;297–298.</ref><br />
<br />
=== Römisches Reich ===<br />
Die Römer übernahmen von den Etruskern zahlreiche kulturelle Errungenschaften, darunter auch viele zeremonielle Bräuche und äußere Attribute der Herrschergewalt. Die Fasces wurden zunächst den [[Liste der altrömischen Könige|römischen Königen]], nach deren Vertreibung dann den mit [[Imperium (Rom)|Imperium]] ausgestatteten Amtsträgern der Republik, also v.&nbsp;a. [[Konsulat (Römisches Reich)|Konsuln]], [[Praetur|Prätoren]] und [[Römischer Diktator|Diktatoren]], vorangetragen. Auch die Promagistrate, als Statthalter fungierende ehemalige Konsuln oder Prätoren, führten die Fasces. Während eines [[Römischer Triumph|Triumphzugs]] wurden auch dem triumphierenden Feldherrn von ausgezeichneten Angehörigen seines Heeres die Fasces vorangetragen. Diese Verwendung blieb auch im [[Prinzipat]] bestehen, welches die republikanischen Ämter unangetastet ließ.<br />
<br />
Seit den Anfängen der Republik konnten römische Bürger nicht ohne Weiteres zum Tode verurteilt werden bzw. konnten gegen Urteile des Amtsträgers an das Volk appellieren. Aus diesem Grund ließen die Konsuln die Beile erst außerhalb der [[Pomerium|römischen Stadtgrenze]] einstecken. Einen Sonderfall bildet hierbei jedoch der Diktator, der als Zeichen seiner unbeschränkten Macht auch innerhalb der Stadtgrenze die Fasces mit eingesetztem Beil führte.<br />
Die Anzahl der dem jeweiligen Amtsträger vorangetragenen Fasces drückte dessen Rang aus. Führten die Konsuln zwölf Rutenbündel, wurden einem Prätor nur sechs Fasces vorangetragen. Ein Diktator dagegen führte 24 Rutenbündel.<br />
<br />
=== Frankreich: Französische Revolution und Republik ===<br />
[[Datei:Coat of arms of the French First Republic.svg|mini|hochkant=0.6|Modernes republikanisches Liktorenbündel mit mittigem Beil im Wappen der [[Erste Französische Republik|Ersten Französischen Republik]] (1791–1804)]]<br />
Nach dem Untergang des Römischen Reiches wurden das Liktorenbündel als Symbol erst wieder im Zuge der [[Französische Revolution|Französischen Revolution]] aufgegriffen, wo es ab Frühjahr 1790 als Symbol der Einigkeit und – nach dem Ende der Monarchie im Jahr 1792 – zusätzlich als Symbol der Republik diente. Zusammen mit dem Streithahn, der [[Kokarde (Abzeichen)#Die Coquarde in Frankreich|Coquarde]], der [[Phrygische Mütze#Jakobinermütze|Jakobinermütze]] und später der [[Trikolore]], wurde das Liktorenbündel ein französisches Staatssymbol. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Liktorenbündel in Frankreich lange nicht mehr öffentlich gezeigt, da das Symbol durch dessen Gebrauch im italienischen Faschismus diskreditiert war. Erst unter Präsident [[Valéry Giscard d’Estaing]] (1974–1981) wurde es als Emblem wieder verwendet.<ref name ="Pfeifer">Gustav Pfeifer: ''Unicipal Heraldry in Fascist Italy: The Case of the Bozen Civic Arms (1926–1943).'' In: ''The Coat of Arms. The journal of the Heraldry Society.'' Third series, Volume IV, Part 2, 2010, S. 81–100, hier S. 86. ([https://www.theheraldrysociety.com/wp-content/uploads/2019/10/CoA-220-Pfeifer-paper.pdf online])</ref><br />
<br />
=== Republik und politische Linke in Italien ===<br />
[[Datei:Flag of the Repubblica Cispadana.svg|mini|hochkant=0.6|links|Flagge der [[Cispadanische Republik|Cispadanischen Republik]] (1797)]]<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|mini|hochkant=0.6|links|Liktorenbündel auf der [[Flagge Italiens#Zeit des Faschismus|Parteifahne]] der [[Italienischer Faschismus|Faschisten]]]]<br />
Meist wird davon ausgegangen, dass die Bezeichnung „[[Faschismus]]“ (it. ''Fascismo'') vom Begriff der Fasces abgeleitet worden ist. Der Ausdruck ''fasci'' wurde in der italienischen Politik bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, allerdings in erster Linie von Sozialisten, [[Gewerkschaft|Syndikalisten]] und [[Republikanismus|Republikanern]]. Die als eine Art von außerparlamentarischer Opposition gegründeten Landarbeiterzusammenschlüsse ''fasci dei lavoratori'' oder ''[[fasci siciliani]]'' waren offenbar die Wortschöpfer dieses Begriffs.<ref>[[Sven Reichardt]]: ''Prinzipien und Praxis der Organisationen''. In: ''Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA.'' Böhlau, Köln/Weimar/Wien, 2. durchgesehene Auflage 2009, ISBN 978-3-412-13101-2.</ref><ref>Grazia Ambrosio: ''Le origini proletarie del fascio littorio.'' In: ''Storia Illustrata.'' Nr. 333, August 1985, {{ZDB|1256702-4}}, S. 125.</ref> Das Symbol erscheint bereits als Logo der Arbeiterzeitung ''[[Es muß Tag werden!]]'' im Jahr der [[Deutsche Revolution 1848/1849|Märzrevolution]] 1848. Weiterhin scheinen die ''fasces'' bei den Parlamentswahlen am 11. November 1919 aufgetaucht zu sein.<ref>[[Gert Buchheit]]: ''Mussolini und das neue Italien.'' Neff, Berlin 1938, S. 106.</ref><br />
<br />
== Liktorenbündel im italienischen Faschismus ==<br />
[[Datei:National Fascist Party logo.svg|mini|hochkant=0.6|Liktorenbündel im Parteiabzeichen der [[Partito Nazionale Fascista|italienischen Faschisten]] (1926–1943).]]<br />
Erst später wurden sie zum Parteiabzeichen des ''[[Partito Nazionale Fascista]]'' auserkoren. [[Benito Mussolini]] wollte in seiner Bildsprache an Ruhm und Glanz des Römischen Weltreichs anknüpfen und wählte für seine politische Bewegung das Zeichen der [[Liktor]]en aus. Er selbst erklärte dazu später: Der Faschismus fordere „Disziplin und eine Autorität, die in die Geister eindringt und darin unumstritten herrscht. Sein Wahrzeichen ist daher das Liktorenbündel, das Symbol der Einheit, der Kraft und der Gerechtigkeit“.<ref>Arnold Rabbow: ''dtv-Lexikon politischer Symbole. A–Z'' (= ''dtv'' 3084). Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1970, S.&nbsp;77.</ref> Mit [[Akte mit Gesetzeskraft#Gesetzesdekret (decreto legge)|Gesetzesdekret]] vom 12. Dezember 1926 wurde das Liktorenbündel ein offizielles Staatsemblem des Königreichs Italien.<ref>{{Internetquelle|url=http://www.infoleges.it/service1/scheda.aspx?service=1&id=95944|werk=infoleges.it|titel=Regio Decreto Legge 12 Dicembre 1926, n. 2061|abruf=2020-10-22|sprache=it}}</ref> Während des Zweiten Weltkriegs waren die Fasces auch das Hoheitsabzeichen auf den Flugzeugen der italienischen Luftwaffe, der ''[[Geschichte der italienischen Luftstreitkräfte#Regia Aeronautica|Regia Aeronautica]]''.<br />
<br />
Auch das aus der Zeit des Faschismus stammende [[Siegesdenkmal (Bozen)|Bozner Siegesdenkmal]] (errichtet 1926/28 von [[Marcello Piacentini]] mit der dort formulierten ''liktorischen Säulenordnung'')<ref>{{Literatur | Autor = Sabrina Michielli, [[Hannes Obermair]] (Red.) | Titel = BZ ’18–’45: ein Denkmal, eine Stadt, zwei Diktaturen. Begleitband zur Dokumentations-Ausstellung im Bozener Siegesdenkmal |Ort = Wien-Bozen | Verlag = Folio Verlag | Jahr = 2016| ISBN = 978-3-85256-713-6| Seiten=89 und 95 (mit Abb.)}}</ref> und das Abzeichen der [[29. Waffen-Grenadier-Division der SS (italienische Nr. 1)|italienischen Division der Waffen-SS]] führten die Fasces.<br />
<br />
== Heutige Verwendung in der Symbolik ==<br />
[[Datei:Declaration of Human Rights.jpg|mini|''Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen''. Die [[Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte]] in einer Darstellung von Jean-Jacques Le Barbier]]<br />
[[Datei:Barack Obama adresses to Congress.jpg|mini|Präsident Barack Obama hält eine Rede vor dem [[Kongress der Vereinigten Staaten|US-Kongress]]. Im Hintergrund sind links und rechts von der US-Flagge die vergoldeten Fasces zu sehen. Die Schnittkanten der Beile weisen dabei auf die US-amerikanische Flagge.]]<br />
<br />
Das aktuelle [[Wappen Frankreichs|Hoheitszeichen Frankreichs]], der spanischen [[Guardia Civil]], das Wappen des Schweizer [[Kanton St. Gallen|Kantons St. Gallen]] und auch das [[Wappen Kameruns|Staatswappen von Kamerun]] zeigen ein Liktorenbündel, zum Teil verdeckt. Das auch auf der [[Flagge Ecuadors|Nationalflagge]] verwendete [[Wappen Ecuadors]] zeigt jeweils ein Rutenbündel.<br />
<br />
In den USA wird das Symbol häufig verwendet, u.&nbsp;a. das Siegel des [[Senat der Vereinigten Staaten|Senats der Vereinigten Staaten]] und das Siegel des [[Nationalgarde der Vereinigten Staaten|''National Guard Bureau'']] mit zwei gekreuzten Liktorenbündeln. Ebenso findet es sich mehrfach zu Füßen (im vom unmittelbar vor dem Gebäude stehenden Fußgänger nicht einsehbaren Sockel) der die Kuppel des Washingtoner [[Kapitol (Washington)|Kapitols]] zierenden Freiheitsstatue und auch links und rechts des Rednerpults im [[Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten|Repräsentantenhaus der USA]].<br />
<br />
== Abbildungen ==<br />
<gallery caption="Abbildungen"><br />
DEU Breitenheim COA.svg|[[Breitenheim]] (Rheinland-Pfalz)<br />
DEU Legau COA.svg|[[Legau]] (Bayern)<br />
DEU Ühlingen-Birkendorf COA.svg|[[Ühlingen-Birkendorf]] (Baden-Württemberg)<br />
Wappen_Zarten.png|[[Kirchzarten#Gemeindegliederung|Kirchzarten-Zarten]] (Baden-Württemberg)<br />
Coat of arms of canton of St. Gallen.svg|[[Fahne und Wappen des Kantons St. Gallen|Kanton St. Gallen]]<br />
Tolochenaz-coat of arms.svg|[[Tolochenaz]] im Kanton Waadt<br />
Grand Coat of arms of Vilnius.svg|Schildhalter im Wappen von [[Vilnius]] (Litauen)<br />
Emblem of the Spanish Civil Guard.svg|Emblem der [[Guardia Civil]] (Spanien)<br />
Coat of arms of Ecuador original version.svg|[[Wappen Ecuadors]]<br />
Coat of arms of Cameroon.svg|[[Wappen Kameruns]]<br />
Escudo_de_Norte_de_Santander.svg|Wappen des [[Departamento de Norte de Santander]] (Kolumbien)<br />
Lincoln Memorial (Lincoln contrasty).jpg|Rutenbündel an den Armlehnen des [[Lincoln Memorial]]<br />
Mercury dime reverse.jpg|[[Revers (Numismatik)|Revers]] der [[Dime (Vereinigte Staaten)|10-Cent-Münze]] („Mercury“ Dime von 1936)<br />
US-Courts-AdministrativeOffice-Seal.svg|Siegel des Administrative Office of the United States Courts<br />
Seal of the National Guard Bureau (US).svg|Siegel des [[Nationalgarde der Vereinigten Staaten|National Guard Bureau]] (US-Nationalgarde)<br />
Seal_of_Colorado.svg|Siegel des US-Bundesstaats [[Siegel Colorados|Colorado]]<br />
Coat of arms of Cardinal Mazarin.svg|Wappenschild [[Jules Mazarin|Kardinal Mazarins]] (1602–1661)<br />
De Bataafse Maagd.jpg|Wappen der [[Batavische Republik|Batavischen Republik]] (1796)<br />
Great_Seal_of_France.svg|[[Zweite Französische Republik]] (1848–1852)<br />
Middle coat of arms of the French Republic (1905–1953).svg|Überarbeitetes Staatssymbol der [[Dritte Französische Republik|Dritten (1870–1940)]] sowie später [[Vierte Französische Republik|Vierten Republik (1946–1958)]]<br />
Coat_of_arms_of_the_French_Republic.svg|Staatssymbol der [[Fünfte Französische Republik|Fünften Republik]]<br>(1958–heute)<br />
Armoiries_république_française.svg|Ehemaliges Emblem des [[Staatspräsident (Frankreich)|Staatspräsidenten Frankreichs]] ([[Hoheitszeichen Frankreichs]])<br />
</gallery><br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references/><br />
<br />
== Literatur ==<br />
* T. Corey Brennan: ''The fasces: a history of ancient Rome’s most dangerous political symbol''. Oxford University Press, New York 2022, ISBN 978-0-19-764488-1.<br />
* [[Antje Middeldorf Kosegarten|Antje Middeldorf-Kosegarten]]: ''[http://www.rdklabor.de/wiki/Fasces Fasces].'' In: ''[[Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte]].'' Band 7: ''Farbe, Farbmittel – Fensterladen.'' Beck, München 1981, ISBN 3-406-14007-6, Sp. 461–496.<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
<br />
* [[Faschine]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Fasces|3=S}}<br />
* {{LiviusNeu|concept|fasces|||Fasces|}}<br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4223181-4}}<br />
<br />
[[Kategorie:Insigne]]<br />
[[Kategorie:Nationales Symbol (Römisches Reich)]]<br />
[[Kategorie:Wappenfigur]]<br />
[[Kategorie:Faschismus]]<br />
[[Kategorie:Kanton St. Gallen]]<br />
[[Kategorie:Nationales Symbol (Ecuador)]]<br />
[[Kategorie:Lateinische Phrase]]<br />
[[Kategorie:Holzprodukt]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Flagge_Italiens&diff=255675004Flagge Italiens2025-05-03T00:33:09Z<p>ImageUploader12345: /* Zeit des Faschismus */ Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dieser Flaggen neben Nazi-Flaggen bei einer Veranstaltung des fa</p>
<hr />
<div>{{Infobox Flagge<br />
| Name= Flagge Italiens<br />
| Bild= Flag of Italy.svg<br />
| Vexillologisches Symbol= {{FIAV|111000}}<br />
| Seitenverhältnis= 2:3<br />
| Offiziell angenommen= 19. Juni 1946,<br /> abgewandelt am<br /> 28. Juli 2006<br />
}}<br />
<br />
Die '''Flagge Italiens''' ({{itS|Bandiera d’Italia}}, amtlich: {{lang|it|''Bandiera della Repubblica Italiana''}}, ''il tricolore italiano'') ist das bedeutendste [[Staatssymbole Italiens|Staatssymbol]] der [[Italien|Italienischen Republik]]. Die italienische [[Nationalflagge]] ist eine [[Trikolore]] mit drei senkrechten Streifen in Grün, Weiß und Rot. In der heute verwendeten Form mit exakt festgelegten Farbtönen ist sie seit dem 28. Juli 2006 in Gebrauch.<br />
<br />
Die Geschichte der Flagge lässt sich bis in die 1790er Jahre zurückverfolgen, da es sich um einen modifizierten französischen [[Revolutionsexport]] handelt. Am 7. Januar 1797 nahm in [[Reggio Emilia]] die [[Cispadanische Republik]], ein Vorläufer des [[Napoleon Bonaparte|napoleonischen]] [[Königreich Italien (1805–1814)|Königreichs Italien (1805–1814)]], die Flagge offiziell an, damals noch mit horizontaler Ausrichtung der Streifen. Am 7. Januar jedes Jahres wird in Italien der „Feiertag der Trikolore“ ''(Festa del Tricolore)'' begangen.<br />
<br />
== Aussehen und Bedeutung ==<br />
[[Datei:2016 - Vittoriano (Rome) 13.jpg|mini|Nationalflagge Italiens, [[Monumento a Vittorio Emanuele II|Vittoriano]], Rom]]<br />
<br />
Das Aussehen der Flagge ist in Artikel 12 der [[Verfassung der Italienischen Republik|italienischen Verfassung]] vom 1. Januar 1948 festgelegt:<ref>{{Webarchiv|url=https://www.landtag-bz.org/download/Verfassung_Italien.pdf |wayback=20230425125452 |text=Italienische Verfassung in deutschem Wortlaut |archiv-bot=2025-02-05 15:16:37 InternetArchiveBot }} (PDF; 170&nbsp;kB) Internetseite des Südtiroler Landtags</ref><br />
<br />
{{Zitat<br />
|Text=La bandiera della Repubblica è il tricolore italiano: verde, bianco e rosso, a tre bande verticali di eguali dimensioni.<br />
|Sprache=it<br />
|Übersetzung=Die Flagge der Republik ist die italienische Trikolore: grün, weiß und rot, in drei senkrechten Streifen von gleichem Ausmaß.}}<br />
<br />
Die Flagge hat ein [[Seitenverhältnis]] von 2:3.<br />
<br />
Bis Juni 1946 war die Flagge mit dem Wappen des [[Haus Savoyen|Königshauses Savoyen]] auf dem weißen Mittelstreifen in Gebrauch. Nach Ausrufung der [[Republik]] wurde das Wappen am 19. Juni 1946 offiziell entfernt und diese neue Version am 1. Januar 1948 in Verfassungsrang erhoben. Im Jahr 2003 wurden die Farben von der [[Kabinett Berlusconi II|Regierung Berlusconi]] erstmals genau definiert: Statt der bis dato meist verwendeten kräftigen Farbtöne war das Grün der Flagge nun mehr lindgrün (18-5642TC), das Weiß nun leicht elfenbeinfarben (11-4201TC) und das Rot etwas blasser (18-1660TC). Aufgrund dieser Definition kam es zu einem [[Flaggenstreit#Die exakte Farbgebung der Flagge Italiens|Flaggenstreit]] zwischen der rechtsorientierten Regierung und der linksorientierten Opposition, die diese Änderung als „farblichen Staatsstreich“ bezeichnete. Später erklärte [[Silvio Berlusconi|Berlusconi]], dass es sich bei den Farbtönen, die verwendet wurden, um einen „technischen Fehler“ gehandelt habe.<br />
<br />
Am 28. Juli 2006 wurden die Farben unter der linksgerichteten Regierung [[Romano Prodi]]s daher nochmals neu gemäß folgenden Farbcodes spezifiziert und als Grün, Weiß und Scharlachrot umdefiniert:<ref>[https://flagspot.net/flags/it.html#color ''Italy''.] Flags of the World (englisch)</ref><br />
<br />
{| style="width: 60%; background: #F9F9F9; border: 1px solid #AAAAAA; border-collapse: collapse; white-space: nowrap; text-align: left;" border="1" cellpadding="2" cellspacing="0"<br />
|- style="text-align: center; background: #EEEEEE;"<br />
!<br />
! style="background:#008C45;color:#FFFFFF;" title="#008C45"| Grün<br />
! style="background:#F4F5F0" title="#F4F5F0"| Weiß<br />
! style="background:#CD212A;color:#FFFFFF;" title="CD212A"| Rot<br />
|-<br />
| [[Pantone Matching System|Pantone]]<br />
| 17-6153 TCX ''(Fern Green)''<br />
| 11-0601 TCX ''(Bright White)''<br />
| 18-1662 TCX ''(Flame Scarlet)''<br />
|-<br />
| [[CMYK]]<br />
| C:100 M:000 Y:100 K:000<br />
| C:000 M:000 Y:000 K:005<br />
| C:000 M:100 Y:100 K:000<br />
|-<br />
| [[RGB-Farbraum|RGB]]<br />
| R:000 G:140 B:069<br />
| R:244 G:245 B:240<br />
| R:205 G:033 B:042<br />
|-<br />
| [[Hexadezimalsystem|HEX]]<br />
| #008C45<br />
| #F4F5F0<br />
| #CD212A<br />
|}<br />
<br />
<gallery style="text-align:center" widths="150"><br />
Flag of Italy (1946–2003).svg|<small>2:3</small> {{FIAV|historical}}{{FIAV|111010}} Flagge Italiens, 1946 bis 2003<br />
Flag of Italy (2003–2006).svg|<small>2:3</small> {{FIAV|historical}}{{FIAV|111010}} Flagge Italiens, 2003 bis 2006<br />
Flag of Italy.svg|<small>2:3</small> {{FIAV|111010}} Flagge Italiens seit 2006<br />
</gallery><br />
<br />
Da die Flagge im napoleonischen Italien entstand, richtet sie sich grundsätzlich am französischen [[Flagge Frankreichs|Revolutionsvorbild]] aus. Dass davon abweichend die italienische Trikolore einen grünen statt einen blauen Streifen hat, ist wohl auf die grünen Uniformen der damaligen Mailänder Stadtmiliz zurückzuführen, ansonsten auf die Mailänder Stadtfarben Rot und Weiß. Im Lauf der Zeit kamen zum Teil sehr phantasievolle Interpretationen auf, was die Bedeutung der Farben betrifft: Noch während der napoleonischen Zeit schrieb man dem Grün die [[Naturrecht]]e der Gleichheit und Freiheit zu. Anderen Zuschreibungen zufolge steht das Grün für die Hoffnung, Weiß für den Glauben und Rot für die Liebe ([[Theologische Tugenden]], {{B|1 Kor|13|13|EU}}); in diesem Zusammenhang ist rückblickend darauf hingewiesen worden, dass im bedeutendsten Werk der [[Italienische Literatur|italienischen Literatur]], in [[Dante Alighieri|Dantes]] [[Göttliche Komödie|Göttlicher Komödie]], unter anderem [[Beatrice Portinari|Beatrice]] im ''Paradiso Terrestre'' in grün-weiß-rotem Gewand erscheint.<ref>{{Webarchiv|url=http://www.literary.it/dati/literary/c/ciccia/allegorie_e_simboli_nel_purgato2.html |wayback=20230425125456 |text=Carmelo Ciccia: ''Allegorie e simboli nel Purgatorio'' (VII. Nel Paradiso Terrestre; Purg. XXIX, 121–126; XXX, 31–33) Literary 9/2009, auf literary.it |archiv-bot=2025-02-05 15:16:37 InternetArchiveBot }}</ref> Verbreitet ist heute die Ansicht, Grün stehe für Natur und die Landschaft oder die Ebenen, Weiß für die Farbe der Gletscher der Alpen oder den Schnee auf den Bergen und Rot für das Blut, das in den italienischen [[Risorgimento|Freiheits- und Einigungskämpfen]] vergossen wurde oder allgemein für die in Kriegen Gefallenen.<br />
<br />
== Sonderformen ==<br />
Italien kennt seit 1946 keine im Aussehen von der Nationalflagge abweichende [[Dienstflagge]] mehr. Die [[Truppenfahne]]n entsprechen in der farblichen Gestaltung der Nationalflagge, messen jedoch 99&nbsp;× 99&nbsp;cm (Seitenverhältnis 1:1). Für Seefahrzeuge gibt es spezielle Flaggen.<br />
<br />
=== Flaggen zur See ===<br />
Auf der [[Seekriegsflagge]] und auf der [[Handelsflagge]] sind die Wappen der vier größten italienischen [[Seerepubliken]] des Mittelalters (und der frühen Neuzeit) zu sehen: [[Republik Venedig|Venedig]], [[Republik Genua|Genua]], [[Geschichte Pisas|Pisa]] und [[Herzogtum Amalfi|Amalfi]]. Auf der mit einer [[Römische Marine|römischen]] [[Corona Navalis|Schiffskrone]] verzierten Seekriegsflagge hält der geflügelte [[Markuslöwe]] ein Schwert, auf der Handelsflagge ein Buch. Behördenboote führen eine Trikolore mit dem [[Wappen Italiens|Emblem der Republik]] auf dem Mittelstreifen.<br />
<br />
<gallery class="center" widths="150"><br />
State Ensign of Italy.svg|{{FIAV|000010|1}} Flagge für Behördenboote<br />
Civil Ensign of Italy.svg|{{FIAV|000100|1}} Handelsflagge<br />
Naval Ensign of Italy.svg|{{FIAV|000001}} Seekriegsflagge der [[Marina Militare|Kriegsmarine ({{lang|it|''Marina Militare''}})]]<br />
Naval Jack of Italy.svg|[[Gösch (Seefahrt)|Gösch]] der Kriegsmarine<br />
</gallery><br />
<br />
=== Präsidentenstandarte ===<br />
Die [[Standarte]] des [[Präsident der Italienischen Republik|Präsidenten der Italienischen Republik]] entsprach von 1946 bis 1965 der Nationalflagge. Bis zum Jahr 2000 war die Standarte blau, in der Mitte war das Emblem der Republik zu sehen. Die derzeit genutzte Standarte wurde 2000 von Präsident [[Carlo Azeglio Ciampi]] eingeführt, 2001 folgte die für die Altpräsidenten. Seit 1986 führt der Präsident des [[Senato della Repubblica|Senats]] eine Standarte, solange er die Aufgaben des Staatsoberhaupts übernimmt, wenn dieser verhindert ist, beispielsweise im Krankheitsfall oder bei Auslandsaufenthalt.<br />
<br />
<gallery class="center" widths="150"><br />
Flag of the President of Italy.svg|Standarte des Staatspräsidenten<br />
Standard of Presidents Emeritus of Italy.svg|Standarte ehemaliger Staatspräsidenten<br />
Substitute President standard of Italy.svg|Senatspräsident in Funktion des Staatsoberhaupts<br />
</gallery><br />
<br />
== Geschichte ==<br />
=== Die italienischen Staaten ===<br />
{{Hauptartikel|Liste der Flaggen historischer Staaten in Italien}}<br />
<br />
Bereits seit dem Mittelalter hatten viele [[Liste der historischen Staaten in Italien|Staaten im heutigen Italien]] Flaggen im Gebrauch, die teilweise noch heute als Regionalflaggen im Gebrauch sind. Bekannte Beispiele sind die [[Flagge Genuas]] mit dem roten [[Georgskreuz]] auf weißem Grund und die [[Flagge der Republik Venedig|Flagge Venedigs]] mit dem geflügelten Markuslöwen.<br />
<br />
=== Vorgänger und Entstehung der Nationalflagge ===<br />
[[Datei:Flag of the Repubblica Cispadana.svg|mini|hochkant=0.6|links|Flagge der [[Cispadanische Republik|Cispadanischen Republik]] (1796–1797)]]<br />
[[Datei:Flag of the Repubblica Transpadana.svg|mini|hochkant=0.6|Flagge der [[Transpadanische Republik|Transpadanischen Republik]] (1796–1797)]]<br />
[[Datei:Flag of the Repubblica Cisalpina.svg|mini|hochkant=0.6|Flagge der [[Cisalpinische Republik|Cisalpinischen Republik]] (1797–1802)]]<br />
<br />
Amtlich festgehalten ist, dass Anhänger der [[Französische Revolution|Französischen Revolution]] am 21. August 1789 in [[Genua]] mit grün-weiß-roten [[Kokarde (Abzeichen)|Kokarden]] gesehen wurden, wobei sie irrtümlich Grün statt Blau verwendeten.<ref>Nicola Ferorelli: {{Webarchiv|url=http://www.risorgimento.it/rassegna/index.php?id=10511&ricerca_inizio=0&ricerca_query=&ricerca_ordine=DESC&ricerca_libera= |wayback=20190331181159 |text=''La vera origine del tricolore italiano''. |archiv-bot=2025-02-05 15:16:37 InternetArchiveBot }} In: ''Rassegna storica del Risorgimento'', vol. XII, fasc. III, 1925, S.&nbsp;662 (italienisch)</ref> Belegt ist auch, dass solche Kokarden im Herbst 1794 während eines Aufstandes gegen den [[Kirchenstaat]] in [[Bologna]] von den Studenten Luigi Zamboni und Giovanni Battista De Rolandis getragen wurden und möglicherweise einen Einfluss auf die Wahl der Farben der Flagge hatten.<ref>{{Webarchiv |url=https://www.nanopress.it/cultura/2014/06/30/il-significato-dei-colori-della-bandiera-italiana-cosa-rappresentano-verde-bianco-e-rosso/19005/ |text=''Il significato dei colori della bandiera italiana'' auf nanopress.it |wayback=20180603051900}} (italienisch)</ref> Anderen Quellen zufolge war das Grün in jenem Fall dem Zufall zuzuschreiben.<ref>Marco Poli: ''Brigida Borghi Zamboni, la madre dell’eroe. Per una rilettura del caso Zamboni-De Rolandis''. In: ''Strenna storica bolognese'', anno L, 2000, S.&nbsp;415–450 (italienisch)</ref> Während des [[Italienfeldzug (Erster Koalitionskrieg)|Italienfeldzuges]] [[Napoleon Bonaparte]]s unterstützten viele italienische [[Jakobiner]] die Revolutionstruppen, weil man dem [[Absolutismus]] in den italienischen Staaten ein Ende setzten wollte. Viele Städte und Gemeinden Italiens ließen 1796 die [[Flagge Frankreichs|französische Trikolore]] hissen. In [[Mailand]] entstand 1796 aus der kleinen städtischen Miliz erst eine „[[Nationalgarde]]“ und kurz darauf die ''Legione Lombarda'', ein Militärverband der [[Transpadanische Republik|Transpadanischen Republik]] Napoleons, deren 1. [[Kohorte]] am 6. November jenes Jahres auf dem Mailänder [[Piazza del Duomo (Mailand)|Domplatz]] eine grün-weiß-rote [[Truppenfahne]] erhielt. Grund für die Farbkombination war, neben der Anlehnung an die französische Trikolore, die seit 1782 grüne Uniform dieser Miliz und die [[Stadtfarben]] Mailands: Weiß und Rot. Die drei Streifen der Fahne waren vertikal ausgerichtet. Sie wurde zum Vorbild in anderen napoleonischen Tochterrepubliken in Italien. Die Ende 1796 geschaffene [[Cispadanische Republik]] stellte ebenfalls eine Legion auf, deren Kohorten wiederum grün-weiß-rote Fahnen erhielten; im Aufstellungserlass war bereits von „italienischen Nationalfarben“ (Art.&nbsp;8) die Rede.<ref>[https://www.quirinale.it/page/tricolore_en Kurzdarstellung der Geschichte der Flagge Italiens] auf den Internetseiten des italienischen Staatspräsidenten (englisch)</ref><br />
<br />
Nachdem die Cispadanische Republik im Saal des [[Stadtrat]]s von [[Reggio Emilia]] am 27. Dezember 1796 ihre Verfassung verabschiedet hatte, beriet man in der Folge über deren Staatssymbole. Auf Vorschlag des Abgeordneten Giuseppe Compagnoni aus [[Lugo (Emilia-Romagna)|Lugo]] wurde am 7. Januar 1797 gegen elf Uhr die grün-weiß-rote Trikolore als Flagge der Republik beschlossen, ohne jedoch die vertikale oder horizontale Ausrichtung der Streifen festzulegen; ''de facto'' entschied man sich dann für die horizontale. Erstmals war diese Trikolore zu einem Staatssymbol geworden. Aus diesem Grund ist der 7. Januar in Italien heute ein staatlicher Gedenktag, der insbesondere im Stadtratssaal von Reggio Emilia, ''Sala del Tricolore'' genannt, feierlich begangen wird.<br />
<br />
Die grün-weiß-rote Trikolore wurde (mit vertikaler Ausrichtung der Streifen) 1797 von der [[Cisalpinische Republik|Cisalpinischen Republik]] übernommen. Sowohl die 1802 entstandene Italienische Republik Napoleons, als auch das bis 1814 bestehende napoleonische Königreich Italien verwendeten die Farben Grün, Weiß und Rot weiter, jedoch in anderer Anordnung; die heute vom [[Präsident der Italienischen Republik|italienischen Staatspräsidenten]] verwendete Standarte orientiert sich an jenem Muster.<br />
<br />
<gallery class="center" widths="150"><br />
Flag of the Italian Republic (1802).svg|{{FIAV|historical|1}} Flagge der Italienischen Republik unter Napoleon (1802–1805)<br />
Flag of the Napoleonic Kingdom of Italy.svg|{{FIAV|historical|1}} Flagge des [[Königreich Italien (1805–1814)|Königreichs Italien]] unter Napoleon (1805–1814)<br />
</gallery><br />
Nach der napoleonischen Epoche verschwand die grün-weiß-rote Trikolore als Staatssymbol wieder, sie blieb jedoch ein Symbol des Widerstands gegen die [[Restauration (Geschichte)|Restauration]] und vor allem das Symbol der italienischen [[Risorgimento|Einigungsbewegung]]. Im Zuge der [[Italienische Unabhängigkeitskriege|italienischen Unabhängigkeitskriege]] wurde die Trikolore 1848 vom [[Königreich Sardinien|Königreich Sardinien-Piemont]] wieder aufgegriffen, das sich an die Spitze der italienischen Einigungsbewegung gestellt hatte. Der Trikolore als Staatsflagge fügte man im mittleren, vertikalen weißen Streifen das Wappen des [[Haus Savoyen|Königshauses Savoyen]] hinzu, das sich vor 1848 im linken oberen Eck der blauen Flagge Sardinien-Piemonts befunden hatte. Dieses ''[[Savoyenblau]]'' lebt heute in den Trikots italienischer Nationalmannschaften sowie in den blauen Schärpen italienischer Offiziere fort.<br />
<br />
Nach dem Muster der Trikolore mit dem Savoyerkreuz entstanden während des italienischen Einigungsprozesses um 1848 und um 1860 in anderen italienischen Staaten gleichartige Trikoloren mit den jeweiligen Staats- oder Stadtwappen auf dem weißen Mittelstreifen. Im Jahr 1861 wurde dann die Trikolore mit dem Wappen der Savoyer Nationalflagge des aus Sardinien-Piemont hervorgegangenen [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreichs Italien]]. Am 19. Juni 1946, also kurz nach Ausrufung der Republik, wurde das Wappen aus der Flagge entfernt. Da man aber auf See eine Verwechslung mit der [[Flagge Mexikos]] befürchtete, dessen [[Handelsflagge]] damals kein Wappen auf dem weißen Streifen hatte, wurden am 9. November 1947 jeweils ein Wappen in die [[Seekriegsflagge]] und in die Handelsflagge zur See wieder eingefügt.<ref>[https://flagspot.net/flags/it.html ''Italy''.] Flags of the World (englisch)</ref><br />
<br />
<gallery class="center" widths="150"><br />
Military flag of the Roman Republic (19th century).svg|{{FIAV|historical|1}} Flagge der [[Römische Republik (1849)|Römischen Republik (1849)]]<br />
Flag of Italy (1861-1946).svg|{{FIAV|historical|1}} Flagge des [[Königreich Sardinien|Königreichs Sardinien-Piemont (1848–1861)]] und des [[Königreich Italien (1861–1946)|Königreichs Italien (1861–1946)]]<br />
Flag of Italy (1861-1946) crowned.svg|{{FIAV|historical|1}} {{FIAV|variant}} Dienstflagge des Königreichs Italien (1861–1946)<br />
Italian and German flags - june 1943.png|{{FIAV|historical|1}} Farbaufnahme der Dienstflagge zusammen mit der [[Reichskriegsflagge]] [[NS-Staat|NS-Deutschlands]] (1943)<br />
</gallery><br />
<br />
=== Zeit des Faschismus ===<br />
[[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|mini|hochkant=0.6|Die schwarze Parteifahne der Faschisten wurde in verschiedenen Varianten von ca. 1934 bis 1943 genutzt.]]<br />
[[Datei:Graziani in Mogadishu (Retouched).jpg|mini|hochkant=0.6|Variante der faschistischen Parteifahne in [[Italienisch-Ostafrika]] (1937)]]<br />
[[Datei:Flag of Mussolini as Capo del governo of Fascist Italy.svg|mini|hochkant=0.6|links|Persönliche Flagge Mussolinis]]<br />
[[Datei:Benito Mussolini e Adolf Hitler, sem data.tif|mini|hochkant=0.6|links|Mussolini mit Hitler im Wagen, vorne am [[Stander]] seine Flagge]]<br />
<br />
Nach der Ausrufung der [[Italienischer Faschismus|faschistischen]] [[Diktatur]] unter [[Benito Mussolini]] setzte in Italien – wie auch in anderen [[Einparteiensystem|Einparteienregimen]] wie [[NS-Staat|NS-Deutschland]] oder der [[Sowjetunion]] – eine Angleichung der Staatssymbolik an die Symbolik der herrschenden Partei ein. Das [[Fasces|Liktorenbündel]] (''fascio littorio'') als Parteisymbol der [[Partito Nazionale Fascista|italienischen Faschisten]] wurde Ende 1926 zu einem [[Hoheitszeichen|Staatsemblem]] Italiens erklärt, und ab 1927 wurde es auch im italienischen [[Wappen Italiens#Faschistisches Italien (1922–1943)|Staatswappen]] ergänzt.<ref>Gustav Pfeifer: ''Unicipal Heraldry in Fascist Italy: The Case of the Bozen Civic Arms (1926–1943).'' In: ''The Coat of Arms. The journal of the Heraldry Society.'' Third series, Volume IV, Part 2, 2010, S. 81–100, hier S. 81–85. ([https://www.theheraldrysociety.com/wp-content/uploads/2019/10/CoA-220-Pfeifer-paper.pdf online])</ref><br />
<br />
Im Falle der italienischen Nationalflagge musste das faschistische Regime jedoch die traditionelle Symbolik mit dem Kreuz-Wappen der Savoyer-Dynastie beibehalten. Anders als die [[NSDAP]] in Deutschland, die ihre Parteifahne schließlich auch zur alleinigen deutschen Nationalflagge machte, verhinderten die in Italien starken monarchistischen Kreise eine Ergänzung des Liktorenbündels in der italienischen Trikolore. Stattdessen hisste das faschistische Regime im Inland spätestens seit Oktober 1934 zusätzlich zur italienischen Nationalflagge gleichberechtigt eine „Schwarze Fahne des Faschismus“ (''il drappo nero del fascismo'').<ref>Emilio Gentile: ''The Sacralization of Politics in Fascist Italy.'' Cambridge / Massachusetts / London 1996, S. 119; Denis Mack Smith: ''Italy and its Monarchy.'' New Haven / London 1989, S. 265; Rolf Wörsdorfer: ''Krisenherd Adria 1915–1955. Konstruktion und Artikulation des Nationalen im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.'' Paderborn 2004, S. 79 f.</ref> Es handelte sich dabei um eine [[schwarze Fahne]] mit einem goldenen Liktorenbündel darauf, die von den Faschisten in verschiedenen Modifikationen als Parteiflagge genutzt wurde.<ref>Vojtech Kárpáty: ''Slovenská politická symbolika 1939–1945'' [= Die slowakische politische Symbolik 1939–1945]. In: Peter Sokolovič (Hrsg.): ''Od Salzburgu do vypuknutia Povstania. Slovenská republika 1939–1945 očami mladých historikov VIII'' [= Von Salzburg bis zum Ausbruch des Aufstands. Die Slowakische Republik 1939–1945 in den Augen der jungen Historiker VIII]. Bratislava 2009, S. 31–47, S. 36 (slowakisch).</ref><br />
<br />
Ebenfalls öffentlich genutzt wurden die schwarzen [[Wimpel]] der [[Schwarzhemden|faschistischen Miliz]] und anderer faschistischer Organisationen.<ref>Tarquinio Maiorino, Giuseppe Marchetti Tricamo, Andrea Zagami: ''Il tricolore degli italiani. Storia avventurosa della nostra bandiera.'' Mailand 2002, S. 111.</ref> Symbolisch ausgeschlachtet wurden insbesondere bei Massenveranstaltungen auch die persönlichen Flaggen Mussolinis als „Duce“ sowie des Generalsekretärs der Faschistischen Partei.<ref>Emilio Gentile: ''The Sacralization of Politics in Fascist Italy.'' Cambridge / Massachusetts / London 1996, S. 68.</ref> Die Darstellung des Liktorenbündels durchdrang damit den Alltag der italienischen Gesellschaft. Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland waren Abbildungen des Liktorenbündels jedoch im faschistischen Italien nur äußerst selten in zeitgenössischen [[Illustrierte]]n zu sehen. Als Grund dafür gilt die unterschiedliche graphische Wirksamkeit der beiden Symbole: Anders als das Hakenkreuz, das aufgrund seiner stark stilisierten und auf Farbkontraste setzende Form für Visualisierungen auf Fahnen und Standarten geeignet war, war das Liktorenbündel eher filigran und komplex in der Darstellung und besaß auf Schwarz-Weiß-Fotographien insgesamt eine deutlich geringere Lesbarkeit als das Symbol des deutschen Nationalsozialismus.<ref>Wenke Nitz: ''Die symbolische Repräsentation der faschistischen Diktaturen in Fotografien.'' In: ''Politische Ikonographie.'' kunsttexte.de, Nr. 3, 2010, 16 Seiten, hier S. 7–13.</ref><br />
<br />
[[Datei:Flag of the Italian Social Republic.png|mini|hochkant=0.6|Staatsflagge der [[Italienische Sozialrepublik|RSI]] (1944–1945)]]<br />
Die von 1943 bis 1945 bestehende [[Italienische Sozialrepublik]] (kurz ''RSI'', auch ''Republik von Salò'') versuchte sofort, ihre Verbindung zur italienischen Monarchie zu kappen. Zwar behielt auch das republikanisch-faschistische Regime die Trikolore bei,<ref>Karl-Heinz Hesmer: ''Flaggen und Wappen der Welt. Mit aktuellen Länderinformationen.'' Gütersloh/München 2008, S. 103.</ref> jedoch wurde gleich nach der Regierungsbildung im Herbst 1943 das Savoyer Königswappen aus den von der RSI gehissten Flaggen herausgeschnitten und mit weißem Stoff geflickt. Die offizielle Regelung zu den Flaggen der Sozialrepublik folgte erst Anfang des nächsten Jahres: ein Dekret Mussolinis vom 28. Januar 1944, welches am 6. Mai 1944 im Amtsblatt veröffentlicht wurde, bestimmte die einfache grün-weiß-rote Trikolore zur Flagge der Sozialrepublik:<ref name="Modellismopiu">[https://www.modellismopiu.it/modules/news/print.php?storyid=656 ''Breve studio sui simboli di uno Stato: La Repubblica Sociale Italiana: 1943-45.''] In: modellismopiu.it, 16. Januar 2006, abgerufen am 27. Juli 2021. (italienisch); Ugo Bellochi: ''Il Tricolore Duecento Anni 1797–1997.'' o. O. 1996, S. 402–404. (italienisch)</ref><br />
<br />
{{Zitat<br />
|Text=Die Flagge der Italienischen Sozialrepublik besteht aus einem rechteckigen Tuch durchsetzt mit einem grünen, einem weißen und einem roten Pfahl, wobei der grüne Pfahl von einem republikanischen Rutenbündel überragt wird. Das Banner muss zwei Drittel seiner Breite betragen und die drei Farben müssen verteilt sein in der vorgenannten Reihenfolge und zu gleichen Teilen.<br />
|Autor=Dekret Mussolinis vom 28. Januar 1944, veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale d’Italia am 6. Mai 1944}}<br />
<br />
[[Datei:War flag of RSI.svg|mini|hochkant=0.6|Kriegsflagge der RSI (1944–1945)]]<br />
[[Datei:Bundesarchiv Bild 101I-311-0926-04, Italien, italienische Soldaten.jpg|mini|hochkant=0.6|Von der offiziellen Form abweichende Variante der Kriegsflagge (1944)]]<br />
Gleichzeitig führte das RSI-Regime zusätzlich eine eigene Kampfflagge (''bandiera di combattimento'') bzw. Kriegsflagge (''bandiera di guerra'') ein, bei der ein schwarzer [[Aquila (Standarte)|Legionsadler]] mit einem horizontal ausgerichteten, republikanischen Rutenbündel mit Beil (''fascio repubblicano'') in seinen Klauen der Trikolore hinzugefügt wurde:<br />
<br />
{{Zitat<br />
|Text=Die Kampfflagge der Streitkräfte zeigt einen schwarzen Adler mit gespreizten Flügeln, der auf einem horizontal angeordneten republikanischen Rutenbündel mit Beil ruht, wie in der Tabelle im Anhang zu diesem Dekret. Das Banner muss einen Meter hoch und 1,50 Meter lang sein.<br />
|Autor=Dekret Mussolinis vom 28. Januar 1944, veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale d’Italia am 6. Mai 1944}}<br />
<br />
In der Praxis hatten die auf der Kriegsflagge verwendeten Adler jedoch meist eine andere Form und Größe als jener im Gesetzesblatt. Als Ursache dafür gelten insbesondere der Mangel an Rohstoffen und präzisen Maßzeichnungen. Zeitgenössische Filmaufnahmen zeigen mehr oder weniger stilisierte „Adler“ in einer Größe, die die seitlichen Farben der Trikolore nicht berührt, sowie aufwändigere „Adler“ mit weißer Fadenstickerei, die das Gefieder, die Konturen etc. hervorhebt. Tatsächlich existierten selten auch nur zwei vollkommen identische Exemplare.<ref name="Modellismopiu" /><ref>Tarquinio Maiorino, Giuseppe Marchetti Tricamo, Andrea Zagami: ''Il tricolore degli italiani. Storia avventurosa della nostra bandiera.'' Mailand 2002, S. 132 f.</ref><br />
<br />
Die Kriegsflagge der RSI ist im heutigen Italien gesetzlich verboten.<ref>[https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/umstrittene-flaggen/story/25773807 ''Umstrittene Flaggen.''] In: tagesanzeiger.ch, 23. Juni 2015, abgerufen am 3. November 2021.</ref> Da sie als [[Banner (Fahne)|Banner]] der berüchtigten [[Schwarze Brigaden|Schwarzen Brigaden]] sowie anderer, auf deutscher Seite kämpfender italienischer Einheiten diente,<ref>Tarquinio Maiorino, Giuseppe Marchetti Tricamo, Andrea Zagami: ''Il tricolore degli italiani. Storia avventurosa della nostra bandiera.'' Mailand 2002, S. 132 f.</ref> steht sie symbolisch für die [[Kollaboration]] der RSI-Faschisten mit dem [[NS-Staat|„Dritten Reich“]], für ihre Beteiligung am [[Holocaust]] und die [[Kriegsverbrechen]], die das RSI-Regime an der eigenen italienischen Zivilbevölkerung verübte. In der [[Neofaschismus|neofaschistischen]] Szene Italiens (z. B. ''[[Forza Nuova]]'', ''[[Casa Pound]]'') ist die Kriegsflagge der RSI jedoch weiterhin in Gebrauch<ref>Di Gino Zangrando: [https://tribunatreviso.gelocal.it/treviso/cronaca/2017/05/03/news/saluto-romano-al-raduno-per-i-morti-rsi-a-susegana-1.15282385 ''Saluto romano al raduno per i morti Rsi a Susegana.''] In: tribunatreviso.gelocal.it, 3. Mai 2017, abgerufen am 24. November 2021; Franco Vanni: [https://milano.repubblica.it/cronaca/2014/02/26/foto/milano_il_comune_rimuove_dal_cimitero_la_bandiera_di_sal-79640422/8/#1 ''Milano, il Comune rimuove la bandiera di Salò.''] In: milano.repubblica.it, abgerufen am 27. Oktober 2021; [https://milano.repubblica.it/cronaca/2020/04/03/news/neofascismo_bandiera_salo_tribiano-253020379/ ''Neofascismo, bandiera di Salò su un palazzo nel Milanese. Anpi: "Sfregio alla vigilia del 25 Aprile".''] In: milano.repubblica.it, 3. April 2020, abgerufen am 27. Oktober 2021.</ref> – zusammen mit der ''Schwarzen Fahne des Faschismus''.<ref>Vgl. [https://gioburgio.wordpress.com/wp-content/uploads/2011/03/dscn04041.jpg ''Foto der Ausrüstung von CasaPound Palermo von 2011'']; die ''Channel 4 News'' Dokumentation von 2018: [https://www.youtube.com/watch?v=I3x-ge4w46E&t=387s ''Fascism in Italy: The Hipster Fascists Trying to Bring Mussolini Back into the Mainstream''], Minute 3:35–3:36 und 3:42–3:43; [https://www.firenzetoday.it/foto/cronaca/svastiche-fucili-e-lanciarazzi-ecco-l-arsenale-sequestrato-a-siena/ ''Svastiche, fucili e lanciarazzi: ecco l'arsenale sequestrato a Siena.''] In: firenzetoday.it, 12. November 2019, abgerufen am 4. April 2024.</ref> Die US-amerikanische [[Anti-Defamation League]] (ADL) beobachtet in den [[Vereinigte Staaten von Amerika|Vereinigten Staaten]] seit den 2000er Jahren eine zunehmende Übernahme von Symbolen des italienischen Faschismus durch US-amerikanische Rechtsextremisten (z. B. ''[[Proud Boys]]'', ''[[Patriot Front]]''). Die ADL vermutet dahinter eine gezielte Strategie von Gruppierungen der [[White Supremacy]], da das faschistische Liktorenbündel einerseits ein weniger negativ konnotiertes Symbol ist als das nationalsozialistische Hakenkreuz, andererseits könnten sich Rechtsextremisten auch darauf berufen, dass das Liktorenbündel von staatlichen Institutionen der USA verwendet werde.<ref>[https://www.adl.org/resources/hate-symbol/fasces ''Hate Symbol: Fasces.''] In: adl.org, abgerufen am 19. April 2024; [https://www.adl.org/resources/hate-symbol/nsm-legacy-logos ''NSM Legacy Logos.''] In: adl.org, abgerufen am 24. April 2024; [https://www.newsweek.com/nazi-amazon-proud-boys-holocaust-1555192 ''Neo-Nazi Shirts Worn by Proud Boys Supporters Sold on Amazon.''] In: Newsweek.com, abgerufen am 24. April 2024.</ref><br />
<br />
=== Museen ===<br />
In Reggio Emilia befindet sich im Rathaus neben dem Saal des Stadtrates ''(Sala del Tricolore)'' das ''Museo del Tricolore''.<ref>[http://www.musei.re.it/collezioni/museo-del-tricolore/ Offizieller Internetauftritt des städtischen Museo del Tricolore] (italienisch)</ref> Truppenfahnen aufgelöster Militärverbände und Seekriegsflaggen außer Dienst gestellter Kriegsschiffe sind im ''[[Monumento a Vittorio Emanuele II|Vittoriano]]'' in Rom ausgestellt ''(Sacrario delle Bandiere)''.<br />
<br />
== Beflaggungsregeln ==<br />
Rechtsgrundlagen sind das Gesetz Nr. 22 vom 5. Februar 1998<ref>{{Webarchiv |url=http://www.camera.it/parlam/leggi/98022l.htm |text=Legge 5 febbraio 1998 n. 22 |wayback=20210518135210}} auf camera.it (italienisch)</ref> sowie als [[Durchführungsbestimmung]] das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 121 vom 7. April 2000.<ref>[http://www.gazzettaufficiale.it/eli/id/2000/05/16/000G0168/sg Decreto del Presidente della Repubblica 7 aprile 2000 n. 121] auf gazzettaufficiale.it (italienisch)</ref> Die Flagge Italiens und die [[Europaflagge]] werden vor, auf oder an den Dienstgebäuden der [[Verfassungsorgan]]e, der Ministerien sonstigen Behörden, der subnationalen Volksvertretungen, der Organe der [[Rechtsprechung]], der staatlichen Schulen und Hochschulen, der diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Ausland gehisst, sowie vor [[Wahllokal]]en während der Wahlen.<br />
<br />
[[Datei:Quirinal Palace - Viva l'Italia (39327932995).jpg|mini|Flagge Italiens und Europaflagge, [[Quirinalspalast]] in Rom]]<br />
[[Datei:Sala tricolore reggio emilia sedie.jpg|mini|''Sala del Tricolore'', Stadtratssaal in Reggio Emilia]]<br />
Besondere Beflaggungstage sind:<br />
* 7. Januar: ''Festa del Tricolore''<br />
* 11. Februar: [[Lateranverträge]]<br />
* 25. April: [[Tag der Befreiung Italiens]]<br />
* 1. Mai: [[Erster Mai|Tag der Arbeit]]<br />
* 9. Mai: [[Europatag]]<br />
* 2. Juni: ''[[Festa della Repubblica]]'', Nationalfeiertag<br />
* 28. September: [[Vier Tage von Neapel]]<br />
* 4. Oktober: Franziskustag, [[Franz von Assisi]], [[Schutzpatron]] Italiens<br />
* 24. Oktober: [[Tag der Vereinten Nationen]]<br />
* 4. November: Tag der nationalen Einheit und der [[Italienische Streitkräfte|Streitkräfte]], Ende des [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkriegs]] in Italien<br />
<br />
Aus besonderem Anlass können Beflaggungen vom [[Präsident des Ministerrats|Ministerpräsidenten]] oder, auf lokaler Ebene, vom jeweiligen [[Präfekt (Italien)|Präfekt]] angeordnet werden. Die Flagge Italiens wird (an den genannten Orten oder anderswo in Italien) zuerst gehisst und zuletzt eingeholt, bei zwei Flaggen am (vom Gebäude aus gesehen) rechten Mast, bei drei Flaggen in der Mitte, es sei denn die Flagge des Gastes ist die eines EU-Staates: dann ist die Europaflagge in der Mitte und die Italiens links. Werden bei drei Masten zwei Flaggen gehisst, bleibt der mittlere ohne (nicht bei Standarten). Auf den Ebenen der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften ist die Folge von rechts nach links: Europaflagge, Flagge Italiens, (Flagge des Gastes), Flagge(n) der Gebietskörperschaft(en). Die Flagge Italiens und die Europaflagge (sowie gegebenenfalls die genannten anderen Flaggen) werden normalerweise bei Sonnenaufgang gehisst und bei Sonnenuntergang eingeholt, ansonsten erfolgt dies jeweils zu Beginn und am Ende der täglichen Dienstzeit. Nachts können sie nur gehisst bleiben wenn sie beleuchtet werden. Im Bereich des Militärs, der Sicherheitsbehörden und der anderen [[Verwaltungsgliederung Italiens|Gebietskörperschaften Italiens]] gibt es ergänzende Beflaggungsregelungen, in anderen Fällen gilt das internationale [[Flaggenrecht]] sowie die international übliche Flaggenetikette. Auch in Italien ist die [[Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole|Verunglimpfung von Nationalflaggen]] ein [[Strafrecht (Italien)|Straftatbestand]].<ref>[http://www.parlamento.it/parlam/leggi/06085l.htm Art. 292, Art. 299 iStGB] auf parlamento.it (italienisch)</ref><br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Wappen Italiens]]<br />
* [[Flaggen und Wappen der italienischen Regionen]]<br />
* [[Flagge der Vatikanstadt]]<br />
* [[Flagge San Marinos]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Flags of Italy|Flaggen Italiens}}<br />
* [https://www.quirinale.it/page/tricolore Presidenza della Repubblica – I Simboli della Repubblica – Il Tricolore] (italienisch, englisch)<br />
* [https://www.fotw.info/flags/it.html Flags of the World – Italy] (englisch)<br />
* {{Britannica |id=topic/flag-of-Italy |titel=Flag of Italy |abruf=2021-02-24}}<br />
* Edda Dammmüller: [https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/trikolore-italienische-flagge-102.html ''07.01.1797 - Geburtsstunde der italienischen Trikolore''] [[WDR]] [[ZeitZeichen (Hörfunksendung)|ZeitZeichen]] vom 7. Januar 2017; mit [[Volker Reinhardt (Historiker)|Volker Reinhardt]]. (Podcast)<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* Ugo Bellochi: ''Il Tricolore Duecento Anni 1797–1997.'' Banca Popolare dell’Emilia Romagna, o. O. 1996, ISBN 88-7792-049-1. (italienisch)<br />
* Karl-Heinz Hesmer: ''Flaggen und Wappen der Welt. Mit aktuellen Länderinformationen.'' Chronik Verlag, Gütersloh/München 2008, ISBN 978-3-577-14537-4.<br />
* Karl-Heinz Hesmer: ''Flaggen und Wappen der Welt. Geschichte und Symbolik der Flaggen und Wappen aller Staaten.'' Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 1992.<br />
* Tarquinio Maiorino, Giuseppe Marchetti Tricamo, Andrea Zagami: ''Il tricolore degli italiani. Storia avventurosa della nostra bandiera.'' Arnoldo Mondadori Editore, 2002, ISBN 978-88-04-50946-2. (italienisch)<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Navigationsleiste Flaggen Staaten Europas}}<br />
<br />
[[Kategorie:Nationalflagge|Italien]]<br />
[[Kategorie:Nationales Symbol (Italien)]]<br />
[[Kategorie:Flagge (Italien)|!]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Faschismus&diff=255674988Faschismus2025-05-03T00:30:28Z<p>ImageUploader12345: /* Überblick der als faschistisch bezeichneten Bewegungen in Europa */ Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dieser Flaggen nebe</p>
<hr />
<div>{{Dieser Artikel|behandelt den allgemeinen Begriff. Zur Zeitschrift siehe [[Faschismus (Zeitschrift)]].}}<br />
[[Datei:Mussolini and Hitler 1940 (retouched).jpg|mini|Die Diktatoren [[Benito Mussolini]] und [[Adolf Hitler]] in [[München]], 1940]]<br />
<br />
'''Faschismus''' (von italienisch ''fascio'' „Bund“) war zunächst die Eigenbezeichnung einer [[politische Bewegung|politischen Bewegung]] in [[Königreich Italien (1861–1946)|Italien]], die unter Führung von [[Benito Mussolini]] von 1922 bis 1943/45 die beherrschende politische Macht war und ein [[Diktatur|diktatorisches Regierungssystem]] errichtete, den [[Italienischer Faschismus|Italienischen Faschismus]].<br />
<br />
Ab den 1920er Jahren wurde der Begriff für alle [[Nationalismus#Ultranationalismus|ultranationalistischen]], nach dem [[Führerprinzip]] organisierten antiliberalen und antimarxistischen Bewegungen, Ideologien oder Herrschaftssysteme verwendet, die seit dem [[Erster Weltkrieg|Ersten Weltkrieg]] die [[Parlamentarismus|parlamentarischen]] [[Demokratie]]n abzulösen suchten. Die Verallgemeinerung des Faschismus-Begriffs von einer zeitlich und national begrenzten Eigenbezeichnung zur Gattungsbezeichnung einer bestimmten Herrschaftsart ist umstritten, besonders für den [[NS-Staat|deutschen NS-Staat]]. Mit der Beschreibung und Erklärung des Faschismus beschäftigt sich die [[Faschismustheorie]].<br />
<br />
Als '''Neofaschismus''' bezeichnet man im engeren Sinne die von Anhängern des Faschismus getragene politische Bewegung in Italien nach Mussolinis Sturz (''[[Movimento Sociale Italiano]]'' 1946–1995 sowie neuere Bewegungen). Im weiteren Sinne werden auch in anderen Ländern bestehende Bewegungen und Parteien der extremen [[Neue Rechte|Neuen Rechten]] so bezeichnet, die sich zum [[Führerprinzip]] und zu [[völkisch]] beziehungsweise [[Rassismus|rassisch]] begründetem [[Elite]]denken bekennen und einen übersteigerten Nationalismus und [[Militanz|militanten]] [[Antikommunismus]] beziehungsweise eine latente [[Gewalt]]bereitschaft pflegen. In der Bundesrepublik Deutschland trifft dies auf die [[Neonazi]]s zu.<ref> '' Neofaschismus.'' In: [[Everhard Holtmann]] (Hrsg.): ''Politik-Lexikon.'' 3. Auflage, Oldenbourg, München 2000, ISBN 978-3-486-79886-9, S.&nbsp;412.</ref><br />
<br />
== Begriff ==<br />
Der Begriff Faschismus ist von {{itS| fascio}} abgeleitet, was „Bund“ bedeutet. Der Historiker [[Fritz Schotthöfer]] beschrieb ihn 1924 als „gewissermaßen inhaltsleer“, da er „so gut wie nichts über das [[Wesen (Philosophie)|Wesen]] dessen aus[sagt], was faschistisch ist oder sein soll“. Darin unterscheide sich dieser ''[[-ismus]]'' entscheidend von anderen ''Ismen,'' wie [[Konservatismus]], [[Liberalismus]] oder [[Sozialismus]]. „Ein ''fascio'' ist ein Verein, ein Bund“, daher wären Faschisten wörtlich übersetzt „Bündler“ und „Faschismus“ wäre Bündlertum.<ref>Fritz Schotthöfer: ''Il fascio. Sinn und Wirklichkeit des italienischen Faschismus.'' 1924; zitiert nach Wippermann: ''Faschismus. Eine Weltgeschichte.'' 2009, S. 7.</ref><br />
<br />
Die [[Etymologie]] des Wortes ''fascio'' wird meist abgeleitet vom [[latein]]ischen ''[[fasces]].'' Diese ''Rutenbündel'' waren Machtsymbole zu Zeiten des [[Römisches Reich|Römischen Reiches]], die die [[Liktor]]en vor den höchsten römischen Beamten, den [[Consulat|Konsuln]], [[Prätor]]en und [[Römischer Diktator|Diktatoren]], hertrugen.<ref>Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiß (Hrsg.): ''[[Enzyklopädie des Nationalsozialismus]],'' 3. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 1997, S. 453.</ref><br />
<br />
Im 19. Jahrhundert bezeichnete das Wort ''fascio'' das Selbstverständnis der italienischen National- und Arbeiterbewegung als [[revolution]]äre Kraft. So symbolisierte das Rutenbündel in der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert die Einheit der Nation, und ''fascio'' bezog sich im seit 1870 geeinten Italien auf [[Sozialismus|sozialistische]] Arbeiterorganisationen wie beispielsweise die ''[[Fasci siciliani]]'' in Sizilien.<ref>Bauerkämper: ''Der Faschismus in Europa 1918–1945.'' S. 13.</ref><br />
<br />
Der Begriff ''Fascismo,'' der um 1900 zum Banner der revolutionären Arbeiterbewegung avanciert war,<ref>Bauerkämper: ''Der Faschismus in Europa 1918–1945.'' S. 14.</ref> wurde ab 1919 mit den „[[Schwarzhemden#Squadrismus (1919–1923)|Fasci di combattimento]]“ identifiziert: jene „Kampfbünde“, die Mussolini im März 1919 gründete.<ref>Hans-Georg Herrnleben: ''Totalitäre Herrschaft. Faschismus – Nationalsozialismus – Stalinismus,'' Ploetz, Freiburg 1980, S. 21.</ref><br />
<br />
Ein Vertreter des Faschismus wird „Faschist“ genannt,<ref>[https://www.dwds.de/wb/Faschist Faschist] [[Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache]]</ref> im [[Jargon]] der [[Autonome|Autonomen Szene]] auch „Fascho“ (Plural Faschos).<ref>[https://www.dwds.de/wb/Fascho Fascho] [[Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache]]</ref><br />
<br />
== Definition ==<br />
{{Hauptartikel|Faschismustheorie}}<br />
<br />
Eine Definition von „Faschismus“ gestaltet sich schwierig, da weder der Begriff an sich etwas über sein Wesen aussagt (siehe [[#Begriff|oben]]) noch die meisten europäischen Bewegungen der [[Zwischenkriegszeit]], die im Allgemeinen als faschistisch bezeichnet werden, dieses Wort überhaupt verwendet haben – anders als fast alle kommunistischen Parteien und Regime, die es vorzogen, sich als kommunistisch zu bezeichnen.<ref>Payne: ''Geschichte des Faschismus.'' S. 11 f.</ref><br />
<br />
Was Faschismus ist oder sein soll, wurde vornehmlich von seinen Gegnern bestimmt, die Theorien des bzw. über den Faschismus entwickelt haben.<ref>Wippermann: ''Faschismus. Eine Weltgeschichte,'' S. 7.</ref> Seit den 1920er Jahren ist eine intensive Debatte um den Faschismus als umfassenden [[Gattungsbegriff (Philosophie)|Gattungsbegriff]] geführt worden, der nicht nur die von Mussolini geführte Bewegung und Diktatur erklären, sondern ähnliche Organisationen und Regimes in anderen europäischen Staaten kennzeichnen soll. Die empirische Forschung hat dabei vorrangig auf die Identifizierung von strukturellen Kernelementen des Faschismus gezielt.<ref>Bauerkämper: ''Der Faschismus in Europa 1918–1945.'' S. 27&nbsp;f.</ref><br />
<br />
Ein übergreifender (generischer) Faschismusbegriff, der die bis zum Ende des [[Zweiter Weltkrieg|Zweiten Weltkriegs]] bestehenden Regime in [[Königreich Italien (1861–1946)|Italien]], im [[NS-Staat]] und in [[Japanisches Kaiserreich|Japan]] umfasst, ist in der historischen Forschung umstritten. Einige Historiker wollen den Begriff auf Italien beschränken. Andere wie [[Bernd Martin (Historiker)|Bernd Martin]] halten „Faschismus“ als Gattungsbegriff nur für die „Bewegungsphase“ für sinnvoll:<br />
<br />
{{Zitat|Faschismus als übergeordneter Gattungsbegriff eignet sich mithin allenfalls für die Bewegungsphasen der drei genuin entstandenen, gemeinhin so genannten Faschismen in Deutschland, Italien und Japan. Als umfassender Begriff für die Regimephasen trägt der Ausdruck hingegen nicht und kann der völlig unterschiedlichen Herrschaftsabsicherung nicht gerecht werden. Es würde daher der historischen Wirklichkeit wie auch dem historischen Selbstverständnis der damaligen Regime in Berlin, Rom und Tokio besser entsprechen, den abgegriffenen Faschismusbegriff aufzugeben.| ref=<ref>Bernd Martin: [http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2001/pdf/Martin_Zur_Tauglichkeit_eines_uebergreifenden.pdf ''Zur Tauglichkeit eines übergreifenden Faschismus-Begriffs.''] In: ''[[Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte]],'' 29. Jg. 1981, S. 48–73 (PDF; 6,3&nbsp;MB).</ref>}}<br />
<br />
[[Robert O. Paxton]] beschreibt Faschismus als „Form des politischen Verhaltens“. Dies sei gekennzeichnet {{"|durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang, der Demütigung oder der Opferrolle einer Gemeinschaft sowie durch einen kompensatorischen Kult um Einheit, Stärke und Reinheit.}} Hinzu kommen eine „Massenpartei entschlossener [[Militanz|militanter]]<br />
Nationalisten“, die mit traditionellen Eliten zusammenarbeitet und demokratische Freiheiten abschafft. Innere Säuberung und äußere Expansion sollen „mit einer als erlösend verklärten Gewalt erreicht werden“.<ref>zitiert nach [[Alexander J. Motyl]]: [https://www.jstor.org/stable/44934354 ''Russland: Volk, Staat und Führer: Elemente eines faschistischen Systems.''] In: [[Osteuropa (Zeitschrift)|''Osteuropa'']] 59, Heft 1, (2009), S. 109–123, hier S. 115</ref><br />
<br />
Faschismusforscher wie zum Beispiel [[Roger Griffin]], die von einem generischen Faschismusbegriff ausgehen, zielen auf den [[Ideologie|ideologischen]] Kern des Faschismus:<br />
<br />
{{Zitat|Faschismus ist eine politische Ideologie, deren [[Geschichtsmythos|mythischer]] Kern in seinen diversen Permutationen eine [[Palingenese (Sozialwissenschaften)|palingenetische]] Form von [[Populismus|populistischem]] [[Ultra-Nationalismus]] ist.|ref=<ref>Roger Griffin: ''Palingenetischer Ultranationalismus. Die Geburtswehen einer neuen Faschismusdeutung.'' In: [[Thomas Schlemmer]], [[Hans Woller]] (Hrsg.): ''Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung.'' Oldenbourg, München 2014, ISBN 978-3-486-85906-5, S. 17–34, hier S. 17.</ref>}}<br />
<br />
Der amerikanische Politikwissenschaftler [[Paul Gottfried]] vertritt einen eingeschränkt generischen Faschismus-Begriff: Faschistisch nennt er Bewegungen und in geringerem Ausmaß auch [[Regime]], die dem italienischen Faschismus ähnelten: Als Bewegung, wenngleich nicht unbedingt als Regime, werde er von einer synthetischen, wandelbaren Ideologie zusammengehalten, die durchaus auch Anleihen von der [[Politische Linke|Linken]] nehme, insbesondere was die Wertschätzung revolutionärer Gewalt betreffe. Darin unterschieden sich faschistische Bewegungen von solchen der traditionellen [[Politische Rechte (Politik)|Rechten]], mit denen Gottfried gleichwohl eine gewisse Verwandtschaft sieht, etwa was die Einstellung zu [[Identitätspolitik]] und [[Hierarchie]]n betrifft. Die ideologische Verwandtschaft mit dem deutschen Nationalsozialismus sei dagegen nur schwach ausgeprägt. Der Faschismusbegriff sei hauptsächlich anwendbar auf den [[Mittelmeerraum]] und die [[Zwischenkriegszeit]]. Für [[Entwicklungsdiktatur]]en in [[Dritte Welt|Drittweltstaaten]] passe er nicht. Auch die Anwendung auf „alles, was der Sprecher tief abstoßend findet“, lehnt Gottfried ab.<ref>Paul Gottfried: ''Fascism. The Career of a Concept.'' Northern Illinois University Press, DeKalb 2016, ISBN 978-0-875-80493-4, passim, insbesondere S. 151–158, das Zitat S. 152.</ref><br />
<br />
Gegen eine Subsumierung des Nationalsozialismus unter den Faschismusbegriff wenden die französische Psychoanalytikerin [[Janine Chasseguet-Smirgel]] und der deutsche Sozialwissenschaftler [[Samuel Salzborn]] ein, dass damit dessen Wesenskern, nämlich die Rassepolitik und der [[Holocaust]], aus dem Blickfeld gerückt würde. Das NS-Regime erscheine in dieser Perspektive als „eine ganz banale Diktatur“, nicht anders als die in Italien, in [[Francisco Franco|Francos]] [[Spanien]] oder im [[Chile]] [[Augusto Pinochet|Pinochets]]. Dies rationalisiere das Unfassbare der Judenvernichtung und sei letztlich eine Strategie der Erinnerungsverweigerung und Schuldabwehr.<ref>Samuel Salzborn: ''Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne.'' Beltz Juventa, Weinheim 2018, S. 175 f.</ref><br />
<br />
== Italien ==<br />
{{Hauptartikel|Italienischer Faschismus}}<br />
[[Datei:ITA Kingdom of Italy (1927-1929) Fasces Emblem.svg|mini|Das „[[Wappen Italiens#Liktorenbündel-Emblem|Liktorenbündel-Emblem]]“, wie es 1927 bis 1929 als Staatssymbol Italiens und als Symbol des italienischen Faschismus verwendet wurde]]<br />
<br />
Mussolini gründete 1915 für Italiens Kriegseintritt die ''Fasci d’azione rivoluzionaria'' und bildete am 23. März 1919 aus den ''Fasci dēi lavoratōri'' und ''Fasci siciliani'' die Bewegung der ''[[Fasci italiani di combattimento]]'' („Italienische Kampfverbände“), der ein Rutenbündel zu seinem Zeichen machte. Er bestand anfangs überwiegend aus Anhängern des [[Syndikalismus]], einer Weiterentwicklung des Gewerkschafts-Sozialismus, bis Mussolini ihn 1921 scharf gegen [[Sozialismus]] und [[Kommunismus]] abgrenzte. Die syndikalistischen Gewerkschaften Italiens wehrten sich erfolgreich gegen eine Infiltration und schlossen die faschismusaffinen Gruppen aus.<ref>Franco Bertolucci: ''Kein Mann, kein Geld für den Krieg.'' In: Andreas Hohmann (Hrsg.): ''Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale.'' S. 157–159.</ref> Damit wurde seine nun ''[[Partito Nazionale Fascista]]'' (PNF) genannte Partei auch von bürgerlichen Mittelschichten wählbar und von Teilen der katholischen Kirche, des Beamtentums und der Armee Italiens unterstützt.<br />
<br />
Mit Hilfe von [[Paramilitär]]s, [[Straßenterror]], einem starken [[Personenkult]], Massenpropaganda und dem wirksam inszenierten „[[Marsch auf Rom]]“ eroberte Mussolini 1922 das Amt des italienischen Ministerpräsidenten. Er baute dann schrittweise mit einem Ermächtigungsgesetz, [[Parteiverbot]]en, Aufhebung der [[Bürgerrecht]]e und der [[Pressefreiheit]], Ausbau der Parteimiliz und [[Politischer Mord|politischen Morden]] bis 1925 eine Einparteiendiktatur unter einem von ihm geführten „[[Großer Faschistischer Rat|Großen Faschistischen Rat]]“ in Italien auf.<br />
<br />
1932 legte er die Ideologie seines Staatssystems schriftlich vor ''([[Der Geist des Faschismus|La dottrina del fascismo]]):'' Merkmale waren ein extremer Nationalismus, eine durch Krieg angestrebte Großmachtstellung für Italien im Mittelmeerraum, die Betonung des „[[Wille zur Macht|Willens zur Macht]]“ ([[Friedrich Nietzsche]]), des autoritären [[Führerprinzip]]s ([[Vilfredo Pareto]]), der „direkten Aktion“ als „schöpferischem Gestaltungsprinzip“ ([[Georges Sorel]]) und einer [[Totalitarismus|totalitären]], von einer Geheimpolizei überwachten Verschmelzung von Staat und alleinregierender Partei. Die [[sozialrevolutionär]]e Komponente der Aufstiegszeit trat zurück; verordnete Einheitsorganisationen von Arbeitern und Unternehmern sollten [[Klassenkampf]] unterbinden.<ref>''Der Große Brockhaus in zwölf Bänden.'' 18. Auflage, Dritter Band, Wiesbaden 1978, S. 651&nbsp;f.</ref> Um neben der Macht auch die [[Hegemonie]] im Sinne [[Antonio Gramsci]]s zu gewinnen, übernahm der Staat auch die Sportbewegung. Hiermit sollten Körperkult, Verherrlichung von [[Kraft]], [[Männlichkeit]], Demonstration der italienischen Überlegenheit in körperbezogenen Aktivitäten wie [[Sport]], [[Fußball-Weltmeisterschaft]] und Olympischen Spielen gewonnen werden. Das ''[[Comitato Olimpico Nazionale Italiano]]'' wurde verstaatlicht und der Spitzensport mit [[Staatsamateur]]en international leistungsfähig gemacht.<ref>[[Arnd Krüger]]: ''Sport im faschistischen Italien (1922–1933),'' in: G. Spitzer, D. Schmidt (Hrsg.): ''Sport zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung. Festschrift für Prof. Dr. Hajo Bernett.'' P. Wegener, Bonn 1986, S. 213–226; Felice Fabrizio: ''Sport e fascismo. La politica sportiva del regime, 1924–1936.'' Guaraldi, Rimini 1976.</ref><br />
<br />
Als Kennzeichen des Faschismus nach italienischem Vorbild gelten daher [[Voluntarismus|voluntaristische]] und [[Futurismus|futuristische]] Politikkonzepte, die den Machtwillen ökonomischen Zwängen vorordnen und die künftige radikale Umgestaltung der Gesellschaft als nationale Bestimmung anstreben,<ref>Manfred Hinz: ''Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus,'' S. 1–18 und 89–111.</ref> eine offen terroristische und diktatorische [[Herrschaftsform]], die sich als Volkswille ausgibt, mit ausgeprägtem Personenkult<ref>Vgl. Clemens Zimmermann: ''Das Bild Mussolinis. Dokumentarische Formungen und die Brechungen medialer Wirksamkeit.'' In: [[Gerhard Paul (Historiker)|Gerhard Paul]]: ''Visual History. Ein Studienbuch.'' S. 225&nbsp;f.</ref> und einer starken [[Ästhetisierung]] der Politik, die gegensätzliche Interessen und Strömungen überwölben und zusammenhalten soll.<br />
<br />
Die faschistische „Neue Ordnung“ Italiens unterschied sich durch ihren [[Etatismus]] deutlich vom NS-Regime, indem Mussolinis ''[[starker Staat]]'' die alten Eliten einband.<br />
<br />
[[Datei:Flag of Mussolini as Capo del governo of Fascist Italy.svg|mini|Das Liktorenbündel auf der persönlichen Flagge Mussolinis als diktatorischer Regierungschef Italiens]]<br />
Zur Eroberung von [[Lebensraum-Politik|Lebensraum]] ''(spazio vitale)'' war das faschistische System auf kriegerische Expansion aufgebaut. Von 1923 bis 1932 führte Italien den [[Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg|zweiten Italienisch-Libyschen Krieg]], ab 1935 den [[Abessinienkrieg]], ab 1936 beteiligte es sich am [[Spanischer Bürgerkrieg|spanischen Bürgerkrieg]], 1939 folgte die [[italienische Besetzung Albaniens]], 1940 der Eintritt in den [[Westfeldzug]] und der [[Griechisch-Italienischer Krieg|griechisch-italienische Krieg]], 1941 die Beteiligung am [[Balkanfeldzug]] gegen Jugoslawien und die Kämpfe gegen die Sowjetunion und in Nordafrika.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg.'' ISBN 978-3-89498-162-4, S. 181 f.</ref> Die italienische Repression in den besetzten Gebieten Afrikas mit der Liquidierung der äthiopischen Intelligenz und des Klerus ist mit dem deutschen Besatzungsterror in Polen vor dem Überfall auf die Sowjetunion vergleichbar.<ref>Aram Mattioli: ''Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche.'' In: Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg.'' ISBN 978-3-89498-162-4, S. 22.</ref> Zur Repression gegen die Untergrundbewegung auf dem Balkan wurde die gleiche Strategie der verbrannten Erde, der ethnischen Säuberungen, der Masseninternierung in [[Italienische Konzentrationslager|italienischen Konzentrationslagern]], der Geiselnahme, Geiselerschießung und der italienischen Kolonisation übernommen wie sie zuvor vom italienischen Militär in Afrika praktiziert worden war.<ref>Davide Rodogno: ''Fascism’s European Empire: Italian Occupation During the Second World War.'' Cambridge University Press, Cambridge 2006, ISBN 978-0-521-84515-1, S. 333 ff.</ref> Dabei stand für die Faschisten fest, es auf dem Balkan und in [[italienisch-Ostafrika]] mit kulturell, wenn nicht auch mit biologisch minderwertigen Rassen zu tun zu haben. Durch diesen [[Antiafrikanismus]] und [[Antislawismus]] lud sich die Repression auf.<ref>Wolfgang Schieder: ''Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien.'' In: Aram Mattioli (Hrsg.): ''Der erste faschistische Vernichtungskrieg.'' ISBN 978-3-89498-162-4, S. 183 f.</ref><br />
<br />
Anfangs war der Faschismus nicht [[Geschichte des Antisemitismus bis 1945|antisemitisch]] ausgerichtet. Wiederholt lehnte Mussolini in öffentlichen Äußerungen den [[Rassismus]] und Antisemitismus der [[Nationalsozialismus|Nationalsozialisten]] ab, in dem er eine Wiederkehr des „[[Pangermanismus|Germanismus]]“ sah, den er in seiner Jugend stets bekämpft habe.<ref>[[Hugo Valentin (Historiker)|Hugo Valentin]]: ''Antisemitenspiegel. Der Antisemitismus: Geschichte, Kritik, Soziologie.'' Wien 1937, S. 72; Ernst Nolte: ''Der Faschismus in seiner Epoche.'' München 1984, S. 288&nbsp;f.</ref> Erst seit Mitte der 1930er Jahre gab es infolge der politischen Koalition Mussolinis mit dem Deutschen Reich antisemitische [[Agitation]]en, die dann auch in den Erlass der [[Italienische Rassengesetze|italienischen Rassengesetze]] mündete. Diese Politik zielte aber niemals auf Vernichtung der europäischen [[Judentum|Juden]], sondern auf ihre Entrechtung, Enteignung und [[Vertreibung]].<br />
<br />
== {{Anker|Europa}} Überblick der als faschistisch bezeichneten Bewegungen in Europa ==<br />
{{Belege fehlen |2=Der nachfolgende Abschnitt}}<br />
Die folgenden Tabellen beruhen auf den Forschungsergebnissen der ''vergleichenden'' Faschismusforschung und behandeln ausschließlich faschistische ''Bewegungen,'' die von dieser überwiegend als solche eingestuft werden.<br />
<br />
{| class="wikitable toptextcells" style="text-align:center;"<br />
|+ Faschistische Parteien, die ein Regime errichten oder sich an einem beteiligen konnten (sortiert nach Gründungsjahr)<br />
|- class="hintergrundfarbe5"<br />
! Land || style="width:9em" | Partei/<br />Bewegung || style="width:8em" | Flagge/<br />Abzeichen || Grün&shy;dung || style="width:14em" | Grußformel || Regime&shy;phase || Anmerkung<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Königreich Italien (1861–1946)|Italien]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Italienischer Faschismus|Faschis&shy;ten]] <br />– [[Partito Nazionale Fascista|PNF]]<ref name="Payne95_15">Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 15.</ref> / [[Republikanische Faschistische Partei|PFR]]<br />
| [[Datei:Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|x40px|border]]<br />
| 1919<br />
| «Saluto al Duce!&nbsp;– A&nbsp;noi!»<br />''(Gruß dem Führer! – Zu uns!)''<br />«Viva il Duce!»<br />''(Es lebe der Führer!)''<br />
| 1922–1945<br />
| style="text-align:left;" | Seit 1922 Teil einer Koalitionsregierung mit Konservativen und Nationalisten, ab 1925 diktatorisch regierend. Nach der Eroberung Albaniens bestand dort von 1939 bis 1943 die [[Albanische Faschistische Partei]] als lokaler Parteiabkömmling der italienischen Faschisten.<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Deutschland]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Nationalsozialismus|National&shy;sozia&shy;listen]] – [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei|NSDAP]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| [[Datei:Flag of the NSDAP (1920–1945).svg|x40px|border]]<br />
| 1920<br />
| „[[Hitlergruß|Heil Hitler!]]“<br />„Sieg Heil!“<br />
| 1933–1945<br />
| style="text-align:left;" | Von 1926 bis 1938 (ab 1933 im Untergrund) bestand in Österreich eine [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichs – Hitlerbewegung|österreichische NSDAP]] als lokaler Parteiabkömmling der deutschen Nationalsozialisten.<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Rumänien]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Eiserne Garde]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| [[Datei:Flag of the Iron Guard (Legion of the Archangel Michael or Legionary Movement).svg|x40px|border]]<br />
| 1927<br />
| „Trăiască Garda şi Căpitanul!”<!-- rumänische Anführungszeichen --><br />''(Es lebe die Garde und der Kapitän!)''<ref>Elemer Mihalyi: ''Memoirs of a Survivor of the twentieth century. From Transylvania to the United States.'' Universe, San Jose / New York / Lincoln / Shanghai 2001, S. 66.</ref><br />
| 1940–1941<br />
| style="text-align:left;" | Während der Regimephase rumänische Staatspartei in einer Koalition mit dem Militär unter [[Ion Antonescu]].<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Kroatien]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Ustascha]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| [[Datei:Ustaše symbol.svg|x40px|border]]<br />
| 1929<br />
| „[[Za dom spremni|Za Dom – Spremni!]]”<!-- kroatische Anführungszeichen --><br />''(Für die Heimat – Bereit!)''<br />
| 1941–1945<br />
| style="text-align:left;" | Langform der Grußformel: „Za poglavnika i dom – Spremni!”<!-- kroatische Anführungszeichen --> ''(Für den Führer und die Heimat – Bereit!)''<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Spanien]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Falange]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| [[Datei:Bandera FE JONS.svg|x40px|border]]<br />
| 1933<br />
| «Arriba España!»<br />''(Vorwärts Spanien!)''<br />
| 1936–1977<br />
| style="text-align:left;" | Ab 1937 als Teilfraktion innerhalb der [[Franquismus|franquistischen]] Staatspartei [[Franquismus#Der Movimiento Nacional|F.E.T. y de las JONS]].<br />
|-<br />
| style="text-align:left;" | [[Ungarn]]<br />
| style="text-align:left;" | [[Pfeilkreuzler]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| [[Datei:Flag of the Arrow Cross Party 1937 to 1942.svg|border|x40px]]<br />
| 1935<br />
| „Kitartás!”<!-- ungarische Anführungszeichen --><br />''(Durchhalten!)''<br />
| 1944–1945<br />
|-<br />
|}<br />
<br />
{| class="wikitable toptextcells"<br />
|+ Parteien, die überwiegend als „faschistisch“ eingestuft werden, aber kein eigenes Regime aufbauen konnten<br />
|- class="hintergrundfarbe5"<br />
! Land || Partei/Bewegung || Gründung || Anmerkung<br />
|-<br />
| rowspan=2|[[Belgien]]<br />
| [[Rexismus|Rexisten]] (Wallonien)<br /><br />
| style="text-align:center;"| 1930<br />
| Zunächst konservative Rechte, während der deutschen Besatzung faschistisch<ref name="Payne95_15" /><ref>Roger Griffin: ''The Nature of Fascism.'' Pinter, 1991, S. 132–133.</ref><br />
|-<br />
| [[Verdinaso]] (Flandern)<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1931<br />
|-<br />
| [[Bulgarien]]<br />
| [[Bund der Bulgarischen Nationalen Legionen|SBNL]]<br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| [[Dänemark]]<br />
| [[Dänische Nationalsozialistische Arbeiterpartei]]<ref>Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 307–308.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1930<br />
|-<br />
| rowspan=4| [[Frankreich]]<br />
| [[Faisceau]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1925<br />
|-<br />
| [[Mouvement Franciste]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| [[Parti populaire français]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1936<br />
|-<br />
| [[Rassemblement national populaire]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1941<br />
|-<br />
| [[Vereinigtes Königreich|Großbritannien]]<br />
| [[British Union of Fascists]]<ref>Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 305.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1935<br />
|-<br />
| [[Irland]]<br />
| [[Greenshirts|National Corporate Party]]<ref name="Payne95_306">Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 306.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1935<br />
|-<br />
| [[Island]]<br />
| [[Nationalistische Partei (Island)|Nationalistische Partei]]<ref name="Payne95_308">Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 308.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| [[Königreich Jugoslawien|Jugoslawien]] / [[Serbien im Zweiten Weltkrieg|Serbien]]<br />
| [[ZBOR]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1935<br />
|-<br />
| [[Lettland]]<br />
| [[Donnerkreuz]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1932<br />
|-<br />
| [[Liechtenstein]]<br />
| [[Volksdeutsche Bewegung in Liechtenstein]]<br />
| style="text-align:center;"| 1938<br />
|-<br />
| [[Litauen]]<br />
| [[Eiserner Wolf]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1927<br />
|-<br />
| [[Luxemburg]]<br />
| [[Volksdeutsche Bewegung]]<br />
| style="text-align:center;"| 1940<br />
|-<br />
| rowspan=2| [[Niederlande]]<br />
| [[Nationaal-Socialistische Beweging]]<ref name="Payne95_302">Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 302.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1931<br />
|-<br />
| [[Nationaal-Socialistische Nederlandsche Arbeiderspartij]]<ref name="Payne95_302" /><br />
| style="text-align:center;"| 1931<br />
|-<br />
| [[Norwegen]]<br />
| [[Nasjonal Samling]]<ref name="Payne95_308" /><br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| [[Österreich]]<br />
| [[Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichs – Hitlerbewegung|NSDAP (Hitlerbewegung)]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1926<br />
|-<br />
| rowspan=2| [[Polen]]<br />
| Falanga<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1935<br />
| faschistische Abspaltung vom [[Nationalradikales Lager|Nationalradikalen Lager]]<br />
|-<br />
| [[Obóz Zjednoczenia Narodowego]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1937<br />
|-<br />
| [[Portugal]]<br />
| [[Movimento Nacional-Sindicalista]]<ref name="Payne95_15" /><br />
| style="text-align:center;"| 1932<br />
|-<br />
| [[Russland]]<br />
| [[Russische Nationale Einheit]]<ref>{{Literatur |Autor=[[Taras Kuzio]] |Titel=Russian Nationalism and the Russian-Ukrainian War |Verlag=Routledge |Ort=London/New York |Datum=2022 |ISBN=978-1-03-204320-3 |Seiten=148 |Sprache=en |Online={{Google Buch |BuchID=AbBTEAAAQBAJ |Seite=1982}}}}</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1990<br />
|-<br />
| [[Schweden]]<br />
| [[Nationalsocialistiska Arbetarepartiet]]<ref name="Payne95_306" /><br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| [[Schweiz]]<br />
| [[Nationale Front (Schweiz)|Nationale Front]]<ref name="Payne95_309">Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 309.</ref><br />
| style="text-align:center;"| 1930<br />
|-<br />
| rowspan=3| [[Sowjetunion]]<br />
| [[Organisation Ukrainischer Nationalisten]]/<br>[[Ukrainische Aufständische Armee]]<br />
| style="text-align:center;"| 1929<br>1942<br />
| Zunehmend terroristische Methoden und Orientierung am deutschen Nationalsozialismus<ref>Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 323.</ref><br />
|-<br />
| [[Russische Faschistische Partei]]<br />
| style="text-align:center;"| 1931<br />
|-<br />
| [[Weißruthenische Nationalsozialistische Partei]]<br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
|-<br />
| rowspan=4| [[Tschechoslowakei]]<br />
| [[Rodobrana]]<br />
| style="text-align:center;"| 1923<br />
|-<br />
| [[Národní obec fašistická|Faschistische Volks-Gemeinde]]<ref name="Payne95_309" /><br />
| style="text-align:center;"| 1926<br />
|-<br />
| [[Vlajka]]<ref name="Payne95_309" /><br />
| style="text-align:center;"| 1928<br />
|-<br />
| [[Sudetendeutsche Partei]]<br />
| style="text-align:center;"| 1933<br />
| Zunächst eher am österreichischen Ständestaat orientiert, dann Hinwendung zum deutschen Nationalsozialismus<ref>Stanley G. Payne: ''A History of Fascism, 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, Madison (WI) 1995, S. 310.</ref><br />
|}<br />
<br />
== Außereuropäische Staaten ==<br />
{{Belege fehlen |2=Der nachfolgende Abschnitt}}<br />
=== Ägypten (1933–1938) ===<br />
Die ''[[Jungägyptische Partei#Jungägyptische Partei (1930er)|Jungägyptische Partei]]'' wurde im Oktober 1933 als eine radikal-nationalistische Gruppierung mit religiöser Orientierung von den 22-jährigen [[Ahmed Husayn]] und Fathi Radwan gegründet. Das Ziel der Partei war die Schaffung eines Großreiches durch die Eingliederung des [[Sudan]]s an Ägyptens, welches die Rolle einer „Führungsmacht sowohl innerhalb der [[Arabische Welt|arabischen]] als auch der islamischen Welt“ einnehmen sollte. Die Partei verfügte mit den sogenannten ''Grünhemden'' über eine [[paramilitär]]ische Organisation. Die Jungägyptische Partei orientierte sich mit dem politischen Machtzuwachs Deutschlands auch am nationalsozialistischen Deutschen Reich, dem Gegner [[Vereinigtes Königreich|Großbritanniens]], und verfolgte ebenfalls die Strategie eines nationalen Kapitalismus. Unter dem Druck der Regierung wurden die Grünhemden im Jahre 1938 verboten.<br />
<br />
=== Brasilien (1932–1938) ===<br />
Der ''[[Brasilianischer Integralismus|Brasilianische Integralismus]]'' war eine [[Rechtsextremismus|rechtsextreme]] politische Bewegung in [[Brasilien]], welche sich in der 1932 gegründeten Partei '''Ação Integralista Brasileira''' (Integralistische Aktion Brasiliens) formierte. Die Integralisten erlangten unter der Präsidentschaft von [[Getúlio Vargas]] zeitweise politischen Einfluss, wurden jedoch mit der Ausrufung des [[Estado Novo (Brasilien)|Estado Novo]] im Jahr 1937 aufgelöst. Ein integralistischer [[Putsch]]versuch 1938 gegen den Präsidenten scheiterte und führte zur endgültigen Zersplitterung der Bewegung.<br />
<br />
=== Chile (1932–1939) ===<br />
Die ''[[Nationalsozialistische Bewegung Chiles]]'' oder auch ''Nacismo'' war eine [[Nationalsozialismus|nationalsozialistische]] [[Politische Partei|Partei]] in [[Chile]]. Obwohl die Partei gemessen an Mitgliederzahlen und Wahlergebnissen immer eine [[Kleinpartei]] blieb, war sie nicht unbedeutend, insbesondere wegen eines [[Putsch]]versuches 1938. Wichtigste Persönlichkeit war der „Jefe“ [[Jorge González von Marées]]. Anfang 1939 taufte sich die Partei in ''Vanguardia Popular Socialista'' um und distanzierte sich vom Faschismus.<br />
<br />
=== Britisches Mandat Palästina (1930–1933) ===<br />
Der [[Revisionistischer Maximalismus|Revisionistische Maximalismus]], ein Teil der [[Brit HaBirionim|Brit-HaBirionim]]-Fraktion des [[Revisionistischer Zionismus|Revisionistischen Zionismus]], war eine von [[Abba Ahimeir]], [[Uri Zvi Greenberg]] und [[Joshua Yeivin]] entwickelte Ideologie. Sie verband Faschismus mit [[Zionismus]]: Ihr Ziel war es, einen „[[Judenstaat]]“ nach dem Vorbild des faschistischen Italien zu gründen. 1933 verhaftete die britische Verwaltung mehrere Mitglieder, einschließlich Ahimeirs, und klagte sie des Mordes an [[Chaim Arlosoroff]] an. Obwohl freigesprochen, litt das Ansehen der Gruppe unter dieser Anklage, was zu ihrer Isolierung und schließlich zu ihrer Auflösung führte.<br />
<br />
=== Japan (1926–1945) ===<br />
Der revolutionäre Impuls zahlreicher Theoretiker (wie [[Kita Ikki]] oder [[Takabatake Motoyuki]]), Gruppierungen und Parteien ab den 1920er Jahren war schwächer als in Europa ausgeprägt und eher auf die Vorherrschaft einer bürokratischen, nichtdemokratischen, [[Konstitutionelle Monarchie|konstituellen Monarchie]] auf Basis traditioneller Werte als auf eine völlig neue Ordnung gerichtet. Die ab 1936 stärksten Gruppen, die nach der [[Hitlerjugend]] geschaffene ''Großjapan-Jugendpartei'' ({{lang|ja|大日本青年党}}, ''[[Dai-Nippon Seinen-tō]]'') und die politische Partei ''Gesellschaft des Östlichen Weges'' ({{lang|ja|東方会}}, ''[[Tōhōkai]]''), waren keine faschistischen Bewegungen, kamen aber faschistischen Organisationen am Nächsten.<ref name="Kasza" /> Der japanische Autoritarismus ab 1940 kann eher als ein komplexes Gemenge von Staatsbürokraten, konservativen Wirtschaftsführern und militärischen [[Prätorianer]]n beschrieben werden.<ref name="Payne">[[Stanley Payne]]: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Propyläen, 2001, ISBN 3-549-07148-5, S. 411.</ref><br />
<br />
Die Anfangsperiode der [[Shōwa-Zeit]] von 1926 bis 1945, speziell ab dem [[Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg|Angriff auf China 1937]], als Faschismus zu bezeichnen ist problematisch. Dennoch wird der Ausdruck ''[[Tennō]]-Faschismus'' durchaus verwendet.<ref>Siehe etwa Georg Blume: [http://www.taz.de/nc/1/archiv/archiv-start/?ressort=me&dig=2001%2F03%2F31%2Fa0096&cHash=4c2c1bebb2 Pokémon zählt nicht], taz vom 31. März 2001, sowie Ruth Schneider: {{Webarchiv|text=''Tennofaschismus. Grundstrukturen des Tennō-Faschismus und seiner außenpolitischen Richtlinien.'' |url=http://www.japanlink.de/gp/gp_geschichte_tennofaschismus.shtml |wayback=20110719045908 }} ''japanlink.de,'' beides abgerufen am 7. Oktober 2009.</ref> Westliche Wissenschaftler räumen den Unterschieden zu den europäischen Faschismen breiteren Raum ein, modifizieren den Begriff zu „Militär- oder Kaisersystemfaschismus“, oder lehnen ihn – trotz Parallelen hinsichtlich [[Autoritarismus]], [[Militarismus]], [[Imperialismus|imperialen Anspruch]] und [[Rassenideologie|rassischer Ideologie]] – in Bezug auf Japan als ungeeignet ab. So hält George M. Wilson das Konzept eines „japanischen Faschismus“ für verfehlt, da in Japan keine politische Bewegung die Macht an sich reißen wollte, die formelle verfassungsmäßige Autorität zumindest nach außen intakt geblieben sei und ein gewisses Maß an [[Pluralismus (Politik)|Pluralismus]] weiter existiert habe.<ref>George M. Wilson: ''A New Look at the Problem of Japanese Fascism.'' In: ''Comparative Studies in Souety and History,'' 1967/68, S. 401–412; zitiert nach Payne 2001, S. 402.</ref> Gregory J. Kasza verweist auf das Fehlen wesentlicher Elemente des Faschismus, wie einer Einheits- oder Massenpartei oder eines „Führers“, sowie auf die großteils kriegsbedingte Einführung „typisch faschistischer“ Elemente. Die Reihenfolge von „Bewegung – Ideologie – Regime“ des europäischen Faschismus sei in Japan genau in umgekehrter Reihenfolge anzutreffen.<ref name="Kasza">Gregory J. Kasza: ''Fascism from above? Japan’s kakushin right in comparative perspective.'' In: Stein, Ugelvik, Larsen: ''Fascism Outside Europe. The European Impulse Against Domestic Conditions in the Diffusion of Global Fascism.'' Columbia University Press, 2002, S. 185 ff.</ref> Ein Versuch der Etablierung einer Einheitspartei auf Konsensbasis war die ''[[Taisei Yokusankai]]'' (1940–1945) von Premierminister [[Konoe Fumimaro]], die jedoch von inneren Grabenkämpfen beherrscht war und aus der beispielsweise die ''Tōhōkai'' 1941 wieder austrat. Vor der [[Shūgiin-Wahl 1942]] gründete Premierminister [[Tōjō Hideki]] die ''[[Yokusan Seijikai]]'' ({{lang|ja-Hani|翼賛政治会}}), verbot alle anderen Parteien und nahm alle gewählten Abgeordneten zwangsweise auf.<ref>Mayumi Itoh: ''The Hatoyama Dynasty.'' Palgrave Macmillan, 2003, ISBN 978-1-4039-6331-4, S. 68.</ref><br />
<br />
=== Südafrika (1939–1952) ===<br />
Die [[Ossewabrandwag]]-Bewegung wurde 1939 von [[Calvinismus|calvinistischen]] [[Buren]] gegründet. Die Organisation war der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland gegenüber positiv eingestellt und wandte sich vehement gegen die Teilnahme der Südafrikanischen Union am Zweiten Weltkrieg auf Seiten der [[Alliierte]]n. Die Mitglieder weigerten sich, am Krieg teilzunehmen, und schikanierten uniformierte Soldaten. Am 1. Februar 1941 kam es in [[Johannesburg]] zu einem Gewaltausbruch, bei dem 140 Soldaten durch OB-Mitglieder verletzt wurden.<br />
Die ''Stormjaers'' („Sturmjäger“) waren der paramilitärische Flügel der Organisation und waren der [[Sturmabteilung|SA]] nachempfunden. Diese verübten während des Krieges Sprengstoffanschläge auf Versorgungsleitungen und Bahnstrecken. 1941 hatte die Ossewabrandwag rund 350.000 Mitglieder. Im Dezember 1942 war die Ossewabrandwag durch Präsident [[Jan Smuts]] verboten worden; Tausende Mitglieder, unter ihnen der spätere Premierminister Vorster, wurden bis zum Kriegsende in [[Internierungslager]]n inhaftiert. Die Gruppierung löste sich 1952 endgültig auf.<br />
<br />
=== Syrien und Libanon (1932–1943) ===<br />
Die [[Pansyrismus|pansyrische]] ''[[Syrische Soziale Nationalistische Partei]]'' wurde 1932 von dem [[griechisch-orthodox]]en Journalisten [[Antun Sa'ada]] in [[Beirut]] gegründet. Der Politikwissenschaftler [[Gilbert Achcar]] bezeichnete sie als „ein(en) levantinischen Klon der Nazi-Partei in fast jeder Hinsicht: in ihrer politischen Ideologie, einschließlich der Aufklärungsfeindlichkeit, und ihrer geographisch-rassisch-nationalistischen Theorie mit pseudowissenschaftlichem Anstrich ebenso wie in der Organisationsstruktur und im Führerkult. Sogar die Parteifahne in Rot und Schwarz mit einer vierzackigen Schraube anstelle des Hakenkreuzes ist der Nazi-Fahne nachempfunden.“ Nachdem die Bewegung von Deutschland bei einem geplanten Putschversuch 1935 nicht unterstützt wurde, distanzierte sich diese allmählich vom Nationalsozialismus und Sa'ada emigrierte schließlich 1938 nach Südamerika.<br />
<br />
Im Libanon wurde außerdem 1936 die ''[[Kata’ib]]'' von [[Pierre Gemayel]] gegründet und war von der spanischen [[Falange]] inspiriert. Die ursprünglichen Uniformen beinhalteten die [[Braunhemd]]en. Die Partei nahm im libanesischen Kampf um die Unabhängigkeit von [[Frankreich]] teil, welche 1943 erreicht wurde.<br />
<br />
=== Vereinigte Staaten von Amerika ===<br />
==== Ku-Klux-Klan ====<br />
Laut [[Sarah Churchwell]] war der amerikanische [[Ku-Klux-Klan]] die weltweit erste faschistische Bewegung. Nach dem Auftreten des Faschismus in Italien war es in den 1920er und 1930er Jahren in den USA Gemeingut, dass er dem Ku-Klux-Klan entspreche. [[Langston Hughes]] meinte 1935: „Faschismus ist das, was der Ku-Klux-Klan errichten wird, wenn er sich mit der [American] Liberty League (1934-1940) verbindet und Maschinengewehre und Flugzeuge statt ein paar Meter Seil benutzt.“ Ebenfalls 1935 schrieb [[W. E. B. Du Bois]] in ''Black Reconstruction in America,'' die Idee des [[Jim-Crow-Gesetze|Jim-Crow-Amerika]] von der weißen Vorherrschaft könne als „Faschismus“ betrachtet werden.<br />
<br />
Die afroamerikanischen Zeitungen ''Courier'' und ''Age'' meinten in den 1930er Jahren, der deutsche Nationalsozialismus habe von [[Madison Grant]] und [[Lothrop Stoddard]] sowie vom Ku-Klux-Klan und dem amerikanischen Rassismus das „Modell für die Unterdrückung und Verfolgung seiner eigenen Minderheiten“ übernommen. Auch Nationalsozialisten sahen die Verwandtschaft. Jahrzehnte später fand [[Amiri Baraka]], das Ende der [[Reconstruction|Rekonstruktion]]-Periode (1877) habe „Afroamerika in den Faschismus geworfen.“ Wie [[Robert O. Paxton]] 2004 in ''Anatomie des Faschismus'' schrieb, „war die erste Version des Klans im besiegten amerikanischen Süden wohl eine bemerkenswerte Vorschau darauf, wie faschistische Bewegungen im Europa der Zwischenkriegszeit funktionieren würden.“<ref name="Churchwell-57-68">Sarah Churchwell: ''Der amerikanische Faschismus: Vom Ku-Klux-Klan zu Trump.'' In: ''Blätter für deutsche und internationale Politik,'' 9/2020, S. 57–68 ([https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/september/der-amerikanische-faschismus-vom-ku-klux-klan-zu-trump#_ftnref3 online]).</ref><br />
<br />
==== Nationalsozialismus-Sympathisanten (1933–1945) ====<br />
1933 ursprünglich als ''Friends of New Germany'' von [[Heinz Spanknöbel]] in [[Chicago]] gegründet, entwickelte sich der ''[[Amerikadeutscher Bund|Amerikadeutsche Bund]]'' zur größten nationalsozialistischen Organisation in den [[USA]]. Der Amerikadeutsche Bund bekannte sich zur [[Idiosynkrasie|idiosynkratischen]] „Verfassung, der Fahne, und einem von weißen Nichtjuden gelenkten, wahrhaft freien Amerika“. Er verfolgte mehrere Ziele, darunter den Kampf gegen den von [[Samuel Untermyer]] initiierten, jüdischen Warenboykott NS-Deutschlands, die Bildung einer Urzelle für eine neue US-Armee im Kampf gegen den [[Kommunismus]] und die Übernahme von den Teilen der NS-Wirtschaft, die man zur Wiederherstellung nach der [[Weltwirtschaftskrise]] für sinnvoll hielt. Der Bund war nach dem [[Führerprinzip]] unter dem „Bundesführer“ als „historischer Persönlichkeit“ organisiert. Nach der NS-Vorstellung, dass [[Abstammungsprinzip|Blut wichtiger]] ist als [[Staatsbürgerschaft]] oder [[Geburtsortsprinzip|Geburtsort]], waren alle [[Deutschamerikaner]], die man „Deutsche in Amerika“ nannte, somit dem „[[Vaterland]]“ verbunden. Adaptiert wurden u.&nbsp;a. der [[Hitlergruß]], [[Blut und Ehre|Blut-und-Ehre-Gürtel]], [[Swastika|Hakenkreuz]]-Fahnen. Im Jahr 1939 wurde Bund-Führer [[Fritz Julius Kuhn]] wegen Unterschlagung von Geldern seiner Organisation und Steuerhinterziehung zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Ihm folgten für jeweils kurze Zeit mehrere neue Bund-Führer. Die Organisation löste sich in der Folgezeit auf.<br />
<br />
Dagegen hatte schon 1935 [[Sinclair Lewis]] in seinem Roman ''[[Das ist bei uns nicht möglich]]'' hervorgehoben, dass die gefährlichsten Unterstützer des Faschismus in Amerika jene wären, die „das Wort ''Faschismus'' verleugnen und die Versklavung an den Kapitalismus im Namen der verfassungsmäßigen und traditionellen einheimischen amerikanischen Freiheit predigen.“ Der Sohn des Rabbis [[Stephen Wise]], James Waterman Wise, warnte: „Das Amerika von Macht und Reichtum [sei] ein Amerika, das den Faschismus braucht“, und vertrat die Auffassung, ein authentischer amerikanischer Faschismus werde kein Hakenkreuz zeigen, sondern das Sternenbanner und vertraute nationale Gebräuche. Faschismus-Experten wie Paxton, [[Roger Griffin]] und [[Stanley G. Payne]] argumentieren seit langem, dass jede Version des Faschismus ihre eigene nationale Identität habe. Laut Robert O. Paxtons bestimmt sich der Faschismus über seine Praxis. Doch teilen seine jeweiligen Ausprägungen „einige auffällige Züge miteinander, darunter die Nostalgie nach einer reineren, mystischen, oft ländlichen Vergangenheit; Kulte der Tradition und kulturellen Erneuerung; paramilitärische Gruppen; die Delegitimierung politischer Gegner und die Dämonisierung von Kritikern; die Verallgemeinerung von einigen Gruppen als authentisch national, während alle anderen Gruppen entmenschlicht werden; Intellektuellenfeindlichkeit und Angriffe auf die freie Presse; Anti-Modernismus; fetischisierte patriarchale Maskulinität; sowie ein verzweifeltes Opfergefühl und kollektiver Groll.“ Die Annahme – etwa [[Samuel Moyn]]s – dagegen, dass alles einheimisch Amerikanische gar nicht faschistisch sein könne, bezeichnet Churchwell als [[Amerikanischer Exzeptionalismus|exzeptionalistisch]].<ref name="Churchwell-57-68" /><br />
<br />
==== ''America First'' ====<br />
''America First'' war zwischen 1915 und 1941 ursprünglich der Slogan von amerikanischen fremdenfeindlichen, [[Nativismus (Sozialwissenschaften)|nativistischen]] Bewegungen und Politikern. [[Huey Long]], 1928–1933 Gouverneur von Louisiana, war der amerikanische Spitzenpolitiker, dem man am häufigsten faschistische Tendenzen vorwarf. Er verhängte das Kriegsrecht, zensierte die Zeitungen, verbot öffentliche Versammlungen und besetzte Gerichte und Parlamente mit seinen Kumpanen. Er plante 1936 für das Präsidentenamt zu kandidieren, fiel aber 1935 einem Attentat zum Opfer. Das [[Isolationismus|isolationistische]] ''[[America First Committee]]'' 1940/1941 mit [[Charles Lindbergh]] war bestrebt, die USA aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten. Longs früherer Stellvertreter Reverend Gerald L.K. Smith, der 1944 mit dem Versprechen das „jüdische Problem“ zu beheben als Präsident kandidierte, nannte seine Partei „America First“.<br />
<br />
Den Slogan nutzte [[Donald Trump]] später für seinen Präsidentschaftswahlkampf. Wie Paxton schrieb, werde der Faschismus durch seine „mobilisierenden Leidenschaften“ beschleunigt, mehr von Gefühlen als von Gedanken angetrieben und seine „unklaren und synthetischen Doktrinen“ in Verbindung mit seinem Ultra-Nationalismus und Anti-Intellektualismus bedeuteten, dass er nie über einen kohärenten Satz ideologischer Doktrinen verfügt. Deshalb findet Churchwell: „Ein nativistischer reaktionärer Populismus ist in Amerika nichts Neues – er hatte es bisher nur noch nie ins Weiße Haus geschafft. Letztlich zählt es wenig, ob Trump im Herzen ein Faschist ist, solange er faschistisch handelt.“ Die ihn unterstützenden heutigen faschistischen Kräfte in den USA würden sich zwar vom europäischen Faschismus der 1930er Jahre unterscheiden, doch hegten sie ebenfalls klassisch faschistische Vorstellungen von nostalgischer Erneuerung und Phantasien rassischer Reinheit. Sie würden das angeblich authentische Volk feiern und wollten andere nichtig machen. Zudem würden sie Sündenböcke für wirtschaftliche Instabilität benennen, die Legitimität politischer Gegner ablehnen und betrieben die Dämonisierung von Kritikern sowie Angriffe auf die freie Presse und behaupteten, der Volkswille rechtfertige das gewaltsame Aufzwingen militärischer Macht.<ref name="Churchwell-57-68" /><br />
<br />
== Grenzfälle und unechter Faschismus ==<br />
Faschismus wird auch als politischer Kampfbegriff benutzt, so dass der Vorwurf, dass jemand oder etwas faschistisch sei, zuweilen auch unbegründet erhoben wird. Bei manchen Bewegungen ist es außerdem in der Forschung umstritten, inwieweit sie faschistisch sind. So wird [[Putin]] von einigen Autoren als Faschist bezeichnet,<ref>Siehe beispielsweise [https://www.nzz.ch/meinung/wladimir-putin-ist-ein-faschist-wie-er-im-lehrbuch-steht-ld.1673256 Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat]</ref> aber darüber besteht kein Konsens in der Forschung.<br />
<br />
Der [[Ständestaat (Österreich)|Ständestaat in Österreich]] wurde auch als [[Austrofaschismus]] charakterisiert. Dem wurde aber auch widersprochen. Der Historiker [[Ernst Hanisch (Historiker)|Ernst Hanisch]] spricht unter Verweis auf [[Otto Bauer]] von Halbfaschismus, um die Jahre 1933 bis 1938 zu charakterisieren.<ref>Ernst Hanisch: ''Wer waren die Faschisten? Anmerkungen zu einer wichtigen Neuerscheinung.'' In: ''Zeitgeschichte.'' 9 (1982), S.&nbsp;184 f.</ref><br />
<br />
Strittig ist auch, wie weit der Faschismus in den verschiedenen Formen des aktuellen [[Populismus]] und Rassismus fortlebt. Der argentinische Historiker [[Federico Finchelstein]] vertritt die These, dass die Existenz eines zwingenden Zusammenhangs zwischen Faschismus und Holocaust (bzw. Antisemitismus) vor allem von denen postuliert wird, die die Fortexistenz des Faschismus im Populismus und Rassismus nach 1945 leugnen.<ref>Federico Finchelstein: ''Del fascismo al populismo en la historia''. Barcelona 2019.</ref><br />
<br />
Ebenfalls in Bezug auf den strittigen Fortbestand des Faschismus in Form aktueller politischer Bewegungen argumentiert der deutsche Sozialwissenschaftler [[Christian Fuchs (Sozialwissenschaftler) | Christian Fuchs]], dass sich moderne Formen des Faschismus digitaler Plattformen bedienen, um ihr politisches Gedankengut zu teilen, worin ein Unterschied zu historischen Formen des Faschismus bestehe. Als Beispiele für diesen virtuellen Fortbestand faschistischer Ideologien führt er an, welche Rolle beispielsweise [[Twitter]] für die Verbreitung von Desinformationen und der Selbstdarstellung von [[Donald Trump]] als eine Art [[Führer|Führerfigur]] spiele.<ref>[[Christian Fuchs (Sozialwissenschaftler) | Christian Fuchs]]: ''Digital Fascism''. London 2022.</ref><br />
<br />
== Abgeleitete Begriffe ==<br />
Durch Wortzusammensetzung wurden verschiedene abwertende Begriffe wie [[Islamfaschismus]], [[Klerikalfaschismus]], [[Linksfaschismus]] und [[Ökofaschismus]] geprägt.<br />
<br />
[[Antifaschismus]] bezeichnet soziale Bewegungen, die sich gegen den Faschismus wenden.<br />
<br />
== Literatur ==<br />
; Vergleichende Faschismusforschung<br />
* [[Arnd Bauerkämper]]: ''Der Faschismus in Europa 1918–1945.'' Reclam, Stuttgart 2006, ISBN 3-15-017049-4.<br />
* Jerzy W. Borejsza: ''Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa.'' Fischer TB, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-60160-6.<br />
* [[Francis L. Carsten]]: ''Der Aufstieg des Faschismus in Europa.'' Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968.<br />
* [[Roger Griffin]]: ''Faschismus. Eine Einführung in die vergleichende Faschismusforschung'' (= ''Explorations of the Far Right,'' Band 7). Eingeleitet und übersetzt von Martin Kristoffer Hamre, ibidem-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-8382-1397-2.<br />
* Roger Griffin, Matthew Feldman (Hrsg.): ''Fascism. Critical Concepts in Political Science.'' Fünf Bände. Routledge, London 2004.<br />
* [[Paul Gottfried]]: ''Fascism. The Career of a Concept.'' Northern Illinois University Press, DeKalb 2016, ISBN 978-0-875-80493-4.<br />
* [[Alexander Häusler (Sozialwissenschaftler)|Alexander Häusler]], Michael Fehrenschild: [https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_26_Faschismusstudie.pdf ''Faschismus in Geschichte und Gegenwart. Ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs,''] [[Rosa-Luxemburg-Stiftung]] MANUSKRIPTE – Neue Folge 29, 2020, ISSN 2194-864X.<br />
* Armin Heinen: ''Erscheinungsformen des europäischen Faschismus.'' In: [[Christof Dipper]], Lutz Klinkhammer, [[Alexander Nützenadel]]: ''Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder'' (=&nbsp;Historische Forschungen; Bd. 68). Duncker & Humblot, Berlin 2000, ISBN 3-428-09843-9, S. 3–20.<br />
* [[Walter Laqueur]], [[George L. Mosse]] (Hrsg.): ''Internationaler Faschismus 1920–1945.'' Nymphenburger, München 1966, ISBN 978-0-06-138955-9.<br />
* Philip Morgan: ''Fascism in Europe, 1919–1945.'' Routledge, New York 2003, ISBN 978-0-415-16942-4.<br />
* [[Ernst Nolte]]: ''Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus.'' Piper, München 1984, ISBN 3-492-10365-0.<br />
* [[Robert Paxton]]: ''Anatomie des Faschismus.'' DVA, München 2006, ISBN 3-421-05913-6.<br />
* [[Stanley G. Payne]]: ''Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung.'' Propyläen, Berlin 2001, ISBN 3-549-07148-5.<br />
* [[Werner Röhr]]: ''Faschismusforschung im Spiegel der Kritik.'' Aurora, Berlin 2014, ISBN 978-3-359-02536-8.<br />
* Ismael Saz, Zira Box, Toni Morant, Julian Sanz (Hrsg.): ''Reactionary Nationalists, Fascists and Dictatorships in the Twentieth Century.'' Palgrave, 2019.<br />
* [[Thomas Schlemmer]], [[Hans Woller]] (Hrsg.): ''Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung.'' de Gruyter/Oldenbourg, München 2014, ISBN 978-3-486-77843-4.<br />
* [[Jason Stanley]]: ''How Fascism Works: The Politics of Us and Them.'' Random House, New York 2018, ISBN 978-0-525-51183-0.<br />
** deutsche Übersetzung: ''Wie Faschismus funktioniert'', Westend, Neu-Isenburg 2024, ISBN 978-3-86489443-5.<br />
* [[Wolfgang Wippermann]]: ''Europäischer Faschismus im Vergleich (1922–1982).'' Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11245-7.<br />
* Wolfgang Wippermann: ''Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute.'' Primus, Darmstadt 2009, ISBN 3-89678-367-X.<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat|Fascism|Faschismus}}<br />
{{Wiktionary}}<br />
{{Wiktionary|Faschist}}<br />
{{Wikiquote}}<br />
* {{DNB-Portal|4016494-9|TYP=Literatur zum Thema}}<br />
* [https://web.archive.org/web/20081204111538/http://www.shoa.de/drittes-reich/ideologie-und-weltanschauung/143.html ''Faschismus''] auf [[shoa.de]]<br />
* [http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr66s.htm Zusammenfassung/Rezension zu Wolfgang Wippermann: ''Europäischer Faschismus im Vergleich 1922–1982'']<br />
* ''[http://www.nybooks.com/articles/17985 ‚The Anatomy of Fascism‘], [[Zeev Sternhell]], reply by Adrian Lyttelton,'' [[The New York Review of Books]] vom 12. Mai 2005 (englisch)<br />
* Beate Scholz: [http://d-nb.info/971747318/34 ''Italienischer Faschismus als ‚Export‘-Artikel (1927–1935). Ideologische und organisatorische Ansätze zur Verbreitung des Faschismus im Ausland''] (PDF; 1,7&nbsp;MB)<br />
* Uta Ruscher: [http://www.utaruscher.ch/pubblicazioni.asp?nid=2&lid=4 ''Margherita Sarfatti, Jüdin und Wegbereiterin des Faschismus.'' Leseprobe] (PDF)<br />
* [http://docupedia.de/zg/Esposito_faschismus_v1_de_2016 Fernando Esposito: ''Faschismus,''] Version: 1.0, in: [[Docupedia-Zeitgeschichte]], 6. Mai 2016<br />
* [https://antifascist-europe.org/ Übersicht über rechtsextreme Netzwerke in Europa] (engl.)<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=s|GND=4016494-9}}<br />
<br />
[[Kategorie:Faschismus| ]]</div>ImageUploader12345https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Partito_Nazionale_Fascista&diff=255674965Partito Nazionale Fascista2025-05-03T00:24:54Z<p>ImageUploader12345: /* Symbole */ Entschuldigung, ich spreche kein Deutsch, aber ich habe das für Sie per Google übersetzt. Es handelt sich um eine Version der Flagge der Nationalfaschistischen Partei, die bis vor kurzem häufig auf Wikipedia verwendet wurde. Diese Version der Flagge ist in einem Film auf der Beschreibungsseite der Datei zu sehen, wo die Flagge über einem Gebäude der Nationalfaschistischen Partei weht. Außerdem sind mehrere dieser Flaggen neben Nazi-Flaggen bei einer Veranstaltung des faschistische.</p>
<hr />
<div>{{Infobox Partei<br />
| Partei = Partito Nazionale Fascista<br />''Nationale Faschistische Partei''<br />
| Parteilogo = [[Datei:National Fascist Party logo.svg|rahmenlos|hochkant]]{{center|Parteiabzeichen ab 1927}}<br />
| Parteivorsitzender = [[Benito Mussolini]]<br />
| Bild Parteivorsitz = <br />
| Generalsekretär = <br />
| Stellvertretende Vorsitzende = <br />
| Gründung = 7. November 1921<br />
| Hauptsitz = [[Palazzo della Farnesina|Palazzo del Littorio]], Rom<br />
| Jugendorganisation = 1921–1926:<br />[[Avanguardia Giovanile Fascista]] (AGF)<br />1926–1937:<br/ >[[Balilla|Opera Nazionale Balilla]] (ONB)<br/ >1937–1943:<br />[[Gioventù italiana del littorio]] (GIL)<br />
| Zeitung = ''[[Il Popolo d’Italia]]''<br />
| Ausrichtung = [[Italienischer Faschismus]]<br />
| Zuschüsse = <br />
| Mitglieder = 2,4 Millionen (1942)<ref>Hans Woller: ''Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.'' S.&nbsp;118.</ref><br />
| Durchschnittsalter = <br />
| Mindestalter = <br />
| Frauenanteil = <br />
| Farben = schwarz<br />
}}<br />
[[Datei:Mussd.jpg|mini|[[Benito Mussolini|Mussolini]] mit Parteimitgliedern beim [[Marsch auf Rom]]]]<br />
<br />
'''Partito Nazionale Fascista''' (kurz '''PNF''', [[Deutsche Sprache|deutsch]] ''Nationale Faschistische Partei'' oder ''National-Faschistische Partei'') war von 1921 bis 1943 die [[politische Partei|Partei]] der [[Italienischer Faschismus|italienischen Faschisten]]. Der PNF ging aus den 1919 von [[Benito Mussolini]] gegründeten ''[[Fasci italiani di combattimento]]'' hervor, und war seit dem [[Marsch auf Rom]] von 1922 Teil einer [[Kabinett Mussolini|Koalitionsregierung]] mit Mussolini als [[Ministerpräsident]]. Seit den [[Parlamentswahlen in Italien 1924|Parlamentswahlen von 1924]] verfügte die vom PNF angeführte Parteienliste über eine parlamentarische [[Zweidrittelmehrheit]], anschließend wurde der PNF von 1926 bis 1943 die [[Diktatur|diktatorische]] [[Einheitspartei|Staatspartei]] des [[Königreich Italien (1861–1946)|faschistischen Italien]].<br />
<br />
== Geschichte ==<br />
Die [[Italienischer Faschismus|faschistische Bewegung]] bestand vor der Parteigründung vor allem aus den [[Paramilitär|paramilitärischen]] ''[[Schwarzhemden|Fasci di Combattimento]]''. Durch die Parteigründung am 9.&nbsp;November 1921 in [[Rom]] wurde die Umwandlung in eine umfassende politische Vereinigung vollzogen. Hauptaufgabe des PNF war es zunächst, dem italienischen [[Bürgertum]] die Angst vor einer faschistischen Eigendynamik zu nehmen und ihm so den Faschismus als attraktive Möglichkeit zur Bekämpfung einer [[Biennio rosso|wahrgenommenen sozialistischen Gefahr]] anzubieten.<br />
<br />
Während des [[Marsch auf Rom|Marsches auf Rom]] der Faschisten, konnte Mussolini die Kombination aus [[Politische Partei|politischer Partei]] und [[Militanz|militanter]] [[Massenbewegung (Soziologie)|Massenbewegung]] als effektives Druckmittel nutzen, um an die Macht zu gelangen. So wurde Mussolini am 29. Oktober 1922 Ministerpräsident, noch bevor der eigentliche Marsch auf Rom begonnen hatte, dieser fand erst zwei Tage später statt.<br />
<br />
Nach massiven Änderungen der Wahlgesetze durch das sog. „[[Acerbo-Gesetz]]“ gewann der<ref>Weil „partito“ im Italienischen ein maskulines Nomen ist, wird im Deutschen ebenfalls „der“ (statt „die“) verwendet.</ref> PNF deutlich die äußerst umstrittenen Wahlen vom April 1924. Ab 1928 war der PNF per Gesetz die einzige zugelassene Partei Italiens, was sich bis 1943 nicht änderte. Die Partei wurde nach der Verhaftung Mussolinis und seiner von [[Dino Grandi]] eingeleiteten Absetzung im [[Großer Faschistischer Rat|Großen Faschistischen Rat]] am 24.&nbsp;Juli 1943 aufgelöst und am 27.&nbsp;Juli offiziell von der Regierung [[Pietro Badoglio]]s [[Parteiverbot|verboten]].<br />
<br />
Nach der Befreiung Mussolinis („[[Unternehmen Eiche]]“) im September 1943 errichtete das Deutsche Reich in den von der [[Wehrmacht]] besetzten Gebieten [[Oberitalien|Norditaliens]] einen [[Marionettenregierung|Marionettenstaat]], die [[Italienische Sozialrepublik]] („Republik von Salò“), in der die Partei am 13.&nbsp;September als [[Partito Fascista Repubblicano|Republikanische Faschistische Partei]] (''Partito Fascista Repubblicano'', PFR) wiederbelebt wurde. Parteivorsitzender war [[Alessandro Pavolini]], Staats- und Regierungschef Benito Mussolini. Mit der Tötung Mussolinis durch die [[Resistenza]] und der Auflösung der Republik von Salò verschwand auch der PFR im April 1945.<br />
<br />
== Symbole ==<br />
<gallery class="center centered" heights="150" mode="packed-hover"><br />
Flag of Italian Fascism.svg|Flagge 1919–1923<br />
Flag of the National Fascist Party (PNF).svg|Flagge 1934–1943<br />
</gallery><br />
<br />
Wichtigstes Symbol des PNF war die [[Fascis]], auch Liktorenbündel genannt. In der Antike war es das Amtssymbol der höchsten Machthaber bei den [[Etrusker]]n und später im [[Römisches Reich|Römischen Reich]]. Die Rutenbündel wurden diesen von ihren Amtsdienern, den [[Liktor]]en, vorangetragen.<br />
<br />
== Sekretäre der Nationalen Faschistischen Partei ==<br />
* [[Michele Bianchi]] (November 1921 bis Januar 1923)<br />
* ''Triumvirat'': Michele Bianchi, Nicola Sansanelli, Giuseppe Bastianini (Januar 1923 bis Oktober 1923)<br />
* Francesco Giunta (15. Oktober 1923 bis 22. April 1924)<br />
* ''Quattuorvirat'': Roberto Forges Davanzati, Cesare Rossi, Giovanni Marinelli, Alessandro Melchiorri (23. April 1924 bis 15. Februar 1925)<br />
* [[Roberto Farinacci]] (15. Februar 1925 bis 30. März 1926)<br />
* Augusto Turati (30. März 1926 bis 7. Oktober 1930)<br />
* [[Giovanni Giuriati]] (Oktober 1930 bis Dezember 1931)<br />
* [[Achille Starace]] (Dezember 1931 bis 31. Oktober 1939)<br />
* [[Ettore Muti]] (31. Oktober 1939 bis 30. Oktober 1940)<br />
* Adelchi Serena (30. Oktober 1940 bis 26. Dezember 1941)<br />
* Aldo Vidussoni (26. Dezember 1941 bis 19. April 1943)<br />
* Carlo Scorza (19. April 1943 bis 25. Juli 1943)<br />
<br />
== Literatur ==<br />
* {{Literatur<br />
|Autor=Richard J. B. Bosworth<br />
|Titel=Mussolini’s Italy. Life under the Fascist Dictatorship, 1915–1945<br />
|Verlag=Penguin Books<br />
|Ort=New York NY u.&nbsp;a.<br />
|Jahr=2007<br />
|ISBN=978-0-14-303856-6<br />
}}<br />
* [[Stanley G. Payne]]: ''A History of Fascism. 1914–1945.'' University of Wisconsin Press, 1995 ([https://archive.org/details/historyoffascism00payn online]).<br />
<br />
== Siehe auch ==<br />
* [[Faschismus in Europa bis 1945]]<br />
* [[La difesa della razza]]<br />
* [[Fasci Femminili]]<br />
<br />
== Weblinks ==<br />
{{Commonscat}}<br />
<br />
== Einzelnachweise ==<br />
<references /><br />
<br />
{{Normdaten|TYP=k|GND=80653-5|LCCN=n50081237|VIAF=136102750}}<br />
<br />
[[Kategorie:Partito Nazionale Fascista| ]]<br />
[[Kategorie:Faschistische Organisation (Italien)]]<br />
[[Kategorie:Faschistische Partei]]<br />
[[Kategorie:Historische Partei (Italien)]]<br />
[[Kategorie:Verbotene Partei]]<br />
[[Kategorie:Parteigründung 1921]]<br />
[[Kategorie:Aufgelöst 1943]]<br />
[[Kategorie:Historische Organisation (Rom)]]</div>ImageUploader12345